Thilo Mischke
Notizen vom Rand der Welt
Knaur eBooks
Thilo Mischke, geb. 1981, ist ein deutscher Journalist, Autor und Fernsehmoderator. Er arbeitet als freier Journalist u. a. für die ZEIT und Berliner Zeitung, betreibt den reichweitenstarken Podcast Uncovered und steht für eine gleichnamige Reportagereihe bei ProSieben regelmäßig vor der Kamera. Vielfach prämiert gewann er u. a. 2020 einen Bayerischen Fernsehpreis und wurde bei der Wahl zum Journalist des Jahres 2020 in der Kategorie ›Reportage national‹ ausgezeichnet. Er lebt in Berlin.
Droemer eBook
Originalausgabe März 2022
© Droemer eBook Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Jan Strümpel
Covergestaltung: Phuc Vinh Hoang
Coverabbildung: Nikita Teryoshin
ISBN 978-3-426-46341-3
Für Oma
++++++
Ich sitze sehr unbequem, mein Bauch quält sich am Gurt vorbei, ein Arm hinter dem Kopf, die Knie viel zu nah am Körper, die Füße verdreht unter den Vordersitz geschoben. So, wie ich sitze, denke ich auch gerade nach. Ich habe unbequeme Gedanken.
In dieser Landschaft, hier mitten in El Salvador, hat der Tod sein Zuhause, denke ich und verwerfe diese Überlegung schnell, weil sie kitschig ist, nicht angebracht für das, was ich hier sehe. Der Tod wohnt nirgends, versteckt sich nicht, er ist immer gegenwärtig. Besonders hier.
Aus einem T-Shirt habe ich mir ein Kopfkissen gebaut, eine Tüte Nüsse auf dem Sitz neben mir, mit der Stirn lehne ich mich gegen die Autoscheibe. Mein Arm soll die unebene Straße ausgleichen, damit mein Kopf nicht gegen die Scheibe schlägt. Ich sitze in einem Minibus, ein Team um mich herum, und fahre an einen Ort, an dem ich sterben könnte. Es macht mir aus einem einfachen Grund keine Angst. Keine Angst mehr. Dass ich an Orte fahre, die mit Tod assoziiert werden, ist in den letzten sechs Jahren häufig geschehen. Und ich habe mich daran gewöhnt, ich nenne es jetzt Normalität.
Meine Eltern, mein Bruder, meine Freunde nennen es bescheuert. Ich könnte mich verrückt machen. Ich könnte mich an der nachvollziehbaren Furcht verrückt machen, wie ein Flugängstling könnte ich alle Variationen eines grausamen Endes durchdenken, sie geistig sezieren und in meinem Kopf immer wieder hin und her werfen. Aber ich tue es nicht. Wie ein Steward, der keine Angst vor dem Fliegen mehr hat, nicht haben kann, weil ja nichts passiert, arbeite ich mich gefährlich nah an mein eigenes Ende heran.
Ich habe die Fähigkeit entwickelt, auf langen Autofahrten mit einem Auge aus dem Fenster und mit dem anderen aufs Handy zu blicken. So bekomme ich beides mit, das Vertraute und das Fremde, und kann gleichzeitig über das Fremde, das Ferne und die Heimat nachdenken.
Die Straßen sind schlecht, mein Kopf schlägt gegen die Fensterscheibe, ich schiebe mein T-Shirt-Kissen weiter nach oben. Der Akku meines Telefons zeigt noch 20 Prozent an. Ich schreibe einem Freund eine Nachricht: »El Salvador ist ein furchtbares Loch.«
Ich sehe also einäugig hinaus, höre Musik und versuche mich wach zu halten. Denn ich bin erschöpft, dieses Land hat mir jede Kraft geraubt, wie kaum ein Land zuvor. Das Team schläft, der Fahrer hört leise spanische Schlager, der Journalist, der mich durch dieses Land begleitet, raucht Zigaretten und pustet den Rauch durch den Fensterschlitz. Wir sind eine stille, erschöpfte Reisegruppe.
El Salvador ist kein schöner Ort, wirklich nicht. Wird es niemals sein, dessen bin ich mir sicher. Dieses Land müsste nicht nur seine Geschichte aus Bürger- und Bandenkriegen vergessen, es müsste auch sehr viel düngen. Alles ist gelb: die Sträucher, der Boden, der so arm an Nährstoffen ist, dass er sich ohne Mühe vom Wind wegtragen lässt. Oft sehe ich Windhosen und Steppenhexen, das Unkraut, das wie in einem Westernfilm von links nach rechts geweht wird. Egal, wo ich mich aufhalte, eine dünne Staubschicht liegt auf meinem Gesicht, schminkt mich matt, nimmt mir den öligen Film, der allen hier, bei dieser Hitze, im Gesicht steht.
Ich schmecke den Sand, wenn ich mir über die Lippen lecke, und weil es so heiß ist jeden Tag, vom frühen Morgen, bis die Sonne untergeht, schwitze ich, schwitzen wir alle unerträglich. Der Staub klebt überall, wo die Haut feucht ist.
Die Häuser gelb, das Essen auch. Nichts hier hinterlässt einen Eindruck, der mich mehr fühlen lässt als Langeweile. Und ich schäme mich deswegen, denn ich müsste Angst empfinden. Wer sich in El Salvador langweilt, der ist reich. Oder nicht von hier.
Alles ist gedämpft in diesem Land, als hätte man eine Pferdedecke über dem Kopf und würde durch sie die Welt betrachten. Es gibt keine Geräusche, kein Vogelzwitschern, kein lautes Gerede der Menschen, selbst der Straßenverkehr ist still. Es ist schwer vorstellbar, aber ich habe es beobachten können. Die Menschen in El Salvador verhalten sich, als wären sie in einer Bibliothek. Alle laufen hier mit gebeugten Schultern über die Straßen, gesprochen wird nur im Flüsterton. Es könnte jemand zuhören, es könnte jemand petzen. Jedes öffentlich gesprochene Wort kommt einer Gefährdung gleich, könnte dazu führen, dass man erschossen wird, erhängt, aufgeschlitzt, vergewaltigt, zerschunden, aber so, dass es den Geschundenen noch lange quält, bevor er endlich stirbt.
Das Gelb passt nicht zur Gewalt, die hier täglich, ach, minütlich stattfindet. Diese Farben passen nicht zum hier erlebbaren, sichtbaren Grauen.
Reportagen zeigen Menschen gern fröhlich in ihrer globalen Armut. Früher dachte ich, Länder, in denen Gewalt herrscht, sind laut und bunt, versuchen das, was den Alltag ausmacht, mit Auffälligkeiten zu verstecken. Große Feste in El Salvador, die den Tod ehren, verstecken die Allgegenwärtigkeit des Todes, Paraden durch die Straßen der Hauptstadt, die wie eine Maske über die Wirklichkeit gelegt werden. Vielleicht sind die Bilder aus den Favelas in Brasilien schuld daran, Bilder von tanzenden Menschen, die Rum trinken und lachen. In ihren Augen ist das Irre der Welt, in der sie leben, zu erkennen, sie blicken anders, da ist keine Ruhe, keine echte Freude, nur Ablenkung. In vielen dieser Blicke liegt das endgültige Erlöschen eines Lebenstraums.
Aber El Salvador ist ein Land, das stirbt.
Mein Kopf schlägt trotzdem gegen die Scheibe. Die Straßen werden noch schlechter, wir fahren vorbei an Dörfern, nach deren Namen ich nicht frage. Häuser, windschief, und vergitterte Fenster, damit niemand einsteigt und das wenige stiehlt, das sich Menschen hier leisten können. Meist sind das eine Schrotflinte, ein Röhrenfernseher und eine mobile Klimaanlage, für die Kinder im Hof ein Fahrrad. Wie Maismehl liegt der Staub auf den grünen Kakteen, die am Rand der Straße wie versteinerte Anhalter stehen.
Seit 48 Stunden bin ich wach. In diesen 48 Stunden habe ich mich mit den Anführern der rivalisierenden Gangs getroffen, wir saßen im Hinterraum einer Tankstelle zusammen und diskutierten, warum der einzige Ausweg aus der Armut diese unberechenbare Gewalt ist. Wir saßen dort in der ständigen Angst, jemand könnte eine Handgranate in den Raum werfen. Wir waren in Gefängnissen, in denen die Insassen nichts mehr hatten als die Tattoos in ihren Gesichtern, vollkommen entmenschlicht, wie Kriegsgefangene im eigenen Land, blickten sie zu mir und in die Kameras, die sie filmten. Da war kein Gefühl, keine Zartheit mehr, da war die Erschöpfung von Männern, die noch am Leben sind, die eigentlich tot sein sollten. Die Gewalt, die hier herrscht, vermengt sich mit meiner Müdigkeit zu einem Rausch. Das Ungewaschene, das Durchgemachte, es unterscheidet sich nicht vom Ungewaschenen und Durchgemachten meiner Jugend in Berlin. Weil ich dieses Leben hier nur beobachte, nicht Teil davon bin, ist es ein Rausch. Die Erschöpfung, die sich aus dieser gefährlichen Neugierde ergibt, erinnert mich an die Zeit, als das Wochenende am Donnerstag nach meinem Abitur begann und mit meinem dreißigsten Geburtstag endete.
»Wir müssen jetzt schneller fahren«, sagt der Fahrer. »Und nehmt die Köpfe vom Fenster weg.« Sein Ton lässt nichts Unnormales vermuten. Er sagt es, weil die Menschen in dieser Gegend nördlich von San Salvador, der Hauptstadt, auf vorbeifahrende Wagen schießen. Hier kann man noch stehlen, Autos haben keine Gitterstäbe und mit uns Passagieren einen verletzlichen Kern, der sich schnell töten lässt. Wir rasen. Wenn wir nicht erschossen werden, denke ich, stürzen wir die Böschung hinab. Und vermutlich werden wir dann erschossen. Furchtbare Gedanken. Ich denke solche Sätze wirklich.
Die Landschaft verändert sich, es geht in die Hügel, die San Salvador umgeben. Wir fahren immer tiefer hinein in dieses Land, das die meisten nicht mal aus den jährlichen Gewaltstatistiken kennen, kalten Zahlen, die uns ein Gefühl von Sicherheit geben. Statistiken, die ich wie eine Reisempfehlung lese.
Wir wissen, bei uns zu Hause sterben nicht Tausende Menschen jedes Jahr durch Waffen, durch Ganggewalt. Bei uns sterben nicht Tausende junge Frauen und Männer durch Fäuste, Penisse, Messer, zerdrückt durch eine Wut, die nur Verzweiflung erzeugen kann.
Ich kurble das Fenster ein wenig herunter, will rauchen, atme durch den Schlitz. Die Luft ist schon kühler, weil wir weiter oben sind.
»Wir sind bald da«, sagt der Fahrer. Er biegt ab, die Straße wird zum Feldweg, zum schmalen Grat, durch die verstaubten Scheiben sehe ich ein Tal. Als wir aussteigen, ich den Rücken durchdrücke und unbeteiligt »Puh« sage, rieche ich zum ersten Mal in meinem Leben den Tod.
An einem Samstag ruft mich meine Mutter auf dem Telefon an. Das ist eher ungewöhnlich, sie schreibt üblicherweise schwer verständliche SMS, die sie mit Siri diktiert. Etwas muss passiert sein. Ich ahne, was, will es aber nicht denken. Als ich das Telefonat annehme, höre ich meine Mutter aufgeregt weinen. »Komm schnell ins Krankenhaus«, sagt sie und holt zwischen jedem Wort Luft. Und ich weiß, was das bedeutet.
Oma stirbt.
Ich habe keine Angst. Auch, weil ich in El Salvador war. Auf meinen Reisen habe ich sehr viel gelernt, doch wohl nichts war wichtiger als das, was ich über das Sterben, den Tod erfahren habe, über das Leid, das damit einhergeht. Ich habe die Angst verloren.
»Ich hole Berti«, sage ich. Und rufe meinen Bruder an. Auch er weint.
Und dann weine ich.
Ich weiß nicht, warum das erste Kapitel gleich mit dem Tod beginnt. Ich weiß nur, dass dieses düstere Thema das allererste war, über das ich nachdachte, als die Idee zu diesem Buch entstand. Und ich erinnere mich an ein Gefühl großer Lust, darüber zu schreiben. Gleichzeitig empfand ich eine große Furcht. Ich wollte unter keinen Umständen etwas Altkluges aufschreiben, »Was man vom Leben lernt« bla bla. Das sollte nicht passieren, und ich will es verhindern.
Vielleicht wollte ich mit diesem Kapitel gleich das Schwere, das Harte abarbeiten, damit wir uns den fröhlichen Seiten des Lebens widmen können. Aber ich ahnte, bevor ich überhaupt ein weiteres Kapitel geschrieben hatte, dass dieses Buch nicht lustig werden wird.
Gedanken über den Tod machte ich mir schon, lange bevor mir klar wurde, dass ich aus dem Erlebten der letzten Jahre ein Buch machen möchte. Er hat mich begleitet, er war oft, zu oft dabei. Ich will davon erzählen, weil ich in den letzten Jahren verstanden habe, dass nicht normal ist, was wir – ich, das Team – auf unseren Reisen erleben. Es hinterlässt Spuren auf meiner Seele. Das Erlebte hat mich verändert, und zwar so fundamental, dass ich daran zerbrechen könnte. Es ist nicht normal, obwohl es für mich Normalität ist.
Aber warum schreibe ich es auf? Warum erzähle ich es nicht einfach meinen Freunden, meinem Bruder, meinen Eltern?
Das ist leicht zu beantworten: Niemand fragt mich danach.
Und das ist in Ordnung. Weil kaum jemand die Fragen dazu kennt. Wenn ich von meinen Reisen wiederkomme, heißt es oft: »Wie war’s?« Und ich kann nur antworten: »War okay.« Dann ist oft Schluss.
Auf Partys will selten jemand wissen, wie der Tod aussieht, ob Kabul schön ist, wie die Kämpfer des IS so drauf sind. Und ich traue mich nicht, davon zu erzählen. Früher habe ich das gemacht, meist sind die Menschen dann rückwärts aus dem Raum gegangen oder haben mir nicht geglaubt. Wenn ich davon erzähle, wie ich mit Yanomami-Indianern schwimmen ging, wenn ich sage, dass ein Faultier auf dem Kopf stinkt und in echt nicht niedlich ist, wenn ich berichte, wie es ist, beschossen zu werden, dann sind das Geschichten, die spannend klingen, die sich aber kaum jemand erzählen lassen will. Die kaum jemand verstehen kann,
Jede Leserin, jeder Leser dieses Buches muss jetzt zuhören. Tja. Aber Sie können dieses Buch auch wieder weglegen. Im Gespräch kann man nicht einfach aufhören zuzuhören – also kann man schon, ist aber extrem unhöflich.
Für die meisten Menschen ist, was ich erlebe, ein Abenteuer, eine große Reise. Manche glauben, dass ich Urlaub mache, weil ich im Ausland bin. Ich finde das nicht schlimm, es macht mich nicht traurig. Aber wer mich nicht nach dem fragt, was ich erlebe, kann auch nicht einschätzen, wie er mit mir umgehen soll, und damit nicht erkennen, ob es mir gut geht.
Dieses Nicht-erzählen-Können stellt ein großes Problem für mich dar. In meinem Leben ist eine seelische Leerstelle entstanden. Und an dieser Kluft zwischen dem Bedürfnis, von meinen Erlebnissen zu erzählen, und der Abwehr derjenigen, die mir zuhören könnten, sind Freundschaften zerbrochen. Auch an der Kluft zwischen meiner eigenen Gedankenwelt und meiner Unfähigkeit, Themen meiner Heimat, der Berliner Wirklichkeit, wertzuschätzen. Hat der beste Freund den Auftritt mit seiner Band gemeistert? Ist die Bekannte schwanger, hat der andere Freund seine Steuererklärung hinbekommen? Ich kann mich darauf nicht konzentrieren, obwohl ich es doch so sehr will. Doch wie soll ich das tun? Wie soll ich mich konzentrieren, wenn mich gerade umtreibt, ob ich mir auf der illegalen Atommüllhalde in Italien die Strahlenkrankheit geholt habe.
Mit meinen Gedanken allein gelassen, hilft mir, was mir immer geholfen hat, ich schreibe sie auf. Aufgeschriebenes ist ein viel intensiveres Produkt meiner Gedanken als Fernsehen, kurze Reportagen oder Podcasts. Da existiert nur ein Filter, nämlich der meiner Erinnerungen.
Ich würde niemals behaupten, dass meine Erlebnisse mich zu einem besseren Menschen gemacht haben, das wäre vermessen. Nein, aber ich habe ein Leben, das ich nicht mehr mit anderen Leben abgleichen kann. Mir fehlt die Beruhigung, in den Lebensverläufen, Lebenskonzepten anderer Menschen Muster finden zu können, die mir eine Richtung weisen. Aber ich vermute, das geht nicht nur mir so.
Als wir ankommen, sagt der Mann, den wir heute in El Salvador begleiten, dass wir uns beeilen müssen. Er ist Forensiker, er verdient sein Geld damit, dass er Tote ausgräbt und zu ermessen versucht, woran sie gestorben sind. Auf unnatürliche Weise sind sie alle gestorben, er will aber herausbekommen, ob die Menschen an einem Messer in der Brust, wegen abgeschlagener Gliedmaßen, infolge einer Vergewaltigung, an Drogen oder einer Kugel im Kopf verreckt sind.
Er ist ein kleiner, dünner Mann, der seinen Beruf nur durch einen befremdlichen Sinn für Humor erträglich gestaltet. Er macht Witze mit Toten, über Tote. Filmt mit seinem Handy wackelige Videos, auf denen zerstückelte Leichen zu sehen sind. Er lädt sie später nicht bei Reddit hoch, sondern zeigt sie seinen Studenten. Forensiker ist in El Salvador ein gefragter Beruf.
»Wir müssen uns beeilen, hier sind oft Scharfschützen«, sagt er und zeigt auf die Felswand gegenüber. Dort würden sie auf die Nacht warten, darauf, dass die Polizei die Leichen nicht schnell genug findet. Sie warten dort und graben später die frischen Toten aus, um sie an einer anderen Stelle wieder zu verstecken.
Sie, das sind die Gangs dieses Landes, die Gangmitglieder von Mara-13, Barrio 18 und unzähligen Ablegern, Splittergruppen. Sie, das sind Mitglieder von Selbstjustizgruppen, abtrünnige Polizisten und Jugendliche. Dem Opfer ist der Täter egal, denke ich, als der Forensiker aufzählt, wer uns heute in der Dämmerung alles erschießen könnte.
Wir nehmen Wasser aus dem Auto mit. Es ist 40 Grad heiß, ein getrocknetes Tal, ein vertrockneter Flusslauf, hier ist kein Leben mehr zu finden, der Boden ist hart. Ich rutsche in meinen Schuhen über das Geröll.
»Dahinten«, sagt der Forensiker und zeigt auf eine Plane mitten in der Landschaft, ein weißes Viereck, das im Wind flattert, das den einzigen Schatten im ganzen Tal wirft. Ich weiß, dort, wo keine Sonne scheint, wartet das Leid.
Ich sehe drei Männer in der Ferne. Ein Assistent, zwei Polizisten. Und einen Zivilisten, ein älterer Mann, Hände in der Hüfte, eine Zigarette im Mundwinkel.
»Wer ist das?«, will ich wissen. Ich bin misstrauisch, Menschen ohne Uniform sind in diesem Land gefährlich.
»Der Vater«, sagt der Forensiker.
»Wie, der Vater?«
»Na, der Vater des Jungen, den wir heute versuchen zu finden.«
Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich wusste, dass wir diesem kleinen Mann heute bei der Arbeit zusehen, ich wusste aber nicht, dass wir tatsächlich eine Leiche bergen werden. Und schon gar nicht, dass ein Verwandter anwesend ist. Der Vater eines 17-Jährigen, der seit drei Tagen vermisst wird.
»Riechst du das?«, fragt mich der Forensiker, bevor ich überhaupt verstehe, dass ich im Verlauf des Tages nicht nur mit dem Tod und einer echten Leiche konfrontiert werde, sondern auch mit der unausweichlichen Trauer.
Ich atme tief durch die Nase ein, und dann ist da dieser Geruch. Ein seltsamer Geruch. In Serien und Filmen, in denen Menschen verwesen, sagen die Schauspieler, die Kommissare und Profiler spielen, oft den Satz: Tod riecht einzigartig. Süßlich.
Dem möchte ich widersprechen. Tod riecht nicht süßlich, nicht einzigartig. Ich kenne diesen Geruch. Es riecht nach Mikroben, die ihre Arbeit machen, nach Würmern, die nagen und verdauen, nach Kompost, Pilz, Waldboden, nach Wildschwein, das am Ufer eines Sees übernachtet hat und nun mit feuchtem Bauch Kastanien sucht, es riecht in seiner befremdlichen Vollkommenheit nach Natur, es riecht lebendig, nach allem, was das Leben sein könnte.
Auf unzähligen Spaziergängen durch Brandenburg habe ich diese Verwesung gerochen. Dieser Geruch, den wir schon als Kinder wahrnahmen, wenn wir das Kinn auf unser schorfiges Knie lehnten, die Nase nah an der Wunde, ist unvergesslich. Er riecht sanft, warm, nach Sommer. Dieser Geruch trägt die Erfahrung des Stürzens und Wiederaufstehens in sich. Das kann dieser Geruch. Und er riecht nur so, weil wir ihn als Wind im Wald kennen oder als Ahnung, als Millisekunde einer Erinnerung an unser aufgeschürftes Knie.
Wir in Deutschland kennen diesen Geruch nicht in seiner Gänze. Das Verwesen eines Körpers in der mittelamerikanischen Sonne, eines Körpers, der nicht tief vergraben ist, riecht anders. Dieser Geruch schlägt einen tiefen Pfad in die Nasenlöcher, reißt ein Loch in unsere Wahrnehmung, in das, was wir über Gerüche wissen, was Gerüche sein können.
Der Geruch des Todes ist von langer Dauer. Von großer Intensität. Gerüche verfliegen normalerweise, dieser aber pflügt sich durch die Öffnung meiner Nase in mein Hirn. Und er bleibt, setzt sich dort fest.
An viele Gerüche gewöhnen wir uns: Scheiße auf Festivaltoiletten, die Achsel des Mannes in der U-Bahn im Hochsommer, der Mundgeruch des Lehrers. Der unangenehme Geruch ist noch da, doch unser Gehirn blendet ihn aus.
Nicht so mit dem Geruch dieses Jungen dort unter der Erde. Er steht in der Luft, legt sich auf meine Zunge, dringt in meine Lungen, senkt sich auf die Blätter und Bäume um mich herum. Wie ein schwarzes Laken senkt er sich auf die Landschaft und lockt die Geier und Gerichtsmediziner und Journalisten an.
Er liegt auf meinen Händen, im Schweiß meines Gesichtes. Er geht nicht weg, er bleibt. Egal, wohin ich rieche, da ist dieser Junge. Da ist dieser Tod. Er lauert, er wartet, er schleicht sich heran, als Duft. Ja, als Duft.
Mir wird nicht schlecht, ich fühle mich nicht bedrängt dadurch.
»Ja«, sage ich. »Ich kann es riechen.«
»Man gewöhnt sich nie daran«, sagt der Forensiker und macht dann etwas, das ich aus dem Fernsehen kenne: Er schmiert sich Minze unter die Nase.
»An die Arbeit!«, sagt er und wirft mir einen Spaten zu. »Hilf mir, die Leiche auszugraben.«
Ich nicke dem Vater zu, er will nicht in das Grab sehen, unter die Plane. Der Vater nickt zurück. Er lächelt unter den Tränen in seinem Gesicht.
Ich wusste, Oma würde sterben, als ich meinen Bruder anrief. Er ging sofort ans Telefon und legte dann schnell wieder auf. Wir trafen uns am Krankenhaus Friedrichshain. Hier wurde ich geboren, hier sollte nun meine Großmutter sterben.
Ein Novembertag in Berlin, ungewöhnlich sonnig. Ich fuhr am Leninplatz vorbei, der heute Platz der Vereinten Nationen heißt, aber meine Oma bestand stoisch darauf, den alten Namen zu sagen. Ich fuhr am Volkspark vorbei. Hier war ich zum ersten Mal rodeln, hier hat meine Oma Schutt hingebracht, nach dem Krieg. Alles in dieser Stadt ist meine Familie, jede Ecke eine Geschichte.
Ärzte, deren Erfahrungen mit dem Tod einen Blick ermöglichen, der jeden Angehörigen Anteilnahme erfahren lässt. Anteilnahme für meine Mutter an einem Bett in der Intensivstation. Ich nehme die Hand meines Bruders.
Und dann ist da meine Oma. Eine Stalinistin, eine politische Person, eine Juristin, die in den Sechzigern alleinerziehend ihr Staatsexamen an der Humboldt-Universität machte.
Sie lag dort, in dem Raum, ihr Mund geöffnet, die Augen geschlossen, schwer atmend. »Neunundsiebzig«, dachte ich. »Ist doch kein Alter, um zu sterben.« Sie atmete tief, wie ein Leistungssportler, kurz nachdem er das Ziel erreicht hat. Oma hatte das Ziel erreicht. Meine Mutter weinte, ebenso tief und schwer, hielt ihre Hand.
»Noch nicht sterben«, weinte sie. »Noch nicht, Mutti.« Sie sagte »Mutti«, nicht »Oma« oder »Karin« wie sonst.
Und dann begannen auch mein Bruder und ich zu weinen. Ein neuer Schmerz war das, ein anderes Verzweifeln. Die Aneinanderreihung von negativen Erfahrungen wappnet uns für schwere Momente im Leben. Auf das, was hier geschah, kann nichts vorbereiten. Das Krankenhaus ist ein Ort der Unausweichlichkeit. Oma vergeht. Eine echte Tatsache. Der Tod ist eine der wenigen Tatsachen des Lebens. Ich könnte jetzt sagen, ich hasse den Tod, aber das ist kindisch, es ist albern. Dieser Raum, die kleine, zarte Hand meiner Oma in meiner Hand, die Kanüle in ihrem Arm – das war eine Tatsache, und sie war unhintergehbar. Die Krankenschwester stand neben dem Bett. Um den Zustand meiner Oma einzuschätzen, musste sie nicht in ihr Gesicht sehen, es reichte ein Blick auf die Monitore, und dann flüsterte sie: »Frau Späth stirbt jetzt.« Es hat meinen Bruder, meine Mutter und mich beruhigt. Ich habe Oma aus dem Automaten einen Kaffee gezogen und auf die Maschine gestellt, die ihrer Familie zeigt, dass es bald vorbei ist.
Es roch nicht mehr nach Krankenhaus, sondern nach Instantkaffee.
»Noch ein bisschen«, sagte Mutter. »Noch einmal einatmen.« Meine Mutter kämpfte gemeinsam mit meiner Oma um jeden Atemzug.
Ich nahm ihre Hand fester, meine Mutter streichelte die Stirn, und als mein Bruder, meine Mutter und ich Oma berührten, wurde die Atemfrequenz geringer, da war ein zartes Zittern, ein Nervengewitter. Dann verschwand das Leben, und ihr Gesicht wurde zu einer Maske.
Die Möglichkeit, mit den Menschen etwas gemeinsam zu erleben, nimmt immer mehr ab. Erst sind es die Geburtstage. »Komm mal dieses Jahr«, sagte meine Mutter im April. »Wer weiß, wie lange Oma noch durchhält«, scherzte sie. Dann bleiben Monate. Dann Tage. Und irgendwann hofft man sich von Atemzug zu Atemzug.
Oma war dabei, als ich geboren wurde, ich war dabei, als sie starb.
Mit einem langen Stock sticht der Forensiker in den trockenen Boden. »Probier du mal«, sagt er und reicht mir das Rohr, wie Schilf fühlt es sich an. Ich lege es zwischen meine Finger und stoße nach fünfzig Zentimetern auf etwas Weiches. Denke sofort an die Augen eines Menschen.
Es ist unerträglich heiß, das Wasser ist alle, niemand kann etwas trinken. Ich kaue Kaugummi und versuche mit dem Rest Spucke, den ich noch habe, Feuchtigkeit in meinen Körper zu zwingen. Der Vater sitzt im Halbschatten und raucht weiter, raucht und raucht. Atemzug für Atemzug. Manchmal kommt er herunter und fragt, ob wir schon etwas wüssten. Er hat vergessen, dass ich ein Journalist bin, glaubt, ich gehöre zum Team der Polizisten. Aber auch ich habe vergessen, dass ich ein Journalist bin. Helfe einfach stoisch mit, grabe, räume Erde weg, grabe weiter.
Ich spüre, wie meine Haut verbrennt, schon verbrannt ist. Ich trage mein Kissen-T-Shirt aus dem Auto als Kopfbedeckung.
»Das ist sein Bauch«, erklärt mir der Forensiker, und seine Stimme klingt, als hätten wir einen Fisch gefangen. Aus dem Loch im Boden, durch das ich das Rohr schiebe, steigt Verwesung auf. »Jetzt legen wir ihn frei«, sagt er, mit einer Stimme, als würde er einen Schatz heben. Er nimmt eine Gasmaske aus der Tasche, wirft mir eine zu.
»Das wird stinken«, sagt er. Und erklärt mir, dass er mit dem Stöckchen die Lage des Körpers unter der Erde erspüren kann und wie verwest eine Leiche ist. Bevor wir graben, rauchen wir zusammen, ich, der Vater, der Forensiker. Er braucht eine Pause, bevor er die finalen Spatenstiche setzt. Der Vater bleibt geduldig.
Der Forensiker weiß, dass er dem Mann gleich sagen wird, dass sein Sohn tot ist. Der Vater allerdings hofft noch. Er hofft, dass sein 16-jähriger Sohn wie so viele 16-Jährige auf der Welt nur Blödsinn macht. Mit dem Auto ans Meer gefahren ist, Bier trinkt, bis er kotzen muss, eine Frau küsst. Der Sohn wird sich noch melden. Auch ich denke jetzt: »Ruf doch an, bitte lieg nicht dort unter der Erde.«
Der Mann hofft nicht so wie ich, dass sein Sohn nicht tot ist, umgebracht von einer Gang. »Er sollte doch eine Ausbildung anfangen«, sagt er. »In zwei Wochen.«
Verschwunden ist der Sohn vor sechs Tagen, er war auf einem Sportplatz, hat sich dort ausgetobt. Das erzählt der Vater, die Stimme sanft. Sie ist kurz davor zu brechen.
Ich weiß, dass der Vater lügt. Die Polizei, der Forensiker, alle, mit denen ich vorher gesprochen habe, sagen mir, dass Eltern nicht wissen wollen, was ihre Kinder machen. Sie verschließen die Augen davor, denn dieses Land bietet wenig Gelegenheit, stolz auf den eigenen Nachwuchs zu sein. Der Sohn, vermute ich, wird Mitglied in einer Gang gewesen sein. Vielleicht wollte er in eine aufgenommen werden. Die Rituale für Männer sind: Überlebe eine Massenschlägerei, die für Frauen: Überlebe eine Massenvergewaltigung. Vielleicht hat er sich mit der falschen Gang angelegt? Niemand weiß es hier, es wird nicht herauskommen, wer ihn umgebracht hat. Nur: wie er gestorben ist. Das wird deutlich werden.
Als die Geräte abgestellt werden, ist meine Oma seit zehn Minuten tot. Und meine Mutter lacht, erzählt einen Witz, durch einen Vorhang aus Trauer hindurch. Sie hat mich gebeten, niemals irgendjemandem zu erzählen, was sie dort am Totenbett sagte. Ich mach’s trotzdem: Oma hat gerne bei Edeka Klopapier geklaut. In den letzten Monaten ihres Lebens war es die große Aufregung, der große Spaß. Und das als Juristin. Wir lachen. Oma auch.
Noch am Abend vor ihrem Tod diskutierten wir über Politik, über die AfD, und ich erzählte ihr nach 15 Jahren, dass ich Mitglied der SPD bin. Das hätte ich ihr nie verraten sollen, aber ich hatte das Gefühl, es ist Zeit, ihr das zu sagen.
In den Wochen vor ihrem Tod bin ich mit ihr beim Arzt gewesen, wir haben sudanesisches Essen bestellt und zusammen Traumschiff geguckt.
Wir waren alle da. Niemand hat meine Großmutter alleine gelassen, sie musste sich nicht einsam fühlen.
Als der Körper freigelegt ist, stehe ich an einer Wegscheide. Ich kann jetzt hingucken oder wegsehen, denke ich. Einfach gehen, einfach zum Vater hin, sagen, ich halte das nicht aus, und mich ins Auto setzen. Ein Trauma weniger.
Aber ich entscheide mich für den Anblick. Ich will nicht, dass jemand sieht, wie sehr ich mich davor fürchte, schließe zunächst meine Augen. Der Forensiker macht Fotos. Klick. Er beschreibt in ein kleines Diktiergerät, was er sieht. Klick.
Langsam öffne ich die Augen, die Nachmittagssonne strahlt in meine Pupillen hinein, blendet mich. Mein Kopf steht in einem Winkel, dass ich den Rand dieses kleinen Grabes sehe, aber noch nicht die Leiche darin. Dann bewege ich mich langsam nach vorne, taste mich mit dem Sehnerv an das, was ich gleich sehen werde. Und nie wieder vergessen kann.
Die Gasmaske macht das Atmen schwer. Ich höre mich ein- und ausatmen. Habe Angst, dass ich in den Rüssel meiner Maske kotzen muss, wenn ich die Leiche erblicke. Ich sehe ein Gesicht. Ich sehe Hände, die auf der Brust gekreuzt sind und seine Beine festhalten, die ihm mit einer Machete abgeschlagen wurden. Ich sehe kein Blut, nur viele Pastelltöne, die seine Haut beschreiben. Ich sehe den Tod eines Menschen, der nicht friedlich eingeschlafen ist. Und ich könnte diesen Anblick genau beschreiben.
Das Gesicht dieses Jungen, das so ohne Leben ist, existiert in meiner Erinnerung gleichberechtigt neben dem Gesicht meiner Oma, die ich im Moment ihres Sterbens begleitet habe. Die eine Person kenne ich mein Leben lang, die andere kenne ich nur tot, einen Nachmittag lang habe ich sie mit ausgegraben und betrachtet, aber das Gefühl ist das gleiche.
Mit dem Tod umzugehen lernen heißt, zu verstehen, dass es sich um ein Trauma handelt. Es gibt keinen friedlichen Tod für die Angehörigen, nur für den Sterbenden. Für den, der stirbt, ist es vorbei, egal, wie groß das Leid war. Dann sind die Gedanken verschwunden, weil die Batterie nicht mehr funktioniert.
Ich habe keine Religion, um dieses Trauma erträglicher zu machen. Es beruhigt mich, zu wissen, dass Leben bedeutet, eine Persönlichkeit zu haben. Elektrische Impulse in den Nervenbahnen führen zu einem Verhalten, zu Eigenschaften, zu gemeinsamen Erfahrungen, zu einer Persönlichkeit, zu etwas, das wir lieben oder verachten. Blitze im Gehirn der Menschen, die uns gegenüberstehen.
Die Liebe meiner Großmutter ist ein Produkt spezifisch vernetzter Nervenzellen, die jetzt nicht mehr befeuert werden. Aber ich kann diese Blitze weiter zünden lassen. Jeder, der das hier liest, hat jetzt meine Oma im Kopf. Und damit existiert sie doch weiter, oder? Wenn wir eine Summe funktionierender Nervenzellen sind, müssen diese einfach nur feuern. Dann stirbt die Person auch nicht. Der Körper ist weg, die Erinnerungen bleiben.
Wie oft habe ich mich in den letzten Jahren gefragt, wie meine Großmutter reagieren, was sie wohl zu diesem oder jenem sagen würde. Und ich habe mir immer Antworten zurechtgelegt, die sie hätte geben können. Ich hätte ihren Rat gebraucht, ihre Lebenserfahrung, ihr Wissen über die Menschen. Ich hätte sie gefragt, was ich tun soll, mit meinen Freunden. Ich hätte von ihr wissen wollen, wie man damit umgeht, wenn sich Menschen aus dem eigenen Leben verflüchtigen.
Ihre Hülle ist nun verschwunden, aber ihre Kraft, Einfluss auf mich, auf meine Familie zu nehmen, ist geblieben.