Friesensommer

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2015

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Die Zitate von Hermann Hesse sind entnommen aus dem Band Hermann Hesse: «Siddhartha. Eine indische Dichtung», herausgegeben von Heribert Kuhn, Frankfurt am Main, 2004.

Die Liedzeilen «Ich will ’nen Cowboy als Mann» von Gitte Haenning stammen von Rudi Lindt (Komposition) und Peter Ström (Text).

Umschlaggestaltung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich

Umschlagillustration Kai Pannen

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-26739-0 (1. Auflage 2015)

ISBN E-Book 978-3-644-49851-8

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-49851-8

der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Hermann Hesse

ZWEITAUSENDVIERZEHN

Maike Olufs lehnt sich an die Reling des Vorderdecks und streckt ihre Läuferinnenbeine aus. Die Morgensonne leuchtet hell durch den dünnen Seenebel, der sich wie ein weißer Schleier über das Meer legt. Es riecht nach frischem Tang mit einer Prise Meersalz, zwei Möwen begrüßen kreischend den Sommertag. Plötzlich löst sich der Nebel um sie herum auf, und eine kleine Sonneninsel entsteht.

Maike schließt genießerisch die Augen, die Lider werden sofort warm, ihr Lächeln folgt automatisch. In der Seeluft liegt noch ein letzter Nachthauch, der für einen Moment ihre Stirn streift und sich dann wie eine kühle Kompresse in ihren Nacken legt. Obwohl sie nur wenige Stunden geschlafen hat, fühlt sie sich so erholt wie nach einem Vier-Wochen-Urlaub.

Die schwanenweiße Fähre verlässt den Hafen von Dagebüll, es ist die erste dieses Tages. Als sie die Augen wieder öffnet, staunt sie: Der Nebel ist nun vollständig verflogen, ein riesiges Gemälde aus blauen und grünen Pastelltönen ist entstanden. Das Meer liegt als stiller, grünsilberner Teller da, in dem sich einige Schönwetterwolken spiegeln. Langsam, aber beharrlich schneidet

Maikes Kleidung passt ideal in dieses Bild: beigefarbener Hosenanzug aus Wildleder, weiße Bluse und helle Mokassins. Neben ihr steht ihr eleganter kleiner Trolley, ebenfalls aus hellem Material, sie besaß schon immer ein Faible für schöne Gepäckstücke. Plötzlich piepst ihr Handy in die Morgenstille hinein: eine SMS von ihrer besten Freundin Carla.

Na, schon wach?

Es ist sechs Uhr, vermutlich ist Carla gerade aufgewacht und platzt vor Neugier. Immerhin ist sie der Grund, warum Maike jetzt hier steht. Sie erhält die einzig passende Antwort auf ihre Frage:

«Nein, ich schlafe noch!»

Carla hatte ihr zum Geburtstag ein Schnupper-Abo für eine Partnervermittlung geschenkt, drei Monate durfte Maike auf schmetterlinge.de paarungswillige Männer sichten und bei Bedarf auch kennenlernen. Erst war Maike schwer beleidigt gewesen: Hatte sie so etwas nötig? Nach ihrer Scheidung – wie viel Jahre war das jetzt her, fünfzehn? – hatte sie nichts vermisst, vor allem keinen Mann. Nicht, weil sie verbittert gewesen wäre, es hatte sich einfach nicht ergeben. Aber nachdem Carla vor einem Jahr ihren Thor übers Internet kennengelernt hatte, war sie so glücklich, dass sie ihrer besten Freundin ebenfalls etwas Gutes tun wollte.

Für schmetterlinge.de musste Maike ein Foto von sich

Letzteres klang nicht besonders motivierend, hatte Carla kritisiert. Umso erstaunlicher, wer sich alles darauf meldete: großkotzige Geldsäcke, Muttersöhnchen und Landwirte, psychisch Gestörte, ein Marineoffizier aus Paraguay, ein Lehrer aus der Schweiz. Einer schrieb, dass auch er das Abo zum Geburtstag geschenkt bekommen habe und ebenfalls nicht so recht wisse, was er davon halten solle. Das fand sie sympathisch. Das Foto zeigte einen freundlichen, dunkelhaarigen Mann mit neugierigen braunen Augen. Er hieß Rainer Martens und betrieb ein kleines Familienhotel im Osten von Sylt, fernab vom großen Rummel. Er hatte den Bauernhof seiner Eltern zum Hotel umgebaut, kam also wie sie aus der Landwirtschaft. Zuerst waren es diese Gemeinsamkeiten, die sie neugierig machten, aber wirklich entscheidend war dann seine warme wohltuende Bassstimme bei ihrem ersten Telefonat.

«Vergiss nicht, dass das erste Treffen auf keinen Fall bei dir stattfinden darf!», warnte sie Carla. Die Arme hatte mindestens ein Dutzend frustrierender Dates hinter sich gebracht, bevor sie Thor kennengelernt hatte.

«Er ist genauso alt wie ich.»

«Und?»

«Männer sehnen sich doch eher nach was Jüngerem.»

«Du hast das Sportabzeichen in Gold», erinnerte Carla.

«Gut, dann stecke ich mir das ans Revers», antwortete Maike trocken.

Ihre Zweifel wurden immer größer, je näher das Treffen rückte.

«Er will dich treffen, also was soll’s? Außerdem hast du kaum Falten …»

«Eben: kaum …»

«Schwarze Haare …»

«Weil ich die grauen übertönt habe …»

«Und deine blauen Augen leuchten wie eh und je aus deinem hübschen Gesicht. Ganz im Ernst, Maike, so etwas Apartes wie dich muss man erst mal finden.»

Wieso ihr Herz dann so klopfte, als sie gestern in Westerland aus dem Zug stieg, war ihr unerklärlich. Es war völlig albern, weil sie ja gar nichts erwartete. Schließlich war sie keine achtzehn mehr, sondern fröhliche zweiundsechzig.

Rainer stand am Ende des Bahnsteigs. Er hatte braunes Haar, wie auf dem Foto, und war gerade noch schlank zu nennen. Einer, der etwas für sich tat, sich aber nicht kasteite. Obwohl er groß war und wie ein richtiger Kerl aussah, verriet sein Blick leichte bis mittelschwere

Nachdem er sie mit einem festen Händedruck und einem warmen Lächeln begrüßt hatte, führte er sie zu seinem alten Kombi, der voll beladen mit frischer Bettwäsche vor dem Bahnhof stand.

«Eigentlich wollte ich mir ein Cabrio leihen», entschuldigte er sich, «aber zwei meiner Angestellten sind krank geworden, also musste ich die Hotelwäsche vom Zug abholen.»

«Für mich geht es auch ohne Cabrio», hatte sie lachend geantwortet.

«Na ja, ich dachte, falls mein Charakter nicht überzeugt, beeindrucke ich dich wenigstens mit einem schicken Wagen.»

Sein lockerer Ton nahm ihr einen großen Teil der Anspannung. Er fuhr sie zu ihrem Hotel in Wenningstedt, wo sie kurz ihren Trolley im Zimmer abstellte, dann ging es weiter zu einem wunderbar einsamen Strand in der Nähe von Hörnum. Dort spazierten sie erst mal ein paar Stunden am Meer entlang, das auf der Westseite von Sylt viel wilder war als auf Föhr. Hohe Wellen schossen unaufhörlich vom Horizont heran, bäumten sich vor dem Strand auf und brachen dann mit Getöse in sich zusammen. Dazu lieferte die Sonne vom wolkenlosen, blauen Himmel alles an Wärme, was sie zu bieten hatte. Allein der knatternde Wind kühlte die Temperatur auf ein angenehmes Maß ab.

Rainer und sie ließen sich ordentlich durchpusten und quatschten über alles, was ihnen gerade einfiel. Das ging kreuz und quer von herrlich missglückten

Nach dem Strandspaziergang führte er sie in ein kleines Restaurant, das stilvoll, aber nicht überkandidelt war. Ihr fiel auf, dass er ständig mit den Händen Kontakt zu seiner Umgebung suchte. Zum Beispiel strich er mehrmals über die Speisekarte aus rauer Pappe, bevor er sie aufschlug, und während er redete, befühlte er mit Zeige- und Mittelfinger die weiße Stoffserviette.

Bis zwei Uhr nachts hatten sie sich eine Menge zu sagen gehabt, ohne dass auch nur eine peinliche Pause entstand. Alles lief wie von selbst, als säßen sie in einem Boot, das nur von der Strömung getragen wurde. Trotzdem hatte sie es vorgezogen, in Westerland zu übernachten statt in seinem Archsumer Hotel, was er selbstverständlich akzeptierte. Wie gern wäre sie noch länger auf Sylt geblieben, aber ihr stand ein langer Tag in der Praxis bevor, und ihre Patienten konnte sie auf keinen Fall hängenlassen.

 

Föhr rückt immer näher, es wird nun richtig warm in der Sonne. Die weiße MS Schleswig-Holstein sucht sich in niedrigem Gang ihren Weg durchs Wattenmeer. Es ist Ebbe, die gesamte Meeresmasse flieht geschlossen zum Horizont. An einigen Prielen entstehen kleine Wirbel, immer mehr Sandbänke tauchen im Wasser auf. Die schmale Fahrrinne ist mit Reisigbündeln abgesteckt, die

Auf dem Autodeck unter ihr hat Maike Dieter Trulsen entdeckt. Er steht in Gummistiefeln und weißem Kittel neben seinem Meiereilaster und stopft sich gerade ein großes Stück Käsekuchen in den Mund. Er ist ihr Patient und sollte wegen seines starken Bluthochdrucks eigentlich dringend abnehmen. Ein Infarkt ist keine Kleinigkeit, und wenn man ihn vermeiden kann … Andererseits ist Trulsen volljährig und sie nicht im Dienst.

Gerade wandern ihre Gedanken wieder zu Rainer, da klingelt ihr Handy erneut. Diesmal hängt Carla direkt am Hörer und kommt ohne Begrüßung zur Sache:

«Ich muss es wissen: Wie war Rainer?»

Maike lacht laut auf. «Geht dich das was an?»

«Hör mal! Ich bin deine beste Freundin.»

Dabei weiß Carla genau, dass sie immer sehr schweigsam wird, wenn es ans Eingemachte geht.

«Ich sehe es positiv», erklärt Maike ausweichend. Es klingt so spröde wie eine Regierungserklärung. Klar, dass sich Carla damit nicht zufrieden gibt. Prompt stellt sie die schwierigste aller Fragen:

«Und er?»

«Keine Ahnung.»

Maike fand es wunderbar mit Rainer, aber das muss er nicht genauso empfunden haben. Andererseits, wäre er nicht früher gegangen, wenn es ihm nicht gefallen hätte?

«Lüge, das spürt man doch!»

Wenn sie ihm wichtig ist, denkt Maike, wird er sich

«Stimmt.»

«Hummeln im Bauch?»

Ein bisschen vielleicht, aber in ihrem Alter wirft man nicht einfach die Vernunft über Bord, da darf man sich ruhig ein bisschen Zeit lassen.

Plötzlich zuckt Maike zusammen. Neben Dieter ist ein Mann aufgetaucht, der sie an irgendjemanden erinnert. Sie sieht ihn nur von der Seite: markantes Kinn, volle, graumelierte Haare, schmale Adlernase. Jetzt fällt es ihr ein. Er hat vor über vierzig Jahren einen Sommer lang in Oldsum gewohnt. Also nicht der Mann, der dort steht, sondern der, an den er sie erinnert, Harald Peterson aus San Francisco. Ihr Bauch krampft sich zusammen.

«Du glaubst es nicht, Carla, hier steht ein Typ, der genauso aussieht wie Harald!»

«Nicht ablenken», ermahnt Carla sie lachend.

Seit einer Ewigkeit hat Maike nicht an Harald gedacht, und ausgerechnet an diesem wundervollen Morgen taucht sein Doppelgänger auf. Zu blöde, aber sie darf sich auf keinen Fall die Laune verderben lassen.

«Er sieht wirklich aus wie Harald!»

«Hallo?»

Maike dreht sich zur Seite und holt tief Luft. «Ich hätte nie damit gerechnet, dass es mit Rainer so schön werden würde», rutscht es ihr raus.

Es ist das erste Mal, dass sie es ausspricht. Für sie ist es immer noch gewöhnungsbedürftig, dass Rainer und sie sich über den Computer kennengelernt haben statt in einer Disko oder auf irgendeiner Party. Andererseits,

«Du, Carla, das ist tatsächlich Harald Peterson.»

Sie zieht den Griff ihres Trolleys ruckartig hoch und stürmt in den Salon. Dort hockt als einziger Gast ihr Patient Dieter und schiebt sich gerade das zweite Stück Käsekuchen in den Mund.

Carla lacht aus dem Hörer. «Es muss phantastisch gewesen sein mit Rainer.»

«Wieso?», fragt Maike matt.

«Wenn du so durcheinander bist, dass du schon in irgendwelchen Typen Harry siehst …»

«Aber …»

Harald betritt nun ebenfalls den Salon. Sie versteckt sich schnell hinter dem Bällebecken für die Kinder. Von seiner Position aus kann er sie unmöglich sehen. Sie atmet auf und nutzt die Situation, um ihn ein bisschen zu beobachten. Natürlich ist er nicht mehr der junge Mann von damals, aber sie muss zugeben, dass er sich gut gehalten hat. Mit den schwarzen Ringen unter den hellgrünen Augen wirkt er müde, das ist auch alles. Er trägt eine elegante schwarze Hose, ein schwarzes T-Shirt und eine Designerbrille mit dunklem Rahmen. Seine leicht gewellten Haare sind mittlerweile graumeliert, aber immer noch üppig. Er ginge glatt als Modeschöpfer oder bildender

«Du bist verwirrt», freut sich Carla. «Mehr muss ich gar nicht wissen. Bis bald.»

Maike drückt das Handy aus. Harald steht an der Theke im Salon und lässt sich einen Becher Milchkaffee geben. Was will der auf Föhr?

Natürlich könnte sie jetzt auf ihn zugehen und sagen: «Hey, wie geht’s denn so? Schön, dich zu sehen. Mensch, wie die Zeit vergeht …» Aber das ist das Letzte, was sie will. Also schnappt sie sich ihren Trolley und verzieht sich aufs fast leere Autodeck, was sich als Fehler erweist. Sie hört nämlich Schritte hinter sich. Verdammt, er hat sie erkannt und folgt ihr nun! War sie im Salon doch zu unvorsichtig gewesen?

Jetzt gibt es kein Entkommen mehr, der Weg nach hinten ist abgeschnitten, nach links und rechts kann sie auch nicht fliehen. Sie blickt sich hilfesuchend um. Ein paar Meter entfernt steht der riesige Meiereilaster von Dieter Trulsen. Sie eilt hin, stellt sich kurz entschlossen auf die erste Stufe und nimmt den Türgriff in die Hand. Sie hat Glück, der Lkw ist nicht abgeschlossen. Mit einem Ruck reißt sie die Tür auf, zieht ihren Trolley hoch und wirft ihn auf den Sitz. Dann zieht sie die Tür zu und versteckt sich im Fußraum unter dem Lenkrad. Es riecht nach Staub und alter Gummimatte. Ihr Herz pocht so schnell wie seit Jahrzehnten nicht, sie japst nach Luft. Ruums, wird die Tür aufgerissen.

«Harald?», ruft sie erschrocken.

Doch stattdessen steht Dieter vor ihr und macht große Augen: «Frau Dokter?»

Was denkt wohl ein Patient, wenn er seine Hausärztin zusammengekrümmt im Fußraum seines Wagens entdeckt? So etwas machen höchstens Irre oder Paranoiker auf Droge. Sie pult sich aus dem Fußraum und hangelt sich auf den Beifahrersitz neben ihren Trolley. Ihr fällt nicht im Geringsten ein, was sie sagen könnte. Und je länger sie schweigt, desto peinlicher wird die Situation.

«Du hast da was», murmelt Maike und deutet auf ein paar Käsekuchenkrümel in Dieters Mundwinkel. Wie lächerlich.

Erst jetzt wird ihr bewusst, wie rot sie geworden sein muss, ihr Gesicht glüht. Dieter setzt sich auf den Fahrersitz und schaut schweigend durch die Windschutzscheibe, sie folgt seinem Blick. Zum Glück ist er ein wortkarger Friese, der im Zweifel gar nichts sagt.

Harald ist nirgendwo zu sehen, stattdessen erscheint hinter der Bugkante der Hafen von Wyk, gleich sind sie da.

«Kann ich mit dir von Bord fahren?», fragt sie.

Er verbirgt sein Staunen fast perfekt und nickt. «Jo.»

Bis die Fähre anlegt, warten sie stumm nebeneinander, dann rollen sie von Bord. Wahrscheinlich wird sich ihre sonderbare Aktion auf der Insel in Windeseile herumsprechen, aber das ist immer noch besser, als auf Harry zu treffen. Der Gedanke lässt sie ein bisschen ruhiger werden.

Als sie den Hafenparkplatz erreichen, setzt Dieter sie

Schon von weitem sind die Flügel der großen Windmühle zu erkennen, das Wahrzeichen von Oldsum. Ein Fünfhundert-Seelen-Dorf, in dem fast jedes Haus rot geklinkert ist, weiße Sprossenfenster hat und mit Reet gedeckt ist. Noch immer erkennt man, dass hier einmal überwiegend Bauern gewohnt haben, neben fast jedem Haus gibt es ein Stallgebäude mit einem großen Scheunentor. Wo früher das Vieh stand, verbringen nun wohlhabende Zweitwohnungsbesitzer vom Festland ihre Wochenenden.

Ihr Toyota passt genau zwischen die beiden Ulmen vor dem Eingang ihres kleinen Reetdachhauses. Einen Moment lang schaut sie hoch zu den Blättern, die mit ihrem sanften Rascheln ein heiteres Geräusch zu diesem wunderbaren Sommertag beisteuern. Kaum hat sie die Praxis betreten, empfängt ihre Sprechstundenhilfe Sandra Michaelis sie mit neugierigem Blick. Es ist sieben Uhr, die ersten Patienten sitzen bereits vor dem kleinen Labor und warten aufs Blutabnehmen.

«Moin, Sandra. Na, so weit war es auch wieder nicht.»

Das muss genügen, Kontaktanzeigen im Internet gehen ihre Sprechstundenhilfe wirklich nichts an.

«Bei dir sitzt schon der erste Notfall.»

«Was?»

Maike hastet ins Sprechzimmer.

«Überraaaaschung!» Carla sitzt strahlend hinter ihrem Schreibtisch und hat vor sich ein üppiges Frühstück mit Croissants, frisch gepresstem Orangensaft, Obst und Tee aufgebaut. Von hinten scheint die Sonne auf all die Köstlichkeiten.

«Moin, Moin», murmelt Maike. So gern sie sonst mit ihrer Freundin tratscht und klatscht, im Moment möchte sie am liebsten für sich sein und einfach mit der Arbeit beginnen.

«Du bist heute früh aufgestanden und hast bestimmt noch nicht gefrühstückt», vermutet Carla.

«Stimmt.»

Aber ich habe im Moment gar keine Lust, dir brühwarm jede Einzelheit von Rainer zu erzählen, fügt Maike in Gedanken hinzu.

Plötzlich hat sie Rainer wieder klar vor Augen. Sie stellt sich vor, wie er seinen Hotelgästen gerade das Frühstück auf der Terrasse mit Blick aufs Wattenmeer serviert. An einem Tag wie diesem muss das ein Traum sein. Und dann fällt ihr ein, wie er sie beim Abschied gestern Nacht fest umarmt und vorsichtig auf die Wangen geküsst hat. Ob er auch gerade an sie denkt?

«War Harald hier?», flüstert sie.

Carla kneift ihr lachend in die Wange. «Glaubst du an Geister?»

Maike antwortet darauf lieber nicht. Harald ist kein Geist, leider, und er wird mit Sicherheit bald bei ihr auftauchen. Das hat sie im Gefühl.

Endlich ist es so weit. Nachdem die MS Schleswig-Holstein angelegt hat, lässt Harald sich im Strom der anderen Fahrgäste mit seinem großen Koffer von Bord treiben. Am Griff kleben noch die Zettel der Air Canada, und auch innerlich ist er noch längst nicht angekommen. Nach den ersten Schritten an Land bleibt er stehen und schaut sich um. Er ist um die halbe Welt gereist, um auf dieses abgelegene, kleine Eiland zu gelangen. Es ist Jahrzehnte her, dass er das letzte Mal hier war.

Mit gemischten Gefühlen schaut er auf die Häuser, er hat einen Kloß im Hals. Die alten Bilder in seinem Kopf legen sich wie eine Schwarzweißfolie über das neue Hafengelände mit dem modernen Gebäude der Fährreederei – irgendwas passt hier nicht mehr. Auf dem Parkplatz hält der große Meiereilaster mit dem silbern glänzenden Tank, den er schon auf der Fähre gesehen hat. Eine Frau steigt auf der Beifahrerseite aus, nimmt ihren Trolley und eilt zu einem kleinen Toyota.

Harald schnappt sich seinen Koffer und geht los. Den Weg zum Hotel Duus schafft er kaum, obwohl es nur wenige Meter vom Fähranleger entfernt liegt. Am Vortag ist er von Calgary über Frankfurt nach Hamburg

Schnell schiebt er die Gedanken an früher beiseite und schleppt seinen Koffer die drei Stufen zum Hotel Duus. Durch die gemütliche Räume zieht ein hauchfeiner Geruch von gebratenem Fisch, an den Wänden hängen alte Stiche von Wyk aus dem vorletzten Jahrhundert. Wie ein müder Greis schleppt er sich zur Rezeption. Das gibt schmerzliche Abzugspunkte für die Eitelkeit. Als Leiter einer Foto- und Filmagentur begleitet er seine Leute immer noch häufig in die kanadische Wildnis, wenn sie Eisbären filmen oder Polarlichter fotografieren, darauf ist er stolz. Den Kampf gegen die arktische Kälte, mit zwanzig Kilo Gepäck auf dem Rücken, hat er bisher immer noch gut überstanden. Wenn du denkst, du bist körperlich am Ende, geht immer noch ein bisschen, das war

Die Tür zur Küche öffnet sich, und eine rothaarige Frau mit einer riesigen Schüssel Rührei unterm Arm tritt auf ihn zu.

«Moin», sagt sie und lächelt.

Dieses wunderbare Wort versetzt ihm einen Adrenalinstoß. Seit über vierzig Jahren hat er es nicht gehört. Es begleitete ihn damals seinen gesamten Sommer auf Föhr, und auch jetzt klingt es noch wie Musik in seinen Ohren.

«Moin, Moin. Ich bin Harald Peterson.»

«Oh, Sie sprechen Deutsch? Und sogar ohne Akzent.»

«Ich habe deutsche Vorfahren», erklärt er.

Er spricht sogar Friesisch, aber das muss erst mal niemand wissen. Sein Vater wurde auf Föhr geboren und zog Ende der Vierziger nach Petaluma, in die Nähe von San Francisco, damals ein klassisches Auswanderungsziel der Föhrer. Mit seinem Sohn sprach er Fering wie viele andere Insulaner in seiner Nachbarschaft auch.

Die Frau reicht ihm ein Formular. «Tragen Sie hier bitte Ihre Adresse ein, Herr Peterson.»

Er muss schlucken, ihm kommen fast die Tränen. Wahrscheinlich liegt es an seiner unendlichen Müdigkeit, dass er so empfindlich ist. Soll er schreiben, dass er keinen Wohnsitz mehr hat? Zwar gehört ihm das Grundstück in Calgary noch, aber seit drei Wochen ist dort nur noch ein Haufen Asche zu sehen.

Es war eine großartige Nacht gewesen, er war gerade

Mit zitternder Hand trägt er seine Adresse in Calgary in das Formular ein. Die Frau blickt ihn prüfend an – nicht skeptisch, sondern eher so, als müsse man sich Sorgen um ihn machen – und händigt ihm dann seinen Schlüssel aus.

«Frühstück ist von sieben bis zehn, Abendessen gibt es ab siebzehn Uhr im Restaurant», erklärt sie.

«Wunderbar», sagt er müde und geht in sein Zimmer. Dort stellt er den Koffer neben die Tür und lässt sich in Klamotten aufs Bett fallen. Fast ohne Übergang stürzt er in einen traumlosen Schlaf und wacht erst gegen vier Uhr nachmittags wieder auf. Verwirrt schaut er sich im Zimmer um. Der Raum ist hell und freundlich eingerichtet, mit einer Ledercouch und zwei Sesseln. An der Wand über dem Sofa hängt ein Nolde-Druck, der einen bunten Himmel über der Nordsee zeigt. Im Spiegel

Vor der Tür atmet er tief ein und freut sich wie verrückt, die Luft riecht noch genauso nach Salz und Meer wie damals. Als Erstes schlendert er in die Altstadt. Die kleinen Wyker Fischerhäuser sind mächtig aufgemöbelt worden, schön sehen sie aus, fast lieblich, mit ihren prächtigen Rosenstöcken an der Hauswand. Der allgegenwärtige Meeresduft lässt ein ganzes Karussell von Föhrer Gesichtern vor seinem inneren Auge erscheinen. Die Älteren werden vermutlich schon gestorben sein, denkt er, es sei denn, auf Föhr leben lauter Hundertzwanzigjährige. Und die Jüngeren haben die Insel mit Sicherheit verlassen. Das werden stille Tage auf Föhr, er wird das Fotoarchiv der Feringstiftung durchwühlen, und mit Glück findet er ein paar Bilder seiner Eltern, aber wiedertreffen wird er wohl niemanden. Vielleicht ist es auch besser so, sagt er sich, und spürt kurz eine fast vergessene Wut in sich aufsteigen. Freiwillig ist er damals nicht gegangen.

Seine Kameraausrüstung hat er dabei – eins der wenigen Dinge, die nicht in Flammen aufgegangen sind, weil er sie beim Coldplay-Konzert dabeihatte. Er plant eine Fotostrecke über die Insel Föhr, die am anderen Ende der Welt vollkommen unbekannt ist. Für den Rest der

Als er an der Promenade direkt hinter dem Strand ankommt, freut er sich: Auch heute ist der Sandwall offensichtlich die erste Adresse in der Inselhauptstadt. Aber was hat irgendwelche Irren nur geritten, die königlichen alten Häuser des Seebades durch gesichtslose Quader zu ersetzen? Als er Richtung Kurmuschel geht, huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Falls es ihr Ziel gewesen sein sollte, die Eleganz der Promenade zu zerstören, ist es ihnen zum Glück nicht gelungen. Denn die Faszination des Sandwalls ist nicht in erster Linie von seiner Architektur geprägt, sondern von seiner Lage. Gegenüber erstreckt sich im Wattenmeer eine langgezogene Hallig, deren Namen er vergessen hat, Long Nose oder so ähnlich. Harald erkennt dort mehrere Hügel, auf denen eng zusammengedrängt ein paar Häuser stehen. Er wirft einen Blick zum Himmel. Noch sonnt sich der Sandwall im goldroten Sonnenschein, aber hinter der Hallig baut sich eine himmelhohe, pechschwarze Wolkenwand auf, die ein Inferno verheißt. Angesichts des herannahenden Unwetters erscheinen die Sonnenstrahlen umso wertvoller. In den Fenstern und Tassen auf den Tischen der Cafés spiegelt sich das helle, warme Licht, sogar die Gehwege scheinen golden übertüncht zu sein.

Das Café Steigleder gibt es immer noch, es ist jetzt, zur typisch deutschen Kaffeezeit, proppevoll. Glück gehabt,

«Moin», begrüßt ihn der Kellner, der jetzt an seinen Tisch getreten ist. Ein langer, schlaksiger Kerl mit schwarzer Hose und weißem Hemd, kurzen, dunkel gefärbten Haaren und braunen Augen, vermutlich ungefähr in seinem Alter.

Harald fragt ihn, ob er englisch spricht. Ihm ist gerade nicht danach, deutsch zu reden.

«Yes, what can I do for you?»

Er hat Hunger, will aber keinen Kuchen wie sämtliche andere Gäste um ihn herum.

«Is it possible to get a typical island breakfast with crumbled eggs and crabs?» Er ist gespannt. In den Sechzigern hätte man ihn nur blöd angeguckt: «Frühstück? Um diese Zeit?» In Calgary kennt er mehrere Cafés, die Frühstück rund um die Uhr servieren – ob das schon bis Wyk vorgedrungen ist?

Der Kellner nickt zustimmend: «Good choice.»

Harald ist beeindruckt. Wieder ein Beweis dafür, dass die Welt näher zusammenrückt. Nun taucht ein dicklicher, kleiner Kellner auf und fragt seinen Kollegen auf Friesisch:

«Na, kuupe e Amerikoner nü alles wech?»

Na, kaufen die Amis alles weg?

«Wat wäl dü diarjin maaghe?», antwortet der Schlaksige gleichmütig.

Was willst du dagegen machen?

«Nem man di doppelt Pris.»

Nimm einfach den doppelten Preis.

«Of glik triises», mischt sich Harald ein.

Die beiden Kellner blicken ihn verdattert an.

«Du sprichst Friesisch?», fragte der Dickliche.

«Jä, was.»

«Wo kommst du her?», will der andere wissen.

«Kanada.»

«Und da spricht man friesisch?»

Harald nickt. «Aber nur auf dem platten Land.»

Sie verstehen seinen Humor sofort.

«Ist hier nicht anders», grinst der Dickliche.

«Sag mal, kennen wir uns?», fragt der Schlaksige plötzlich und schaut ihm in die Augen.

Harald reicht ihm die Hand: «Mein Name ist Harald Peterson.»

Der Kellner lässt sein leeres Tablett auf den Boden fallen. «Harry?», ruft er so laut, dass sich einige Passanten erschrocken umdrehen.

In dem Moment erkennt ihn auch Harald: «Holgi?»

Sie fallen sich in die Arme und trommeln sich vor Freude auf den Rücken.

«Make love …», schreit Holgi.

«… not war!», antwortet Harald lachend.

Es ist tatsächlich Holger Heinßen, sein alter Kumpel von damals, mit dem er nächtelang um die Häuser gezogen ist.

«Wieso hast du mich nicht erkannt?», beschwert sich Holgi. «Wo ich mich so gut wie gar nicht verändert habe!»

«Umgekehrt wird ein Schuh draus, mein Lieber», antwortet Harald.

«Aber neuerdings färbst du dein Haar grau und hast dir Falten ins Gesicht spritzen lassen.»

«Dreifacher Preis?», fragt Harald und deutet auf das Glas.

«Geht aufs Haus», lacht Holgi und setzt sich zu ihm. «Mit kurzen Haaren siehst du übrigens albern aus.»

«Und du erst!»

Sie labern genauso dumm rum wie früher, als lägen nicht über vierzig Jahre dazwischen. «Ich habe noch Fotos von dir.»

«Oje.»

«Harry Peterson mit langen Haaren, der gut drauf ist.»

«Ey, gut drauf bin ich immer noch.»

«Sagst du

Die beiden lachen und stoßen an. In diesem Moment kommt ein breitschultriger Mann in einer zerknitterten weißen Kapitänsuniform auf ihren Tisch zugeschaukelt und ruft: «Und wieso trinkt ihr ohne mich?»

Harald muss kurz überlegen. «Boje?»

So viele Bekannte wie hier laufen ihm in Calgary nicht in zwei Wochen über den Weg.

Eigentlich heißt Boje Hark Boysen, das erinnert Harald noch. Er trägt sein volles blondes Haar nach wie vor schulterlang.

«Harry, altes Haus!» Sie fallen vor Freude fast über den Tisch, als sie sich umarmen.

«Guud. Und di?»

Harald macht normalerweise viel Sport und lebt einigermaßen gesund, wenngleich ihn sein Internist immer vor zu viel Cholesterin warnt. Aber heute schickt er die Ratschläge seines Arztes auf Urlaub und stößt kräftig mit seinen alten Freunden an. Der Manhattan steigt ihm angenehm in den Kopf, seine Müdigkeit ist wie weggeblasen. Ist das schön! Zu dritt quasseln sie wild durcheinander über die alten Zeiten, über die Party in der legendären Föhrer Disco Erdbeerparadies, bei der DJ Rolf Robertson ein lebendes Krokodil verlost hat, was heute unvorstellbar wäre, über die Musik von Jefferson Airplane und, und, und …

«Warum hast du dich nie gemeldet?», fragt Boje plötzlich.

Ja, warum hat er sich nie gemeldet? Dafür gab es handfeste Gründe, die hier auf der Insel lagen. Leider. Auf einmal droht sich ein Schatten über seine Ausgelassenheit zu legen, ein Gefühl von Enttäuschung steigt in ihm hoch. Es ist damals wahrlich nicht alles gut gelaufen – aber nein, das will er jetzt nicht hochkommen lassen.

«Erzähl ich euch alles, Jungs, lasst mich erst einmal ankommen», sagt er betont lässig. Und so meint er es auch.

Dass seine Freunde noch arbeiten müssen, passt ihm ganz gut. Außerdem hat er außer seinem Hotelzimmer und dem Sandwall noch nichts von der Insel gesehen, das möchte er jetzt nachholen. Netterweise leiht ihm Holgi seinen Motorroller, eine wunderschöne rote Vespa aus Italien. Er stülpt sich den Helm über den Kopf. Bleibt

Lächelnd knattert er mit dem Motorroller durch die weite, flache Marsch. Es kommt ihm vor wie ein Flug durchs Paradies. Die Weiden riechen nach feuchtem Gras und fruchtbarem, schwerem Kleiboden, in den Gräben gluckst das Wasser. Eine unsichtbare Macht schlägt hier Töne an, die alles in ihm zum Klingen bringen. Noch scheint die Nachmittagssonne auf Föhr, aber die undurchdringliche schwarze Wetterwand über der Nordsee ist deutlich näher gerückt. Das sieht nicht nach einem Regenschauer aus, eher nach dem Ende der Welt. Harald beunruhigt das kein bisschen, er weiß von damals, dass hinter solchen Wetterfronten meist der nächste Sommertag wartet.

Mit einem breiten Lächeln hält er an und schaltet den Motor aus. Ein sanfter, salziger Wind fährt ihm übers Gesicht, ein paar Austernfischer fiepen auf einer Weide, etwas später kommt ein Strandregenpfeifer dazu. In den Gräben raschelt das gute alte Schilf, daran hat sich nichts geändert. Es fühlt sich an wie Heimat, dabei war er damals doch nur einen Sommer hier! Liegt es daran, dass dieser Sommer Ende der Sechziger der schönste seines Lebens war, obwohl er so fatal zu Ende ging? Oder spürt er einfach seine Wurzeln, weil sein Vater auf Föhr geboren ist? Es bleibt ein Rätsel.

Er fährt weiter. Schon von weitem erkennt er die große

Er verschmäht die neue Ortsumgehung und nimmt die alte Straße durch die Dörfer Klintum und Toftum, die heute beide zu Oldsum zu gehören scheinen. Ein Reetdachhaus nach dem anderen fliegt an ihm vorbei. Er staunt: Neuerdings sind auch die Seitenstraßen alle geteert. Gibt es nirgendwo mehr sandige Feldwege, deren Staub im Sommer bis zu den Schornsteinen der Häuser hochweht?

Die alten Bauernhäuser sind in einem viel besseren Zustand als damals, das Reet auf den Dächern ist frisch, das Mauerwerk und die Fenster tipptopp in Schuss. Wie kann das sein? Haben die Oldsumer Öl gefunden oder Gold? Die Antwort lautet: beides! Und zwar in Form von wohlhabenden Städtern. Vor den Einfahrten stehen zahlreiche Autos mit «HH»-Kennzeichen, das für Hansestadt Hamburg steht, daran erinnert er sich noch. Ein Bauerndorf ist das nicht mehr, denkt er, dazu riecht die Luft viel zu frisch. Früher gab es vor fast jedem Haus einen Misthaufen.

Obwohl er es kaum abwarten kann, das Haus zu sehen, in dem er damals gewohnt hat, braust er erst einmal daran vorbei. Wo ist nur die gelbe Telefonzelle an der Hauptstraße geblieben, an der er abbiegen musste? Dann fällt es ihm ein, die ist im Zeitalter von Handys

An der Ecke erkennt er den ehemaligen Hof der Olufs, die damals seine Nachbarn waren. Das Haupthaus ist neu verklinkert, an der Tür baumelt ein Schild: «Keramikverkauf nur am Wochenende». Schräg gegenüber steht das Haus seines Vaters – das in jenem Sommer sein Zuhause war. Anfangs war das Gebäude eine Ruine mit großen Löchern im Dach. Jetzt sieht das alte reetgedeckte Haus mit dem prachtvollen Giebel aus wie neu, der üppige Garten ist voller Rosen und Gladiolen, dazwischen wachsen Sonnenblumen. Vor dem Eingang stehen immer noch die beiden großen Ulmen, die er damals Ginger Rogers und Fred Astaire getauft hatte, weil sie im Wind immer synchron miteinander tanzten.

Er hält an, steigt von der Vespa und nähert sich mit vorsichtigen Schritten. Neben den weißen Sprossenfenstern sind dunkelgrüne Holzläden angebracht, hier hat offenbar jemand mit ausgesuchtem Geschmack gewirkt. An der Tür hängt ein weißes Blechschild, das irgendwie offiziell aussieht. Die Sonne springt ruckartig weiter nordwärts Richtung Sylt, plötzlich liegen Straße und Haus im Schatten. Die dunkle Wetterfront hat Föhr nun endgültig erreicht, es fängt an zu tröpfeln. Sein Holzfällerhemd und die Jeans sind natürlich die denkbar schlechteste Kleidung für das einsetzende Gewitter. Aber darauf kommt es jetzt nicht an. Neugierig geht er auf das Schild zu. Bevor er zum Hotel zurückfährt, möchte er doch wissen, wer der neue Eigentümer des

Maike Olufs, Ärztin für Allgemeinmedizin.

Das kann nicht wahr sein!

Der letzte Patient ist versorgt und verabschiedet. Maike setzt sich an ihren großen, klobigen Holzschreibtisch, der in ihrem Elternhaus einmal der Esstisch war, und nippt an ihrem grünen Tee. Ein gleichmäßiger, ruhiger Regenteppich hat sich über die Insel gelegt. Die untere Kante des Reetdachs steht so weit vor, dass die Tropfen die Scheiben nicht erreichen. Auf diese Weise hat sie einen klaren Blick in die weite Marsch, die vom Himmel bis zum Kleiboden vom Regen schräg schraffiert wird. Sie lehnt sich zurück, mit diesem sanften Geräusch im Ohr wird sie später gut einschlafen können.

Sie liebt die schiefen alten Wände und Fußböden in ihrer Praxis, die unverputzten Deckenbalken, die imposanten Bauernschränke, die sie ebenfalls geerbt hat und in denen nun Spritzen und Medikamente lagern. Aufgewachsen ist sie in dem Haus direkt nebenan, wo jetzt eine Familie vom Festland wohnt.

Wie nach jedem Praxistag geht sie die Karteikarten sämtlicher Patienten, die sie an diesem Tag behandelt hat, noch einmal durch: Hat sie in der Hektik des Tages etwas übersehen, ist ihr eine wichtige Information durchgerutscht? Bemerkenswert war heute Herr Grundbroich