Kate Pepper

Die stumme Zeugin

Thriller

Aus dem Englischen von Bettina Zeller

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Kate Pepper

Kate Pepper ist in Frankreich geboren und in den USA aufgewachsen. Heute lebt sie mit ihrem Mann, einem Filmproduzenten, und den zwei Kindern als Schriftstellerin in New York. Kate Pepper hat sich einen festen Platz unter den Top-Thriller-Autorinnen erobert.

 

Weitere Veröffentlichungen:

5 Tage im Sommer

7 Minuten zu spät

3 Wochen bis zur Wahrheit

48 Stunden

Nur 15 Sekunden

Der Domino-Killer

Es ist niemals vorbei

Einladung zum Sterben

Über dieses Buch

Die einzige Zeugin. Niemand weiß, was sie sah.

 

Mit einem seltenen Jagdmesser tötet er die Frauen, immer auf die gleiche Weise: Er hat es auf Prostituierte abgesehen und hält ganz Brooklyn in Atem. Durch Zufall wird Ex-Polizistin Karin Schaeffer in die Ermittlungen zu der rätselhaften Mordserie hineingezogen. Als erneut eine Tote entdeckt wird, gibt es zum ersten Mal eine Zeugin. Am nächtlichen Tatort liegt ein kleines Mädchen im Schnee – bewusstlos und schwer verletzt. Bei ihr zu Hause findet man die Leichen der Eltern. Karin ahnt: Wenn das Kind nicht bald erwacht, wird es weitere Tote geben. Dann schlägt der Killer wieder zu – und diesmal ist das Opfer Karins Kindermädchen …

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel «Vanishing Girls» bei HarperCollins Publishers, London.

 

Die deutsche Erstausgabe erschien bereits 2012 als Lizenzausgabe der Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Augsburg.

Redaktion Arno Hoven

 

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 2013

Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Vanishing Girls» Copyright © 2012 by Katia Spiegelman Lief

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich

(Abbildung: HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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ISBN Buchausgabe 978-3-499-25964-7 (1. Auflage 2013)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-49271-4

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-49271-4

Kapitel 1

Als ich Macs Arbeitszimmer betrat, drehte er sich zu mir um und warf mir einen Blick zu, als hätte ich ihn dabei erwischt, wie er sich heimlich Pornos im Internet anschaute. «Sorry, dass du das gesehen hast», meinte er und schaltete hastig sein Notebook aus.

Seine schnelle Reaktion änderte nichts daran, dass sich das Bild auf dem Bildschirm unwiderruflich in mein Gedächtnis eingebrannt hatte: Eine Frau bohrte ihre rot lackierten Fingernägel in einen behaarten Männerrücken, während sich auf ihrem Gesicht entweder Lust oder Ekel widerspiegelte – in der Kürze der Zeit konnte ich das nicht eindeutig erkennen.

«Neuer Fall?»

«Bin schon seit einer Woche dran. Die Ehefrau ging davon aus, dass ihr Göttergatte sie betrügt. Und sie hat richtiggelegen. Volltreffer. Damit wäre die Sache abgehakt.»

Ich durchquerte den kleinen Raum und legte die Hand auf seine Stirn. «Du glühst ja.»

«Im Bett halte ich es einfach nicht mehr aus.»

«Man kann sich gegen Grippe impfen lassen, damit es einen nicht –»

«Jetzt geht das schon wieder los!»

Erwischt.

Wie oft hatte ich ihn gebeten, die Schutzimpfung nicht auf die lange Bank zu schieben? Unser Sohn Ben, seine Babysitterin Chali und ich hatten uns bereits vor zwei Monaten impfen lassen. Nur Mac, das Arbeitstier, hatte dafür keine Zeit erübrigen können. Und nun würde er vermutlich eine Woche lang flachliegen, unter Fieber und Gliederschmerzen leiden und sich ganz grässlich fühlen.

«Leg dich wieder hin, Schatz.»

Er hustete und schüttelte den Kopf. «Ich habe noch zu tun.»

«Es ist Sonntagabend. Deine Auftraggeberin muss diese Fotos nicht unbedingt heute zu Gesicht kriegen … ganz im Gegenteil. Du tust ihr sogar einen Gefallen, wenn du sie noch ein bisschen warten lässt.»

«Da hast du auch wieder recht.» Er klappte das Notebook zu und sah zu mir hinüber.

Es war erst acht Uhr abends, und ich hatte Ben gerade zu Bett gebracht, doch bei Macs erschöpftem Blick hatte man das Gefühl, es wäre bereits Mitternacht.

«Wieso mache ich das eigentlich?», fragte er sich laut. «Ich dachte, ich hätte die Polizeiarbeit satt, und deswegen habe ich ja auch das Handtuch geworfen … Nur – jedes Mal, wenn ich mit Billy rede …»

«Der, wie du ganz genau weißt, total überfordert ist.»

«… denke ich, ich werde nie wieder einen Fall bearbeiten, der eine echte Herausforderung darstellt.»

«Möchtest du etwa mit Billy tauschen und einen Serienmörder jagen, der die Polizei seit nunmehr zwei Jahren in Atem hält? Hast du diese Quälerei nicht längst hinter dir? Meinst du nicht, du bist –»

«Gelangweilt.»

«Du bist krank und erschöpft, und wenn du jetzt behauptest, du würdest gern die Fälle bearbeiten, mit denen sich Billy herumschlagen muss, schreibe ich das mal dem Fieberwahn zu.»

«Vielleicht sollte ich versuchen, wieder als Sicherheitsberater bei einem Unternehmen anzuheuern?»

«Komm jetzt. Geh bitte ins Bett.» Ich reichte ihm meine Hand, die er bereitwillig ergriff, ehe er sich erhob und kurz innehielt, um Kraft zu schöpfen. Unter leisem Stöhnen ließ er sich von mir durch den Flur zum Schlafzimmer führen. Ohne das Licht einzuschalten, brachte ich ihn ins Bett. Die Luft roch abgestanden, was dem Zimmer etwas Klaustrophobisches verlieh, aber draußen war es viel zu kalt, um das Fenster zu öffnen.

«Schlaf jetzt.» Ich gab ihm einen Kuss auf die Stirn. «Ich bin oben.»

Er schnarchte, ehe ich die Tür schloss.

Da meine beiden Männer, von denen einer bald seinen vierten Geburtstag feiern würde, fest schliefen, herrschte im Haus eine ungewöhnliche Ruhe. Leise stieg ich die Stufen in das obere Geschoss unserer Maisonette-Wohnung. Diese Aufteilung – das Schlafzimmer im unteren Stockwerk und die Wohnräume in der darüberliegenden Etage mit den hohen Decken – war typisch für die rötlich braunen Sandsteinhäuser in Brooklyn, sofern man die untere Hälfte bewohnte. Während ich das Wohnzimmer durchquerte, knarzten die Dielen unter meinen nackten Füßen, und als ich versehentlich gegen einen von Bens Spielzeuglastern trat, der dann gegen die Wand geschleudert wurde, gab es einen lauten Knall. Ich hielt unvermittelt inne und wartete, ob Ben oder Mac sich rührten, doch anscheinend hatten sie nichts gehört. In der Küche schaltete ich das Licht ein, setzte mich an den Tisch und überlegte, was ich jetzt tun sollte. Eine wohltuende Stille breitete sich im Haus aus, und mit einem Mal nahm ich Geräusche wahr, die ich normalerweise nicht bemerkte: das Ticken der Wanduhr, das Summen des Kühlschranks, das dissonante Brummen des Heizkörpers.

Ich beschloss, zunächst Klarschiff zu machen. Vorhin hatte ich eine Hühnersuppe gekocht, und auf der Theke lagen noch Gemüseschalen und Brotkrumen von dem geschnittenen Baguette, das ich dazu serviert hatte. Als Erstes holte ich eine große Plastikfrischhaltedose aus dem Schrank und gab die restliche Suppe hinein.

Gerade als ich das Geschirr in der Spülmaschine verstaute, hörte ich den vertrauten Signalton, wenn eine SMS eintraf. Ich drehte mich um und hielt Ausschau nach Macs BlackBerry, denn meines – es steckte in der Gesäßtasche meiner Jeans – hatte sich definitiv nicht gemeldet. Er hatte sein Smartphone heute Morgen weggelegt, als er merkte, dass es ihm nicht gutging. Ich erblickte sein Handy auf einem der Küchenregale; es hatte den ganzen Tag über keinen Muckser von sich gegeben, und deshalb wunderte ich mich darüber, dass so spät, und dazu noch an einem Sonntag, eine Textnachricht einging. Da meine Hände vom Vorspülen nass waren, griff ich nicht nach Macs BlackBerry, sondern lud weiter das Geschirr in die Spülmaschine. Kurz darauf drehte ich den Wasserhahn zu, hob den Kopf – und erschrak, als ich in dem auf den Garten hinausgehenden Fenster mein Spiegelbild sah. Der Anblick, der sich mir bot, hatte etwas Gespenstisches. Eine großgewachsene, leicht irre wirkende Frau mit verstrubbelten, blond gefärbten Haaren starrte mich an. Unwillkürlich zuckte ich zusammen.

«Hau ab!» Ich winkte, und sie tat es mir gleich. Dann lachten wir einander zu, was nichts daran änderte, dass sie mich nervös machte.

Da Mac normalerweise abends die Küche aufräumte, war ich es nicht gewohnt, um diese Zeit hier zu stehen; und so stellten die undurchdringliche Dunkelheit dort draußen und mein verschwommenes Spiegelbild irritierende neue Erfahrungen dar. Falls er sich eine klassische Grippe zugezogen hatte, würde es noch einige Tage dauern, ehe er wieder auf dem Damm war. Bis dahin musste ich wohl oder übel seine und meine Aufgaben erledigen.

Ich war noch nicht müde und hatte mir zudem fest vorgenommen, bis zum Wochenende meine innere Blockade abzulegen und zu entscheiden, welche Kurse ich im kommenden Frühjahr belegen würde. Vor einiger Zeit hatte ich mich durchgerungen, wieder aufs College zu gehen, obwohl mein Alltag schon ziemlich stressig war und meine zwanzigjährigen Kommilitonen mich mit meinen achtunddreißig Jahren unweigerlich als uralt empfinden mussten. Darüber hinaus war ich Mutter und bereits zum zweiten Mal verheiratet. In meinem bisherigen Leben war mir einerseits großes Glück vergönnt gewesen, andererseits hatte ich furchtbare Schicksalsschläge hinnehmen müssen. Nun sehnte ich mich danach, meinen Abschluss zu machen und einen neuen Beruf zu ergreifen. Im Gegensatz zu Mac hatte die Polizeiarbeit für mich jedwede Faszination verloren, obwohl ich in diesem Job gut gewesen war und inzwischen eine Lizenz als Privatdetektivin besaß, die es mir erlaubte, Mac gelegentlich zu unterstützen. Je mehr Aufträge er erhielt, desto mehr hatte auch ich zu tun, aber es war nicht mein Ziel, (wieder) in die Rolle seiner Kollegin zu schlüpfen. Ich wollte nicht mehr direkt involviert sein, sondern die Dinge aus einer gewissen Distanz analysieren. Daher hatte ich beschlossen, meinen Bachelor in forensischer Psychologie zu machen.

Nur … ich wollte noch viel mehr.

Ich wollte sie zurück, und daran würde sich niemals etwas ändern.

Sie – Plural.

Cece, meine umwerfende kleine Tochter, die vor sechs Jahren zusammen mit Jackson, meinem ersten Ehemann, ermordet worden war.

Und Amelia, Sarah oder Dakota: meine andere Tochter, die nie das Licht der Welt erblickt hatte, die ich vor acht Wochen und drei Tagen im sechsten Monat der Schwangerschaft verloren hatte. Ein totes Kind zur Welt zu bringen, war … Ich gab mir einen Ruck und versuchte, nicht an diese niederschmetternde Erfahrung zu denken.

Ich öffnete eine Schrankschublade, in der wir allen möglichen Krimskrams aufbewahrten, und suchte in dem Durcheinander das Vorlesungsverzeichnis. Nachdem ich es gefunden hatte, konnte ich nicht widerstehen, noch etwas Ordnung zu schaffen und ein paar Dinge auszusortieren, wie etwa den kaputten kleinen Plastikfächer und die Bedienungsanleitung für einen Toaster, den wir längst entsorgt hatten. In der Schublade fand sich noch ein Taschenkalender, ein Werbegeschenk, das irgendwann mal als Postwurfsendung gekommen war. Ich wollte das Ding schon in den Mülleimer werfen, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne. Mac und ich nutzten ausschließlich die Kalenderfunktion unserer Handys, aber vielleicht benutzte ein anderer ja diesen Taschenkalender. Wie sich zeigte, war meine Vorsicht angebracht: Beim Durchblättern der Seiten stieß ich auf ein paar Einträge, die – nach der Handschrift zu urteilen – von Chali stammten. Erst da fiel mir wieder ein, dass ich ihrer Bitte entsprochen und ihr den kleinen Kalender überlassen hatte. Ich legte ihn in die Schublade zurück und setzte mich mit dem Vorlesungsverzeichnis an den Küchentisch.

Eigentlich hätte sie am 1. Januar das Licht der Welt erblicken sollen. An Neujahr. War der Wunsch, noch eine Tochter zu bekommen, zu gewagt gewesen? Vielleicht sogar vermessen? Es war eine gefährliche Hoffnung gewesen – als ob Cece ersetzt werden könnte. Natürlich war das absurd, und dennoch war es irgendwie ein verborgener Wunsch in mir gewesen, den ich niemals offen auszusprechen wagte. Während ich mit Leah, Elsa oder Caroline schwanger ging, überkam mich eine unsagbare Rastlosigkeit, als hätte dieses neue kleine Wesen die Macht, die nagende Leere in meinem Innern auszumerzen. Doch ihre Totgeburt verstärkte diesen Zustand nur noch. Als ich damals vor vier Jahren schwanger wurde, litt ich nicht unter solchen widerstreitenden Gefühlen. Vermutlich lag das daran, dass Ben ein Junge war, Mac und ich erst kurz davor geheiratet hatten und ich mich schlichtweg freute, noch am Leben zu sein.

Jede einzelne Stunde während der vergangenen acht Wochen und drei Tage hatte sich unglaublich zäh und bleiern angefühlt.

Nun standen gleich mehrere Familienfeiern vor der Tür: in zwei Wochen Weihnachten und in einem Monat Bens Geburtstag. Bislang war ich nicht dazu gekommen, Geschenke zu besorgen und die entsprechenden Vorbereitungen zu treffen.

Während ich die Kursinhalte überflog, fragte ich mich, woher ich die Energie nehmen sollte, mich um Ben zu kümmern, zu arbeiten und obendrein zwei Seminare zu belegen. Nach meiner Fehlgeburt war ich vorübergehend nicht mehr aufs College gegangen, doch einer der Kurse hatte mich so sehr fasziniert, dass ich nun versucht war, ihn abermals zu belegen: «Schuldunfähigkeit und die Simulation psychischer Störungen, eine Einführung». Da mich bei der Beurteilung von Verbrechern die Grauzone zwischen vorgetäuschter und echter Geisteskrankheit besonders interessierte, holte ich meinen Laptop, stellte ihn auf den Küchentisch und fuhr ihn hoch. Danach loggte ich mich auf der College-Website ein und meldete mich für das Seminar an. Mit der Entscheidung, ob ich noch einen zweiten Kurs belegen sollte – und falls ja, welchen –, konnte ich mir noch Zeit lassen, denn das Semester begann erst Anfang Februar.

Während ich das Vorlesungsverzeichnis wieder in die Schublade legte, fiel mein Blick auf Macs Handy und das rot blinkende Licht. Wer schickte ihm wohl am Sonntagabend eine SMS? Ging es um etwas Wichtiges? Ich beschloss, gegen die unausgesprochene Regel, die Privatsphäre des anderen zu wahren, zu verstoßen, und las die Textnachricht.

Sie stammte von Detective Billy Staples, der seit unserer Hochzeit und unserem Umzug nach Brooklyn Macs bester Freund war und gleich bei uns um die Ecke auf dem 84. Polizeirevier arbeitete. Die Nachricht war kurz und – zumindest für mich – unverständlich.

Warren Nevins

Mit dem Handy machte ich mich auf den Weg in die untere Etage, schaltete im Vorbeigehen das Wohnzimmerlicht aus und hinterließ – so empfand ich es wenigstens – eine eisige und gespenstige Leere. Wir hatten das Heizungsthermostat so eingestellt, dass die Temperatur um elf Uhr nachts abgesenkt wurde. Nun verriet die zunehmende Kälte mir, dass es bereits spät geworden war. Ich war müde und hatte große Lust, neben Mac ins warme Bett zu kriechen, zumal Ben stets gegen sechs Uhr in der Früh aufwachte.

Kaum trat ich an Macs Bettseite, um das Smartphone auf seinen Nachttisch zu legen, spürte ich die Hitze, die sein Körper abstrahlte.

«Ich bin wach», flüsterte er.

«Du hast eine SMS gekriegt.» Ich reichte ihm das Handy.

Das fahle Licht des kleinen quadratischen Displays fiel auf sein Gesicht. Die beiden Worte starrte er länger an, als es zum Lesen nötig war. Dann legte er das Handy neben ein paar zerknüllte Papiertaschentücher auf den Nachttisch, schloss die Augen und stieß einen Seufzer aus.

Zehn Minuten später kam ich im Nachthemd aus dem Badezimmer. Mein Atem roch nach Pfefferminze, mein Gesicht glänzte von der Nachtcreme, und meine Haare waren vom Bürsten statisch aufgeladen. Zu meiner Überraschung stand Mac angezogen im Flur. Seine Wangen waren vom Fieber gerötet.

«Hä?», entfuhr es mir in meiner Verwirrung. Ungläubig starrte ich ihn an.

«Ich muss etwas erledigen.»

«Du musst ins Bett.»

«Ich treffe mich mit Billy.»

«Nein, kommt überhaupt nicht in Frage.» Ich nahm seine Hände und versuchte, ihn durch den Flur zurück ins Schlafzimmer zu lotsen, doch er sträubte sich.

«Du verstehst das nicht, Karin.»

«Mac, du hast die Grippe. Das ist doch vollkommen absurd. Du kannst nicht mitten in der Nacht bei null Grad rausgehen und dich mit Billy treffen. Was immer er von dir möchte, es kann bis morgen warten.»

«Nein, das hier nicht.» Er schritt auf die Treppe zu.

«Und warum nicht?»

Er hielt inne, drehte sich um und blickte mich an. «Ich bin schon ein großer Junge, Karin, und kann auch ohne deine Hilfe Entscheidungen treffen.»

«Du bringst mich gerade ganz schön auf die Palme.»

Sein Mund verzog sich zu einem schiefen Grinsen, bis ein Hustenanfall ihn zwang, sich nach vorn zu beugen, die Hände auf die Knie zu stützen und unkontrolliert nach Luft zu japsen.

Ich verschwand im Badezimmer und kam mit einer Schachtel Kosmetiktücher zurück. Als er sich wieder aufrichten konnte, zupfte er eins heraus und putzte sich die Nase. Ich berührte seine Stirn, die noch heißer als zuvor war.

«Wir müssen deine Temperatur messen.»

Er gab nach und legte sich angezogen aufs Bett. Ich schaltete eine Lampe ein und musterte ihn im gelben Lichtschein, während er mit dem Fieberthermometer im Mund zu atmen versuchte. Eine Minute später verkündete ein Piepton, dass die Messung abgeschlossen war: 40,1 Grad. Ich zeigte ihm das Ergebnis.

«Willst du immer noch los?»

«Ich muss.» Er machte jedoch keine Anstalten, sich zu erheben.

«Liebling, was ist los?» Ich setzte mich neben ihm aufs Bett, hielt das Thermometer in der einen Hand und berührte seine glühende Wange mit der anderen.

«Ich habe Billy versprochen, es niemandem zu erzählen. Nicht einmal dir.»

«Was darfst du mir nicht erzählen?»

Ich wartete und merkte, wie ich zunehmend nervöser wurde, was mich gar nicht freute. Schließlich holte er tief Luft, hustete und sah mich an.

«Er wird es verstehen.»

«Das wird er ganz bestimmt.»

«Ich würde gehen, wenn ich könnte.»

«Ich kann ihn anrufen und ihm ausrichten, dass du krank bist.»

«Nein, ruf ihn nicht an. Geh du an meiner Stelle.»

Es war kurz vor Mitternacht. Um den Gefrierpunkt. Und stockdunkel. «Wohin?»

«Kreuzung Warren und Nevins Street. Du kannst zu Fuß gehen; das ist ganz in der Nähe. Aber es wäre mir lieber, wenn du meine Waffe mitnimmst.»

Warren Street, Nevins Street – natürlich. Es war bis dorthin wirklich nur ein Katzensprung, doch normalerweise ging ich nie in diese Richtung. «Eine Waffe brauche ich nicht.»

«Eine Weiße, die mitten in der Nacht allein durch eine Sozialbausiedlung spaziert …»

«Keine Waffe.» Je öfter ich gezwungen gewesen war, auf Menschen zu schießen, desto stärker wurde meine Abneigung gegen Schusswaffen. «Was treibt Billy dort?»

«Vermutlich ist er an einem Tatort. Es kommt manchmal vor, dass er an Tatorten Flashbacks kriegt und die Kontrolle verliert, was ihm eine Heidenangst einjagt.»

«Was passiert, wenn er die Kontrolle verliert?»

«Er halluziniert.»

«Gütiger Gott.»

«Ganz deiner Meinung.»

Vor anderthalb Jahren hatte Billy auf einem Dach während eines Schusswechsels mit der Frau, die er liebte, sein Auge verloren. Der Schock und der Vertrauensbruch waren in vielerlei Hinsicht traumatisch gewesen – physisch, emotional und beruflich. Doch nachdem er pflichtschuldig die vorgeschriebene Auszeit genommen hatte, war er wieder in den Polizeidienst zurückgekehrt. Manche Polizisten waren offenbar in der Lage, ein traumatisches Ereignis einfach abzuschütteln, andere brachen sofort zusammen, und dann gab es noch jene, die nach und nach aus dem Leim gingen. Mit welcher Sorte man es zu tun hatte, wusste man meistens erst, wenn eine gewisse Zeit verstrichen war. Wir hatten geglaubt, Billy wäre über den Berg, doch offenbar hatten wir uns getäuscht.

«Hat er jemanden, der ihm hilft?»

Mac schüttelte den Kopf. «Er hat Schiss, dass das ein schlechtes Licht auf ihn wirft und er am Ende seinen Job verliert.»

Zeigte ein Bulle das leiseste Anzeichen von Schwäche, stand für ihn viel auf dem Spiel: Arbeitsplatz, Pension, Ruf. Als ich noch Polizistin war und einen Zusammenbruch erlitt, taten die Kollegen zwar nett, gingen jedoch auf Distanz, als handelte es sich bei meinem Versagen um eine ansteckende Krankheit, vor der sie sich fürchteten.

«Wie lange geht das schon so?»

«Keine Ahnung. Er hat mich vor ein paar Wochen eingeweiht und vorgeschlagen, mir die Adresse zu simsen, wenn er merkt, dass es wieder losgeht. Wir haben vereinbart, dass ich dann dorthin komme, egal, wo und wann es passiert, und ihm helfe, die Sache in den Griff zu kriegen.»

«Du bist ein wahrer Freund.»

«Heute Abend offensichtlich nicht.»

Ich küsste ihn auf die Stirn. «Ich kümmere mich darum.» Dann verabreichte ich ihm eine Ibuprofen, schaltete das Licht aus und zog mich wieder an.

Kapitel 2

Die Welt wirkte wie erstarrt, während ich durch die nächtlichen Straßen stapfte, die jenseits meiner normalen Route lagen. Während der drei Jahre, in denen ich in diesem Viertel wohnte, war ich nur selten in diese Gegend gekommen. Normalerweise war die Smith Street mit ihren Geschäften, Restaurants und der U-Bahn-Station mein Ziel und nicht die Nevins Street. Keine Menschenseele war unterwegs, weit und breit fuhr kein einziges Fahrzeug. Und auf allem lag eine dünne Eisschicht: auf den Treppen der Sandsteinhäuser, auf den geparkten Autos und auf dem holperigen Gehweg. Um nicht auszurutschen oder gar hinzufallen, musste ich mich beim Gehen vorsehen.

Nachdem ich anderthalb Blocks durch diese zunehmend trostlosere Gegend marschiert war, bog ich nach rechts in die Nevins Street, wo die schönen Häuserzeilen aus dem rötlich braunen Sandstein abrupt endeten und von einem desolaten Straßenbild abgelöst wurden. Mein Blick fiel auf eine verrammelte Bodega. Sowohl das angrenzende als auch das gegenüberliegende Grundstück waren verwaist. Etwas weiter vorn türmte sich die triste, kantige Fassade eines Sozialbaus auf. Hier war die Dunkelheit noch undurchdringlicher als dort, von wo ich gekommen war, und es dauerte einen Moment, bis ich begriff, woran das lag. Seit ich in die Nevins Street gebogen war, hatte ich keine einzige Straßenlaterne mehr gesehen. Das spärliche Licht, das mich überhaupt etwas erkennen ließ, drang aus den Fenstern der Häuser, in denen noch jemand wach war. Ein paar Blocks weiter vorn herrschte hektisches Treiben: ein halbes Dutzend Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht und ein paar Krankenwagen mit offenstehenden Türen. Im Licht der Fahrzeugscheinwerfer liefen Menschen hin und her, ehe sie wieder in der Dunkelheit verschwanden.

Ich ging schneller und hielt auf das Geschehen zu, wo ich Billy vermutete. Doch noch vor der nächsten Straßenecke hörte ich eine Stimme.

«Scheiße, was soll das denn?»

Instinktiv griff ich in meine Manteltasche und wünschte mit einem Mal, ich hätte doch auf Mac gehört und seine Waffe mitgenommen. Die Stimme klang unwirsch, irritiert – und vertraut. Ich drehte mich um und sah einen Schwarzen in einem überdachten Türeingang auf einer Treppe sitzen. Er hatte die Hände auf den Knien und sprach mit sich selbst.

«Wir werden’s schon noch erfahren», fuhr er fort.

Ich trat einen Schritt näher, spähte in die dunklen Schatten.

«So kommst du mir nicht davon.»

Als ein Lichtstrahl auf ihn fiel, konnte ich sein Gesicht erkennen.

«Wieso legst du nicht die Knarre weg, Jazz?»

Sein Blick wanderte ziellos hin und her; und obwohl ich nur ein paar Schritte weit weg war, schien er mich nicht zu erkennen.

«Nur die Ruhe. Es muss sich um ein Missverständnis handeln.»

Ich wusste ganz genau, wo er sich in seiner Phantasie befand, denn alles, was er sagte, kam mir bekannt vor, auch wenn die Reihenfolge nicht stimmte. Er war in die Vergangenheit abgetaucht, erlebte noch mal jenen achtzehn Monate zurückliegenden Nachmittag, an dem alles aus dem Ruder lief, ein Schuss ihn das rechte Auge kostete und ihm das Herz brach.

Er war damals nicht in der Lage gewesen, Jasmine zu töten, da er sie liebte.

Sie hingegen hatte es keine Überwindung gekostet, die Waffe auf ihn zu richten und abzudrücken.

In dem Moment richtete er unvermittelt den Blick auf mich. Seine schwarze Augenklappe war nach unten auf die rechte Wange gerutscht. Sein linkes, auf mich gerichtetes Auge funkelte in der dunklen Nacht.

«Schau dir das an», sagte er. «Schau nur. Kannst du das glauben?»

Dachte er, dass ich mit ihm dort war? Ich war seinerzeit tatsächlich mit ihm auf dem Dach gewesen. Anderenfalls wäre er jetzt aller Wahrscheinlichkeit nach tot.

«Ja, es ist passiert», antwortete ich.

«Das kann einfach nicht sein.»

«Doch, es ist passiert. Vor langer Zeit. Komm zurück in die Gegenwart, Billy.»

Er zitterte. Ich verspürte den Drang, die Hand auszustrecken und den Reißverschluss seines blauen Parkas hochzuziehen, nur fürchtete ich, ihn damit vollends aus der Bahn zu werfen. Jasmine hatte an einem warmen Sommertag auf ihn geschossen, und nun hatte der Flashback ihn offenbar in den Juni zurückkatapultiert und ihn dazu veranlasst, trotz der kalten Dezemberluft seine Jacke zu öffnen.

Schweiß tropfte von seiner Stirn und seinen Schläfen auf den Mantelkragen. Er nahm meine Hand; seine Haut fühlte sich heißer an als die von Mac.

«Atme ganz tief durch, Billy, mach es mir nach.» Ich holte Luft, hielt kurz inne und atmete langsam aus.

Es dauerte einen Moment, bis er meinem Beispiel folgte. Während wir langsam ein- und ausatmeten, fixierte er mich mit seinem linken Auge. Dabei weitete sich seine Pupille wie eine erblühende Rose.

«Ich fühle mich nicht so toll», meinte er.

«Ich weiß.»

«Wo ist Mac?»

«Liegt mit Grippe im Bett.»

«Tut mir leid.»

«Ist ja nicht deine Schuld.»

«Nein, ich meine das hier.»

«Wie ich schon sagte, es ist nicht deine Schuld.»

Er beugte sich vor und blickte die Straße hinunter zu den Blaulichtern am Tatort, die seinen Flashback ausgelöst hatten. «Ich bin nicht gerade erpicht darauf, dass mir jemand meine Rechte vorliest.»

Damit spielte er auf La-a an, seine Partnerin, deren Name tatsächlich mit einem Bindestrich geschrieben, aber Ladasha gesprochen wurde.

«Ich rede mit ihr.»

«Das glaube ich gern.» Auf einmal grinste er, und dies führte dazu, dass sich mein Puls wieder etwas beruhigte.

Ich trat einen Schritt zurück und half ihm auf die Beine. Billy war etwa eins fünfundachtzig groß und ich nur ein paar Zentimeter kleiner als er. Zur Aufmunterung legte ich den Arm um seine Taille.

«Möchtest du von hier verschwinden?», fragte ich ihn.

«Geht nicht. Ich bin im Dienst.»

«Dann bleibe ich noch bei dir.»

«Das ist ein freies Land», entgegnete er flapsig, aber ich spürte, dass er sich über mein Angebot freute.

Erst als wir uns den Blaulichtern näherten, stellte ich fest, dass es sich in Wahrheit um zwei Tatorte handelte und nicht – wie es von fern ausgesehen hatte – lediglich um einen. Eine Handvoll Polizisten und Sanitäter scharten sich um eine auf dem Boden liegende Bahre, wo jemand gerade für den Abtransport ins Krankenhaus fertig gemacht wurde. Mitten auf der Straße parkte ein Minivan, und eine Frau mittleren Alters, die ich für die Fahrerin hielt, sprach mit zwei Polizisten, die alles notierten, was sie sagte.

«Ich bin hier vorbeigefahren und habe da jemanden liegen gesehen.»

«Sind Sie so spät nachts immer allein unterwegs?»

«Ich war auf dem Weg zur Apotheke, um ein Rezept für meinen Sohn einzulösen. Sein Fieber ist gestiegen, und der Arzt meinte …»

Die beiden Polizisten tauschten skeptische Blicke aus. Das Opfer schien schwer verletzt zu sein, als wäre es von einem Auto angefahren worden. Der Van der Frau war weit und breit das einzige Zivilfahrzeug, doch es war auch durchaus möglich, dass ein Dritter an dem Unfall schuld war und Fahrerflucht begangen hatte. Da es keine Zeugen gab und das Opfer bewusstlos war, stellte niemand ihre Aussage in Zweifel.

«Neergaard in Park Slope hat rund um die Uhr geöffnet, falls es Sie interessiert.» Die Frau griff in ihre Tasche und zog ein Rezept heraus. «Das hier ist die schnellste Strecke, weil es keine Ampeln gibt.»

Soweit ich in der Dunkelheit erkennen konnte, klebte kein Blut an der Frontpartie des Fahrzeugs. Die Vorstellung, dass jemand das Opfer mit einem zwei Tonnen schweren Gefährt angefahren und dann einfach liegen gelassen hatte, jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken. Dennoch bezweifelte ich, dass ein ganz gewöhnlicher Autounfall Billys Reaktion ausgelöst hatte.

«Was hat sich da drüben zugetragen?» Ich schaute zu dem anderen Tatort hinüber, wo es noch hektischer zuging als hier.

Billys Miene wurde starr. «Anscheinend ist mein Freund aus der Versenkung aufgetaucht.»

Sein «Freund» war kein Freund, und die Frustration und Bitterkeit, die in Billys Stimme mitschwangen, zeigten bei mir dieselbe Wirkung, als hätte ich gerade Gift geschluckt. Seit gut einem Jahr jagte Billy vergeblich den sogenannten Prostituiertenkiller, und nun schien es so, als hätte dieses brutale, in der ganzen Stadt gefürchtete Scheusal sein drittes Opfer in Brooklyn gefunden. In dem Jahr, bevor der Fall auf Billys Schreibtisch gelandet war, hatte derselbe Killer sieben Prostituierte in Manhattan umgebracht. Erst nachdem ein paar Mitglieder der Manhattan-SOKO der Brooklyn-SOKO zugeteilt worden waren, begann eine grenzüberschreitende Jagd in mehreren Stadtbezirken. Mein Blick glitt die dunkle Nevins Street hinunter, und plötzlich ergab es für mich einen Sinn, weshalb diese Straße so verlassen war: Es handelte sich um einen Rotlichtbezirk – ohne rote Lichter.

«Und außerdem wurde noch ein Kind angefahren.»

«Kind?»

«Ein Mädchen. Schätzungsweise zehn, zwölf Jahre alt.»

Zuerst reagierte ich bestürzt, dann wurde ich wütend. Was hatte ein Kind nach Mitternacht draußen auf der Straße zu suchen? Und vor allem hier, in dieser Gegend?

«Meinst du, sie wurde von dem flüchtenden Täter angefahren?» Das Objekt der laufenden Ermittlung: jenes gespenstische, unbekannte Wesen, das wie ein Tornado zuschlug und sich anschließend wie Nebelschwaden verflüchtigte.

«Schon möglich.»

Ich näherte mich der Bahre und erblickte im matten Scheinwerferlicht eines Streifenwagens ihr Gesicht: klein, mit leicht gebräuntem Teint, als wäre sie gerade aus dem Urlaub auf einer tropischen Insel zurückgekehrt, und seidigen, weizenblonden Haaren. Eine lange Strähne hatte sich gelöst und hing von der Bahre herab. Sie trug kleine goldene Ohrringe in Form von Sternen, und der blaue Lack auf ihren Fingernägeln glänzte, als hätte sie gerade eben erst eine Maniküre erhalten. Ihre Füße waren nackt, die Zehennägel in unterschiedlichen Farben lackiert.

«Wo sind ihre Schuhe?», fragte ich Billy.

«Soweit wir es beurteilen können, hatte sie keine an. Ihre Füße weisen frische Schnittwunden auf.»

«Ist sie von daheim weggelaufen?»

«Wer weiß?»

«Sie erscheint mir zu jung für solch eine Aktion.» Wäre sie im älteren Teenageralter gewesen, hätte dieser Verdacht durchaus nahegelegen. Und hätte es sich bei dem Unfallopfer um eine Schwarze gehandelt, wäre trotz ihres Alters sogar die Möglichkeit in Betracht gezogen worden, dass sie auf der Straße als Prostituierte arbeitete. Aber die frisch lackierten Fuß- und Fingernägel schienen in eine andere Richtung zu deuten. Das Mädchen trug eine pinkfarbene Pyjamahose mit einem weißen Schäfchenmuster. Ich wandte mich ab und schloss die Augen.

«Karin, wir haben nicht den geringsten Schimmer, was sie hier draußen zu suchen hatte.» Billy klang so traurig, frustriert und verzagt, dass ich automatisch nach seiner Hand griff und sie fest drückte, obwohl sie von einem Schweißfilm überzogen war.

Vorsichtig schoben die Sanitäter die Bahre mit dem Mädchen in den Krankenwagen. Einer von ihnen setzte sich zu ihr, während der andere die Tür schloss, nach vorne ging und sich hinter das Steuer setzte.

«Wo ist ihre Familie?», fragte ich.

«Wir wissen ja nicht mal, wer sie ist. Wir suchen die Gegend ab. Vielleicht wohnt sie irgendwo in der Nähe.»

Wenn Kinder mitten in der Nacht verschwinden, kriegen die Eltern das manchmal erst am nächsten Morgen mit. Wie groß war die Chance, dass ihre Eltern nicht mal auf das Läuten der Klingel reagierten?

Der Van eines Nachrichtensenders fuhr auf dem Weg zum anderen Tatort an uns vorbei. Wir sahen, wie er einem Schlagloch auswich, direkt neben dem Tatort parkte und seine Scheinwerfer auf die eh schon grell erleuchtete Szenerie rund um die tote Frau richtete.

«Die Bordsteinschwalbe ist noch warm gewesen, als wir hier eintrafen», sagte Billy.

Ich wusste genug über Fälle dieser Art, um zu begreifen, wie ungewöhnlich dies war: Normalerweise hatte bei den Opfern, wenn sie entdeckt wurden, schon die Verwesung eingesetzt.

«Selber Modus Operandi?»

«Ja.»

Eine Prostituierte Anfang zwanzig, die der Täter zuerst erdrosselt und der er anschließend ein Messer zwischen die Brüste gestochen hatte. Das Muster änderte sich nie: Immer fehlte ein Kleidungsstück – entweder ein Ober- oder Unterteil –, und bei dem Messer handelte es sich stets um ein langes Jagdmesser, im Jahr 1963 hergestellt von einer Firma namens Stark, die heute nicht mehr existierte. Messer dieser Art wurden seit Jahrzehnten nicht mehr produziert, waren nie sonderlich weit verbreitet gewesen und deshalb schwer zu finden. Allem Anschein nach hatte der Täter sich davon – lange bevor man Dinge im Internet erstehen konnte – einen Vorrat zugelegt, bar bezahlt und darauf geachtet, dass der oder die Verkäufer nicht Buch darüber führten. Seit Beginn der Ermittlung, die ja schon eine ganze Weile andauerte, hatte man nichts, aber auch gar nichts über den Käufer der Messer in Erfahrung gebracht. Inzwischen lagen insgesamt zehn Messer in Asservatenkammern, und bald würden es wohl noch mehr sein, falls der Mörder dem Töten nicht abschwor, wovon nicht auszugehen war.

Den größten Durchbruch in diesem Fall erzielte die Polizei zu Anfang der Mordserie, als es ihr gelang, das zweite Opfer zu identifizieren. Bei der Toten handelte es sich um eine fünfundzwanzigjährige Frau aus Upstate New York, die im Alter von elf Jahren spurlos verschwunden und seit damals nicht mehr gesehen worden war. Interessanterweise waren alle acht Opfer, die die beiden SOKOs im Lauf der Zeit identifiziert hatten, Ende der achtziger bis Mitte der neunziger Jahre im Alter zwischen neun und zwölf verschwunden. Alle stammten aus Ostküstenstaaten und waren auf dem Weg zur Schule, zum Haus der Eltern oder Freunde verschwunden. In jedem Fall waren die Eltern davon ausgegangen, dass ihre Töchter keine Begleitung mehr brauchten, und die meisten hatten sich über die neue Unabhängigkeit gefreut. In zwei Fällen waren die betreffenden Mädchen zum ersten Mal ohne einen Erwachsenen unterwegs gewesen. Und keine Menschenseele hatte etwas von einem der weiblichen Opfer gesehen oder gehört – bis zu jenem Tag, wo ihr Leichnam mit einem Strick um den Hals und einem Messer in der Brust in Manhattan oder Brooklyn auftauchte.

Im Lauf der Zeit gewöhnten die Zeitungsleser sich an die Schlagzeile Weiterer Fund eines toten Mädchens.

Im Grunde genommen handelte es sich dabei um Variationen eines alten Themas: Kinder verschwanden und tauchten irgendwann physisch und psychisch lädiert oder gar nicht mehr auf. In diesem Fall lag die Vermutung nahe, dass ein aufgebrachter Zuhälter oder unzufriedener Freier es auf die Prostituierten abgesehen hatte – auch dies war nichts Neues. Die vordringlichste Aufgabe war, den Verantwortlichen zu schnappen und sein Tun zu beenden. Danach musste geklärt werden, wo all diese Mädchen in der Zwischenzeit untergetaucht waren oder versteckt gehalten wurden. Der Verdacht, dass die Opfer gegen ihren Willen dem Sexgewerbe zugeführt wurden, war alles andere als unbegründet. Doch mit der Zeit schwand zusehends das Vertrauen, den Killer zu erwischen. Fakt war, dass die Opfer von der Bildfläche verschwanden und später tot aufgefunden wurden, aber ob und inwiefern beides zusammenhing, gab Billy und allen anderen, die diese Fälle seit zwei Jahren bearbeiteten, immer noch Rätsel auf. Dabei war die SOKO mit Polizisten aus unterschiedlichen Revieren und FBI-Spezialisten aufgestockt worden. Ich entsann mich, dass Billy irgendwann einmal geklagt hatte, dass die Größe des Teams in keinem Verhältnis zu den Ermittlungsergebnissen stand.

Billy setzte sich nun in Bewegung und marschierte die Straße hinunter. Ohne seine Hand loszulassen, folgte ich ihm. Je näher wir kamen, desto mehr sorgte ich mich, dass es ihn erneut überkommen würde, sobald er den Tatort erreichte.

«Wo hast du gesteckt, Arschloch?» Als La-a sich zu Billy und mir umdrehte, fielen ihre langen, dicht geflochtenen Zöpfe über eine Schulter. Sie war klein, kompakt, Mutter von fünf Kindern; zudem buk sie köstliche Weihnachtskekse und nahm kein Blatt vor den Mund. «Ich bin hier schon seit einer Stunde zugange!»

Ein Dutzend Ermittler, ein paar Sanitäter und Streifenpolizisten hatten sich am Tatort eingefunden und gingen ihrer Arbeit nach. Die Sanitäter waren im Prinzip überflüssig, da dem Opfer nicht mehr geholfen werden konnte. Auf dem Gehweg hatte sich eine Schar Schaulustiger versammelt. Ein Fotograf machte Bilder – vom Opfer, wie ich mutmaßte, denn genau sehen konnte ich es nicht.

«Tut mir leid, Dash, ich …»

«Bei ihm ist wohl eine Grippe im Anflug», verteidigte ich Billy.

La-a richtete den Blick auf mich, und ein ironisches Funkeln blitzte in ihren Augen auf. «Bist du jetzt seine Mutti, Karin?»

«Aber sicher. Ich habe ihn neun Jahre vor meiner eigenen Geburt zur Welt gebracht.»

«Mensch, du bist echt komisch, Mädel», meinte sie mit einem leisen Lächeln, bei dem ihr goldener Eckzahn zum Vorschein kam. «Du weißt ganz genau, worauf ich anspiele. Tu nicht so, als wüsstest du’s nicht.»

La-a hatte mir mal anvertraut, sie sei als zweifach geschiedene Frau und Mutter von vier Söhnen felsenfest davon überzeugt, dass alle männlichen Wesen – egal welchen Alters – Kinder waren. Angesichts der Tatsache, dass sie von zwei Ehemännern verlassen worden war und ihre Söhne sich durch die Bank im Leben schwertaten, war ihre einzige Tochter, eine herausragende Studentin, die für ihre Leistungen ausgezeichnet worden war, der beste Beweis für La-as Geschlechtertheorie.

«Sorry», murmelte Billy.

«Ja, das höre ich immer wieder.»

Ich trat ein paar Schritte näher und roch das süße Parfüm, das sie gern in Unmengen auftrug. («Weil es den Schweißgeruch auf dem Revier, den Mief in meinem Haus und den Leichengestank übertüncht», hatte sie mir mal verraten.)

«Könnte auch eine Magen-Darm-Grippe sein», sagte ich. «Als ich ihm einen Block die Straße hinunter über den Weg gelaufen bin, hat er sich übergeben.»

Sie verzog das Gesicht. «Danke für die Info. Was hast du eigentlich hier zu suchen?»

«Bin rein zufällig hier vorbeigekommen.»

«Warst du mit der anderen Weißen in dem Van? So ganz zufällig?»

Ich lächelte, denn ich konnte nicht beurteilen, ob sie mich auf die Schippe nahm oder wieder zu einer ihrer üblichen, rassistisch eingefärbten Hasstiraden ansetzte. Irgendwann musste Billy ihr erklären, was ihn plagte, doch jetzt war nicht der passende Moment dafür. Wenn mich nicht alles täuschte, würde er sie eines schönen Abends auf einen Drink einladen und sie bei der Gelegenheit einweihen. La-a war besser drauf und wesentlich lockerer, wenn sie ein paar Drinks intus hatte; dann bekam, wie ich persönlich erfahren hatte, ihr harter Panzer Risse, und ihr weicher Kern kam zum Vorschein.

«Danke, Karin», sagte Billy. «Es war nett, dass du mir geholfen hast … Ich bin jetzt wieder auf dem Damm.» Trotz dieser Worte vermittelte er einen ganz anderen Eindruck: Er sah blass und abgeschlagen aus. Ich selbst hatte noch nie einen Flashback gehabt, doch mir war zu Ohren gekommen, dass sie einen so tief in die Vergangenheit zogen, bis sie ganz real wirkten und man sich ihnen vollkommen ausgeliefert fühlte, und dass in dem Moment ein Film im Kopf ablief, dessen Bilderflut einen überwältigte.

«Bist du dir sicher?»

Er nickte, getraute sich allerdings nicht, mich anzusehen. Ich wollte ihn nicht im Stich lassen, ihn allerdings auch nicht vor Kollegen blamieren. Zum Glück kam mir La-a zu Hilfe.

«Du verschwindest von hier, Billy. Ich kann es mir nicht leisten, mich anzustecken. Schließlich bin ich Mutter und kann es nicht gebrauchen, wenn meine Sprösslinge sich übergeben. Und außerdem will ich nicht, dass du den Tatort kontaminierst.»

«Mir geht’s gut», erwiderte er benommen.

«Ich sagte …» Sie bombardierte ihn mit wütenden Blicken, und ich fürchtete schon, dass sie ihn gleich wie eines ihrer Kinder behandeln und langsam bis drei zählen würde.

«Dash hat recht. Du solltest dich hinlegen.» Ich wandte mich an sie. «Mac hat auch Grippe.»

«Wie ich bereits sagte.» La-a schüttelte den Kopf. «Männer.»

Die Reihen der Ermittler auf dem Gehweg hatten sich gelichtet, und so konnte ich nun, als ich den Kopf drehte, das Opfer sehen. Die Tote lag mit dem Rücken auf dem vereisten Asphalt, und ihre Haut nahm bereits einen graublauen Farbton an; ein winziger Stecker im rechten Nasenflügel funkelte im Scheinwerferlicht. Sie trug einen Büstenhalter aus blauer Spitze. Ein Arm lag über ihrem Kopf, als hätte es den Täter Mühe gekostet, ihr die Bluse auszuziehen. Aus der seltsamen Kopfhaltung schloss ich, dass der Mörder ihr wie bei zwei anderen Opfern das Genick gebrochen hatte, als er sie erdrosselte. Sie lag in einer Lache aus Blut, das aus der Stichwunde zwischen den Brüsten geflossen war. Das Jagdmesser steckte immer noch in ihrem toten Fleisch. Obwohl ich die Einzelheiten zu dieser Serie von Morden schon aus der Zeitung kannte und Billy uns auch ein paar Details verraten hatte, schockierte es mich, sie dort so liegen zu sehen: … leibhaftig … tot, immer noch blutend, hingemetzelt von einem Monster, das nicht begriff, dass sie eine reale Person mit einem ganz realen Leben gewesen war … dass es dort draußen wahrscheinlich jemanden gab, der sie trotz ihres Berufes geliebt hatte … dass sie jemandes Kind, Schwester, Enkelin, vielleicht gar jemandes Mutter gewesen war. Die maßlose Geringschätzung, die sich in diesem Mord ausdrückte, entsetzte mich noch mehr als der Leichnam selbst. Als ehemalige Soldatin und Polizistin hatte ich viele Tote gesehen, und dennoch würde ich mich nie an das Grauen, die Willkür und die morbiden Beweggründe gewöhnen, die zu solch einem heimtückischen Akt führten.

Urplötzlich wurde mir schwindelig. Rasch ging ich über die Straße zur gegenüberliegenden Ecke, lehnte mich an das Parkschild, schloss die Augen und wartete, bis es mir wieder besserging.

«Hat sie’s jetzt auch mit dem Magen?», hörte ich La-a meckern.

«Sieht ganz so aus», entgegnete Billy, doch ich vermutete, dass er den wahren Grund für mein Verhalten kannte. Mir fiel auf, dass er der Toten den Rücken zuwandte. Auf diese Weise verhinderte er, dass ihr Anblick den nächsten Flashback auslöste.

Ich beobachtete, wie auf der anderen Straßenseite der Leichnam in einen schwarzen Sack gesteckt und danach auf eine Bahre gelegt wurde. Jetzt, wo die junge Frau in dem Sack lag, wirkte sie kaum größer als das angefahrene Mädchen. Die Bahre wurde in den Krankenwagen geschoben, der dann langsam wegfuhr.

Nachdem beide Krankenwagen sich entfernt hatten – der eine in Richtung Hospital, der andere in Richtung Rechtsmedizin –, konnte ich aus der Ferne beobachten, wie der andere Tatort sich ebenfalls leerte. Der weiße Van verschwand in einer Seitenstraße, und der letzte Ermittler packte seine Habseligkeiten zusammen.

Billy sagte irgendetwas zu La-a, das ich nicht hören konnte. Sie schüttelte den Kopf, verdrehte die Augen und ging weg. Während Billy auf mich zuschritt, sah ich, wie La-a auf einen Mitarbeiter der Gerichtsmedizin zusteuerte, der am Fundort der Leiche ausharrte. Eine weiße, von Blutspritzern getränkte Kreidelinie, mit der die Position der Toten gekennzeichnet worden war, leuchtete im Dunkeln: eine Art Andenken, die beim nächsten Regenguss auf Nimmerwiedersehen verschwinden würde.

«Lass uns abhauen», schlug ich Billy vor. «Ich bringe dich nach Hause.»

«Nein, ich bringe dich nach Hause.»

«Ich bin mitten in der Nacht losgerannt, um dir zu helfen; dann nimm die Hilfe bitte auch an.»

«Du hast mir doch schon geholfen. Und jetzt geht es mir besser.»

«Ach, einfach so?»

Er nickte. «So ein Flashback ist wie ein Zusammenstoß mit einem Güterzug. Doch danach fährt er einfach weiter.»

«Erwecke ich den Eindruck, ich hätte Bock, jetzt mit Ihnen zu reden?», hörte ich La-a laut schimpfen, woraufhin Billy und ich uns umdrehten. Einer der Kerle aus dem Van des Fernsehsenders war mit gezücktem Mikrophon auf sie zugeeilt. Er musste ein Neuling sein, der La-a noch nicht kannte, denn die alten Hasen passten den richtigen Augenblick ab.

«Ich will Ihnen doch nur eine Frage stellen …»

«Was habe ich gerade gesagt?»

Der Reporter starrte sie an.

«Ich habe gefragt, was ich gerade gesagt habe!»

«Sie sagten …»

«Stimmt genau.» Sie machte auf dem Absatz kehrt und kommandierte wieder den Mitarbeiter von der Spurensicherung herum, der etwas sagte, das ich nicht verstehen konnte, La-a jedoch gut gelaunt auflachen ließ.

«Sie ist schon ’ne Nummer, was?», murmelte Billy.

«Ich kann sie eigentlich ganz gut leiden, auch wenn du mich für verrückt hältst.»

«Sie beherrscht ihr Handwerk … unser Handwerk.»

«Du musst es ihr sagen, Billy.»

«Ich weiß.»

Gemeinsam schlenderten wir die Nevins Street in Richtung meiner Wohnung hinunter. Die Stelle, wo man das Mädchen gefunden hatte, war nun leer bis auf ein paar Pflaster, die ein Rettungsassistent zurückgelassen hatte.

Wir bogen in die Bergen Street und kehrten damit in die anheimelnde Sandstein-Enklave zurück, die ich inzwischen als meine Nachbarschaft betrachtete und deren Größe – wie in New York üblich – in Straßenblocks gemessen wurde. Manchmal musste man tatsächlich nur einen halben Straßenblock weit gehen, und schon landete man in einer ganz anderen Welt.

«Wie spät ist es?» Nachdem ich meine Armbanduhr beim Geschirrspülen abgelegt hatte, fehlte mir jedwedes Zeitgefühl. Es hätte ein oder auch fünf Uhr nachts sein können. Mit Sicherheit wusste ich nur, dass es immer noch dunkel und bitterkalt war.

«Zeit für einen Drink. Kommst du mit rein?»

Wir standen an der Ecke Bergen und Hoyt Street vor dem Brooklyn Inn, einer Kneipe aus dem neunzehnten Jahrhundert, in der ich noch nie gewesen war.

Ich gähnte. «Warum nicht?», erwiderte ich trotz meiner Müdigkeit, da ich nicht wollte, dass Billy in seinem Zustand allein in einer Bar hockte.

Beim Eintreten hatte ich den Eindruck, als ob wir in die Zeit zurückreisten, in der dieses Haus erbaut worden war: dunkle Holzvertäfelung, lange Holztheke, Barhocker mit dunklen Ledersitzen, üppige Buntglasfenster über einer Tür, die ins Hinterzimmer führte, und Gaslampen, die zwar auf Strom umgerüstet worden waren, aber nur spärliches Licht spendeten. Überraschend viele Gäste saßen an der Theke, tranken und redeten miteinander. Eigentlich hätte ich erwartet, dass die Leute längst schliefen, weil sie morgen früh zur Arbeit mussten. Doch dann kam mir ein anderer Gedanke: Seit dem wirtschaftlichen Niedergang und dem Beginn der großen Rezession hatten viele Menschen ihre Jobs verloren, weshalb Kneipen vermutlich zu den wenigen Läden gehörten, die noch gut liefen.

Wir setzten uns an die Theke und bestellten bei einem Barkeeper mit einem schwarzen Kinnbart und Diamantohrsteckern zwei sogenannte Winterspecials – laut Kreidetafel über der Bar «heiß und geheimnisvoll». Er stellte eine Schale mit Erdnüssen vor uns, und ich griff sofort zu, denn ich merkte auf einmal, wie hungrig ich war.

«Servieren sie hier auch Essen?», fragte ich Billy.

Er schüttelte den Kopf. «Nur Nüsse.»

Ich nahm mir noch eine Handvoll. Im Spiegel hinter der Theke entdeckte ich das Zifferblatt einer runden weißen Uhr, deren kleiner Zeiger auf der Zwei stand. Endlich wusste ich, wie spät es war.

Unsere Drinks kamen. Glühwein mit einem Schuss Rum. Das süße, heiße Getränk stieg mir sofort in den Kopf, entspannte und wärmte mich, sodass ich innerhalb kürzester Zeit meinen Pulli auszog und die langen Ärmel meines Baumwollshirts hochschob. Billy entledigte sich seiner Jacke und öffnete die beiden oberen Hemdknöpfe.

Beherzt bestellten wir die nächste Runde.

«Jetzt mach schon», forderte ich ihn auf. «Rede mit mir.»