Ein größerer Himmel

Pamela Weiss

Ein größerer Himmel

Wie wir das Weibliche im Buddhismus stärken

Aus dem Englischen von Gerd Bausch

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Über Pamela Weiss

Pamela Weiss ist seit 30 Jahren praktizierende Buddhistin und erhielt ihre Ordination im Zen-Kloster Tassajara.  Sie unterrichtet seit vielen Jahren als Meditationslehrerin im kalifornischen Spirit Rock, einem spirituellen Ausbildungszentrum in der Insight-Tradition. Des Weiteren hält sie Vorträge als Gastlehrerin am Brooklyn Zen Center. Mit ihrem erfolgreichen, auf Achtsamkeit basierenden Gruppen-Coaching-Programm berät sie Kunden, wie sie die buddhistischen Lehren und Übungen in den Berufsalltag einbringen können. Pamela Weiss lebt mit ihrem Mann und ihrem Hund in San Francisco.

Anmerkungen

  1. Kinhin: Achtsames Gehen bzw. Gehmeditation. Gassho: Gebetsmudra bzw. gefaltete Hände.

  2. Peter Wohlleben: Das geheime Leben der Bäume: Was sie fühlen, wie sie kommunizieren…, Ludwig Verlag, 2015.

  3. Fortune Cookies sind in den USA beliebt. Besonders in chinesischen Restaurants werden sie angeboten, wobei in ihrem Teig Weisheitssprüche oder sogar Nummern eingebacken sind, die die Leute beim Lotto verwenden.

  4. Nibbana ist Pali und entspricht dem bei uns bekannteren Sanskritwort Nirvana. Kensho (ken = sehen, schauen; shô = Natur, Wesen) bedeutet, die Essenz oder Natur der Dinge zu sehen, und bezeichnet eine erste Erleuchtungserfahrung. Erlöschen ist eine der Übersetzungen für Nibbana/Nirvana, also das Erlöschen der Identifikation, die sich selbst als von anderem getrennt wahrnimmt, was das Erlöschen des Leidens bedeutet.

  5. Eine Art Vorhang aus Pergamentpapier, der vor den Fenstern angebracht ist.

  6. Genentech ist ein in San Francisco ansässiges Biotechnologie-Unternehmen.

  7. Carmel-by-the-Sea liegt etwa 190 km südlich von San Francisco.

  8. Beim vollen Lotussitz sind beide Beine so ineinandergeschlungen, dass die Fußsohlen nach oben zeigen, was eine gewisse Flexibilität erfordert.

  9. Im Hinduismus und Buddhismus ist eine Puja ein Ritual, in dem man beispielsweise auf eine Gottheit oder einen Buddhaaspekt meditiert.

  10. In anderen Traditionen mit »freudige Ausdauer« oder »Eifer« übersetzt.

  11. Die verschiedenen buddhistischen Traditionen gehen davon aus, dass bereits andere Buddhas vor dem Buddha unserer Zeit lebten, wobei ihre Zahl je nach Tradition verschieden sein kann. Als Buddha gilt in diesem Zusammenhang ein Meister, der in einer Zeit Buddhaschaft erlangt, in dem der Buddhismus gerade nicht auf der Erde gelehrt wird.

  12. Es gibt verschiedene Definitionen des Sangha: die Gemeinschaft der Praktizierenden, die der Ordinierten oder die Gemeinschaft all jener, die gewisse grundlegende Gelübde genommen haben.

  13. Die zweite der acht Regeln besagt, dass Nonnen »in der Regenzeit nicht in einer Residenz [der Zeit, in der der Sangha normalerweise in Retreat war] weilen, wenn kein Mönch anwesend ist«.

  14. Taylor, Shelley E. (2002). The Tending Instinct – Instinct – Women, Men and the biology of our relationships.

    New York: Times Books, Henry Holt and Company, LLC

  15. Rebecca Solnit: Die Mutter aller Fragen, Btb-Verlag 2020.

  16. Im Playbook einer Mannschaft steht beispielsweise, welche Laufrouten der oder die Spieler*in zu machen hat, damit die anderen Mannschaftsmitglieder sich darauf einstellen können.

     

Für Teah

Einleitung

Ich war gemeinsam mit meiner Freundin Teah zu Gast beim Abt. Wir hatten an seinem Wohnzimmertisch Platz genommen, die Sonne fiel durch die großen Fenster des Raumes, draußen ließ der Wind die Äste eines Baumes gegen die Scheiben schlagen, und die Wiesen wiegten in den sanften Böen, die vom Meer herüberwehten. Hier drinnen war es still, nur das Pfeifen des Wasserkochers und das Brummen des Kühlschranks waren zu hören.

Der Abt, seit langer Zeit mein Lehrer, brachte ein Tablett mit faustgroßen Tassen, stellte es in die Mitte des Tisches und bat uns, uns zu bedienen. Ich genoss die Wärme der Tasse in meinen Händen und den stechenden, grasartigen Geruch des Sencha-Tees, der den Raum erfüllte.

Während ich meinen gesenkten Blick auf meiner Tasse ruhen ließ, erklärte Teah: »Ich werde Pam die Übertragung geben.« Sie hielt kurz inne, und ich glaubte zu bemerken, wie ein Lächeln über das Gesicht des Abtes huschte. »Aber ich möchte sie nicht ordinieren«, fügte sie hinzu, »denn Pam ist keine Priesterin. Ich bin überzeugt, dass wir einen vollständigen Weg für Laienpraktizierende brauchen, die ein ganz normales Leben draußen in der Welt führen.«

Auch wenn mein Blick weiterhin gesenkt war, spürte ich, wie das Lächeln des Abtes gefror. Ich achtete auf den Unterton in ihren Stimmen, der höflich, aber gleichzeitig angespannt und voller Feuer war. Ich selbst blieb ruhig und nahm die Intensität der Situation in mich auf. Wenngleich ich den Anlass dieses spannungsgeladenen Gesprächs lieferte, speiste sich die Dramatik der Situation aus einer Thematik, die weit älter war als ich.

Wie in vielen anderen Traditionen übertragen im Zen-Buddhismus Meister in einer formellen Zeremonie den Schüler*innen mit der entsprechenden Qualifikation die Befugnis zu unterrichten. Diese nennt man »Übertragung«. Sie beinhaltet die Erlaubnis, die Lehren der Linie an andere weiterzugeben, und bestätigt gleichzeitig, dass sie hierfür über ein ausreichendes Verständnis verfügen. Traditionsgemäß unterscheidet der Buddhismus zwischen Laienpraktizierenden auf der einen und Mönchen sowie Nonnen auf der anderen Seite. In Japan entsprach dies der Trennung zwischen Priester und Laien. Die Dharma-Übertragung ist traditionell ordinierten Priestern vorbehalten, und so war es bislang nicht möglich, sie Laienpraktizierenden wie mir zu geben.

Als ich mit fünfundzwanzig mit der Zen-Praxis begann, war es wie Liebe auf den ersten Blick. Nach einer Anfangsphase, in der ich das Thema noch vorsichtig beschnupperte, öffnete ich mich ganz und gar und ließ mich vollkommen auf die Sache ein. Ich zog in ein Kloster und widmete mich einem Weg, der mir half, meine Trauer, Verwirrung sowie mein Leid in etwas Sanftes und Hilfreiches zu verwandeln.

Lange Zeit hatte ich vor, mein restliches Leben in den Wänden des Klosters zu verbringen. Doch dieser Weg bot keine Möglichkeit, meine Leidenschaft zur spirituellen Praxis mit der Liebe zu Menschen aus Fleisch und Blut zu verbinden, weswegen ich nie zur Priesterin geweiht wurde. Stattdessen lernte ich meinen späteren Mann kennen, verließ das Kloster und heiratete ihn.

Die Rückkehr in die Welt war ein ausgesprochen holpriger Weg. Jahrelang fühlte ich mich wie ausgestoßen. Es war, als presste ich mein Gesicht gegen die Fenster des Tempels und hämmerte mit den Händen gegen seine Türen, um irgendwie Einlass zu erhalten. So außen vor gelassen fühlte ich mich wie eine Liebhaberin, die man hatte abblitzen lassen. Mich erfüllten Sehnsucht und Bedauern.

Ich zweifelte daran, in der Lage zu sein, einen Weg durch den Dschungel des täglichen Lebens zu finden. Würde ich fähig sein, dem Alltag mit offenen Händen und offenem Herzen zu begegnen, ohne dabei von ihm aufgezehrt zu werden? Ich war mir nicht sicher, wollte es jedoch unbedingt herausfinden. In den Jahren, nachdem ich das Kloster verlassen hatte, bestand mein Leben aus einer Gratwanderung zwischen zwei Welten: der tiefgründigen und stillen Welt des Zen einerseits und der Dynamik der Unternehmenswelt Amerikas andererseits. Mir wurde klar, dass ich mit der Tradition brechen würde, wenn ich als Laienpraktizierende die Dharma-Übertragung erhielt, gleichzeitig wollte ich die Grundlagen für etwas Neues legen – und zu einer Brücke werden, die später auch andere überqueren könnten.

Ich stellte meine Tasse auf den Holztisch, was ein lautes Geräusch verursachte und das Gespräch der beiden unterbrach: Teah und der Abt schauten auf, und der Fluss ihrer Unterhaltung kam zu einem abrupten Ende.

»Ähm, kann ich etwas sagen?«, fragte ich.

Noch bevor ich die Chance zu sprechen bekam, wandte sich der Abt mir zu und räusperte sich. »Wenn du die Übertragung erhältst«, erklärte er, wobei er mich direkt ansah, »verschwimmt die Trennung zwischen Ordinierten und Laienpraktizierenden.« Er streckte seine Hände in unsere Richtung aus und legte dann eine über die andere, um das Gesagte zu demonstrieren.

Es folgte eine lange, peinliche Stille. Teah nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. Der Abt faltete seine Hände, legte sie wieder auf den Tisch vor sich und senkte seinen Blick.

»Keiner von uns weiß, was dann geschieht«, platzte es aus mir heraus. »Zumindest weiß ich es nicht, das steht außer Frage.«

Ich hielt einen Augenblick inne und schaute dem Abt in die Augen. »Ich tue das nicht, um anmaßend oder respektlos zu sein. Mir ist wichtig, dass du das weißt, denn ich bin für alles, was du mir gegeben hast, zutiefst dankbar.« Überrascht bemerkte ich, dass ich ins Stocken geriet. »Die Praxis hat buchstäblich mein Leben gerettet«, fügte ich fast flüsternd hinzu.

Lange Zeit schwiegen wir.

Als ich wieder aufschaute, blickten mich vier tränenbenetzte, strahlend blaue Augen an.

Teil 1
Liebe dich voll und ganz

1.
Leiden und das Ende des Leids

Manche träumen zu Beginn der spirituellen Praxis davon, dass sie ihnen Gelassenheit und Glückseligkeit bringt. Doch für mich begann sie mit einem Albtraum.

Eine Ratte huscht über mein Gesicht und zerkratzt es mit ihren Krallen. Ich ergreife das Tier und schließe den Griff meiner Hand immer fester. Es zappelt und quiekt. Ich nehme eine Insulinspritze und steche der kleinen Ratte immer wieder in den Bauch, bis sie keinen Ton mehr von sich gibt und sich auch nicht mehr bewegt. Der tote Nager fällt aus meiner Hand.

Aus meinem Schlaf gerissen, starrte ich auf meine Handflächen. Da ich dachte, sie seien blutig, strich ich sie so lange am Bettlaken ab, bis meine Haut rosa und rau wurde. Anschließend schaute ich nach, ob die Laken blutverschmiert waren.

Die Gewalt des Traums spiegelte den Kampf, der damals in mir tobte, spiegelte die tiefe Spaltung zwischen meinem Körper und meinem Geist, zwischen der hübschen Fassade der eleganten jungen Frau, als die ich den anderen erscheinen wollte, und den Bestien, die in mir direkt unter der Oberfläche lauerten, wider. Seit über einem Jahrzehnt litt ich an Diabetes Typ 1 und wünschte nichts sehnlicher, als die Krankheit loszuwerden.

Lange zuvor – es war der Sommer des Jahres 1973 – saß ich gerade am lachsfarbenen Formica-Tisch unserer Küche, als unser Hausarzt anrief. Meine Mutter nahm den Hörer vom Wandapparat und klemmte ihn zwischen Ohr und Schulter.

»Hallo«, meldete sie sich und begann langsam durch den Raum zu laufen, während sie ihm zuhörte. Das lange gedrehte Kabel spannte sich, als sie die kleine Küche durchkreiste und dabei die Arbeitsflächen mit einem Tuch abwischte. An den Sorgenfalten in ihrem Gesicht erkannte ich, dass der Arzt keine guten Neuigkeiten hatte. Schließlich nahm sie die Brille ab und strich mit dem Handrücken über ihre Augen. Ich glitt von meinem Stuhl und wartete in der Tür darauf, dass sie den Hörer wieder auflegte.

»Mama«, sagte ich, während ich mich vorlehnte, »stimmt etwas nicht?«

»Du hast Diabetes«, erklärte sie. »Der Arzt will, dass du morgen ins Krankenhaus kommst. Pack sofort deine Sachen.«

Ich zerrte meinen Koffer aus dem Schrank und betrachtete die Kleider auf ihren Bügeln. Was sollte eine Elfjährige mit ins Krankenhaus nehmen? Ich ergriff ein paar Jeans, eine blasslila Jogginghosen, mein rosafarbenes weiches Lieblingssweatshirt sowie ein schwarz-weiß gestreiftes Hemd, Baumwollunterwäsche und drei paar lange Strümpfe. Anschließend legte ich jeweils ein Ringbuch für die Fächer Englisch, Mathe, Biologie und Latein dazu sowie meinen grünen Lieblingskuli, eine Zahnbürste, Zahnpasta und meine Haarbürste. Bevor ich den Reißverschluss des Koffers zuzog, steckte ich noch meinen goldenen dickbäuchigen Bären Pu hinein.

Das Licht meines Krankenhauszimmers war gedämpft. Hier war es ruhig, und ich beobachtete die Schatten, die über die Wände huschten. Ich teilte das Zimmer mit einem Mädchen namens Salma, deren hohe Stirn und schwarzes Haar in ein weißes Kopftuch gehüllt waren. Ihre besorgte Familie umringte sie, flüsternd und mit gefalteten Händen. Ich erinnere mich noch an das Klappern der Metalltabletts der Geschirrwagen und an die Geräusche der kleinen Eisenringe an den bogenförmigen Stangen, wenn eine*r der Krankenpfleger*innen den Vorhang zwischen unseren Betten schloss. Ich hörte es, sah es aber nicht, denn mein Blick war abgewandt. Besorgte Stimmen erklangen und verstummten wieder. Ich stellte mir vor, wie ich Salma Hustenbonbons anbiete und meine Hand über den kalten Linoleumfußboden zwischen unseren Betten zu ihr ausstrecke. Unsere Blicke treffen sich, wir lächeln. Doch in Wirklichkeit war ich andauernd in meine Schulbücher vertieft und schaute nur dann auf, wenn jemand in weißem Kittel erschien.

Auf der Station gab es einen rappeldürren Jungen, der durch die Gänge geisterte, wobei er seinen Infusionsständer hinter sich herzog. Ich erinnere mich noch gut an sein blasses Gesicht, seine eingefallenen Wangen und seine riesigen Augen. Er schleppte sich von Tür zu Tür und blickte in jedes Zimmer. Ich tat so, als bemerkte ich ihn nicht, schaute weg, spürte jedoch seine Blicke auf mir. Er suchte etwas, das ich ihm zu geben nicht gewillt war.

Nachts schrie er manchmal, gefolgt von schnellen Schritten und dem Gemurmel gedämpfter Worte. Wie sehr wünschte ich, er wäre still.

Jeden Tag marschierte ein regelrechter Umzug von Menschen in weißen Kitteln durch mein Zimmer, um mir Dinge beizubringen, die ich nicht hören wollte. »Insulin ist der Stoff, der dafür sorgt, dass die Tür geöffnet wird, durch die Nahrung aufgenommen wird«, erklärte mir der Ernährungsberater. »Ohne Insulin würdest du verhungern.«

Ich übte mich darin, die Flüssigkeit aus einer Ampulle in eine Spritze zu ziehen und es einer Orange zu verabreichen. Später reinigte ich eine Stelle meines Oberschenkels mit Alkohol, kniff das Fleisch zwischen meinen Fingern zusammen, steckte die Kanüle hinein und spritzte das magische Mittel unter meine Haut. Es brannte. Ich tat so, als sei es nicht ich, die all dies erlebte, sondern irgendein krankes Mädchen in Alaska oder Brasilien. Anschließend zog ich die Nadel wieder heraus und drückte auf den Einstich. »Armes Mädchen«, flüsterte ich mir zu. »Du bist sehr mutig.«

»Das war gar nicht so schlimm, oder?«, fragte die Krankenpflegerin, die überprüfte, ob ich alles richtig machte. »Nein«, log ich. Denn ich war alles andere als mutig: Ich hatte Angst, wollte nach Hause, wollte nach draußen und spielen. Ich sehnte mich danach, daheim mit Rags, unserem Golden Retriever, auf dem Boden zu liegen und meinen kleinen Körper um seinen Brustkorb zu schlingen, sein seidenes Fell zu streicheln und seinem Atem zu lauschen.

Meine Ärztin hieß Ida Braun. Sie war schlank, hatte kräftige Finger, ausgeprägte Wangenknochen und spröde Lippen. Meine Mutter flüsterte mir leise zu, so als verriete sie mir ein Geheimnis: »Ihr Mann spielt im Sinfonieorchester von San Francisco die erste Geige.« Ich wusste zwar nicht, was das mit mir zu tun hatte, verstand aber sehr wohl, dass Dr. Braun eine wichtige und überaus intelligente Persönlichkeit sein musste.

Bei unseren Treffen machte sich Dr. Braun Notizen, wobei die silberne Armbanduhr an ihrem Handgelenk hin- und herglitt. Sie gab mir sehr genaue Anweisungen: »Notiere die Ergebnisse deiner Glukosetests in einem Notizbuch. Blau ist niedrig, grün mittel und orange hoch.« Ich verstand: Blau ist gut und orange schlecht. Und natürlich wollte ich gut sein. Abschließend fragte Dr. Braun meine Mutter: »Möchten Sie, dass Pam unsere Sozialarbeiterin Annie kennenlernt?«

Mir war Annie bereits aufgefallen, als sie wiederholt draußen im Gang vorbeigelaufen war. Sie war eine blonde Frau, sanft, mit agilen Armen und runden Hüften. Sie trug weite Hosen, robuste Schuhe und farbenfrohen Schmuck. Jedes Mal hatte sie mich angelächelt.

»Nein, das ist nicht nötig«, antwortete meine Mutter.

Auf dem Weg zum Ausgang sah ich in einem Gang Annies Namensschild an einer verschlossenen Tür: Annie Reynolds, Sozialarbeiterin. »Mum, was ist eine Sozialarbeiterin?«, wollte ich wissen. »Das sind Leute, die sich um Menschen mit Problemen kümmern«, erklärte sie, »nicht um dich.«

Ich verstand: Ich hatte keine Probleme. Mir ging es gut.

Um den Blutzuckerspiegel in meinem Urin zu bestimmen, richteten wir zu Hause in unserem Bad auf einem Regal über der Toilette ein regelrechtes kleines Labor ein: Teströhren, eine Pipette, mysteriöse dicke, runde Tabletten, die die Flüssigkeit in den Röhrchen zum Brodeln brachten, bis sie Blasen bildete. Die Tage nach jedem Termin bei Dr. Braun schrieb ich die Ergebnisse noch gewissenhaft und diszipliniert in das Notizbuch, doch von der geballten Anzahl an strahlend orangen Testergebnissen entmutigt, gab ich stets nach etwa einer Woche wieder auf. Die Röhrchen und Tabletten begannen zu verstauben. Ein oder zwei Tage vor dem nächsten Arzttermin notierte ich eine Reihe von frei erfundenen grünen und blauen Ergebnissen in das kleine Buch und fügte ab und an eine orangefarbene hinzu, wobei ich genau darauf achtete, nur so viele schlechte Ergebnisse aufzunehmen, wie ich glaubte, dass es nötig sei, um die Sache glaubwürdig erscheinen zu lassen.

Bei Dr. Braun präsentierte ich dann stolz das Notizbuch.

»Das ist hervorragend«, kommentierte sie jedes Mal, während sie mit ihren nicht manikürten Fingern das Büchlein durchblätterte. Ich bemerkte, wie sie ein leichtes Lächeln aufsetzte. Sie sah zufrieden aus, fast selbstgefällig. Auch ich lächelte sie von meinem braunen Plastikstuhl aus an, froh, dass sie den Schwindel nicht bemerkt hatte.

»Manchmal ist es schwierig, wenn Pam einen zu niedrigen Blutzuckerspiegel hat«, erklärte ihr meine Mutter und machte meiner untadeligen Version der Geschichte einen Strich durch die Rechnung. »Sie ist dann verwirrt und leicht reizbar.«

»Nun, vielleicht können Sie eine Packung Rosinen in ihre Schultasche packen«, schlug Dr. Braun vor. Dann schaute sie mich erneut voller Zufriedenheit an und erklärte mir: »Jedes Mal, wenn du unterzuckert bist, nimm einfach eine Handvoll davon. Das müsste eigentlich helfen.«

Dr. Braun wusste ganz offensichtlich nichts von dem inneren Aufruhr, der in mir tobte, wenn mein Zuckerspiegel absackte. Sie ahnte nichts von den verschwitzten Handflächen und zitternden Knien, nichts von den wilden rasenden Tieren, die in meinem Inneren losgelassen wurden, um meinen Bauch zu zerreißen und wütend »füttere mich« zu knurren. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ich dann alles in Reichweite ergriff und verschlang: Berge von Erdnussbutterkeksen, gläserweise Erdbeermarmelade oder Orangensaft, den ich direkt aus der Flasche trank. Wie ich riesige Bissen nicht zerkauten Essens herunterschluckte, meine klebrigen Finger ableckte und mit Krümeln im Gesicht in eine dumpfe Benommenheit verfiel.

»Okay«, sagte ich und nickte. »Eine Tüte Rosinen sollte die ganze Sache in Ordnung bringen.«

***

Während der nächsten zehn Jahre pilgerte ich zu Spezialist*innen für Hormone, Ernährung, Akupunktur, bekam Massage und persönliche Beratung, sogar manchmal auch von energetischen Heiler*innen. Doch jedes Mal, wenn ich unterzuckert war, begannen meine inneren Bestien von Neuem zu knurren und zu fauchen, und ich wusste nicht, wie ich sie besänftigen sollte.

Damals gab es Zeiten, in denen ich nur Proteine und Blattgemüse aß oder fastete, um meinen Körper zu reinigen. Doch dann kamen auch wieder Phasen, in denen ich alleine heimlich Pizza und Bier oder mit meinen Freund*innen große Portionen Eis vertilgte, dann ins Bad ging, die Tür verschloss und das Gegessene in die Kloschüssel spie. Ich weinte, haderte mit Gott, bat um Verzeihung, empfand Selbstmitleid – doch nichts von alledem half.

***

Im Sommer nach meinem Collegeabschluss lernte ich Chinesisch. Ich hatte vor, an der Universität Wuhan als erste studentische Repräsentantin an einem neuen Austauschprogramm teilzunehmen, das Vera Schwarcz, meine Professorin für chinesische Geschichte, ins Leben gerufen hatte. Mich faszinierte die chinesische Auffassung von Krankheit und Gesundheit, die sich stark von der westlichen unterscheidet. Die Traditionelle Chinesische Medizin beschreibt Diabetes als »konsumierende Durst-Krankheit«, die davon verursacht wird, dass die Energien im Körper ins Ungleichgewicht geraten. Mir schien das zutreffender und hilfreicher zu sein als die Erklärung und Prognose, die mir meine Ärzte und Ärztinnen gegeben hatten: »Deine Bauchspeicheldrüse funktioniert nicht, und das kann nicht mehr geheilt werden.«

So stand ich an einem strahlenden Morgen mit meinem Pass und dem Visumantrag in der Hand in einer Schlange im chinesischen Konsulat in San Francisco. In meinen Unterlagen war ein Umschlag mit einem in fein säuberlich geschriebenen chinesischen Schriftzeichen übersetzten Brief von Peggy Huang, der Gründerin des Diabetes-Lehrinstituts der Universität Kalifornien. In der Absicht, mir Komplikationen bei der Einreise zu ersparen, schrieb sie darin: »Pam leidet unter Diabetes und muss Diabetesspritzen mitführen.«

Hinter seinem Schalter wirkte der Beamte, als sei er in Glas gerahmt. Er trug eine dicke, schwarze Brille, hatte fettiges Haar und ein aufgedunsenes Gesicht. Durch den Schlitz des Schalters nahm er meine Dokumente entgegen und musterte mich, während er Pass und Antrag einscannte. Dann öffnete er den Umschlag und las den Brief. Anschließend seufzte er kurz, drehte mir den Rücken zu und ging. Einige Minuten später kehrte er in Begleitung eines dünnen Kollegen mit blassen Lippen und langen Armen zurück, dem er den Brief überreichte. Dieser blickte mich mit ausdruckslosen Augen an und begann zu lesen. Ich wartete mit beiden Händen in den Taschen, mein Gewicht von einem auf das andere Bein verlagernd.

»Kommen Sie morgen wieder«, sagte er plötzlich und beendete das Gespräch abrupt, indem er den dunkelgrauen Vorhang des Schalters herunterzog.

Ich war wütend. Mein Pass, mein Antrag und der Brief waren nun in den Abgründen des Konsulats verschlossen. Am nächsten Tag fand ich mich erneut in der Schlange wieder und lauschte den Worten in einer Sprache, die ich nicht verstand. Das wenige Chinesisch, das ich während der Sommerschule gelernt hatte, reichte bei Weitem nicht aus, die mysteriösen Silben zu verstehen, die zwischen den anderen Wartenden gewechselt wurden.

Als ich an der Reihe war, blickte ich den Mann mit dem aufgedunsenen Gesicht vom Vortag an. Kaum hatte er mich bemerkt, fauchte er »Mittagspause« und zog den Vorhang ein weiteres Mal zu. Ich klopfte ans Fenster, bekam aber keine Antwort. Mein Magen verkrampfte sich. Ich machte kehrt und verließ erneut ohne meinen Pass und meine Papiere die Botschaft.

Am dritten Tag kehrte ich mit einem Freund im Schlepptau zurück. Wir warteten gemeinsam und würzten nun den Hintergrund aus Mandarin und Kantonesisch mit einigen geflüsterten Sätzen Englisch. Als wir zum Schalter kamen, zog der Beamte ebenso schnell wie am Vortag den Vorhang zu. Ich klopfte ans Fenster. »Sie haben meinen Pass«, rief ich hindurch. Erneut keine Antwort.

Fest entschlossen, mich keinen Millimeter zu bewegen, stellte ich mich breitbeinig hin. In der Reihe hinter mir begann man zu tuscheln. Auf Unterstützung hoffend blickte ich den Leuten, die hinter mir standen, in die Augen, doch sie schauten weg. Schließlich öffnete sich zu meiner Linken eine Tür, die ich zuvor nicht bemerkt hatte, und ein Mann in einem dunklen, westlich anmutenden Anzug kam zum Vorschein. Er trug schwarze, polierte Lackschuhe und einen roten Schlips.

»Kommen Sie mit«, bestimmte er und gab meinem Freund ein Zeichen, sich zu setzen und zu warten.

Ich folgte ihm, hörte auf das helle Klackern der Absätze seiner Schuhe auf dem Linoleumboden, während wir den dunklen Gang entlangliefen. Er führte mich in einen Raum mit abgedämpftem Licht, einer Täfelung aus Walnussholz und hohen, bogenförmigen Fenstern, die von roten Samtvorhängen gesäumt waren. Über einem Kamin hing ein lebensgroßes Porträt des »Großen Vorsitzenden« Mao, das auf uns herabblickte. Der Mann bedeutete mir, auf dem alten Ledersofa Platz zu nehmen. Er selbst stellte sich neben mich. Ein weiterer Beamter, dessen Kinn von Grübchen umspielt wurde und der nach Zigaretten roch, saß mir direkt gegenüber. Ich dachte, ich müsste eigentlich verängstigt oder zumindest besorgt sein, aber dem war nicht so.

»Sie wollen also noch Wuhan«, eröffnete der Mann mir gegenüber, der Kleinere von beiden, das Gespräch. »Ja«, erwiderte ich begeistert. »Wie lange wollen Sie bleiben?« »Ein Jahr«, erklärte ich lächelnd. Mir war, als sagte ich den Text eines schlechten Films auf, der mit einem melodramatischen Soundtrack unterlegt war, den nur ich hören konnte.

Nachdem er mich mit Fragen über die Details meines Aufenthalts bombardiert hatte, stand er auf und stützte seine gepflegten Hände auf seine voluminösen Hüften. Zum ersten Mal schaute er mir direkt in die Augen. »Sie haben Diabetes?« Es klang mehr wie eine Anklage oder ein Fluch als eine Frage. Die Filmmusik verstummte abrupt, und mein Humor schwand. Mit einem Mal verstand ich. »Aber«, stammelte ich. »Ich bin vollkommen gesund. Ich kann für mich selbst sorgen. Ich werde nicht krank.«

Ich wusste, dass es hoffnungslos war. Das Gespräch war vorbei. Ich schwieg, und gleichzeitig war mir danach zu weinen.

»Hier sind Ihre Papiere«, sagte er und überreichte mir eine Aktenmappe. Dann begleitete man mich nach draußen.

Später rief ich meine Dozentin Vera an, um ihr zu berichten, was geschehen war. Mit enttäuschter Stimme erklärte sie mir: »Das Verständnis von Verantwortung in der chinesischen Kultur unterscheidet sich stark von unserem hier im Westen. Wenn man bei einem Chinabesuch krank wird, versteht man das als unverzeihliche Schande für die Gastgeber*innen. Ich werde sehen, was ich tun kann, aber ich fürchte, es ist nicht viel.«

Am nächsten Tag leitete sie mir die Antwort der Universität Wuhan weiter: »Es tut uns leid, von Frau Weiss’ Krankheit zu erfahren. Bitte schicken Sie einen anderen Studierenden.«

Bald darauf zog ich in ein viktorianisches Mietshaus, wo ich mit Sophie, einer Jurastudentin im ersten Jahr, eine Wohnung teilte. Ich nahm eine Halbtagsstelle als wissenschaftliche Assistentin in einer Consulting-Firma in der Gesundheitsbranche an. Täglich schob ich, in Faltenhosen, Seidenhemden, Stöckelschuhen und einer falschen Perlenkette – meiner neuen Arbeitskleidung – gekleidet, meine MUNI-Monatskarte in das Lesegerät der Eingangsschranke der S-Bahn, bestieg den Zug und fuhr ans andere Ende der Stadt, wo ich den ganzen Tag in einer grauen Kabine saß. Ich führte Interviews, rechnete Zahlen durch und schrieb Berichte, die ich meiner Chefin vorlegte, welche diese anschließend mit roter Tinte übersät wieder zurück auf meinen Tisch schleuderte.

»Überarbeite das noch einmal«, pflegte sie dann zu delegieren. »Wir brauchen Daten, die belegen, dass unser Klient ausreichend Umsatz macht, um den Bau einer neuen Einrichtung zu legitimieren.« Unsere Kunden waren Krankenhäuser oder Zusammenschlüsse von Ärzten und Ärztinnen, die zum Beispiel um Mittel für eine neue Einrichtung der ambulanten Chemotherapie oder ein neues pathologisches Labor wetteiferten. Mein Job war es, Zahlen zu liefern, die belegten, dass diese Mittel bei ihnen gut angelegt waren.

Ich erhöhte die Schätzungen, indem ich beispielsweise den zu erwartenden Einzugsbereich vergrößerte oder gegen alle Vernunft bei den für den Neubau einer neuen Kardiologie relevanten Zahlen Alte und Kinder mit einbezog, bis meine Expertise die Werte zeigten, die die Kunden offenbar brauchten. Doch die Prämissen waren absurd, denn wie viele Kinder oder gebrechliche Alte würden sich einer kardiologischen Behandlung unterziehen? Fast keine!

Eines trüben Nachmittags kam meine Chefin wieder einmal in mein Büro, um sich meinen letzten Bericht abzuholen. Als sie ihn durchging, sah ich bereits an ihrem zerknirschten Gesicht, dass er ihr nicht gefiel. »Gehen Sie ihn noch einmal durch«, sagte sie und sprenkelte ihn an verschiedene Stellen mit ihrem Rotstift. »Wir müssen nachweisen, dass ihr Nettoertrag in den kommenden fünf Jahren ansteigen wird.« Ich nahm die rot markierten Seiten, ließ meinen Kopf hängen und starrte auf den beigen Teppichboden. Dann konnte ich meine Verzweiflung nicht länger zurückhalten, blickte sie an und fragte: »Glauben Sie nicht, es wäre vielleicht besser, die Wahrheit zu schreiben?«

»Dafür bezahlen sie uns aber nicht«, schnauzte mich meine Chefin an, machte auf ihren Absätzen kehrt und ging zurück in ihr Büro.

Während ich ihr nachblickte, überkam mich Trauer. Mir wurde bewusst, dass ich so nicht weitermachen konnte.

Ich vergrub meinen Kopf in meinen Händen. Als ich wieder aufblickte und den Bericht auf dem Tisch liegen sah, schüttelte mich eine Welle der Wut. In meiner Fantasie schleuderte ich ihn auf den Boden, leerte dann den Inhalt der Schubladen meines Schreibtischs darüber aus, zog den Netzstecker meines Computers und ging. Es war, als schrie jede einzelne Zelle meines Körpers: »Nichts wie weg hier! Geh jetzt! Geh!«

Ich hatte allerdings keine Ahnung, wohin und was ich sonst tun sollte. Also fuhr ich den Computer hoch und begann, den Bericht zu überarbeiten.

In der folgenden Nacht hatte ich meinen Traum von der Ratte – nach dem ich elend und voller Grauen aufwachte und schaute, ob meine Hände blutig waren.

Am nächsten Morgen kam ich kaum aus dem Bett. Müde und verzweifelt schleppte ich mich in die Küche und setzte mich zu Sophie an den Tisch. Ich erzählte ihr alles: vom Traum, der meine Krankheit symbolisierte, von der Stärke meiner Emotionen, meiner Angst und meiner Verzweiflung. Und während ich ihr all dies berichtete, sah ich, wie ihre Augen zu strahlen begannen.

»Warum gehst du nicht zu diesem Mann?«, fragte sie, während sie eine Telefonnummer auf ein Stück Papier kritzelte. »Er ist ein tibetischer Heiler, ein Mönch, der gerade in der Gegend ist. Vielleicht kann er dir helfen.«

Sie schob mir die Notiz über den Tisch. Ohne ihn näher anzuschauen, steckte ich den Zettel in die Tasche meines Pyjamas. Am Abend, als ich mich für die Nacht fertig machte, fand ich ihn wieder und legte ihn auf den Nachttisch. Doch erst am nächsten Morgen, als ich meinen Wecker abstellte, nahm ich ihn, strich ihn glatt und las, was darauf stand: »Soundso Rinpoche«, stand da geschrieben.

Noch bevor ich wach genug war, um an meiner Entscheidung zu zweifeln, griff ich nach dem Telefonhörer und wählte die Nummer auf dem Zettel. Die gut gelaunte Frau am anderen Ende der Leitung bot mir an, den heiligen Mann in der darauffolgenden Woche während seines Besuchs im Haus einer westlichen buddhistischen Lehrerin nördlich von San Francisco in Marin County zu treffen.

Rinpoche war ein in nussbraune und goldene Roben gehüllter, hagerer Mann mit ruhigen, dunklen Augen. Er ergriff meine Hand, um mit seinen Fingerspitzen die Pulsdiagnose durchzuführen. Ich saß still und blickte ihn voller Hoffnung an, in seinem Gesicht Antworten zu finden: Was spürte er? Was hörte er? Würde er mich wieder hinbekommen?

Er sah auf, nahm die Erwartungen in meinen Augen wahr und wandte sich an den Übersetzer. Seine Stimme war sanft und voller Kehlkopflaute. Ich neigte mich nach vorn und lauschte der Übersetzung:

»Rinpoche sagt, das Wichtigste für Sie ist …«

»Ja?«

»Was Sie wirklich tun müssen …«

Gespannt kauerte ich auf der äußersten Kante meines Stuhls.

»Das, was Sie unbedingt tun müssen, ist«, wiederholte er, »Sie müssen sich ganz und gar lieben.«

Ich rutschte zurück, entsetzt und voller Ärger. Mir war danach, »Aber ich bin krank! Ich brauche Hilfe!« zu schreien. Ich wollte ein Medikament, wollte, dass er mir zu etwas riet, das ich als Methode oder Plan umsetzen konnte, etwas wie: »Essen Sie mehr Broccoli, trinken Sie den und den Tee oder nehmen Sie die und die Pillen.«

Stattdessen warfen seine Worte Licht auf meine Selbstverachtung.

Ich schaute Rinpoche an, beobachtete, wie er mich ansah. Sein Blick war voller Neugier und Güte. Seine Hände hatte er sanft übereinander in seinen Schoß gelegt, so als würde er etwas Zärtliches und Wertvolles halten.

Ich wusste nicht, wie ich seinen Rat umsetzen sollte, doch was immer es war, das er besaß, mir war klar, dass auch ich etwas davon besitzen wollte.

Nach meiner Begegnung mit dem Rinpoche suchte ich im Branchenbuch nach dem Eintrag »Meditation« und fand meinen Weg ins örtliche Futongeschäft, wo ich ein robustes, rundes Kissen kaufte, das ich in meinem Zimmer auf den Boden legte. Fortan türmte sich ein bunt gemischter Haufen von Büchern zum Thema auf meinem Nachttisch: Stephen Levine, Ram Dass, Shirley MacLaine. Ich las über die Vorteile der Meditation, las Sätze wie: »Gedanken verschwinden nicht, sondern treiben wie Wolken am weiten Himmel.« Auch wenn mir all diese Vorstellungen gefielen, schlich ich dennoch weiterhin um mein Meditationskissen herum, das in der Ecke lag. Ich schaute es jeden Morgen und jeden Abend an, wenn ich mich an- und auszog. Es starrte zurück. Doch ich schaute weg.

Das ging so für mehrere Wochen, bis ich Sophie dazu überredete, mich zur Morgenmeditation in das San-Fransisco-Zen-Zentrum zu begleiten. Und so klingelten wir am folgenden Samstagmorgen an dessen Tür und spähten durch das Fenster, wo wir einen kahlköpfigen Mann in langer schwarzer Robe entdeckten, der zur Tür kam, um uns hereinzulassen.

Noch heute erinnere ich mich gut an die Geräusche und Gerüche im Zentrum: das Ticken der Standuhr im Eingangsbereich, den tiefen vibrierenden Klang der Glocke, den monotonen Gesang, den Duft der Räucherstäbchen, den kühlen Druck der Tatamimatten auf meine nackten Zehen und die Sonnenstrahlen, die durch die hohen, bogenförmigen Fenster fielen.

Einerseits zog mich das Zen-Center unwiderstehlich an. Doch gleichzeitig war es mit seinen kurzhaarigen Frauen und Männern, die lange, schwarze Umhänge trugen, auch befremdend. In meinen Gedanken wechselten sich Ängste und Urteile ab, und dennoch sprach all dies etwas in meinem tiefsten Inneren an. Etwas – ich wusste nicht, warum – berührte mich und begann mich aufzutauen. Die Menschen hier trugen eine Ruhe in sich, lächelten oft und brachen leicht in Gelächter aus. Mich beeindruckte, wie präsent, gütig und aufrichtig sie waren.

Ich erinnere mich noch gut, dass ich auch hier dachte: »Was immer es ist, das sie haben, ich möchte es auch besitzen.«

***

Zen-Praxis ist formell. Die Bewegungen und Gesten folgen einer sorgsam festgelegten Choreografie: Hebe beim Überschreiten der Türschwelle den Fuß, der gerade zu den Türscharnieren weist, halte beim Gehen deine Hände gefaltet vor dem Herzen, lege deine Hände in dem Gebetsmudra zusammen, wenn du dich vor deinem Meditationskissen oder -stuhl verbeugst, wobei du dich leicht in der Hüfte neigst.

Manche empfinden diese Formalität als zu rigide. Mir ging es nicht so, denn die Präzision der äußeren Formen empfand ich als sicheres Gefäß, das mir eine stabile Grundlage gab, dank derer sich das Chaos in mir beruhigen und auflösen konnte.

In den folgenden Monaten gewöhnte ich mir einen neuen Rhythmus an. Um im Zentrum zu sitzen, zu chanten und mich zu verbeugen, stand ich jeden Morgen um fünf Uhr auf und glitt im Wagen durch die leeren Straßen der Stadt, vorbei an orange blinkenden Ampeln und noch schlafenden Wohnblöcken. Ich meldete mich für einen Kurs an und gleich darauf für den nächsten und bot freiwillig meine Hilfe in der Küche an. Ich veränderte mich rein körperlich – statt wie zuvor gebeugt, angespannt und steif zu sein, wurde ich selbstsicherer und verharrte nicht mehr andauernd in Verteidigungshaltung. Zu Hause begann ich, die Küche zu wischen, die Toiletten zu putzen und das Geschirr, das sich in der Spüle türmte, zu spülen.

»Ich mag diese neue Seite von dir«, neckte mich Sophie. Ich mochte sie auch.

Mit Begeisterung nahm ich neues Vokabular in meinen Sprachschatz auf und schmückte meine Sätze mit Wörtern wie Samsara und Nirvana, Kinhin und Gassho.1 Besonders zwei Begriffe – Dukkha und Dharma – warfen für mich allerdings mehr Fragen auf, als sie beantworteten.

Dukkha wird zumeist mit »Leiden« übersetzt. Doch der ursprüngliche Ausdruck in Pali hat eine viel umfassendere Bedeutung, denn er beschreibt die ganze Bandbreite menschlicher Schwierigkeiten und Nöte, von leichter Reizung oder Verärgerung bis hin zum vollen Paket von Trauer, Wut oder Wahnsinn. Manchmal wird es auch mit »Angst«, »Stress« oder »Unzufriedenheit« übersetzt, wobei meine persönliche Lieblingsübersetzung »Rad mit einem Achter« ist.

Der Begriff umfasst die unvermeidbaren Leiden und Gebrechen, die schon allein dadurch bedingt sind, dass wir einen Körper haben. Er beinhaltet ebenfalls die Mühsal, von unangenehmen Menschen umgeben zu sein oder uns in unerfreulichen Situationen wiederzufinden, sowie den Schmerz, von Freund*innen und geliebten Menschen getrennt zu sein. Er bezeichnet auch die Frustration, dass sich die Dinge verändern und uns entgleiten, ganz gleich, wie schlau wir es anstellen oder wie sehr wir uns abmühen, um mit unseren Umständen fertigzuwerden und die Kontrolle über sie zu behalten.

Dukkha versteht man im Buddhismus als Eingangstor zur spirituellen Praxis. In manchen Erzählungen heißt es, der Buddha hätte seine Lehre in einem einzigen Satz zusammengefasst: »Ich lehre nur eins, eine einzige Sache allein: das Leiden und das Ende des Leidens.«

Nun, das war eine Weisheit, mit der ich etwas anfangen konnte.

Ich verstand die Wahrheit des Leidens. Doch in meiner Kindheit und Jugend war es ein Tabu, Unangenehmes direkt anzusprechen. Anzuerkennen, dass man Schmerzen hatte – oder noch schlimmer, sich über solche zu beklagen –, war Grund zur Scham, denn man gab damit zu, gescheitert zu sein. Ich war zutiefst erleichtert, als ich erfuhr, dass man im Zen-Center über solche Dinge offen sprechen konnte.

Die Bedeutung des Begriffs Dharma war sogar noch verwirrender. Auch wenn ich ihn immer wieder hörte, wusste ich dennoch nicht, was damit genau gemeint war. Manchmal erklärte man, er bedeute Buddhas Lehre, dann wieder kosmisches Gesetz des Universums und in anderen Zusammenhängen schlicht und ergreifend Wahrheit. Vor Unterricht und Vorträgen im Zentrum sangen wir: »Unermesslich sind die Tore des Dharma, ich gelobe, sie vollkommen zu durchdringen.«

Ich wusste nicht, was mit den Toren des Dharma gemeint war. Doch je mehr ich saß, sang und mich verneigte, desto stärker wurde mein Wunsch, diese Schwelle zu passieren.

An einem Samstag besuchte ich im Zentrum einen Vortrag des japanischen Lehrers Kobun Chino, wo ich endlich mehr über die Bedeutung des Wortes erfuhr. Ich nahm in der Buddha Hall Platz und schaute neugierig zu, wie Kobun den Saal betrat. Er war ein zarter Mann mit einem warmen, freundlichen Auftreten und einem fast schwebenden Gang.

Er blieb auf der einen Seite des Altars vor der lebensgroßen Buddhastatue stehen. Wir alle sahen gebannt zu, wie er sie mit gefalteten Händen leicht nach vorne gebeugt anschaute – so als führte er mit ihr ein inniges Gespräch. Dann ließ er sich auf seinem Sitz nieder und begann langsam und vorsichtig zu sprechen. Seine Stimme war zart und gleichzeitig etwas kratzig, eigentlich bestand sie mehr aus Atem als aus Stimme. Während er sprach, war es im Raum absolut still, denn keiner wollte auch nur ein einziges seiner Worte versäumen.

Als die Glocke erklang und der Vortrag vorüber war, eilte ich in den Essensraum, wo Kobun Fragen beantworten wollte. Ich nahm in der ersten Reihe Platz und wartete.

Kobun kam herein, setzte sich mit gekreuzten Beinen auf das Sofa und streifte sorgfältig seine Robe unter sich zurück. Er lehnte sich vor, um sich aus der geschmackvoll lasierten Teekanne, die vor ihm auf einem kleinen Tisch stand, eine Tasse einzuschenken. Der Geruch von Jasmin erfüllte den Raum. Er ergriff die Tasse mit beiden Händen, führte sie zum Mund, nahm langsam einen Schluck, um sie dann wieder zurück auf das Möbel zu stellen. Schließlich hielt er inne und blickte durch den Raum.

»Irgendwelche Fragen?«, erkundigte er sich.

Niemand meldete sich zu Wort. Die Leute saßen mit geschlossenen Augen oder gesenktem Blick da.

Meine Hand schnellte nach oben. Damals wusste ich noch nicht, dass an diesem Ort ein solch ungebremster Enthusiasmus nicht üblich war. Als Neuling in der Zen-Szene hatte ich noch immer nicht gänzlich meinen Platz in ihr gefunden. Doch ich war sicher, dass Kobun meine Frage beantworten könnte.

Er wandte sich mir zu. »Ja?«, fragte er.

»Was ist … der Dharma?«, erwiderte ich.

Ausgelassenes Lachen erfüllte den Raum, sogar Kobun kicherte.

»Ich weiß es nicht«, sagte er und kostete dabei jede einzelne seiner Silben aus.

Unerschrocken preschte ich vor: »Nein, im Ernst«, insistierte ich, »ich bin neu hier. Dauernd höre ich das Wort ›Dharma‹ und weiß nicht, was es bedeutet.«

Kobun antwortete nicht gleich. Sanft presste er seine Lippen zusammen und ließ meine Worte auf sich wirken. Im Raum wurde es still. Er wartete. Ich wartete. Und dann tat er etwas, das in all den Jahren in mir präsent blieb.

Er neigte sich nach vorne, ergriff die Teekanne und hielt sie vor sich. Schließlich schaute er mich an und sagte: »Der Dharma … der Dharma ist das, was diese Teekanne zusammenhält.« Daraufhin stellte er die Kanne zurück auf den Tisch.

Ich hatte keinen blassen Schimmer, wovon er sprach. Aber etwas von seinen Worten traf direkt in mein Inneres. Es weckte etwas in mir, das in Vergessenheit geraten war, etwas, das ich nicht benennen konnte, von dem ich jedoch wusste, dass es wahr war.

Er fesselte mich. Was hält eine Teekanne zusammen? Ich würde alles tun, um es herauszufinden.

***

Als der Frühling in den Sommer überging, kam ein Strom von neuen Zen-Schüler*innen in das Zentrum, die anschließend ins Tassajara-Zen-Kloster weiterreisten, das abseits in der Ventana Wilderness im kalifornischen Bergland lag. Im regnerischen Herbst und den kalten Wintermonaten für das intensive monastische Training der Bewohner*innen der Allgemeinheit nicht zugänglich, öffnete es in der Gästesaison im Sommer seine Pforten.

Eines Morgens unterhielt ich mich mit Paul, einem der wichtigsten Lehrer im Zen-Center. Paul war von einer beeindruckenden Erscheinung. Er war groß und schlank und hatte markante Gesichtszüge sowie einen irischen Akzent. Wenn er Fragen zuhörte, lehnte er für gewöhnlich seinen Kopf etwas nach rechts, und wenn er neugierig oder überrascht war, kam es vor, dass er die Augenbrauen hob.

Ich saß gerade am Frühstückstisch, als Paul zielsicher mir und meiner nicht mehr ganz warmen Schale mit Haferflocken, gedünsteten Früchten und Sesamsalz gegenüber Platz nahm. Ich blickte ihn mit einem zögerlichen Lächeln an.

»Guten Morgen«, begrüßte er mich, wobei er seine Hände zu einer kleinen Verbeugung aneinanderlegte. Darauf folgte eine längere Pause. Ich hielt meinen Blick leicht gesenkt. Plötzlich stützte Paul seine Hände auf den Tisch, lehnte sich vor und fragte: »Und wann gehst du nach Tassajara?«

Ich antwortete nicht gleich, sondern schüttete erst einmal meine Geschichte in voller Länge vor ihm aus: Wie meine Reise nach China gescheitert und ich bei meiner trostlosen Arbeit gelandet war, die ich eigentlich kündigen wollte, aber irgendwie nicht von dort wegkam. Ich erzählte ihm sogar von meinem Albtraum mit der Ratte und dem Ringen mit meinem eigenen Körper. Er hörte mir so liebevoll zu, dass ich die ganze Last meines Unglücklichseins zu spüren vermochte. Ja, ich wollte in das Kloster gehen, ich traute mich jedoch nicht, es offen auszusprechen. Ich würde mich dadurch verletzlich machen, denn es bestand die Gefahr, dass man mir den Wunsch verwehrte. Ich wischte meine Augen mit meiner zerknitterten Serviette ab und hielt die Luft an.

»Natürlich kannst du nach Tassajara«, erwiderte Paul. »Komm mit.« Ich folgte ihm durch den geräumigen Gang, hörte auf das Rascheln seiner Robe und betrachtete den roten Linoleumboden unter unseren Füßen. Paul ging in das Empfangsbüro und begrüßte die Frau hinter dem Schreibtisch mit einer kleinen Verbeugung. »Pam hätte gern einen Anmeldeantrag für Tassajara«, erklärte er ihr.

Nur sechs Wochen später war ich auf dem Weg dorthin.