Joey Kelly • mit Ralf Hermersdorfer

America for Sale

Von L.A. nach New York: ohne Geld in weniger als drei Wochen einmal quer durch die USA

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Joey Kelly / mit Ralf Hermersdorfer

Joey Kelly, 1972 in Spanien geboren, wurde zunächst als Bandmitglied der Kelly Family bekannt. Die Erfolge der irisch-amerikanischen Großfamilie, die als Straßenmusiker ihre Karriere begannen, sind legendär. Heute tritt er als begeisterter Sportler in Erscheinung und reist in die exotischsten Ecken der ganzen Welt, um sich den härtesten Ultrawettkämpfen zu stellen: Allein in den USA bewältigte er Extremläufe wie den Badwater-Run durch das Tal des Todes, den Iditasport-Ultramarathon durch die Eiswüste von Alaska, den Ironman auf Hawaii und über fünftausend Kilometer das weltberühmte Radrennen Race Across America. Unzählige Rekorde hat er bereits in seiner Sportler-Karriere gebrochen, u.a. absolvierte er die acht größten Ironman innerhalb von zwölf Monaten.

 

Über dieses Buch

Durch die USA von West nach Ost

 

Einmal von Los Angeles bis nach New York – ganz allein bewältigt Joey Kelly in weniger als drei Wochen ein unglaubliches Abenteuer durch siebzehn Bundesstaaten der USA. Er kehrt zurück in das Land seiner Vorfahren: Ohne eigenes Geld und Essen durchquert er die Vereinigten Staaten, übernachtet wird nur im Freien. Kelly finanziert sich auf seiner Reise allein durch Almosen, probiert sich als Anhalter, nutzt Eisenbahn und Überlandbus, erarbeitet sich ein Fahrrad und ein Auto. Dabei lernt er Land und Leute von einer ganz anderen Seite kennen, ist unterwegs mit deutschen Touristen, kiffenden Tramper-Kids, standhaften Kriegsgegnern, hartgesottenen Truckern, verzweifelten Obdachlosen und stolzen Indianern.

Ein Road-Trip durch ein faszinierendes Land – ein einzigartiger Erlebnisbericht.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2014

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung ZERO Werbeagentur, München

Umschlagfoto Thomas Stachelhaus

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-62931-0 (1. Auflage 2014)

ISBN E-Book 978-3-644-54031-6

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-54031-6

Prolog

Es war tiefster Winter in New York. Zehn Grad minus und ein halber Meter Schnee. Unser Onkel erwartete uns bereits am Flughafen mit einem großen Kastenwagen. Klappe auf und alle Kinder rein. Wir kamen uns vor wie illegale Einwanderer. Sieben Stunden dauerte die Fahrt in dem unbeheizten Transporter nach Boston. Den Holzboden bedeckten wir mit unseren Taschen, damit wir nicht direkt auf den harten Planken liegen mussten, dann kuschelten wir uns in ein paar seltsam riechende Decken.

Wir blieben fast zwei Jahre in den USA, reisten durch zwanzig Staaten und klapperten singend mit unserer Kelly Family die gesamte Ostküste ab. Schließlich arbeiteten wir noch vier Monate in New York auf der Straße. Unsere Haare waren lang und ungezähmt, wir trugen kunterbunte Kleider und sangen von Engeln und dem wunderschönen Irland.

Irgendwann hatte unser Vater genug von dem neuen amerikanischen Lebensstil, dem grenzenlosen Überfluss und der scheinbaren Selbstzufriedenheit, die sich dort breitmachte. 1987 ging es wieder zurück nach Europa.

Mein Vater war davon überzeugt: Glück ist kein Zufall, Glück ist nur eine Frage der Zeit. Und die lange Zeit, die wir hart schufteten, brachte uns auch letztendlich das ersehnte Glück. Unser ganz großer Durchbruch kam Anfang der 1990er Jahre, wir tourten durch die großen Stadien Europas. Als Kelly Family veröffentlichten wir das Album «Over The Hump», das mit sechseinhalb Millionen Exemplaren in Europa auch in Deutschland die meistverkaufte Platte aller Zeiten ist.

Mein Großvater, mein Vater und meine älteren Geschwister sind in den USA geboren. Dadurch habe ich neben meinem irischen sogar einen amerikanischen Pass, obwohl ich in Spanien zur Welt kam. Zahlreiche Wettkämpfe bestritt ich in den Staaten, darunter zweimal den «Badwater», einen Ultramarathon durch das Tal des Todes, dazu den Ironman auf Hawaii und den Iditasport-Ultramarathon, einhundertsechzig Kilometer nonstop in einem Limit von achtundvierzig Stunden durch die Eiswüste von Alaska. Außerdem absolvierte ich dreimal das Fahrradrennen «Race Across America», mit einer Strecke von über fünftausend Kilometern am Stück. Doch zu keiner Zeit fühlte ich mich wieder wirklich angekommen in den Staaten. Wenn ich einreiste, dann zu einem Wettkampf. Und sofort nach dem Zieleinlauf ging es zurück nach Hause.

Ein Vierteljahrhundert nach unserer Straßen-Tour wollte ich mir einen neuen Eindruck vom Land der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten verschaffen. Und so etwas geht nur, wenn man ganz allein unterwegs ist, damit man auch direkten Kontakt zu den Einheimischen bekommt. Meine Idee war die komplette Durchquerung der USA an einem Stück von West nach Ost, von Los Angeles am Pazifik bis nach New York am Atlantik. Um zu vermeiden, dass es eine Urlaubsreise wird, stellte ich mir eine ganz eigene Herausforderung: Ich würde ohne einen Cent in der Hosentasche starten und mich allein durch Spenden vor Ort oder bezahlte Kurzarbeit finanzieren, übernachten würde ich nur im Freien. Zusätzlich erlegte ich mir die Nutzung verschiedenster Fortbewegungsmittel auf: Mit dem erwirtschafteten Geld würde ich ein Fahrrad und ein Auto kaufen und jeweils eine Strecke damit zurücklegen, außerdem einmal mit einem Überlandbus reisen, mit wildfremden Menschen trampen, auf einem Truck und mit der Eisenbahn fahren sowie eine Strecke laufen.

Ich habe es geschafft, schneller als gedacht.

Tag 1, Los Angeles

Mittellos in Santa Monica

Es ist Punkt neun Uhr, ich drehe mich um und schaue auf den Horizont des Ozeans, der von der Sonne beleuchtet wird wie eine glänzende Scheibe. Auch wenn ich am Anfang meiner Reise ganz allein dastehe, ohne Mitstreiter, ohne andere Läufer und ohne Publikum, das fieberhaft auf den Startschuss wartet: Es ist trotzdem ein ganz besonderer Moment für mich, denn ich beginne hier und jetzt mein zweites Solo-Abenteuer nach meinem Deutschlandlauf ein Jahr zuvor. Ab sofort bin ich wieder komplett auf mich allein gestellt – nur ich selbst kann entscheiden, ob ich an irgendeiner Stelle kapitulieren werde, wie viel Zeit ich brauche, ob ich weitergehe oder resigniere, mich vor meiner eigenen Courage verstecke oder den Biss haben werde, bis zum Ziel weiterzumachen. Ich habe keine Ahnung, was mich erwartet. Das macht mich einerseits unruhig, aber es gibt mir im Gegenzug genau diese gewisse Motivation, die ich brauche: einfach loszulaufen und zu sehen, was passiert, um dann situativ zu reagieren. Alles in der Gewissheit, sich bestens vorbereitet zu haben, damit man nichts bereuen muss, was einen ereilen könnte. Dann braucht man sich im Nachhinein keine Vorwürfe zu machen und kann sich mit einer Niederlage besser abfinden, wenn man alles probiert hat. Diese Lebensform ist mir durch unsere Kelly Family nicht fremd, das ist ein nicht zu unterschätzender positiver Aspekt bei meiner anstehenden Reise. Irgendwie wird alles gut. Das war schon immer so, und das wird auch bei meinem Trip durch die USA wieder so laufen, hoffe ich.

Mein Startpunkt ist die bekannteste Landungsbrücke von Los Angeles, der Santa Monica Pier, wo so gut wie jeder zweite Hollywood-Streifen gedreht wurde. Hier, an dem letzten Holzbalken vor der Wasserkante, wo Hobbyangler ihre Ruten ins Wasser werfen, endet die Route 66, die berühmte «Mother Road», die erste durchgehende Straße der USA von Chicago bis an die Westküste. Auf dem Pier tummeln sich Tausende Menschen, schlecken Eis, fahren mit nostalgischen Karussells und dem Riesenrad, essen Jumbo-Portionen Pommes frites. Es ist ein genussvoller Anblick der sommerlichen Gelassenheit an einem ganz normalen Montag.

Ich bin guter Dinge, blinzele noch mal in die Sonne und schiebe meinen Buggy an. Jetzt geht es los.

 

Die erste Etappe nach meinem selbst getätigten, imaginären Startschuss ist die scheinbar einfachste Aktion meiner Tour: Ich muss mir Geld besorgen, damit ich von Los Angeles überhaupt wegkomme. Dazu habe ich mir ein schönes Basispaket geschnürt, um die Sache voranzutreiben: einen bunten Reiseprospekt mit meiner geplanten Route, darin die persönlichen Highlights meiner besten Wettkämpfe, illustriert mit Fotos und lustigen Platten-Covern, um zu erklären, dass ich zu Hause mein Leben als sportlicher Musikant bestreite. Wenn mir dann jemand ein paar Dollar schenken sollte, bekommt der Spender von mir als Dankeschön meine Visitenkarte und ein eingeschweißtes vierblättriges Kleeblatt. Die habe ich in mühevoller Kleinarbeit daheim auf der Viehweide gesammelt, auf Zeitungspapier luftgetrocknet, jedes einzelne mit einer Nagelschere ausgeschnitten und zwischen durchsichtige Folie geklebt. Damit ich den Überblick über meine möglichst zahlreichen Wohltäter nicht verliere, habe ich noch ein Schreibheft dabei, um die hoffentlich horrenden Summen und die dazugehörigen Adressen der Geldgeber notieren zu können.

Um möglichst flott von einem Ort zum anderen zu kommen, musste der Familien-Buggy meiner Schwester Patricia dran glauben. Das Teil stand vergessen in ihrer Garage, bis ich mir die ersten Gedanken um eine optimale Transportmöglichkeit für mein ganzes Amerika-Equipment machen musste. Der Buggy war dafür wie geschaffen: Er hat ein Wetterdach, Plastikreißverschlüsse, ein Sichtfenster, jede Menge Stauraum und dazu kaum Eigengewicht. Meine tollste Idee aber sind die zwei Teleskop-Aluminiumstangen, die ich jeweils links und rechts in den Lenker schieben kann. Da kommen dann eine USA-Flagge und die Deutschland-Fahne oben dran. Damit werde ich garantiert für Aufsehen sorgen und hoffentlich auch spenderwillige Zeitgenossen aktivieren.

Ich werde mein Talent als Bettler gleich mal testen, und zwar auf der Touristenmeile, dem «Ocean Front Walk», einem asphaltierten Strandweg, von haushohen Palmen gesäumt, der zwischen die letzten Gebäude der Stadt und die ersten Sandkörner am Pazifik hingegossen ist. Bis zum Meeresufer sind es ungefähr zweihundert Meter feinster Sand, auf dem sich Familien mit vollgepackten Picknickkörben tummeln, als ob gleich noch eine ganze Armee zum Mittagessen erwartet würde. Mein Weg führt mich nach Süden bis runter zum «Venice Beach», das sind ungefähr vier Kilometer, also ein entspannter Tagesspaziergang mit hoffentlich voller Kasse am Abend. Die Sonne knallt mächtig runter, es sind dreißig Grad. Die meisten Menschen, die mir begegnen, spazieren locker durch den Tag. Das liegt nicht nur am Wetter, die Kalifornier sind bekannt für ihre durchgehend gute Laune. Wenn ich hier wohnen würde und keine Angst vorm Winter haben müsste, würde es mir wahrscheinlich ähnlich gehen.

Das Gute ist, dass ich die ersten Stunden nicht einmal die Leute ansprechen muss. Mein Geschäftstrick mit der Deutschlandflagge funktioniert prächtig, denn eine Menge deutscher Urlauber erkennen mich, wollen ein Foto machen, mich kurz fragen, was ich denn hier Verrücktes mache oder ob ich gerade einen Werbefilm drehe, was angesichts der Sponsorensammlung auf meinem Trikot durchaus eine berechtigte Frage ist. Viele sind ungläubig, als sie von meinem geplanten Trip ans andere Ende der USA hören, und schieben mir begeistert ein paar Dollar rüber. Die eingeschweißten Kleeblätter gehen weg wie warme Semmeln.

Mein Umsatz steigt stündlich, ich bin überrascht, wie gut das läuft. Ich bekomme von einigen Leuten sogar Essen angeboten, mal einen Riegel oder ein Eis, ein Typ bringt mir sogar einen Burger aus einem Restaurant. Eine Familie aus Schleswig-Holstein fragt mich, wohin ich denn als Nächstes will, sie würden morgen früh weiter nach Las Vegas fahren, und wenn ich will, könnte ich gern umsonst mitkommen. Wir machen einen Treffpunkt aus, zum Abschied drücken sie mir noch zwanzig Dollar in die Hand.

Zahllose Überlebenskünstler aller Schattierungen hängen auf der Promenade ab: verkappte Musiker mit acht Umdrehungen im Schädel, Hobby-Maler mit sonnengegerbter Haut, die beweist, dass sie bereits ihr ganzes Leben hier abgesessen haben müssen, aberwitzige Figuren in Phantasiekostümen, die für namenlose Shops auf Werbetour sind, und Hippies, die nicht wissen, dass man Woodstock nur noch als entwertete Eintrittskarte auf eBay ersteigern kann. Beach Boys mit einem aufreißerischen Lächeln, bei dem selbst Groupies die Beine in die Hand nehmen würden, übermütige Artisten mit Clownsnase im Gesicht, die sogar noch im Handstand Feuer spucken, ohne sich zu verschlucken, und in die Jahre gekommene Obdachlose, die versuchen, durch hippe Sportanzüge nicht aufzufallen, damit die Beach-Polizei sie nicht vom Strand verjagt. Dazwischen trudelt eine große Traube von Touristen, die von Lärm und Hitze völlig überfordert sind. Es gibt hier ständig etwas zu sehen, selbst mit einem Fremdschäm-Effekt ist es durchaus unterhaltsam. Wenn man nicht den Zeitdruck hat wie ich gerade, ist das sicher ein großartiger Platz, um sich einfach hinzusetzen und die Leute zu bestaunen. Das könnte man den lieben langen Tag machen, ohne dass es auch nur eine Spur langweilig wird.

 

Ein ganz besonderes Highlight ist der sogenannte «Muscle Beach», ein Open-Air-Trainingsgelände für Bodybuilder, direkt am Wegesrand gelegen, an dem man all die Kraftpakete schön von nahem bewundern kann. Der Strandname hat durchaus seine Berechtigung, denn die Leiber der Testosteron-Monster bestehen aus geschätzten neunzig Prozent Muskeln. Die Typen schaukeln Hanteln mit freiem, frisch eingeöltem Oberkörper, als ob sie sich gerade erst warm machen würden. Ich bin nicht der Einzige, der vor den Stahlkäfigen stehend mit offenem Mund zuschaut.

Die Amerikaner, die mich ansprechen, können mich logischerweise nicht kennen, aber sie wollen alle Details wissen – wer ich bin, wohin ich fahre, welche Route ich plane – und zollen mir Respekt für mein Vorhaben. Ich glaube, ich besitze für sie einen Exoten-Bonus. So eine Tour würde wahrscheinlich kaum einer von ihnen machen, weil es für sie zu absurd klingt. Viele US-Bürger verlassen in ihrem ganzen Leben nicht ein einziges Mal ihren eigenen Staat, manche nicht einmal die Stadt oder das Dorf, wo sie geboren wurden. Wenn sie mit mir sprechen, sind sie alle durch die Bank weg freundlich und zuvorkommend, es fällt kein abschätziges Wort oder etwa eine ironische Bemerkung. Das liegt ihnen in der Wiege, sie können nicht anders, als höflich zu sein.

Den Nordamerikanern eilt ja grundsätzlich der Ruf voraus, durch Oberflächlichkeit zu glänzen, weil keiner, außer ihnen selbst, mit der ihnen eigenen Art umgehen kann. Kommt man mit einem US-Amerikaner ins Gespräch, bleibt immer dieser komische Beigeschmack von geheucheltem Interesse im Raum stehen, als ob dein Gegenüber sich nicht wirklich für dich als Person interessieren würde. Dazu gesellt sich der Eindruck, hier meine jeder, alles zu wissen – thematische Unklarheiten werden einfach mit Schwatzen kaschiert. Schuld daran sind die meistens euphorisch geführten Monologe, die unsereinem nicht gerade Bescheidenheit vermitteln. Begrüßt dich ein US-Bürger – egal, ob er dich das erste Mal in seinem Leben sieht oder ein uralter Schulfreund ist, der mit dir vor ewigen Zeiten ein paar Pferde geklaut hat –, sagt er immer kurz und knapp «How are you?». Das ist für den Außenstehenden durchaus als Frage zu erkennen, aber nicht wirklich so gemeint. Der Fragende ist in diesem Augenblick nicht wissbegierig zu erfahren, wie es dir geht. Das ist ein einfaches «Hallo», nicht mehr und nicht weniger, ein unverbindlicher Einstieg in einen Smalltalk. Aber du denkst unweigerlich, du müsstest jetzt gleich im Detail eine kurze Zusammenfassung darüber abgeben, was aktuell in deinem Leben so passiert. Ich habe mir über die Zeit meiner USA-Reise damit durchaus ein paar Scherze erlaubt und einfach mal ganz ehrlich geantwortet mit «Nicht so gut» oder auch «Mir ging es schon mal besser». Jedes Mal blickte ich dann in erstaunte Gesichter. Das kennen die meisten Amerikaner nicht. Sie erwarten als Antwort immer ein knackiges «I’m fine!» oder «Great!» mit angeschlossener Gegenfrage «And, how are you?». Falls das nicht kommt, sind sie sofort verwirrt. Eigentlich total bekloppt, aber das hat sich hier so eingebürgert. Frage ich dagegen in Deutschland einen Bekannten oder Kollegen «Wie geht’s dir?», weiß er sofort, dass mir wirklich etwas an ihm liegt. Sonst hätte ich nämlich nur «Hallo» gesagt.

Genauso verschieden ist auch die Art und Weise, wie sich gute Laune im Gespräch äußern kann. Denn die typische amerikanische Begeisterung macht sich in zwei Empfindungsstufen Luft: Sagt man «It’s really cool!», meint man damit, dass man das Ding, die Sache oder die Person, um die es gerade im Gespräch geht, ganz in Ordnung findet, es einem aber ansatzweise auch egal ist. Eine reine Höflichkeitsfloskel. Brüllt dir dein Gegenüber aber ein «It’s so great!» ins Gesicht, dann hat sich sein Blutdruck schon drastisch nach oben bewegt. Jetzt findet er das schon so grandios, dass er es dem anderen gar nicht mehr gönnt. Der Kalifornier am «Venice Beach» mag diese Empfindungsäußerung noch ein wenig ausdrucksstärker, das bekräftigt er mit dem schönen Satz: «It’s absolutely fucking unbelievable!» Dabei ist es wichtig, die Stimme in der Frequenz einer schrillen Operndiva bis zum Satzende aufrechtzuerhalten. Wenn man dann als Empfänger dieser bombastischen Nachricht das Ganze lässig mit einem Grinsen quittiert, ist man wirklich im inneren Kreis angekommen.

Ein weiteres Zeichen dafür, dass du dazugehörst, ist ein ungefragtes und kräftiges Schulterklopfen als Zustimmung. Danach wirst du «Buddy», also schon Kumpel oder vielmehr Weggefährte, genannt, wie jemand, den man eigentlich schon Jahre kennen müsste, wenn man sich nicht zufällig gerade im Moment das erste Mal im Leben begegnet wäre. In diesem schnell und einseitig geschlossenen Freundschaftsbund werden dann sehr direkte Fragen gestellt und im Gegenzug sämtliche privaten Geschichten erzählt, die man eigentlich gar nicht wissen möchte. Für uns macht das einen eher distanzlosen Eindruck, denn man hat keine Zeit, so richtig miteinander warm zu werden. Aber für die Amerikaner ist das ein Vertrauensbeweis. Ich habe das mehrmals ausprobiert. War ich einmal in den Kumpel-Status aufgenommen, konnte ich meine sogenannten neuen Freunde sogar Wochen später zum ersten Mal anrufen, und sie erinnerten sich trotzdem sofort an mich und boten ohne große Bedenken ihre Hilfe an, und zwar in sämtlichen Belangen. Denn ich war jetzt ihr «Buddy», und das wird auch immer so bleiben. Auch wenn uns bisher nichts weiter verbindet als ein belangloses Gespräch an einer Straßenecke.

Stolz sind die Amerikaner alle auf ihr Land, ihren Pass und ihre vermeintliche Freiheit. Und kaum reden sie mit mir, rattern sie voller Stolz ihren Stammbaum herunter. Wenn ich auf ihre Frage «Where are you from?» entweder meinen irischen oder deutschen Hintergrund ins Spiel bringe, bekomme ich gleich ihre ethnische Geschichte präsentiert: «Yeah? Really? My grandpa is from Ireland!» Spätestens bei diesem Thema hat man sofort eine gemeinsame Gesprächsbasis, denn Ahnenforschung ist ein weitverbreitetes Hobby in den Staaten. Logischerweise kommen die Vorfahren fast aller weißen US-Bürger aus dem alten Europa. Und selbst ein noch so geringer Prozentsatz ursprünglicher Engländer, Spanier, Portugiesen oder Deutscher findet sich in jeder Familie. Am Ende sind sie alle hin und her gerissen: Zwar sind die USA ihre Heimat, aber eigentlich auch nicht. Denn die meisten sind erst in dritter oder vierter Generation hier in diesem Land zu Hause.

Gegen neunzehn Uhr beginnt die Dämmerung, der Trubel auf dem Strandweg kommt allmählich zum Erliegen. Die Leute schlendern heimwärts, machen sich noch mal frisch, um etwas Leckeres essen zu gehen. Das fällt für mich heute alles aus. Ich werde mich jetzt umschauen, wo ich meine erste Nacht unter dem Sternenbanner der Vereinigten Staaten verbringen kann, außerdem muss ich mir noch den Straßenstaub vom Körper spülen. Die öffentlichen Toiletten am Strand von Santa Monica bieten dafür exzellente Bedingungen. In einer abgeschlossenen WC-Kabine hole ich meine Tagesausbeute aus dem Bauchgurt und zähle sie durch. Nachdem ich mir zweimal unsicher bin, ob es wirklich so viel sein kann, sortiere ich die Scheine noch mal nach den aufgedruckten Werten, ganz langsam und ohne Hektik. Es bleibt dabei, auch wenn ich es nicht glauben kann: Ich halte fünfhundertsiebenundfünfzig Dollar in der Hand.

Ich brauche ein paar Minuten, bis ich vor lauter Aufregung wieder klar denken kann. Gerade mal einen Tag bin ich unterwegs und habe schon eine unfassbare Spendensumme erwirtschaftet. Vielleicht wird das noch ein Geschäftsmodell, wenn ich wieder in Deutschland bin. Im Tagesdurchschnitt würde ich dann eventuell sogar noch mehr verdienen als zu unseren besten Kelly-Zeiten.

Die Scheine packe ich zurück in meinen unscheinbaren Bauchgurt, nicht zu dick, damit er Taschendieben nicht auffällt, was bei meiner korpulenten Erscheinung sowieso kaum möglich ist. Als ich beim Waschen in den Spiegel schaue, sehe ich einer krebsroten Birne entgegen. Meine Wangen, die dazugehörigen Ohren und der Hals sind verbrannt, die Trennlinie zur weißen Kopfhaut ist klar durch mein getragenes Basecap markiert. An den Füßen sieht es nicht besser aus: Meine nackten Knöchel machen den optischen Eindruck, als ob ich schneeweiße Socken tragen würde. Der Rest der Beine ist rosarot bis zu meinen Shorts hoch. Ich hätte das Sonnenöl vielleicht mehrmals benutzen sollen.

Zwei Stunden und eine Creme-Behandlung später baue ich mir eine behelfsmäßige Unterkunft. In Sichtweite vom Santa Monica Pier, direkt unter einer Baywatch-Station, von wo aus die berühmten TV-Lebensretter Pamela und David früher in Zeitlupe ins Wasser rannten, liegt ein umgedrehtes, hölzernes Fischerboot, von allerlei Gerümpel umgeben. Ich lege meine Plastikplane auf den Sand, schiebe sie unter den Schutz des Bootes und rolle mich in meinen Schlafsack. Jetzt warte ich nur noch drauf, dass das brennende Ziehen meiner Haut langsam nachlässt, damit ich endlich wegnicken kann. Ich muss ein wenig Schlaf nachholen, denn als ich gestern Nacht nach meiner Ankunft in den Staaten das letzte Mal für längere Zeit in einem wohligen Hotelbett lag, war ich durch den ewig langen Flug so überdreht, dass ich zur prophylaktischen Bekämpfung des Jetlags erst mal stundenlang meine E-Mails abgearbeitet hatte. Als ich endlich die Augen zubekam, bemerkte ich das Völlegefühl, dass nicht aus meinem Magen weichen wollte. Ich hatte mir zuvor noch ein saftiges Rindersteak gegönnt, für neunzehn Dollar, medium. Das lag mir nun wie ein Stein im Magen, was zur Folge hatte, dass ich nicht ansatzweise durchschlafen konnte.

 

Sobald es dunkel ist, kommen die illegalen Einwanderer an den breiten Strand und suchen sich weit weg von den Lichtern des Piers ein Versteck, um die Nacht zu überbrücken. Von meinem Unterschlupf aus beobachte ich ganze Familien, die mit ihrer Habe am Leib umherirren. Ein Latino mit Rucksack macht sich nur einen Steinwurf von mir entfernt breit, wir werfen uns ein paar Brocken Spanisch zu. Nach zehn Minuten verzieht er sich schnell und leise, wahrscheinlich ist er sich nicht sicher, ob ich ihn an die nächste Streife verpfeifen werde. Übernachten am Strand ist strengstens verboten, genauso wie das Trinken von Alkohol in der Öffentlichkeit. Wer sich hier erwischen lässt, muss mit empfindlichen Strafen rechnen oder wandert gleich mal in den Knast.

Die USA sind bekannt für ihre zum Teil absurden Bestimmungen, einige Gesetze kann man nur schwer nachvollziehen. Besonders in Kalifornien trieb man es die letzten Jahre echt auf die Spitze. So ist es zum Beispiel verboten, Kinder am Überspringen einer Pfütze zu hindern, zwei Babys zur gleichen Zeit in einer Wanne zu baden oder Motten unter einer Straßenlaterne zu jagen. Mehr als zweitausend Schafe darf man nicht gleichzeitig den Hollywood Boulevard runtertreiben, wer auch immer das mal ausprobiert hat. Außerdem dürfen sich Tiere nur paaren, wenn sie das mindestens fünfhundert Meter von einer Kneipe, Schule oder Kirche entfernt erledigen. Frauen ist es zwar gestattet, Auto zu fahren, aber wenn, dann nicht im Hausmantel. Und der Ehemann darf seine Frau mit einem Lederriemen schlagen, allerdings mit einer minimalen Einschränkung: Ist der Riemen breiter als fünf Zentimeter, dann muss die Ehefrau vorher zustimmen. Wer in Kalifornien eine Mausefalle aufstellt, benötigt eine gültige Jagdlizenz. Einen Frosch zu küssen, ist dagegen erlaubt. Man sollte es aber nicht zu weit treiben, denn das Ablecken ist schon wieder verboten. Wer solche Missetaten beobachtet und als Kronzeuge vor Gericht geladen wird, sollte tunlichst vermeiden, im Zeugenstand zu weinen. Denn das ist auch verboten.

Allerdings muss man den Kaliforniern zugutehalten, dass sie weltweit in Sachen Nichtrauchergesetze den Ton angeben. Als erster Staat in den USA verbannten sie das Rauchen aus sämtlichen öffentlichen Gebäuden, die Europäer haben die Regelung mehr oder weniger erfolgreich übernommen. Als Raucher gehört man hier in Kalifornien inzwischen zu einer sozialen Randgruppe, die verächtlich beäugt wird. Sogar im Freien darf man sich nicht mehr ungestraft eine Zigarette anzünden: Wer an den Stränden oder in Naturparks beim Rauchen erwischt wird, muss hundert Dollar blechen.

In meiner Familie gab es nur einen Einzigen, der mal geraucht hat, und das ganz ordentlich. Bis zu vier Päckchen am Tag zog mein Vater durch, und zwar richtiges krautiges Zeug, nämlich die kurzen Pall-Mall-Kippen ohne Filter. Als sich sein erster Nachwuchs ankündigte, war für ihn mit Mitte dreißig Schluss. Keines von uns Kindern hat ihn jemals rauchen sehen, wir haben das erst viel später von einer Tante erfahren. Er hörte von einem Tag auf den anderen auf und fasste nie mehr auch nur eine Kippe an. Mein Vater war danach ein knallharter Verfechter des Nichtrauchens, das blieb für ihn ein ganz sensibles Thema.

Wir Kellys sind zwölf Geschwister, vier Kinder brachte mein Vater aus seiner ersten Ehe mit. Keiner von uns hat jemals geraucht, und falls doch, habe ich es nie erfahren. Nur mein Bruder Johnny ist mal durch Zufall erwischt worden. Wir wohnten zu der Zeit in Spanien, dort haben alle kleinen Jungs heimlich geraucht. Die fanden das cool, weil es völlig normal war, dass alle erwachsenen Männer ständig mit einer Fluppe im Mund umherspazierten. Mein älterer Bruder Paul petzte meinem Vater, dass Johnny hinten im Hof mit zwei Kumpels geraucht hat. Das hätte er mal schön lassen sollen, denn so etwas blieb niemals ungestraft.

Unser Familienoberhaupt war streng, machte nie Kompromisse und hatte die seltene Begabung, Übeltäter regelrecht an die Wand brüllen zu können. Mein Vater gab dann vor versammelter Runde eine stundenlange Moralpredigt mit anschließender Urteilsverkündung. Und das Strafmaß selbst ließ er sich meistens spontan einfallen. Besonders beliebt war bei ihm Hausarrest an möglichst ungemütlichen Orten, wie zum Beispiel im Winter in der zugigen Garage und im Sommer auf dem stickigen Dachboden. War das Vergehen nicht ganz so schlimm, durfte man sich auch mal in der Wohnküche für einen halben Tag eine Zimmerecke ansehen, und das selbstverständlich im Stehen.

Dieses Mal kam jedoch alles ganz anders. Mein Vater rief uns Kinder zu sich, und Johnny ahnte schon, dass er ein richtiges Problem bekommen würde. Vater sagte: «Johnny, ich habe gehört, du kannst mit deinen neun Jahren schon rauchen?» Und dann durchbohrte er ihn schweigend mit seinen stechenden Augen. «Und du sollst das sogar richtig gut können!» Der Ertappte überlegte eine Weile und antwortete ganz einfach mit «Ja.» Alle fragten sich insgeheim, ob er sich vielleicht für einen Tag in die Toilette oder doch in die dunkle Abstellkammer stellen müsste. Aber mein Vater war wie immer vorbereitet. «Na gut», sagte er, «setz dich mal hier hin.» Aus dem Sekretär zauberte er eine Schachtel Zigaretten hervor und gab sie Johnny. «Hier, die Packung ist für dich, und die kannst du gern paffen. Und das nicht irgendwann, sondern jetzt.» Es war ein absurdes Szenario: Auf der einen Seite Johnny, wie er ganz stolz die Zigarettenschachtel aufriss, um uns zu zeigen, wie er qualmen kann. Und auf der anderen die ganze Familie, die ungläubig zuschaute und sich vor Lachen kaum halten konnte, als er sich hypernervös mit zittrigen Fingern die erste Kippe anzündete. Es dauerte keine halbe Zigarettenlänge, da war er schon blass und grün im Gesicht. Eine Minute später übergab er sich. Den Rest des Tages verbrachte er heulend im Bett.

Johnny hat nie wieder geraucht. Und diese familieninterne Vorführung reichte allen anderen Geschwistern als abschreckendes Beispiel dafür, mit dem Rauchen niemals anzufangen. Auch weil wir Angst hatten, dass der Nächste, der sich erwischen ließ, von unserem Vater nicht nur bloßgestellt, sondern eventuell für immer verstoßen werden würde.

Tag 2, Barstow

Ein Bruder in Hollywood

Es war ziemlich unruhig heute Nacht. Jede Menge Frischverliebte machten es sich am Strand bequem, dazu noch viele Trunkenbolde und Junkies, die im Dunkeln lautstark feierten oder sich den Schuss in ihre eigene Matrix verpassten. Dadurch schreckte ich jedes Mal aufs Neue hoch, immer mit leicht erhöhtem Puls und der Angst, dass mich ein paar Halbstarke entdeckt haben könnten und aus Jux vermöbeln wollten. Das letzte Mal schaute ich um kurz vor zwei Uhr auf mein Ziffernblatt. Dann drehte ich mich um und war sofort weg.

Um fünf Uhr morgens ist die Nacht für mich bereits wieder vorbei. Es dämmert langsam, und auch wenn ich mich noch total erschlagen fühle, möchte ich doch nicht von den Strandreinigern oder gar von der Polizei geweckt werden. Dann wäre mein Trip zu Ende, bevor er richtig begonnen hatte. Ich baue also mein Lager zusammen und schiebe meinen Buggy aus dem Versteck. Es ist erstaunlich ruhig, nur die Möwen kreischen. Bloß ein paar Jogger laufen um diese Uhrzeit den Beach entlang, Kleinhändler liefern Lebensmittel in ihre eigenen Geschäfte oben auf dem Pier. Ich nutze meine Stammtoilette von gestern Abend und sortiere meine Klamotten neu in mein Gefährt, damit ich wieder alles griffbereit habe. Eine Bank neben dem Toilettenhäuschen wird mein Frühstückstisch. Ich gönne mir ein paar Snacks, die mir Touristen gestern geschenkt haben. Durch den aufkommenden Jetlag beginnt mein Körper leicht zu frösteln, die drei Stunden Schlaf von heute Nacht tun ihr Übriges dazu.

Es ist richtig frisch.

Ich stehe an der Zufahrt zum Santa Monica Pier und warte auf die Familie, die mich bis nach Las Vegas mitnehmen will. Wir sind für acht Uhr verabredet. Und da es Deutsche sind, biegt der Wagen selbstverständlich fünf Minuten vorher um die Ecke. Meinen Buggy quetschen wir noch mit vereinten Kräften in den vollgepackten Kofferraum und rollen los.

Steffen und Beanka sitzen vorn, Sohn Torben auf der Rückbank neben mir und meinem Rucksack. Durch die Rushhour, den Berufsverkehr, dauert es eine ganze Weile, bis wir über die zwölfspurige Stadtautobahn aus L.A. rauskommen. Sobald wir aber auf der Interstate 15 auf dem Weg nach Norden sind, wird es auf einmal merklich leer auf der Piste, nur ein paar Autos rauschen nach Nevada.

Familie Sommer kommt aus Elmshorn, sie sind insgesamt vierzehn Tage in Los Angeles. Zwei Tage davon wollen sie sich Las Vegas anschauen. Torben ist augenscheinlich der Reiseleiter, er hat den Familienurlaub knallhart durchgeplant: «Als Erstes schauen wir uns heute die Fontäne vor dem Bellagio an, danach das Luxor-Hotel, das von außen aussieht wie eine originale Pyramide! Und nach dem Abendessen schlendern wir dann noch durch das Caesars Palace. Das Hotel hat eine eigene kilometerlange Einkaufspassage, das dauert bestimmt drei Stunden.»

«Und wo wohnt ihr die zwei Tage?», will ich wissen.

«Wir sind im Imperial, nicht das allerneueste Hotel, aber immer noch eines der besten!» Torben schiebt direkt den Preis hinterher. «Das war ein richtiges Schnäppchen: Wir wohnen in einem Fünf-Sterne-Hotel für läppische fünfundachtzig Dollar die Nacht!»

Wie er mir erklärt, ist es in der Woche immer billiger als am Wochenende, wenn nämlich die Kalifornier die Stadt überrennen. Dann zahlt man für dasselbe Zimmer gleich mal vierhundert Dollar. Um einen guten Preis zu bekommen, sollte man seinen Trip also am besten zwischen Dienstag und Donnerstag planen und vorher online buchen. Dann klappt es mit dem Schnäppchen garantiert.

Der achtzehnjährige Torben hat ewig lange Beine und blockiert damit den kompletten Fußraum bei uns hinten. Ich ziehe meine Füße hoch auf die Sitzbank, lehne mich an meinen Rucksack und schaue mir die Landschaft an, die an uns vorbeifliegt. Kurz hinter der Abzweigung nach San Bernardino beginnt eine unendliche Weite, und die wirkt irgendwie leicht deprimierend. Schottersand so weit das Auge reicht, alle paar Meter ein verdorrter Busch, am Horizont steinerne Hügel mit einer Höhe, welche man durch das Hitzeflimmern nicht schätzen kann.

Die Interstate hat auf diesem Abschnitt nach Nevada keine Leitplanken, die die Gegenfahrbahn abgrenzen. Das ist aber auch nicht nötig, weil der Mittelstreifen – bestehend aus Geröll und widerspenstigen Büschen – ungefähr dreißig Meter breit ist. Und weil er leicht abschüssig in die Mitte verläuft, hat man immer noch genügend Auslauf und damit eine Menge Zeit, seinen Wagen zum Stehen zu bekommen, falls man doch mal von der Fahrbahn abdriften sollte. Wie das aussieht, wenn es einer mal ausprobiert, können wir begutachten, als wir an zwei ineinander verkeilten Trucks vorbeifahren, die sich gegenseitig in den Mittelstreifen geschoben hatten, ohne dabei umzukippen. Meilenweit sind die beiden Seitenstreifen der Autobahn gesäumt von zerfetzten Reifenresten, die kein Mensch mehr wegräumen wird.

Auf halber Strecke nach Las Vegas fahren wir durch Barstow, kurz danach kann man von der Interstate aus in der Ferne am Fuß eines Berges Calico Ghost Town erkennen, eine Geisterstadt aus dem neunzehnten Jahrhundert. Über tausend Minenarbeiter haben hier nach Silber geschürft. Als der Preis für das Edelmetall in den Keller rauschte, haben die Bewohner die Stadt von heute auf morgen verlassen. Wenn wir Zeit hätten, könnten wir uns die alten Bretterbuden auch mal anschauen. Dort soll es so aussehen, als wären die Schürfer gerade zur Schicht und würden jeden Moment wiederkommen, erzählt mir Torben.

Aber wir rauschen weiter.

Eine Stunde später öffnet sich kurz nach einer Straßenbiegung die Ebene und breitet sich in ihrer ganzen Optik in einem riesigen, ausgetrockneten Sandsee aus. Die Interstate wurde hier wie eine Betonschlange in die beeindruckende Landschaft hineingehämmert, mitten durch die steinerne Mojave-Wüste, die sich über vier Bundesstaaten erstreckt.

Vater Steffen bedient unaufhörlich die Musikkonsole, und Mutti reicht die selbstgeschmierten Schnittchen nach hinten durch. Die Stimmung steigt an Bord und mit ihr auch der Lautstärkepegel. Bei vierhundertfünfzig Kilometern und gut fünf Stunden Fahrtzeit bis nach Las Vegas bleibt genügend Raum für jede Menge Geschichten, welche die Sommers brennend interessieren. Ich berichte von meinem Solo-Deutschlandlauf im letzten Jahr, den TV-Wettkämpfen und von meiner Zeit mit der Kelly Family.

«Ihr seid doch bestimmt schon mal in L.A. aufgetreten, oder?» Torben denkt wahrscheinlich, wir Kellys wären auch in Amerika die knallharten Chartstürmer gewesen. Ich muss ihn enttäuschen. «Nein, bis nach Kalifornien haben wir es nie geschafft, wir sind nur an der Ostküste auf der Straße herumgetingelt. Einer, der außer mir schon mal im Westen der USA war, ist mein älterer Bruder Jimmy, aber der flog allein hier rüber. Das war genau zu der Zeit, als wir als Kelly Family gerade ganz groß abräumten.» Und ich erzähle den Sommers die abenteuerliche Geschichte von meinem Bruder, der auszog, um Hollywood kennenzulernen, und schließlich im Knast landete.

Wir hüpften 1994 aus dem Stand mit unserem Album «Over The Hump» auf Platz eins, bissen uns danach hundertzwölf Wochen in den Charts fest. Das konnte keiner überhören, auch wenn er uns abscheulich fand. Da musste jeder durch, der ein Radio besaß.

Die Plattenfirma, die für uns den Vertrieb machte, ereilte auf einmal eine hektische Betriebsamkeit, und sie informierte ihre Auslandskollegen, dass sich die Kellys anschickten, in ganz Europa eine große Nummer zu werden, und wir damit vielleicht auch ein Produkt für Asien, Südamerika und Nordamerika wären. Klar, die wollten unsere Scheiben weltweit vertreiben, weil sie den gewaltigen Geldbatzen schon riechen konnten. Es trudelten die ersten Faxe, Briefe und Anrufe von mehreren Agenturen aus der ganzen Welt ein. Darunter war auch eine, die hieß William Morris. Diese Agentur betreut bis heute fast alle Filmstars und alles aus der Pop-Branche, was Rang und Namen hat, wie Lady Gaga, Janet Jackson, Snoop Dogg, Depeche Mode und Peter Gabriel. Sie bieten das Komplettmanagement für Künstler an, das heißt, sie kümmern sich um alles: Aufnahmestudio, Plattenvertrag, Vertrieb, Tourneen, Technik und Finanzen. Die machen alles möglich, was sein muss. Solche Dienstleister stellen dir von jetzt auf gleich auch einen rosa angemalten Elefanten vor die Tür, wenn du der Meinung bist, du brauchst das unbedingt. William Morris wollte also unsere Familie weltweit unter Vertrag nehmen, aber das kam für meinen Vater grundsätzlich nicht in Frage, denn wir machten das Management und alles andere selbst.

Schon 1988 gründeten wir als erste Künstler in Europa überhaupt eine eigene Plattenfirma. Unsere Firma «KelLife GmbH» war ein kleines mittelständisches Unternehmen mit fast fünfzig festangestellten Mitarbeitern, dazu kamen noch unzählige Selbständige. Und unser Vater war der Boss. Jeder aus unserer Familie hatte einen Job, um den er sich kümmern musste. Paddy und Angelo haben über Jahre unseren Sound maßgeblich geprägt, sie waren sozusagen unsere Kapellmeister. Jimmy und Johnny produzierten unsere ganzen Videos und Konzertmitschnitte. Ich war immer der eher praktisch veranlagte Typ und damit automatisch der Konzertveranstalter unserer Familie. Ich hatte in unserer Firma ein eigenes Büro mit vier Angestellten, das sämtliche Shows bis ins Detail organisierte. Dabei ging es um die Verträge mit den Veranstaltern, den Ticketverkauf, die Technik, die Fahrzeuge und die Planung für unsere gesamte Crew. Europaweit spielten wir fast zweihundert Konzerte im Jahr. Es gibt fast keine Stadt, wo wir unsere Bühne nicht hingestellt haben. Wir sind in jedem Kaff aufgetreten, von Castrop-Rauxel bis Lissabon. Als die Ärzte unserem Vater nach seinem zweiten Schlaganfall im wahrsten Sinne des Wortes ans Herz legten, sich aus dem Unternehmen zurückzuziehen, übertrug er mir das Amt des Geschäftsführers. Zehn Jahre lang führte ich schließlich unsere Firma, bis unsere Familie entschied, unsere gemeinsame Musikkarriere zu beenden.

Es war für die Experten aus Amerika ein absolutes Novum, dass eine Band sich komplett selbst organisiert und sich nicht in vertragliche Abhängigkeiten begibt. Wir verdienten die ganze Kohle selbst, ohne Zwischenhändler und ohne ein hochdotiertes Management, welches in der Regel bis zu einem Viertel des Umsatzes abschöpft. Nicht eine Lizenz haben wir an andere abgegeben. Das Einzige, was wir rausgaben, war der Vertrieb unserer Videos und CDs, denn das selbst zu organisieren, wäre Wahnsinn gewesen. Auf diesem Gebiet schlägt dich bis heute jede Plattenfirma mit ihrem über Jahrzehnte installierten Vertriebsnetz.

William Morris kam uns mehrmals direkt aus den Staaten besuchen, stets mit einer Bagage von vier Adjutanten um sich herum, die mit jeder Menge berühmter Namen kokettierten sowie damit, dass sie jeden Topstar persönlich kennen würden und die alleinigen Marktführer wären, was ja auch stimmte. Sie schauten sich unsere Shows an und machten ewig lange Meetings, in denen sie mit ausgereiften finanziellen Argumenten versuchten, uns als Band global zu übernehmen. Allein für den Markt in Südamerika wollte Morris uns einen Vorschuss von fünf Millionen Dollar geben. Aber mein Vater blieb standhaft. Er wollte nicht, dass wir unsere Freiheit verkauften und uns damit von Leuten abhängig machten, die uns auf ewig fremdbestimmen würden. Das war ihm immer wichtiger als alles Geld dieser Welt.

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