Virginia Woolf
Nacht und Tag
Roman
Herausgegeben von Klaus Reichert
Aus dem Englischen von Michael Walter
FISCHER E-Books
Virginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 als Tochter des Biographen und Literaten Sir Leslie Stephen in London geboren. Zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, gründete sie 1917 den Verlag The Hogarth Press. Ihre Romane stellen sie als Schriftstellerin neben James Joyce und Marcel Proust.
Zugleich war sie eine der lebendigsten Essayistinnen ihrer Zeit und hinterließ ein umfangreiches Tagebuch- und Briefwerk. Virginia Woolf nahm sich am 28. März 1941 in dem Fluß Ouse bei Lewes (Sussex) das Leben.
Klaus Reichert, 1938 geboren, ist Literaturwissenschaftler, Autor, Übersetzer und Herausgeber. Von 1964 bis 1968 war er Lektor in den Verlagen Insel und Suhrkamp, von 1975 bis 2003 war er Professor für Anglistik und Amerikanistik an der Frankfurter Universität, 1993 gründete er das »Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit«. Von 2002 bis 2011 war er Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Er schrieb Bücher über Shakespeare, Joyce, moderne Literatur und über die Geschichte und Theorie des Übersetzens, veröffentlichte drei Gedichtbände und ein Wüstentagebuch. Er übersetzte u.a. Shakespeare, Lewis Carroll, Joyce, John Cage und das Hohelied Salomos. Er war Herausgeber der deutschen Ausgabe von James Joyce und gibt seit 1989 im S. Fischer Verlag die Werke Virginia Woolfs heraus. Bei S. Fischer erschien seine Prosaübersetzung der Sonette Shakespeares.
Michael Walter, 1951 in Wiesbaden geboren, studierte Anglistik und Philosophie und arbeitet seit 1978 als freier Übersetzer. Er hat bislang über 60 Werke nahezu aller literarischen Genres übersetzt. 1988 wurde er in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung als ordentliches Mitglied gewählt. Für seine Übersetzungen erhielt er zahlreiche Preise. Michael Walter lebt und arbeitet seit 1980 in München.
Katharine Hilbery, wohlerzogene Tochter aus der Londoner Oberschicht, standesgemäß und langweilig verlobt mit einem Regierungsbeamten, ist fasziniert von dem jungen Rechtsanwalt und sozialen Aufsteiger Ralph, der sie liebt und seinerseits von der engagierten Frauenrechtlerin Mary geliebt wird. Halb unbewusst entscheidet sich Katharine gegen die Konventionen ihrer Herkunft und für ihre Liebe zu Ralph. Ihre Cousine Cassandra – man könnte ihr auch bei Jane Austen begegnen – schwärmt für Katharines Verlobten und verzehrt sich deshalb in Gewissensnöten. Spionierende Tanten, verpasste Rendezvous, Eifersucht und gekränkte Eitelkeiten können nicht verhindern, dass die Verliebten zueinander finden.
Doch so einfach ist es nicht. Bei aller Liebe kämpfen diese jungen Frauen um die Unabhängigkeit ihres Denkens und Fühlens und stellen sich damit gegen die Erwartungen der spätviktorianischen Gesellschaft, in der diese melancholische Komödie spielt – und aus der Virginia Woolf und ihre Schwester Vanessa schon früh ausgebrochen waren. Die Selbstbestimmung der Frauen, ihr Recht auf Bildung und eigenständiges Handeln sind Themen, die Virginia Woolf ihr Leben lang beschäftigt haben und denen sie ihre großen feministischen Essays widmete.
In ›Nacht und Tag‹, zwischen 1915 und 1918 entstanden, schildert sie die längst brüchig gewordenen, aber in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg noch verbissen aufrechterhaltenen gesellschaftlichen Konventionen mit hinreißendem Humor. Und sehr ernst stellt sie ihnen ihre eigene Erfahrung und Entwicklung gegenüber, gespiegelt in ihrer Figur der Katharine Hilbery. Ihrer Lust an der Satire lässt Virginia Woolf hier freien Lauf – und ihrer Kunst der wunderbaren Beschreibung von Menschen, Situationen und Stimmungen.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 1919 unter dem Titel ›Night and Day‹ im Verlag Duckworth and Co., London.
© 1919, 2009 Anne Olivier Bell und Angelica Garnett
Der Roman erschien erstmals 1983, übersetzt von Michael Walter unter der Mitarbeit von Walter Hartmann (Kapitel XXX bis XXXIV).
Für diese Ausgabe hat Michael Walter den deutschen Text neu bearbeitet.
Grundlage dieser Übersetzung ist die von Julia Briggs in der Reihe der ›Penguin Twentieth-Century Classics‹ herausgegebene und annotierte Ausgabe (1992).
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2009 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Manfred Walch, Frankfurt
Coverabbildung: Sarah Schumann, Berlin
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490488-7
Der »bedeutende Romancier« läßt an Henry James (1843–1916) denken, der mit Virginia Woolfs Vater, Sir Leslie Stephen, befreundet war und den sie selbst seit der Kindheit kannte.
Die Figur des Mr Hilbery trägt Züge von Sir Richmond Ritchie, Anne Thackerays Ehemann, und von VWs Vater, der u.a. eine Zeitschrift herausgab, wie Mr Hilbery den fiktiven Critical Review, für den Ralph Denham juristische Beiträge schreibt.
In der Schlacht bei Trafalgar (21. Oktober 1805) besiegte Lord Nelson die Flotte Napoleons. – Im Juli 1588 wurde die als unbesiegbar geltende spanische Armada von den manövrierfähigeren englischen Schiffen geschlagen.
John Ruskin (1819–1900), der große Kunsttheoretiker und Sozialreformer, trug einen Backenbart, den Katharine sich später auf Denhams Gesicht vorstellt.
Katharines Großvater, der als Zeitgenosse der viktorianischen Dichter Alfred, Lord Tennyson (1809–1892) oder Robert Browning (1812–1889) vorzustellen ist.
Millington ist ein fiktiver Maler. – Lucknow war eines der Zentren des Indischen Aufstandes gegen die Engländer (1857/58).
Highgate, früher ein Dorf im Norden Londons, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein respektabler Vorort für Mittelschichtsfamilien. Die Hilberys wohnen im Cheyne Walk, im eleganten und noblen Stadtviertel Chelsea.
Elegante Adressen in Chelsea bzw. Kensington.
Ralph Denham hat in Oxford studiert.
Sir Francis Galton (1822–1911) begründete in seinen Büchern Hereditary Genius (1869) und Noteworthy Genius (1906) die zweifelhafte ›Wissenschaft‹ der Eugenik. Die Stracheys, VWs Freunde, glaubten an ererbte Intelligenz.
Poets’ Corner in Westminster Abbey ist die Gedenkstätte der großen Dichter der Nation.
Vermutlich das große einbändige Greek Lexicon von Liddell und Scott, ein Hauptwerk englischer Gräzistik im 19. Jahrhundert.
Die Strand ist eine Hauptverkehrsstraße im Londoner West End, östlich von Chelsea. Nördlich davon liegen der Gerichtsbezirk der Lincoln’s Inn Fields (wo sich Ralph Denhams Kanzlei befindet), Kingsway und Southampton Row, die zum Russell Square und nach Bloomsbury führt.
Big Ben, dessen viertelstündliche Schläge bis zum West End zu hören waren.
Ralph Waldo Emerson (1803–1882), der bedeutende Bostoner ›Transzendentalist‹ und ›Lebensreformer‹. Der Essay ›Self-Reliance‹ erschien 1841.
The Duchess of Malfi (1614), bedeutendste Tragödie des jakobäischen (von Mrs Hilbery ›elisabethanisch‹ genannten) Dramatikers John Webster (1578–1632).
Die ›Insurance Bill‹, die Kranken- und Arbeitslosenversicherung zum Inhalt hatte, wurde 1911 vom Parlament beschlossen. Das Wahlrecht für Frauen über Dreißig wurde 1918 Gesetz.
Die Uferstraße an der Themse.
»With how sad steps she climbs the sky, / How silently and with how wan a face.« Rodney zitiert den Anfang des Sonetts 31 aus Sir Philip Sidneys Zyklus Astrophel and Stella (1582). Der erste Vers heißt korrekt: »With how sad steps, O moon, thou climb’st the skies.«
Dr. Samuel Johnson (1709–1784), der große Literat, Kritiker, Biograph, Lexikograph, der in der Nähe – Fleet Street, Temple, King’s Bench Walk – gewohnt hatte.
Die seltene Ausgabe der Dramen und Komödien des Restoration-Autors William Congreve (1670–1729), verlegt von der Baskerville Press 1761.
Der Arzt und große Prosaist Sir Thomas Browne (1605–1682) war berühmt für seinen dunklen (›barocken‹) Stil. Autoren von Edgar Allan Poe bis Jorge Luis Borges bewunderten und zitierten ihn. Denham scheint vier Titel zu nennen, es handelt sich aber nur um zwei: Hydriotaphia ist der Untertitel von Urn Burial (1658), und The Garden of Cyrus (1658) ist untertitelt »The Quincunciall, Lozenge, or Net-work Plantations of the Ancients, Artificially Naturally, Mystically Considered«.
Einer der spektakulären Säle im British Museum, um die Ecke von Russell Square, enthält die Skulpturen des Athener Parthenonfrieses, die Lord Elgin (daher ›Elgin Marbles‹ genannt) vor der Zerstörung rettete und 1812 nach England brachte. Die Statue einer Figur wurde für Odysseus gehalten.
Diese Fragen wurden von den Liberal Radicals vor dem Ersten Weltkrieg heftig diskutiert, besonders in London, wo die Grundstückspreise unaufhaltsam stiegen.
Wahrscheinlich Abkürzungen für ›Society for the Reform of Fiscal Revenue‹ und ›Society for General Suffrage‹.
Die ›Society for Suffrage Reform‹ in der Industriestadt Salford in den Midlands. Die verschiedenen Gruppen, die für das Frauenwahlrecht stritten, rivalisierten oft miteinander.
Fiktiver Unterhausabgeordneter.
Charity Organization Society.
Die Benutzung vieler der parkähnlichen Londoner Squares war meist nur den Anwohnern erlaubt.
Ein Dichter der Französischen Revolution, André Chénier (1762–1794), und zwei Romantiker: Victor Hugo (1802–1885) und Alfred de Musset (1810–1857).
Das Gleichnis vom Sämann und der Saat findet sich bei Lukas, Kapitel 8, Vers 5, nicht in den Psalmen.
Gerichtsbezirk am Embankment.
Henry Fielding (1707–1754), der (neben Daniel Defoe) erste große englische Romancier (Joseph Andrews, 1742; Tom Jones, 1749).
Ein Städtchen in Suffolk.
Mr Hilbery beschäftigt sich mit den Dichtern der jüngeren Romantikergeneration: Percy Bysshe Shelley (1792–1822), George Gordon, Lord Byron (1788–1824) und John Keats (1795–1821).
Dichter der älteren Romantikergeneration: William Wordsworth (1770–1850) und Samuel Taylor Coleridge (1772–1834). Zu Wordsworth’ Schwester Dorothy (1771–1855) siehe VWs Essay ›Dorothy Wordsworth‹, in: Der gewöhnliche Leser, Band 2, Frankfurt: S. Fischer, 1990, S. 190–204.
Katharine liest Keats’ Gedicht ›Isabella or the Pot of Basil‹ (1818), das allerdings 63 Strophen lang ist. Das Gedicht nach einer Novelle von Boccaccio erzählt von der Liebe zwischen Isabella und Lorenzo, der von ihren Brüdern erschlagen wird. Sie bewahrt den Kopf des Geliebten in einem Topf mit Basilikum auf, das besonders üppig sprießt. Landschaftsschilderungen gibt es keine in dem Gedicht.
Sowohl Henrik Ibsen (1828–1906) in seinen Dramen als auch Samuel Butler (1832–1902) vor allem in seinem autobiographischen Roman The Way of all Flesh (1903) hatten die Heuchelei bürgerlicher Moral scharf kritisiert.
VW scheint hier an die sonntäglichen Gartengesellschaften in Little Holland House (südlich von Holland Park, Kensington, heute Melbury Road) zu denken. Ihre Großtante Mrs Prinsep wohnte dort von 1850 bis 1871 und gab regelmäßig Gesellschaften für Maler, Schriftsteller und Politiker. VWs Mutter, Julia Jackson Stephen, war dort häufig zu Gast und erzählte den Kindern davon. (SieheVWs ›A Sketch of the Past‹ in ihrem autobiographischen Sammelband Moments of Being.) In Little Holland House lernte Leslie Stephen die Thackeray-Töchter Minny (seine spätere erste Frau) und Anny Thackeray Ritchie (das Vorbild für Mrs Hilbery) kennen.
.VW denkt hier an Photographien von Julia Margaret Cameron (1815–1879), der bedeutendsten Porträt- und Kinderphotographin ihrer Zeit, einer weiteren GroßtanteVWs. Sie gab später, zusammen mit Roger Fry, eine Auswahl der Photographien heraus: Victorian Photography of Famous Men and Fair Women (Hogarth Press, 1928).
Kaiserin Eugénie, die Frau Napoleons III., besuchte häufig London.
Queenie Colquhoun mag Julia Margaret Cameron sein, die 1875 mit ihrem Sarg im Gepäck nach Ceylon reiste. SieheVWs Komödie Freshwater.
Ein College für Arbeiter und Arbeiterinnen ähnlich Morley College, an demVW von 1905 bis 1907 unterrichtet hatte. Kennington Road verläuft durch ein Armenviertel in Süd-London in der Nähe der Waterloo Road, an der Morley College lag.
Der große Dichter Robert Browning (1812–1889), der übrigens seine spätere Frau, die Dichterin Elizabeth Barrett Browning (1806–1861), aus ihrem Elternhaus entführte.VW hat aus der Perspektive des Hundes der Dichterin die Liebesgeschichte beschrieben: Flush (1933).
Tories sind die Anhänger der Konservativen Partei; unter den Radikalen ist der linke Flügel der Liberal Party zu verstehen, der gerade Profil zu gewinnen begann.
Der Satz findet sich in Dostojewskis Roman Der Idiot, denVW 1915 in der Übersetzung von Constance Garnett (1913 erschienen) gelesen hatte, als sie ihren zweiten Roman zu schreiben begann.
Anthony Asquith, von 1908 bis 1916 Premierminister der Liberalen, war ein scharfer Gegner des Frauenwahlrechts.
In Kapitel XXI erfährt der Leser, daß sie über ›Some Aspects of the Democratic State‹ schreibt.
George Romney (1734–1802), der Porträtmaler, der eine Vorliebe für Karminrot hatte.
Südwestlich von London, in Surrey.
Thomas de Quincey (1785–1859), großer, den Romantikern nahestehender Essayist. Berühmt sind bis heute seine Confessions of an English Opium Eater (1822).
Hilaire Belloc (1870–1953) und Gilbert Keith Chesterton (1874–1936), konservative katholische Essayisten, die gern den erfolgreichen Dramatiker George Bernard Shaw (1856 – 1950) wegen seines Atheismus und seiner gesellschaftskritischen und sozialistischen Überzeugungen attackierten.
Alfred, Lord Tennyson schrieb das Versepos The Princess 1847. Laura war die Angebetete Petrarcas, Beatrice diejenige Dantes. Cordelia ist die verstoßene jüngste Tochter König Lears.
The History of Pendennis (1848–50) von William Makepeace Thackeray (1811–1863). Der Held, Arthur Pendennis, ist befreundet mit George Warrington. Die Heldin, Laura Bell, heiratet am Ende Arthur, nicht George. Lauras ›Geschmack‹ wird verglichen mit dem der Romanautorin George Eliot (1819–1880), die mit dem Literaten und Literaturhistoriker George Henry Lewes (1817–1887) zusammenlebte.
Jonathan Swift (1667–1745), der große irische Satiriker, Autor der Gulliver’s Travels (1726).
Tenby liegt in Wales. – Der präraffaelitische Maler John Everett Millais (1829–1896) malte die ertrunkene Ophelia im Bach (1851/52).
Measure for Measure, III, i, 123f., wo der zum Tode verurteilte Claudio seine Todesangst beschreibt: »To be imprison’d in the viewless winds, / And blown with restless violence round about / The pendant world …«
Ein fiktiver Ort an der Grenze von Norfolk und Suffolk. Disham wurde später nach Lincoln verlegt, um Katharines zufällige Begegnung mit Denham möglich zu machen.
Konzerthalle an Langham Place, am Ende der Regent Street.
Rosalind in As You Like It, die meist als Knabe verkleidet auftritt, der Rosalind ›spielt‹. Mrs Hilbery vergleicht in Kapitel XXIV Katharine ebenfalls mit Rosalind.
Robert Smith Surtees (1805–1864), Jorrocks’s Jaunts and Jollities (1838). Das beliebte Buch gibt Skizzen aus dem Leben eines Londoner Gemüsehändlers, der Cockney spricht und Fuchsjagden liebt.
Mrs Hilbery wäre damals sieben oder acht Jahre alt gewesen.
Kew Gardens, der berühmte königliche botanische Garten und Park, der den Hintergrund eines der ersten ›experimentellen‹ ProsastückeVWs abgibt: ›Kew Gardens‹, parallel mit Night and Day geschrieben, erschien erstmals als Einzelausgabe, mit Bildern der Schwester Vanessa Bell, im gleichen Jahr wie der Roman, 1919.
Anne Hathaway (1555/6–1623), die Shakespeare im November 1582 heiratete, als sie ein Kind von ihm erwartete.
Harriet Martineau (1802–1876), seinerzeit angesehene Autorin von Romanen und Schriften in sozialreformerischer Absicht, beeinflußt von John Stuart Mill und Auguste Comte, den sie auch übersetzte.
Beide Autoren wurden vonVW sehr geschätzt. William Cowper (1731–1800) war vor allem als Dichter des englischen Landlebens berühmt (The Task, 1785); bis heute werden seine aus dem Nachlaß herausgegebenen Briefe bewundert. – Sir Walter Scott (1771–1832), der Autor großer historischer Romane, verbunden im Zyklus der Waverley Novels (seit 1814).
Ralph Denham erinnert sich vermutlich an die Ankunft Dalilas in John Miltons Tragödie Samson Agonistes (1671):
But who is this, what thing of sea or land?
Female of sex it seems,
That so bedecked, ornate, and gay,
Comes this way sailing,
Like a stately ship …
With all her bravery on, and tackle trim,
Sails filled, and streamers waving,
Courted by all the winds that hold them play.
(Wer aber ist das, ein Ding des Meeres oder Lands? / Weiblich scheint’s zu sein, / Das so geschmückt, verziert und heiter, / Hierher gesegelt kommt, / Stattlich wie ein Schiff … / In aller Pracht, das Tauwerk schmuck, / Gefüllt die Segel und die Wimpel flatternd, / Umbuhlt von allen Winden, die damit spielen.)
Es handelt sich um Katharines Mathematikbücher.
Edward John Trelawny (1792–1881) war ein Freund Shelleys und Zeuge seines Ertrinkens bei Livorno. Seine Erinnerungen an Shelley finden sich in Adventures of a Younger Son (1831) und in Records of Shelley, Byron, and the Author (1858).
Nach der englischen Version von ›Aschenputtel‹: ›Cinderella‹.
Im Hertford House am Manchester Square befindet sich die Wallace Collection. Bechstein Hall war eine Konzerthalle in der Wigmore Street.
Newnham war eines der beiden Frauen-Colleges in Cambridge. Joan hält die erste lateinische Konjugation für Griechisch.VW, die keine formale Schulbildung erhielt, erbat von ihrem Vater, Griechisch lernen zu dürfen.
Thomas Babington Macaulays (1800–1859) History of England (1849–61) in 5 Bänden, die allerdings nur das 17. Jahrhundert behandelte, war eines der erfolgreichsten Bücher des viktorianischen Zeitalters.VW las »my beloved Macaulay« mit fünfzehn (im April und Mai 1897).
Bradshaws Railway Guides waren monatlich erscheinende Kursbücher.
Breite Straße, die von Aldwych zur Southampton Row führt. Westlich davon lagen die Lincoln’s Inn Fields.
A.B.C. Shops (Aerated Bread Company). Es handelt sich um eine Kette von Teestuben, die alleinstehende Frauen ohne Begleitung aufsuchen konnten.
Coliseum ist ein großes (Varieté-)Theater in St. Martin’s Lane. Die anderen Namen sind Endstationen verschiedener Buslinien.
Armenbezirk in Ost-London mit billigen Vergnügungsstätten.
Hampton Court, ein in der Tudorzeit gebauter Palast mit bedeutenden Gartenanlagen und einem Labyrinth aus Eibengesträuch, war von William III., dem Oranier, der nach der ›Glorious Revolution‹ von 1689 bis 1702 England regierte, umgebaut worden. – Hampstead Heath war im 18. Jahrhundert berüchtigt wegen der Räuberbanden, die sich dort leicht verstecken konnten.
Die legendäre Begegnung zwischen den beiden romantischen Dichtern, dem jungen, 22jährigen John Keats und dem doppelt so alten, berühmten Samuel Taylor Coleridge, fand am 11. April 1819 in der Highgate Lane statt. Sie soll Keats zu seiner ›Ode to a Nightingale‹ inspiriert haben.
Vielleicht aus Schuberts Liederzyklus ›Die schöne Müllerin‹.
Für
VANESSA BELL
Doch als ich nach Worten suchte,
die neben Deinem Namen
stehen könnten,
fand ich keine.
Es war ein Sonntagabend im Oktober, und gleich vielen anderen jungen Damen ihres Standes schenkte Katharine Hilbery Tee ein. Vielleicht ein Fünftel ihrer Gedanken war damit beschäftigt, der Rest nahm die kleine Hürde zwischen Montagmorgen und diesem eher gebändigten Moment und spielte mit den Dingen, die man freiwillig und normalerweise bei Tage tut. Doch obwohl sie schwieg, war sie offenkundig Herrin einer ihr hinlänglich vertrauten Situation und geneigt, sie ihren Gang gehen zu lassen, zum sechshundertsten Mal vielleicht, ohne eines ihrer ungenutzten Talente einzusetzen. Ein einziger Blick zeigte, daß Mrs Hilbery mit jenen Gaben, die Teegesellschaften älterer, distinguierter Herrschaften gelingen lassen, so reich gesegnet war, daß sie kaum der Hilfe ihrer Tochter bedurfte, vorausgesetzt, man befreite sie vom lästigen Umgang mit Teetassen, Brot und Butter.
In Anbetracht dessen, daß die kleine Gesellschaft noch keine zwanzig Minuten am Teetisch zusammengesessen hatte, machten die lebhaften Mienen und der gemeinsam erzeugte Geräuschpegel der Gastgeberin alle Ehre. Jemand, der in diesem Augenblick die Tür öffnete, schoß es Katharine plötzlich in den Sinn, würde denken, sie amüsierten sich; er würde denken: ›Da komme ich aber in ein ganz besonders nettes Haus!‹ und instinktiv lachte sie und sagte etwas, um den Lärm zu vermehren, zum Ansehen des Hauses vermutlich, denn sie selbst hatte sich nicht in Hochstimmung gefühlt. In ebendiesem Moment wurde, zu ihrem beträchtlichen Vergnügen, die Tür aufgerissen, und ein junger Mann trat ins Zimmer. Als Katharine ihm die Hand schüttelte, fragte sie ihn im stillen: »Nun, denken Sie, daß wir uns köstlich amüsieren?« … »Mr Denham, Mutter«, sagte sie laut, denn sie sah, daß ihre Mutter seinen Namen vergessen hatte.
Dieser Umstand war für Mr Denham ebenfalls merklich und steigerte noch die Verlegenheit, welche den Eintritt eines Fremden in ein Zimmer voll ungezwungener und sich in Wortschwällen ergehender Menschen unweigerlich begleitet. Zugleich schien es Mr Denham, als hätten sich zwischen ihm und der Straße draußen tausend weichgepolsterte Türen geschlossen. Ein feiner Dunst, die vergeistigte Essenz des Nebels draußen, schwebte deutlich sichtbar in dem weiten und ziemlich leeren Raum des Salons, ganz silbrig dort, wo sich die Kerzen auf dem Teetisch gruppierten, und dann wieder rötlich im Feuerschein. Noch ratterten in seinem Kopf die Omnibusse und Droschken, noch kribbelte sein Körper vom schnellen Gang durch die Straßen und dem Hin und Her zwischen Verkehr und Fußgängern, und so wirkte dieser Salon sehr abgeschieden und still, und die Gesichter der älteren Herrschaften wirkten abgeklärt und ein wenig distanziert voneinander und trugen einen sanften Schimmer, denn blaue Dunstfäden verschleierten die Luft. Mr Denham war eingetreten, als Mr Fortescue, der bedeutende Romancier,[1] eben in der Mitte eines sehr langen Satzes angelangt war. Er beließ diesen in der Schwebe, während der Neuankömmling Platz nahm, und Mrs Hilbery verband flink die zertrennten Teile, indem sie sich zu ihm beugte und bemerkte:
»Also, was würden Sie tun, wenn Sie mit einem Ingenieur verheiratet wären und in Manchester leben müßten, Mr Denham?«
»Sie könnte doch gewiß Persisch lernen«, unterbrach ein dünner, älterer Herr. »Gibt es denn in Manchester keinen pensionierten Schulmeister oder Gelehrten, bei dem sie Persisch studieren könnte?«
»Eine Cousine von uns hat nämlich geheiratet und ist nach Manchester gezogen«, erklärte Katharine. Mr Denham murmelte etwas, mehr wurde von ihm in der Tat auch nicht verlangt, und der Romancier fuhr da fort, wo er aufgehört hatte. Insgeheim verwünschte sich Mr Denham heftig dafür, die Freiheit der Straße mit diesem kultivierten Salon vertauscht zu haben, wo er, von anderen Unannehmlichkeiten ganz abgesehen, bestimmt nicht den vorteilhaftesten Eindruck erwecken würde. Er blickte in die Runde und sah, daß bis auf Katharine alle über Vierzig waren, und der einzige Trost bestand darin, daß Mr Fortescue so berühmt war, daß man sich morgen freuen mochte, ihm begegnet zu sein.
»Waren Sie schon einmal in Manchester?« fragte er Katharine.
»Noch nie«, erwiderte sie.
»Warum haben Sie dann etwas daran auszusetzen?«
Katharine rührte in ihrer Tasse und schien, so dachte Denham, Betrachtungen anzustellen über die Pflicht, jemand anderem Tee nachzuschenken, doch in Wahrheit fragte sie sich, wie sie diesen sonderbaren jungen Mann mit den übrigen Gästen in Gleichklang bringen sollte. Sie bemerkte, wie er seine Teetasse so fest zusammenpreßte, daß das dünne Porzellan eingedrückt zu werden drohte. Sie sah ihm seine Nervosität an; es stand ja zu erwarten, daß ein knochendürrer junger Mann mit vom Wind leicht gerötetem Gesicht und zerzaustem Haar in einer solchen Gesellschaft nervös wurde. Überdies mochte er diese Art Veranstaltung wahrscheinlich gar nicht und war nur aus Neugier gekommen, oder weil ihr Vater ihn eingeladen hatte – gleichviel, er würde nicht leicht mit den übrigen zu verbinden sein.
»Ich könnte mir vorstellen, daß man in Manchester einfach keinen Gesprächspartner findet«, erwiderte sie aufs Geratewohl. Mr Fortescue hatte sie einen oder zwei Augenblicke lang beobachtet, wie Romanciers zu beobachten pflegen, und bei dieser Bemerkung lächelte er und machte sie zum Thema einer weiteren kleinen Spekulation.
»Trotz eines geringfügigen Hangs zur Übertreibung trifft Katharine zweifellos den Nagel auf den Kopf«, sagte er und schilderte, während er sich in seinem Sessel zurücklehnte, den undurchdringlichen, nachdenklichen Blick an die Decke geheftet und die Fingerspitzen aneinandergepreßt, zunächst die Schrecken von Manchesters Straßen, dann die kahlen, endlosen Moore in der Umgebung der Stadt, und dann das schäbige kleine Haus, in dem das Mädchen wohnen würde, und schließlich die Professoren und die armseligen, sich den anstrengenden Werken unserer jüngeren Dramatiker widmenden Studenten, die sie besuchen würden, und wie sich ihr Äußeres allmählich verändern und sie nach London fliehen würde, und wie Katharine sie würde herumführen müssen, so wie man einen gierigen Hund an der Kette an Reihen lärmerfüllter Metzgereien vorbeiführt – das arme Ding.
»Oh, Mr Fortescue«, rief Mrs Hilbery aus, als er geendet hatte, »ich habe ihr gerade geschrieben, wie sehr ich sie beneide! Ich dachte an die großen Parks und die netten alten Damen mit Fäustlingen, die nichts als den Spectator lesen und die Kerzen putzen. Sind sie denn alle verschwunden? Ich habe ihr erzählt, sie würde alle Annehmlichkeiten Londons vorfinden, ohne diese gräßlichen Straßen, die einen hier so deprimieren.«
»Es gibt die Universität«, sagte der dünne Herr, der zuvor die Existenz des Persischen kundiger Leute behauptet hatte.
»Ich weiß, daß es dort Moore gibt, weil ich neulich in einem Buch davon gelesen habe«, sagte Katharine.
»Ich bin betrübt und erstaunt über die Ignoranz meiner Familie«, bemerkte Mr Hilbery. Er war ein älterer Mann mit einem Paar ovaler, nußbrauner Augen, die recht leuchtend waren für sein Alter und sein massiges Gesicht milderten. Er spielte unablässig mit einem kleinen grünen Stein, der an seiner Uhrkette baumelte, wobei er lange und sehr sensible Finger sehen ließ, und er besaß die Angewohnheit, den Kopf sehr schnell hierhin und dorthin zu wenden, ohne die Position seines großen und ziemlich ausladenden Körpers zu verändern, so daß er sich bei geringstem Energieaufwand unablässig mit Stoff zur Unterhaltung und zum Nachdenken zu versorgen schien. Man durfte annehmen, daß die Jahre seiner persönlichen Ambitionen hinter ihm lagen oder daß er sie so weit wie möglich befriedigt hatte und seinen beträchtlichen Scharfsinn jetzt eher aufs Beobachten und Nachdenken verwandte, als darauf, irgendein Resultat zu erzielen.[2]Und während Mr Fortescue ein weiteres, abgerundetes Wortgebäude zusammenfügte, entschied Denham, daß Katharine sowohl Ähnlichkeit mit ihrer Mutter als auch mit ihrem Vater besaß, aber diese Elemente waren auf eigenartige Weise vermischt. Sie hatte die schnellen, impulsiven Bewegungen ihrer Mutter, die gleichen Lippen, die sich oft teilten, wie um etwas zu sagen, und sich dann wieder schlossen, und die dunklen, ovalen Augen ihres Vaters, hinter deren Glanz sich eine tiefe Traurigkeit verbarg; weil sie zu jung war, um sich bereits eine sorgenvolle Lebensanschauung erworben zu haben, könnte man sagen, daß weniger Traurigkeit dahintersteckte als vielmehr ein der Kontemplation und Selbstbeherrschung zugetanes Temperament. Ihr Haar, ihr Teint und ihre Züge machten sie bemerkenswert, wenn nicht sogar schön. Entschlußkraft und Gelassenheit prägten sie, eine Kombination von Eigenschaften, die einen sehr markanten Charakter formte, und einen, der nicht sonderlich geeignet schien, einem jungen Mann, der sie kaum kannte, die Befangenheit zu nehmen. Im übrigen war sie groß gewachsen und trug ein Kleid von unauffälliger Farbe mit alten, gelbgetönten Spitzen als Verzierung, dem das Funkeln eines altmodischen Juwels den einzigen roten Schimmer verlieh. Denham fiel auf, daß sie, obwohl sie schwieg, die Situation ausreichend beherrschte, um sofort zu reagieren, wenn ihre Mutter sie um Hilfe bat, und trotzdem merkte er, daß sie nur oberflächlich bei der Sache war. Er sah plötzlich, daß sie es hier am Teetisch, zwischen all diesen älteren Leuten, nicht leicht hatte, und er zügelte seinen Drang, sie oder ihr Verhalten als ablehnend zu empfinden. Das Gespräch hatte Manchester verlassen, nachdem man sich sehr eingehend damit befaßt hatte.
»Was war es doch gleich, die Schlacht bei Trafalgar oder die spanische Armada, Katharine?« wollte ihre Mutter wissen.[3]
»Trafalgar, Mutter.«
»Trafalgar, natürlich! Wie dumm von mir! Noch eine Tasse Tee mit einem Scheibchen Zitrone, und dann, lieber Mr Fortescue, erklären Sie mir bitte mein absurdes kleines Problem. Herren mit römischen Nasen muß man einfach glauben, selbst wenn man sie in Omnibussen trifft.«
Hier ergriff nun Mr Hilbery das Wort und erzählte, an Denham gewandt, allerhand Vernünftiges über den Anwaltsberuf und die Veränderungen, die er in seinem Leben gesehen hatte. Und Denham schickte sich brav in sein Los, eingedenk der Tatsache, daß sie ihre Bekanntschaft einem Artikel über irgendeine Rechtsangelegenheit verdankten, den er geschrieben und den Mr Hilbery in seiner Zeitschrift veröffentlicht hatte. Doch als einen Moment später Mrs Sutton Bailey angekündigt wurde, wandte er sich ihr zu, und Mr Denham saß schweigend und ein Gesprächsthema nach dem andern verwerfend neben Katharine, die ebenfalls schwieg. Da sie beinahe im selben Alter und beide unter dreißig waren, verbot sich ihnen der Gebrauch vieler dienlicher Phrasen, welche die Konversation in glattes Fahrwasser steuern. Das Zustandekommen eines Gesprächs wurde zudem verhindert durch Katharines maliziösen Entschluß, diesem jungen Mann, aus dessen aufrechtem und resolutem Betragen sie irgend etwas herauslas, das ihrer Umgebung feindlich gesinnt war, durch keine der üblichen weiblichen Artigkeiten behilflich zu sein. Und so saßen sie schweigend da, und Denham beherrschte sein Verlangen, etwas Schroffes und Aufbrausendes zu sagen, um sie hochzuschrecken. Doch Mrs Hilbery spürte sofort jedes Schweigen im Salon wie eine stumme Note in einer klingenden Tonleiter, beugte sich über den Tisch und äußerte in der eigentümlich zaghaft-freischwebenden Art, die ihre Sätze immer Schmetterlingen gleichen ließ, die von einem Sonnenfleckchen zum nächsten flattern: »Wissen Sie, Mr Denham, Sie erinnern mich so sehr an den guten Mr Ruskin[4] … Liegt das an seiner Krawatte, Katharine, oder an seinem Haar, oder an der Art, wie er im Sessel sitzt? Sagen Sie mir, Mr Denham, sind Sie ein Bewunderer von Ruskin? Irgend jemand sagte kürzlich zu mir: ›Oh nein, Ruskin lesen wir nicht, Mrs Hilbery.‹ Was lesen denn Sie? – Sie können doch nicht Ihre ganze Zeit damit zubringen, in Aeroplanen aufzusteigen und sich ins Erdinnere zu graben.«
Sie schaute Denham wohlwollend an, der nichts Vernehmliches sagte, und dann Katharine, die lächelte, aber auch nichts sagte, worauf Mrs Hilbery, offenbar von einer brillanten Idee ergriffen, ausrief:
»Ich bin sicher, Mr Denham würde gern unsere Sachen sehen, Katharine. Er ist bestimmt nicht so wie dieser schreckliche junge Mann, Mr Ponting, der mir erklärte, er betrachte es als unser aller Pflicht, ausschließlich in der Gegenwart zu leben. Aber was ist denn die Gegenwart? Zur Hälfte Vergangenheit, und meiner Meinung nach auch zur besseren«, ergänzte sie, wobei sie sich Mr Fortescue zuwandte.
Denham erhob sich, halb in der Absicht, zu gehen, wie auch in der Überzeugung, alles Sehenswerte gesehen zu haben, doch im gleichen Augenblick erhob sich Katharine, und mit den Worten: »Vielleicht möchten Sie die Bilder sehen«, ging sie durch den Salon voran zu einem kleineren Raum, der sich daran anschloß.
Dieser kleinere Raum glich der Kapelle einer Kathedrale oder der Grotte in einer Höhle, denn der in der Ferne brausende Verkehrslärm erinnerte an eine sanft wogende Brandung, und die ovalen Spiegel mit ihrer silbernen Oberfläche wirkten wie tiefe Teiche, die unter dem Licht der Sterne zittern. Aber der Vergleich mit einem Ort religiöser Verehrung war der treffendere von beiden, denn der kleine Raum barg zahllose Reliquien.
Als Katharine ein paar Schalter betätigte, flammten diverse Lampen auf und enthüllten erst eine quadratische Fläche rotgoldener Bücher, dann einen langen Rock, der in Blau und Weiß hinter Glas leuchtete, und dann einen Mahagonischreibtisch mit seinem ordentlichen Zubehör, und schließlich ein Bild über dem Tisch, dem eine eigene Beleuchtung gewährt wurde. Als Katharine diese letzten Lampen eingeschaltet hatte, trat sie zurück, wie um zu sagen: »Da!« Denham gewahrte, daß die Augen des großen Dichters Richard Alardyce[5] auf ihn herabblickten, und bekam einen kleinen Schreck, der ihn, hätte er einen Hut getragen, veranlaßt hätte, diesen abzunehmen. Die Augen blickten ihn aus den milden rosa und gelben Farbtönen mit göttlichem Wohlwollen an, das ihn umgab, und schweiften weiter, um die ganze Welt in ihre Betrachtung einzuschließen. Die Farbe war so verblaßt, daß wenig mehr erhalten war außer den schönen, großen Augen, die dunkel hervortraten in der Verschwommenheit des Bildes.
Katharine wartete, damit der Eindruck seine volle Wirkung auf ihn entfalten konnte, und sagte dann:
»Dies ist sein Schreibtisch. Er benutzte diese Feder«, und sie hob einen Federkiel hoch und legte ihn wieder zurück. Auf dem Schreibtisch sah man noch die alten Tintenspritzer, und die Feder war vom Gebrauch zerzaust. Dort lag die riesige Goldrandbrille griffbereit, und unter dem Tisch standen ein Paar abgetragene Pantoffeln, von denen Katharine einen mit der Bemerkung aufhob:
»Ich glaube, mein Großvater muß mindestens doppelt so groß gewesen sein wie irgend jemand heutzutage. Dies«, fuhr sie fort, als wisse sie auswendig, was sie zu sagen hatte, »ist das Originalmanuskript der ›Ode an den Winter‹. Die frühen Gedichte zeigen weitaus weniger Verbesserungen als die späteren. Möchten Sie es sich einmal anschauen?«
Während Mr Denham das Manuskript in Augenschein nahm, blickte sie zu ihrem Großvater auf und versank zum tausendstenmal in einen angenehmen, träumerischen Zustand, in dem sie die Gefährtin jener großen Männer zu sein schien, zumindest aber teilte sie deren Abstammung, und der unbedeutende gegenwärtige Augenblick bekam etwas Beschämendes. Dieses grandiose, geisterhafte Haupt auf der Leinwand hatte gewiß nie all die Trivialitäten eines Sonntagnachmittags gesehen, und es schien belanglos, was sie und dieser junge Mann miteinander sprachen, denn sie waren bloß kleine Leute.
»Dies ist ein Exemplar der Erstausgabe der Gedichte«, fuhr sie fort, ohne der Tatsache Beachtung zu schenken, daß Mr Denham noch mit dem Manuskript beschäftigt war, »das mehrere Gedichte enthält, die nicht nachgedruckt wurden, sowie Korrekturen.« Sie hielt für eine Minute inne, und fuhr dann fort, als seien alle diese Pausen kalkuliert.
»Diese Dame in Blau ist meine Urgroßmutter, gemalt von Millington. Hier ist der Spazierstock meines Onkels – er war Sir Richard Warburton, müssen Sie wissen, und er ritt mit Havelock zum Entsatz von Lucknow.[6] Und dann, warten Sie mal – oh, das ist der erste Alardyce, 1697, der Begründer des Familienvermögens, mit seiner Frau. Irgend jemand hat uns neulich diese Schale geschenkt, weil sie ihr Wappen und ihre Initialen trägt. Wir nehmen an, sie wurde ihnen anläßlich ihrer Silberhochzeit überreicht.«
Hier hielt sie einen Augenblick inne und fragte sich, warum Mr Denham keinen Ton sagte. Ihr Gefühl, er habe etwas gegen sie, das verflogen war, während sie an ihre Familienstücke dachte, kehrte so schneidend zurück, daß sie ihre Aufzählung abrupt unterbrach und ihn anblickte. Ihre Mutter, die ihn auf ehrenvolle Weise mit den großen Toten in Verbindung zu bringen suchte, hatte ihn mit Ruskin verglichen; und dieser Vergleich kam Katharine in den Sinn und veranlaßte sie, den jungen Mann kritischer zu betrachten, als hier angemessen schien, denn ein junger Mann, der im Cut einen Besuch abstattet, ist in einem ganz anderen Element als ein auf dem Höhepunkt seiner Ausdruckskraft gebannter Kopf, der unverwandt hinter einer Glasscheibe hervorstarrt, was denn auch alles war, was ihr von Ruskin blieb. Er hatte ein ungewöhnliches Gesicht, ein Gesicht, das eher für Raschheit und Entschlossenheit als für gewichtige Betrachtungen gemacht schien; die Stirn breit, die Nase lang und imposant, der Mund glattrasiert und zugleich verkniffen und sensibel, die Wangen schmal, in deren Tiefen Fluten roten Blutes strömten. Seine Augen, die jetzt die übliche maskuline Unpersönlichkeit und Autorität ausdrückten, mochten unter günstigeren Umständen subtilere Gefühle offenbaren, denn sie waren groß und von klarer brauner Farbe – sie schienen unerwartet zu zögern und zu grübeln; aber Katharine musterte ihn nur mit der Überlegung, ob sein Gesicht dem Ideal ihrer toten Heroen nicht näher gekommen wäre, hätte ein Backenbart es geschmückt. In seiner mageren Statur und den dünnen, doch gesunden Wangen erkannte sie Anzeichen einer schroffen und ätzenden Seele. In seiner Stimme bemerkte sie ein leichtes Beben oder Knarren, als er das Manuskript hinlegte und sagte:
»Sie müssen sehr stolz sein auf Ihre Familie, Miss Hilbery.«
»Ja, das bin ich«, antwortete Katharine, und sie setzte hinzu: »Ist daran irgend etwas falsch?«
»Falsch? Was sollte denn falsch daran sein? Obwohl es sicher langweilig wird, allen Besuchern Ihre Sachen zu zeigen«, fügte er nachdenklich hinzu.
»Nicht, wenn sie den Besuchern gefallen.«
»Ist es für Sie nicht schwierig, sich Ihrer Vorfahren würdig zu erweisen?« fuhr er fort.
»Zumindest sollte ich nicht versuchen, Gedichte zu schreiben«, erwiderte Katharine.
»Nein. Und genau das wäre mir ein Graus. Ich fände es unerträglich, von meinem Großvater ausgestochen zu werden. Und übrigens«, fuhr Denham fort und blickte, wie Katharine fand, ironisch um sich, »ist es ja nicht nur Ihr Großvater. Ringsum sticht man Sie aus. Ich denke, Sie stammen aus einer der bedeutendsten Familien Englands. Da sind die Warburtons und die Mannings – und mit den Otways sind Sie doch auch verwandt? Ich habe das alles in einer Zeitschrift gelesen«, ergänzte er.
»Die Otways sind meine Cousins und Cousinen«, erwiderte Katharine.
»Also«, sagte Denham in abschließendem Tonfall, als sei seine Behauptung bewiesen.
»Also«, sagte Katharine, »für mich ist damit gar nichts bewiesen.«
Denham lächelte auf eine eigentümlich provozierende Art. Es amüsierte und befriedigte ihn, daß er seine selbstvergessene und hochnäsige Gastgeberin wenigstens zu ärgern vermochte, wenn er sie schon nicht beeindrucken konnte; obwohl er es vorgezogen hätte, sie zu beeindrucken.
Er saß schweigend da, den kostbaren kleinen Gedichtband ungeöffnet in den Händen, und Katharine betrachtete ihn; der melancholische oder nachdenkliche Ausdruck in ihrem Blick verstärkte sich in dem Maße, wie ihre Verärgerung wich. Vielerlei schien ihr durch den Kopf zu gehen. Sie hatte ihre Pflichten vergessen.
»Also«, sagte Denham wieder und öffnete plötzlich den kleinen Gedichtband, als hätte er alles gesagt, was er sagen wollte oder, mit Anstand, sagen konnte. Er blätterte die Seiten mit solcher Entschiedenheit um, als beurteile er das Buch in seiner Gesamtheit, Druck, Papier und Einband ebenso wie die Verse, und dann, nachdem er sich von seiner guten oder schlechten Qualität überzeugt hatte, legte er es auf den Schreibtisch zurück und inspizierte das Malakkarohr mit dem Goldknauf, das dem Soldaten gehört hatte.
»Sind Sie denn nicht stolz auf Ihre Familie?« wollte Katharine wissen.
»Nein«, sagte Denham. »Wir haben nie etwas getan, worauf man stolz sein könnte – es sei denn, man ist stolz auf die Tatsache, daß man stets alle seine Rechnungen bezahlt hat.«
»Das klingt ja recht öde«, bemerkte Katharine.
»Sie würden uns schrecklich öde finden«, stimmte Denham zu.
»Ja, ich würde Sie vielleicht öde finden, aber ich glaube nicht, daß ich Sie lächerlich finden würde«, fügte Katharine hinzu, als hätte Denham ihrer Familie tatsächlich diesen Vorwurf gemacht.
»Nein – weil wir nicht im geringsten lächerlich sind. Wir sind eine ehrbare Familie der Mittelschicht, die in Highgate[7] wohnt.«
»Wir wohnen zwar nicht in Highgate, aber wir gehören auch zur Mittelschicht, vermute ich.«
Denham lächelte bloß, und nachdem er das Malakkarohr wieder in den Ständer gestellt hatte, zog er ein Schwert aus seiner reich verzierten Scheide.
»Das gehörte Clive, so behaupten wir jedenfalls«, sagte Katharine und nahm ihre Pflichten als Gastgeberin automatisch wieder auf.
»Ist das etwa gelogen?« erkundigte sich Denham.
»Eine Familienüberlieferung. Soviel ich weiß, können wir es nicht beweisen.«
»Sehen Sie, in unserer Familie gibt es keine Überlieferungen«, sagte Denham.
»Das klingt sehr öde«, bemerkte Katharine zum zweiten Mal.
»Eben Mittelschicht«, erwiderte Denham.
»Sie bezahlen Ihre Rechnungen, und Sie sagen die Wahrheit. Ich sehe keinen Grund, warum Sie uns verachten sollten.«
Mr Denham steckte vorsichtig das Schwert in die Scheide, von dem die Hilberys behaupteten, es habe Clive gehört.
»Ich möchte nicht mit Ihnen tauschen; mehr habe ich nicht gesagt«, erwiderte er, als versuche er, seine Gedanken möglichst präzise zu formulieren.
»Nein, aber man möchte nie jemand anderes sein.«
»Ich schon. Ich wäre gern eine Menge anderer Leute.«
»Und warum dann nicht wie wir?« fragte Katharine.
Denham blickte sie an, wie sie im Lehnstuhl ihres Großvaters saß und sich das Malakkarohr ihres Großonkels durch die Finger gleiten ließ, während ihr Hintergrund zu gleichen Teilen aus leuchtendem Blau und Weiß und karmesinroten Büchern mit Goldlinien bestand. Die Vitalität und Gelassenheit ihrer Haltung, wie die eines buntgefiederten Vogels, der zwischen zwei Flügen ganz entspannt dasitzt, trieb ihn dazu, ihr die Beschränkungen ihres Geschicks aufzuzeigen. So bald, so leicht würde er wieder vergessen sein.
»Sie werden niemals etwas aus erster Hand erfahren«, begann er fast wütend. »Das haben andere bereits für Sie erledigt. Sie werden nie das Vergnügen kennen, Dinge zu kaufen, für die man gespart hat, oder Bücher zum ersten Mal zu lesen, oder Entdeckungen zu machen.«
»Nur zu«, meinte Katharine, als er innehielt und ihm plötzlich Zweifel kamen, als er seine eigene Stimme diese Tatsachen verkünden hörte, ob daran überhaupt etwas Wahres war.
»Ich weiß natürlich nicht, wie Sie Ihre Zeit verbringen«, fuhr er ein wenig steif fort, »aber vermutlich müssen Sie immer die Leute herumführen. Sie schreiben eine Biographie Ihres Großvaters, nicht? Und derlei« – er nickte zu dem anderen Zimmer hin, aus dem sich kultiviertes Gelächter vernehmen ließ – »muß eine Menge Zeit verschlingen.«
Sie schaute ihn erwartungsvoll an, so als dekorierten sie gemeinsam ein Figürchen, das sie selbst darstellte, und als sähe sie ihn beim Anbringen einer Schleife oder Schärpe zögern.
»Sie haben es beinahe getroffen«, sagte sie, »aber ich helfe nur meiner Mutter. Ich schreibe nicht selbst.«
»Gibt es überhaupt irgend etwas, das Sie selbst tun?« wollte er wissen.
»Ich verlasse nicht um zehn das Haus und komme um sechs zurück. Wenn sie das meinen«
»Das meine ich nicht.«
Mr Denham hatte seine Selbstbeherrschung wiedergewonnen; er sprach mit einer Ruhe, die Katharine gespannt auf seine Erklärung machte, doch zugleich wollte sie ihn ärgern, ihn auf einer leichten Strömung von Spott oder Satire von sich wegtreiben, so wie sie es mit diesen jungen Männern zu tun pflegte, die periodisch im Schlepptau ihres Vaters auftauchten.
»Heutzutage tut niemand mehr etwas, was es wert wäre«, bemerkte sie. »Sehen Sie« – sie pochte auf den Gedichtband ihres Großvaters –, »wir drucken nicht einmal so gut wie sie, und was Dichter oder Maler oder Romanciers angeht – es gibt keine; ich bin also zumindest kein Einzelfall.«
»Nein, wir besitzen keine großen Männer«, entgegnete Denham. »Und darüber bin ich mehr als froh. Ich verabscheue große Männer. Die Anbetung der Größe im neunzehnten Jahrhundert scheint mir den Unwert dieser Generation zu erklären.«
Katharine öffnete die Lippen und holte Luft, wie um mit gleicher Heftigkeit zu antworten, da lenkte das Schließen einer Tür im Nebenzimmer ihre Aufmerksamkeit ab, und sie wurden beide gewahr, daß die Stimmen, die, bald lauter und bald leiser, vom Teetisch zu hören gewesen waren, nun schwiegen; sogar das Licht schien gedämpft. Einen Augenblick später tauchte Mrs Hilbery in der Tür des Vorzimmers auf. Sie stand da und blickte sie mit einem erwartungsvollen Lächeln an, als würde ihr zuliebe eine Szene aus dem Theater der jüngeren Generation aufgeführt. Sie war eine bemerkenswerte Frau, hoch in den Sechzigern, doch aufgrund ihrer zierlichen Gestalt und ihrer leuchtenden Augen schien sie über die Jahre dahingeschwebt zu sein, ohne unterwegs sonderlich Schaden genommen zu haben. Ihr Gesicht war eingefallen und adlerartig, doch wurde jede Spur von Härte sofort vertrieben von diesen großen blauen Augen, die, scharfsichtig und unschuldig zugleich, die Welt mit dem enormen Wunsch zu betrachten schienen, sie möge sich edel verhalten, und mit der grenzenlosen Zuversicht, daß sie es könnte, würde sie sich nur die Mühe machen.
Gewisse Falten auf der breiten Stirn und um die Lippen mochten als Anzeichen gelten, daß sie im Laufe ihres Lebens auch schwierige und ratlose Augenblicke erlebt hatte, ihr Vertrauen hatte darunter jedoch nicht gelitten, und sie war eindeutig noch immer bereit, jedem immer wieder eine neue Chance zu geben und generell im Zweifelsfall zu jemandes Gunsten zu entscheiden. Sie besaß große Ähnlichkeit mit ihrem Vater und erinnerte wie er irgendwie an den frischen Wind und die offene Weite einer jüngeren Welt.
»Nun«, sagte sie, »wie gefallen Ihnen unsere Sachen, Mr Denham?«
Mr Denham erhob sich, legte sein Buch hin, öffnete den Mund, sagte aber nichts, wie Katharine mit einigem Vergnügen beobachtete.
Mrs Hilbery nahm das Buch auf, das er abgelegt hatte.
»Es gibt Bücher, die leben«, sinnierte sie. »Sie sind mit uns jung, und sie werden mit uns alt. Mögen Sie Gedichte, Mr Denham? Aber was für eine absurde Frage stelle ich da! Also, der gute Mr Fortescue hat mich doch ziemlich ermüdet. Er ist so beredt und so geistreich, so tiefschürfend und gründlich, daß ich nach etwa einer halben Stunde am liebsten alle Lampen löschen würde. Aber vielleicht wäre er im Dunkeln noch wundervoller. Was meinst du, Katharine? Sollen wir eine kleine Gesellschaft in absoluter Dunkelheit geben? Für die Langweiler müßte es dann helle Räume geben …«
Hier streckte Mr Denham seine Hand aus.
»Aber wir haben Ihnen noch so viel zu zeigen!« rief Mrs Hilbery und nahm keine Notiz davon. »Bücher, Bilder, Porzellan, Manuskripte, und den Sessel, in dem Mary Stuart saß, als sie von Darnleys Ermordung erfuhr. Ich muß mich jetzt ein wenig hinlegen, und Katharine muß ein anderes Kleid anziehen (obwohl sie ein sehr hübsches trägt), aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, allein gelassen zu werden, um acht gibt es Abendessen. Ich glaube fast, Sie werden in der Zwischenzeit selbst ein Gedicht schreiben. Ach, wie ich diesen Feuerschein liebe! Sieht unser Zimmer nicht bezaubernd aus?«
Sie trat beiseite und bat die beiden, den leeren Salon zu betrachten, mit seiner prächtigen, abwechslungsreichen Beleuchtung, als die Flammen im Kamin loderten und flackerten.
»Oh, ihr lieben Sachen!« rief sie. »Geliebte Sessel und Tische! Wie sehr sie alten Freunden gleichen – treuen, stillen Freunden. Dabei fällt mir ein, Katharine, der kleine Mr Anning kommt heute abend, und Tite Street, und Cadogan Square.[8]meinen