Die englische Originalausgabe erschien im Februar 2015 unter dem Titel «Paris for One» bei Penguin, London.
Deutsche Erstausgabe
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2016
Copyright © 2016 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«Paris for One» Copyright © 2015 by Jojo’s Mojo Ltd.
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Umschlaggestaltung any.way, Cordula Schmidt
Illustration Daniela Terrazzini/The Artworks
Schrift Deja Vu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
Satz Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
ISBN 978-3-644-22361-5
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-22361-5
Nell zieht ihren Rollkoffer an der Plastikstuhlreihe im Bahnhof vorbei und sieht zum hundertsten Mal auf die Wanduhr. Ihr Blick zuckt zurück, als die Türen Richtung Sicherheitskontrolle aufgleiten. Die nächste Familie – vermutlich auf dem Weg nach Disney-Land – kommt mit einem Buggy, schreienden Kindern und völlig übermüdeten Eltern in die Abfahrtshalle.
Seit einer halben Stunde schlägt ihr Herz wie wild, und ihre Kehle ist wie zugeschnürt.
«Er wird kommen. Er kommt noch. Er kann es immer noch schaffen», murmelt sie vor sich hin.
«Abfahrt des Zuges 9051 nach Paris in zehn Minuten von Bahnsteig zwei. Bitte begeben Sie sich zum Bahnsteig. Achten Sie darauf, kein Gepäckstück zurückzulassen.»
Sie kaut auf ihrer Unterlippe, schreibt ihm noch eine SMS – die fünfte.
Wo bist du? Der Zug fährt gleich ab!
Sie hatte ihm zwei SMS geschrieben, als sie von zu Hause losgegangen war, um noch einmal zu bestätigen, dass sie sich am Bahnhof treffen würden. Als er nicht antwortete, sagte sie sich, es müsse daran liegen, dass sie in der U-Bahn war. Oder er. Sie schrieb eine dritte SMS und eine vierte. Und jetzt, da sie in der Wartehalle steht, vibriert das Telefon in ihrer Hand.
Sorry, Babe. Hänge bei der Arbeit fest. Werde es nicht schaffen.
Als hätten sie vorgehabt, nach dem Büro noch schnell was trinken zu gehen. Ungläubig starrt sie auf ihr Handy.
Du schaffst es nicht, den Zug zu kriegen? Soll ich warten?
Sekunden später kommt die Antwort.
Nein, fahr schon mal. Ich versuche, einen späteren Zug zu nehmen.
Sie ist zu fassungslos, um wütend zu werden. Bleibt wie angewurzelt stehen, während die Leute um sie herum aufstehen, ihre Mäntel anziehen. Dann tippt sie in ihr Handy:
Aber wo sollen wir uns treffen?
Er antwortet nicht. Hänge bei der Arbeit fest. Er arbeitet in einem Laden für Surfer- und Taucherbedarf. Es ist November. Wie kann er da bei der Arbeit festhängen?
Sie sieht sich um, als könnte das ein Scherz sein. Als käme er mit seinem breiten Grinsen jeden Moment durch die Tür gerannt und würde ihr erklären, er hätte sie nur ein bisschen veralbern wollen (er veralbert sie ein bisschen zu gern). Und als würde er sie dann am Arm nehmen, sie mit den vom Wind kühlen Lippen auf die Wange küssen und so etwas sagen wie: «Du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass ich mir das nehmen lasse, oder? Deine erste Reise nach Paris?»
Aber die Glastüren bleiben fest geschlossen.
«Madam? Sie müssen jetzt zum Bahnsteig.» Der Eurostar-Schaffner streckt die Hand nach ihrer Fahrkarte aus. Und eine Sekunde lang zögert sie – Wird er kommen? –, dann tippt sie:
Am besten treffen wir uns im Hotel.
Dann ist sie Teil der Menge und zieht ihren kleinen Koffer hinter sich her. Als sie zum Aufzug geht, fährt gerade der riesige Zug ein.
«Was soll das heißen, du bist nicht dabei? Das haben wir doch schon seit Ewigkeiten geplant!» Es geht um die jährliche Reise der Freundinnen nach Brighton. Sie fahren regelmäßig über das erste Novemberwochenende dorthin, jedes Jahr, seit sechs Jahren: Nell, Magda, Trish und Sue. Entweder quetschen sie sich in Sues alten Offroader oder in Magdas Firmenwagen. Für zwei Tage flüchten sie aus ihrem Alltag, gehen etwas trinken, unterhalten sich mit Typen, die ihren Junggesellenabschied feiern, und pflegen ihren Kater bei einem fettigen Frühstücksbüfett in einem schäbigen Hotel namens Brightsea Lodge.
Ihre Ausflüge haben zwei Babys, eine Scheidung und eine Gürtelrose überlebt (damals haben sie in Magdas Hotelzimmer gefeiert). Keine von ihnen hat auch nur eine einzige Fahrt ausgelassen.
«Na ja, Pete hat mich nach Paris eingeladen.»
«Pete fährt mit dir nach Paris?» Magda hatte sie angestarrt, als hätte sie verkündet, ab jetzt Russisch lernen zu wollen. «Pete Pete?»
«Er kann es nicht fassen, dass ich noch nie dort war.»
«Ich war mal in Paris, auf Klassenfahrt. Ich habe mich im Louvre verirrt, und irgendwer hat in der Jugendherberge meine Turnschuhe ins Klo gesteckt», sagte Trish.
«Und ich habe mit einem Franzosen rumgeknutscht, weil er aussah wie der Typ, der mit Halle Berry zusammen ist.»
«Pete-mit-den-Haaren-Pete? Dein Pete? Sorry, ich wollte nicht gemein sein. Ich dachte nur, er wäre ein ziemlicher …»
«Loser», ergänzte Sue hilfsbereit.
«Arsch.»
«Blödmann.»
«Offensichtlich haben wir falschgelegen. Und siehe da, er ist sogar der Typ Mann, der Nell zu einem romantischen Wochenende nach Paris einlädt. Und das ist … also echt. Super! Ich wünschte nur, es wäre nicht dasselbe Wochenende wie unser Wochenende.»
«Na ja, als wir endlich die Fahrkarten hatten … das war kompliziert …», murmelte Nell mit einer hilflosen Handbewegung und hoffte, dass niemand fragen würde, wer diese Fahrkarten bezahlt hat. (Es war das einzige Wochenende vor Weihnachten gewesen, für das noch ermäßigte Fahrkarten zu bekommen waren.)
Sie hatte diese Reise genauso sorgfältig geplant, wie sie ihre Arbeit im Büro organisiert. Sie hatte im Internet nach den schönsten Sehenswürdigkeiten gesucht und bei TripAdvisor nach den günstigsten Hotels, die Lage jedes einzelnen auf Google nachgeprüft und die Ergebnisse in eine Liste eingetragen.
Sie hatte sich für ein Hotel hinter der Rue de Rivoli entschieden – «sauber, netter Service, sehr romantisch» – und zwei Übernachtungen gebucht. Sie hatte sich ausgemalt, wie sie mit Pete eng umschlungen in einem französischen Hotelbett lag, durch das Fenster den Eiffelturm sah und wie sie bei Kaffee und Croissant in irgendeinem Straßencafé Händchen hielten. Und etwas anderes, als sich etwas auszumalen, blieb ihr nicht übrig – sie hatte nämlich keine Vorstellung davon, was man in Paris tut, abgesehen von dem Offensichtlichen.
Mit sechsundzwanzig Jahren war Nell Simmons noch nie mit einem Liebsten übers Wochenende weg gewesen, es sei denn, man wollte dieses eine Mal mitzählen, bei dem sie mit Andrew Dinsmore zum Klettern gefahren war. Er hatte darauf bestanden, dass sie in seinem Mini schliefen, und sie war so durchgefroren aufgewacht, dass sie ihren Hals sechs Stunden lang nicht bewegen konnte.
Nells Mutter erzählte mit Vorliebe jedem, der es hören wollte, dass Nell «nicht der abenteuerlustige Typ» war. Sie war auch «nicht reiselustig», «nicht die Sorte Mädchen, die sich auf ihr Aussehen verlassen kann», und inzwischen leider auch «nicht mehr ganz taufrisch».
So war es, wenn man in einer Kleinstadt aufwuchs: Jeder glaubte zu wissen, wie man war. Nell war die Sensible. Die Stille. Diejenige, die immer alles ganz genau vorbereitete. Auf die man sich verlassen konnte, wenn es ums Blumengießen oder Babysitten ging. Und die garantiert keinem verheirateten Mann schöne Augen machte.
Nein, Mutter. Was ich wirklich bin, denkt Nell, während sie ihre Fahrkarte entwertet, den Stempel begutachtet und sie dann zu all den anderen wichtigen Unterlagen in den Umschlag steckt, ist die Art Mädchen, die übers Wochenende nach Paris fährt.
Als der große Tag näher gerückt war, hatte sie gern gewisse Andeutungen fallenlassen. «Ich muss nachsehen, ob mein Pass noch gültig ist», sagte sie, als sie sich nach dem sonntäglichen Mittagessen von ihrer Mutter verabschiedete. Sie kaufte neue Unterwäsche, rasierte sich die Beine, lackierte ihre Fußnägel knallrot (normalerweise benutzte sie farblosen Nagellack). «Denkt dran, dass ich am Freitag früher weg muss», sagte sie bei der Arbeit. «Wegen Paris.»
«Oh, du bist ja so ein Glückspilz», ertönte der Chor der Kolleginnen aus der Buchhaltung.
«Ich werde gleich grün vor Neid», meinte Trish, die Pete ein winziges bisschen besser leiden konnte als die anderen.
Nell steigt in den Zug, verstaut ihren Koffer und fragt sich, wie neidisch Trish tatsächlich wäre, wenn sie sie jetzt sehen könnte: eine Frau, die neben einem leeren Sitzplatz nach Paris fährt und keine Ahnung hat, ob ihr Freund noch auftauchen wird.
Auf dem Bahnhof in Paris ist viel los. Sie verlässt den Bahnsteig und bleibt überfordert mitten in der drängenden und schiebenden Menschenmenge stehen. Sie fühlt sich vollkommen verloren zwischen all den Shops und Aufzügen, die nirgendwohin zu führen scheinen.
Ein melodischer Akkord ertönt aus dem Lautsprecher, und eine Sprecherin verkündet etwas auf Französisch, das Nell nicht so schnell versteht. Alle anderen Leute bewegen sich zügig und entschlossen und scheinen ihren Weg ganz genau zu kennen. Als Nell aus dem Bahnhofsgebäude tritt, ist es bereits dunkel – und wieder spürt sie einen Anflug von Panik. Ich bin in einer fremden Stadt, und Französisch ist eine fremde Sprache, an die ich mich erst wieder gewöhnen muss. Und dann sieht sie das Schild: Taxis.
Mindestens fünfzig Leute stehen Schlange, aber das macht ihr nichts aus. Sie kramt in ihrer Handtasche nach dem Ausdruck mit der Hoteladresse, und als sie endlich an der Reihe ist, hält sie ihn hoch. «Hôtel Bonne Ville», sagt sie. «S’il vous plaît.»
Der Fahrer dreht sich zu ihr um, als würde er sie nicht verstehen.
«Hôtel Bonne Ville», wiederholt sie und bemüht sich um eine französische Aussprache. «Bonne Ville.»
Er sieht sie immer noch verständnislos an und rupft ihr dann den Zettel aus der Hand. «Ah! Hôtel Bonne Ville!» Er verdreht die Augen zum Himmel. Dann drückt er ihr den Zettel wieder in die Hand und reiht sich in den dichten Verkehr ein.
Nell lässt sich ins Polster sinken und atmet tief durch.
Und übrigens: Willkommen in Paris.
Die Fahrt dauert zwanzig lange, teure Minuten. Der Verkehr ist schrecklich. Sie schaut aus dem Fenster auf die belebten Straßen, die Restaurants und Cafés, die Modeboutiquen, Friseursalons und Nagelstudios und liest tonlos murmelnd die Straßennamen mit. Elegante graue Gebäude ragen hoch in den Himmel, und aus den Bistros fällt ein warmer Schimmer in den dunklen Winterabend. Paris, denkt sie, und plötzlich hat sie das Gefühl, dass alles gut wird. Pete kommt zwar etwas später, aber sie wird im Hotel auf ihn warten. Und morgen? Morgen werden sie darüber lachen, wie sehr es sie verunsichert hatte, allein vorauszufahren. Er hat ja schon so oft gesagt, dass sie sich zu viele Sorgen macht.
Entspann dich, Babe, wird er sagen. Pete macht sich nie Stress. Er kennt die Welt, war schon viel in der ganzen Welt herumgereist. So hat er ihr einmal von seinem Urlaub in Laos erzählt, als ihn Soldaten plötzlich mit vorgehaltenem Gewehr am Weiterfahren hinderten. «Hatte ja keinen Zweck, sich aufzuregen. Entweder sie wollten mich erschießen oder nicht. Hätte sowieso nichts dran ändern können.» Dann hatte er genickt. Ganz entspannt. «Und weißt du, wie es ausgegangen ist? Am Schluss sind wir mit diesen Soldaten ein Bier trinken gegangen.»
Oder damals, als er auf einer kleinen Fähre in Kenia unterwegs war, die kenterte. «Wir haben einfach die Reifen von der Schiffsseite abgeschnitten, sind ins Wasser gesprungen und haben uns drangehängt, bis Hilfe kam. Da war ich auch ganz locker drauf – bis sie mir gesagt haben, dass es dort Krokodile gibt.»
Sie fragt sich manchmal, warum sich der sonnengebräunte Pete mit all seiner Lebenserfahrung eigentlich für sie entschieden hat. Sie sieht weder besonders gut aus, noch ist sie besonders unternehmungslustig. Einmal hatte er ihr gesagt, dass sie ihm gefiel, weil sie ihm nicht auf die Nerven ging. «Meine anderen Freundinnen haben mich ständig vollgetextet.» Dazu hatte er im Sekundentakt neben seinem Ohr Daumen und Finger zusammenschnellen lassen. «Es ist … entspannend, mit dir zusammen zu sein.»
Als Pete sie so beschrieb, hatte Nell an einen Omasessel denken müssen … Aber das war bestimmt überinterpretiert.
Sie lässt die Autoscheibe herunter, nimmt die Verkehrsgeräusche in sich auf und die Gerüche. Paris ist genau so, wie sie es sich vorgestellt hat. Die Gebäude sind hoch, mit langen schmalen Fenstern und kleinen Balkonen – Bürogebäude sind keine zu sehen. An praktisch jeder Straßenecke gibt es ein Café, vor dem runde Tischchen und Stühle stehen. Als das Taxi weiter Richtung Zentrum vorankommt, fallen ihr immer mehr elegant gekleidete Frauen auf und Leute, die sich auf dem Gehweg mit Wangenküssen begrüßen.
Ich bin tatsächlich in Paris, denkt sie. Und plötzlich ist es ihr ganz recht, dass sie ein paar Stunden hat, um sich zu duschen und umzuziehen, bevor Pete kommt. Ausnahmsweise hat sie einmal keine Lust auf ihre Rolle als Landei mit staunend aufgerissenen Augen.
Ich werde pariserisch sein, denkt sie und sinkt in die Polster zurück.
Das Hotel liegt in einer engen Seitenstraße. Sie zählt die Summe ab, die auf dem Taxameter steht, doch statt das Geld zu nehmen, benimmt sich der Fahrer, als hätte sie ihn beleidigt und wedelt mit der Hand Richtung Kofferraum, in dem ihr Koffer verstaut ist.
«Entschuldigen Sie. Ich verstehe nicht, was Sie wollen», sagt sie. Dann, nach kurzer Stille, streckt sie ihm einen weiteren Zehn-Euro-Schein hin. Kopfschüttelnd akzeptiert er das Geld und stellt dann ihren Koffer auf den Bürgersteig. Sie sieht ihm beim Wegfahren nach und fragt sich, ob sie gerade ausgenommen wurde.