Das Jahr 1932 wird unser Jahr sein, das Jahr des endlichen Sieges der Republik über ihre Gegner. Nicht einen Tag, nicht eine Stunde mehr wollen wir in der Defensive bleiben – wir greifen an! Angriff auf der ganzen Linie! Unser Aufmarsch schon muß Teil der allgemeinen Offensive sein. Heute rufen wir – morgen schlagen wir!
Karl Höltermann, SPD, im Dezember 1931
Sonntag, 11. Juli 1920
Er ist wieder unterwegs und schleicht durch die Wälder, hat seinen Unterschlupf verlassen und schnürt durchs Gehölz, niemand wird ihn hören, niemand wird ihn sehen. Eine gelbfarbene Trägheit liegt in der Luft, selbst im Schatten der Bäume spürt er die Wärme des Tages, der Sommer ist mit Macht ins Land gekommen. Die Lindenblüten verbreiten ihren Duft und die Wintergerste auf den Feldern drüben bei Markowsken. Tokala hält inne und nimmt einen tiefen Atemzug. Auch den See kann er bereits riechen und freut sich auf das Bad im kalten, weichen Wasser.
Je näher er seinem Ziel kommt, desto langsamer werden seine Bewegungen. Er ist scheu, und wenn er sich einmal zeigt, dann nur, um den Menschen einen Schrecken einzujagen. Er mag es nicht, wenn sie in seinen Wald kommen, er mag ihr lautes Rufen nicht, nicht ihr rücksichtsloses Trampeln durchs Unterholz, das ihre Verachtung zeigt für alles, was ihm heilig ist.
Er hat einen Spiegel in seiner Hütte hängen, und manchmal, bevor er hinausgeht, reibt er sein Gesicht mit schwarzer Erde ein, bis seine Augen wild leuchten und er aussieht wie ein Raubtier, wenn er die Zähne bleckt. In der Dämmerung macht ihn das so gut wie unsichtbar, jetzt aber steht die Sonne hoch am Himmel, und er hat auf diese Tarnung verzichtet. Umso vorsichtiger bewegt er sich, seine Mokassins sind aus Elchleder, in ihnen schleicht er leise wie eine Katze.
Tokala muss aufpassen, der See gehört schon zu ihrem Reich, er könnte auf Menschen stoßen. In seine Wälder trauen sie sich nicht, dort haben sie Angst, Angst vor dem Moor und vor dem Kaubuk.
Kaubuk. Ja, so nennen sie ihn, weil sie keinen anderen Namen finden. Seinen alten Namen, an den er sich selbst kaum erinnert, haben sie längst vergessen, und noch weniger kennen sie seinen neuen, den er sich zugelegt hat, als er ihre Welt verlassen hat vor vielen Wintern, seinen wahren Namen, seinen Kriegernamen.
Tokala.
Der Fuchs.
Wie ein Fuchs schnürt er durch die Wälder, versteckt sich in seinem Bau, und sie lassen ihn gewähren. Sie lassen ihn in Ruhe seine Dinge tun und er sie die ihren; niemand mischt sich ein in die Welt des anderen, das ist die unausgesprochene Abmachung seit Jahren. Es ist gefährlich in ihrer Welt, doch ab und zu muss er es wagen, muss des Nachts in ihre Städte und Dörfer, wenn er neue Bücher braucht oder Petroleum oder ein paar von den Früchten, die bei ihm im Moor nicht wachsen wollen.
Seine Vorsicht ist nicht übertrieben, er hat den See schon fast erreicht, da hört er ein Summen und Singen und hält inne, inmitten der Bewegung, und lauscht. Eine Frauenstimme, eine unbestimmte Melodie. Langsam schleicht er zu seinem Uferversteck. Tokala hat sie erkannt, schon an ihrer Stimme erkannt, noch bevor er ihr Sommerkleid weiß und rot durchs Geäst schimmern sieht.
Niyaha Luta, so nennt er sie.
Er hat sie schon einmal gesehen, vor wenigen Wochen an derselben Stelle, und auch da hat er in seinem Versteck gehockt und sich nicht zu rühren gewagt. Er wusste, dass sie ihn nicht sehen konnte im Dunkel des dichten Gebüschs, und doch schien sie ihn direkt anzuschauen, als sie aufblickte von ihrem Buch. Dass sie sich nicht allein fortgestohlen hatte aus der Stadt, das merkte er, als ein metallisches Scheppern und Klingeln in sein Versteck drang und kurz darauf ein Mann mit einem Fahrrad aus dem Wald trat. Sie hatte ihn erwartet, das konnte man sehen. Und dann küsste sie ihn. Es war tatsächlich sie, die ihn küsste, nicht umgekehrt, und da wurde Tokala klar, dass sie sich nicht zum ersten Mal trafen und dass ihre Begegnung kein Zufall war.
Das war der Moment, in dem er sich aus seinem Versteck zurückgezogen hatte ins Dunkel des Waldes.
Und jetzt ist sie wieder hier, und Tokala hockt in seinem Versteck, sieht ihr Kleid, ein Muster wie aus roten Federn auf leuchtendem Weiß, er sieht ihre nackten Beine, die ins Wasser baumeln. Sie sitzt auf dem sonnenbeschienenen Ast, der in den See hinausragt, genau wie damals, und wieder liest sie in einem Buch.
Zweige knacken, als ein Mann aus dem Wald tritt. Nicht der Mann mit dem Fahrrad, es ist ein anderer, und Tokala sieht in ihrem Gesicht, dass sie diesen Mann nicht erwartet hat. Sie klappt ihr Buch zu, als habe er sie bei etwas Verbotenem ertappt.
»Hier also treibst du dich rum«, sagt der Mann.
»Ich treibe mich nicht rum, ich lese.«
»Du liest! Mitten in der Wildnis, wo alle in die Stadt gekommen sind, selbst die Bauern aus Jewarken und Urbanken, um ihre vaterländische Pflicht zu erfüllen?«
Sie reden viel von Vaterland in diesen Tagen. Tokala versteht ihre Reden nicht. Und warum Männer in Uniformen ihn jagen, wenn er von Suwalki ein paar Flaschen Petroleum mitbringt oder Salz im Tausch für seine Pelze. Für ihn macht es keinen Unterschied, ob er im Markowsker Wald unterwegs ist oder bei Karassewo, sie aber tun, als sei es der Unterschied zwischen Himmel und Hölle. Die Grenze. Er hat noch nie verstanden, was sie damit meinen. Der Wald ist derselbe, zu beiden Seiten der Grenze, und Tokala wird nie verstehen, warum der eine Baum preußisch sein soll und der nächste polnisch.
Es plätschert, als der Mann ins seichte Uferwasser tritt und zu Niyaha Luta hinübergeht.
»Dass du dich so weit in den Wald hineinwagst! Hast du keine Angst, dass du dich ins Moor verirrst? Oder dass der Kaubuk dich holt?«
»Ich bin kein Kind mehr, dem man mit so etwas Angst einjagt.«
»Nein, du bist kein Kind mehr, fürwahr.« Der Mann schaut sie an, auf eine Art und Weise, die Tokala nicht gefällt. »Du bist eine erwachsene Frau. Hast jetzt sogar Stimmrecht.«
»Ich habe abgestimmt, gleich nach dem Kirchgang. Wenn das deine Sorge sein sollte.«
Sie will laut und mutig klingen, das spürt Tokala, doch ein leises Zittern schwingt in ihrer Stimme mit.
»Meine Sorge …« Er schnaubt verächtlich. »Und danach hattest du nichts Eiligeres zu tun, als hier hinauszureiten …«
Sie schaut sich um, ängstlich. Als fürchte sie, der Mann mit dem Fahrrad könne jeden Augenblick aus dem Wald kommen. Tokala hockt in seinem Versteck und fürchtet sich mit ihr.
»Liegt es vielleicht daran, dass da ein rotes Taschentuch bei der Stadtmühle am Brückengeländer hängt?«
Sie sagt nichts, und der Mann tritt näher, bis an den Ast, auf dem sie sitzt, und zeigt auf die Rinde.
»Da hat jemand ein Herz reingeritzt«, sagt er.
»Ach ja?«
Sie klingt wieder mutiger. Der Mut der Verzweiflung.
»A Punkt, Em Punkt«, sagt er und pult mit seinen Fingern im Holz, »und daneben Jot Punkt, Pe Punkt. Ganz frisch reingeritzt.«
Sie sagt nichts, doch Tokala sieht die Angst in ihren Augen.
»A Punkt, Em Punkt, das könntest ja glatt du sein, mein Täubchen.«
Sein Zeigefinger fährt den Buchstaben in der Rinde nach.
»Aber wer ist Jot Punkt Pe Punkt?«, fragt er.
Tokala sieht, wie sich ihre Angst langsam in Wut verwandelt.
»Was willst du mir sagen?«, herrscht sie ihn an, »was zum Teufel willst du mir sagen?«
»Dass du dir einen Schmisser angelacht hast, das will ich dir sagen! Und was ich davon halte!«
Der Mann brüllt jetzt. Tokala in seinem Versteck hält sich die Ohren zu, doch das Brüllen dringt hindurch.
»Ich habe dir nie irgendwas versprochen!«
Sie ist heruntergesprungen vom Ast, steht mit den nackten Füßen im seichten Wasser und funkelt ihn wütend an.
»Ach ja?«, sagt er. »Aber dem Polack, dem hast du was versprochen, oder wie muss ich das hier verstehen?«
»Du musst gar nichts verstehen, das geht dich alles einen feuchten Kehricht an!«
»Man redet schon über euch! Du bist nicht einmal großjährig und treibst dich mit diesem Kerl rum, wirfst ihm verliebte Blicke zu!«
»Ich habe dir nie etwas versprochen, und niemals, nie im Leben werde ich zulassen, dass ein Kerl wie du mich anfasst!«
Der Mann taumelt zurück, als hätten ihre Worte ihn körperlich getroffen. Wie Stockhiebe. Dann steht er wieder ruhig. Und spricht auch wieder leiser.
»Aber ihn lässt du ran, was? Den Polack!«
»Er ist kein Pole, er ist Preuße, so wie du.«
»Du gibst es also zu!«
»Und wenn schon? Vielleicht werde ich ihn heiraten!«
»Einen Katholiken? Einen Polenfreund?«
»Ich wüsste nicht, was dich das angeht.«
»Was mich das angeht? Das fragst du noch?«
»Ja, das frage ich dich! Ich weiß nicht, was du hier willst. Verschwinde endlich und lass mich in Ruhe!«
»Einen Teufel werde ich. Einer muss dir ja Manieren beibringen! Wenn dein Vater das schon versäumt hat!«
»Wage es ja nicht, mich anzufassen!«
Der Mann macht einen Schritt auf sie zu, und ihre Augen funkeln ihn an, doch das scheint ihn nicht zu schrecken.
»Nur ein Kuss«, sagt er, und es klingt alles andere als zärtlich. »Wenn du den Polacken küsst, habe auch ich jedes Recht, dich zu küssen!«
Mit beiden Händen fasst er ihre dünnen Arme, die ihn abzuwehren versuchen. Tokala hockt in seinem Versteck und sieht, wie der Mann sie gepackt hält und seinen Mund auf ihr Gesicht drücken will und wie sie versucht auszuweichen. Er ist stärker.
»Lass mich los«, ruft sie, als sie ihren Mund endlich wieder frei bekommt.
»Was ist denn? Eine Hure wie du kann doch gar nicht genug kriegen von den Männern, oder?«
Der Mann zwingt sie mit festem Griff zu Boden, ins seichte Uferwasser, das plätschert, als sie versucht, sich zu wehren. Er ist böse, Tokala hat es gewusst.
»Lass mich!«, schreit sie ihn an, doch der böse Mann lässt sie nicht, ihr Schreien geht unter in einem Gurgeln, ihr Kopf muss unter Wasser geraten sein.
Tokala wendet seinen Blick ab. Und sieht eine andere Frau und einen anderen Mann, nicht im See, in einer Hütte, im Schein einer Petroleumlampe. Die Frau blutet über dem Auge, das Gesicht des Mannes ist gerötet, er ist betrunken und wütend, und er schlägt zu und zerreißt ihr das Nachthemd …
Tokala schiebt das Bild weg und schaut wieder zum Seeufer, sieht, wie der Mann dort die Frau bedrängt. Etwas in ihm will eingreifen, doch eine andere Stimme hält ihn zurück. Er hat sich nicht einzumischen in die Welt der Menschen! Wie viele Männer gibt es drüben in der Stadt, die ihren Frauen wehtun? Das ist ihre Welt, und Tokala weiß, dass sie böse ist. Deswegen hat er sie verlassen. Die aus der Stadt mischen sich nicht in seine Dinge, und er mischt sich nicht in die ihren, so funktioniert sein Leben seit Jahren, und es ist das einzige Leben, das er sich vorstellen kann.
Er erträgt den Anblick nicht länger, er muss zurück in seinen Wald, er kann keine Sekunde länger bleiben. Und während er langsam rückwärts schleicht, so wie er es gelernt hat aus den Büchern, sieht er noch, wie der böse Mann an ihrem Sommerkleid zerrt, und hört den Stoff reißen, er sieht, wie der Mann sich auf die wehrlose Frau legt und seinen Hosenschlitz aufknöpft, wie er sie mit dem anderen Arm zu Boden drückt und mit den Knien ihre Schenkel spreizt. Tokala hört sie schreien, und wieder erstickt ein Gurgeln ihren Schrei, als ihr Kopf kurz unter Wasser gerät. Und wieder sieht er die Frau mit dem zerrissenen Nachthemd, ihre leblosen Augen.
Mit diesem Bild im Kopf läuft er fort, läuft in den Wald, läuft so schnell er nur kann, läuft weg von ihrer Welt und ihrer Gewalt, weit weg, so weit es nur geht.
Das Böse ist zurückgekehrt, das Böse, vor dem er einst geflohen ist, vor dem er sich sicher gewähnt hat in seinen Wäldern.
Er rennt und rennt, läuft fort vor seiner Vergangenheit, der er doch nicht entkommen kann. Als er den See schon weit hinter sich gelassen hat, bleibt er endlich stehen, mitten im Wald, und es brüllt und schreit aus ihm heraus, dass ringsum die Vögel aufflattern. So steht er da in seiner Hilflosigkeit und Ohnmacht und schreit.
Es geht nicht! Du kannst nicht an ihrer Welt teilhaben, ohne Schmerz zu erfahren, ohne das Böse zurückzurufen, nicht einmal als Beobachter kannst du das. Dies ist die Lektion, die du gelernt hast. Nun weißt du, bestimmter noch als sonst, warum du dich fernhalten musst von ihrer Welt, warum es das einzig Richtige ist, sich fernzuhalten von ihnen und in den Wäldern zu leben.
2. bis 6. Juli 1932
The sun beating down on dead bodies doesn’t know about the future, doesn’t see the big picture, it just knows where to send the flies.
Ed Brubaker, Sleeper, Season Two, #7
So dunkel und leer hatte Reinhold Gräf den Potsdamer Platz noch nie gesehen. Frühmorgens, Viertel nach fünf, die Leuchtreklamen waren längst erloschen, und die Gebäude, die den Platz säumten, ragten wie schwarze Felsen gegen den Himmel. Der schwarze Maybach, aus dessen Seitenfenster der Kriminalsekretär schaute, war der einzige Wagen auf der sonst viel befahrenen Kreuzung. Nicht einmal der Verkehrsturm war um diese Zeit besetzt, die Ampeln lauerten dunkel hinter dem Glas. Gräf drückte seine Stirn gegen das Autofenster und betrachtete die Regentropfen, die sich auf der Scheibe zu kleinen Bächen sammelten, in die der Fahrtwind blies.
»Da ist doch schon Haus Vaterland«, meldete sich Lange vom Rücksitz, »das mit der Kuppel, oder?«
Gräf antwortete nicht, er ließ den Fahrer halten und klappte das Fenster herunter. Der Schupo, der an der Stresemannstraße im Regen stand, hatte das Mordauto bereits erkannt und trat heran.
»Lieferanteneingang, Herr Kommissar!« Der Uniformierte zeigte in die Köthener Straße und salutierte.
»Kommissar kommt noch«, sagte Gräf. Er klappte die Scheibe wieder hoch und bedeutete dem Fahrer, rechts abzubiegen.
Seine Laune war nicht die beste. Lange war der einzige Beamte, der mit rausgefahren war; der Kriminalassistent hatte ebenfalls Nachtdienst in der Mordbereitschaft. Christel Temme, die Stenotypistin, hatten sie aus dem Bett geklingelt und in Schöneberg abholen müssen. Dann saß noch der Fahrer mit im Wagen, sonst hatte Gräf um diese Uhrzeit, in der Grauzone zwischen Mitternacht und Morgen, niemanden erreicht, nicht einmal einen Kommissar. Obwohl Gereon Rath Rufbereitschaft hatte, war er nicht ans Telefon zu bekommen. Nach vier vergeblichen Versuchen hatte Gräf aufgegeben und war mit Lange ins Mordauto gestiegen, um die Stenotypistin einzusammeln und endlich zum Tatort zu fahren. Die ganze Fahrt über hatten sie sich angeschwiegen, bis Lange das Schweigen mit seiner überflüssigen Bemerkung unterbrochen hatte.
Natürlich war das hier Haus Vaterland. Die Köthener Straße führte sie an der dunklen Rückseite entlang, vorbei an einer endlosen Reihe hoher Rundbögen, notdürftig beleuchtet vom Gaslicht der Straßenlaternen. Einst hatte hier die Ufa residiert, aber dann hatte Kempinski den riesigen Komplex für viel Geld von Grund auf umbauen lassen zu Berlins größtem Vergnügungstempel. Und nun vereinte Haus Vaterland all die Vergnügen unter einem Dach, die der durchschnittliche Tourist aus der Provinz von einem gelungenen Abend in der Weltstadt Berlin erwartete: essen, tanzen, saufen und spärlich bekleidete Revuegirls anglotzen.
Im grellen elektrischen Licht, das aus einem offenen Tor ganz am Ende des Gebäudes fiel, glitzerten die Regenfäden. Der Lieferanteneingang lag so weit von der viel befahrenen Stresemannstraße entfernt wie eben möglich. Zwei Autos standen am Straßenrand, ein heller Lieferwagen mit offener Hecktür und ein dunkelroter Horch. Der Fahrer des Mordautos parkte direkt dahinter, stieg aus und öffnete Gräf die Wagentür.
»Lassense man gut sein, Schröder, ich bin ja nicht der Polizeipräsident.«
»Jawohl, Herr Kriminalsekretär.«
Mathée Luisenbrand, der schmeckt. So stand es auf der Seitenwand des Lieferwagens, der direkt vor dem Eingang parkte, und in kleineren Buchstaben darunter: Herbert Lamkau, Spirituosen. Der Regen wurde immer heftiger, Gräf zog den Hut tiefer.
»Vergiss den Fotoapparat nicht«, blaffte er Lange an, der bereits Anstalten machte, ins Trockene zu kommen. Es hatte ruppiger geklungen, als Gräf beabsichtigt hatte, er wollte nur unmissverständlich klarmachen, wer hier die Ermittlungen leitete, solange der diensthabende Kommissar durch Abwesenheit glänzte. Lange sollte sich bloß nichts einbilden: Kommissaranwärter war kein Dienstgrad, der Mann war nach wie vor Kriminalassistent, und ob er die Prüfung zum Kriminalkommissar schaffen würde, musste sich erst zeigen. So lange jedenfalls hatte Reinhold Gräf den höheren Dienstgrad.
Der Kriminalassistent gehorchte ohne Murren und ging zum Kofferraum des Mordautos, ruckelte einmal daran, ruckelte ein zweites Mal, diesmal heftiger, doch nichts passierte. Gräf kannte das, bei Nässe klemmte die Klappe meistens. Es gab da einen Trick, den hätte sich der Kriminalassistent wohl besser mal zeigen lassen in all den Monaten, die er nun schon am Alex war.
Der Kriminalsekretär umkurvte die Pfützen und ging zum hell erleuchteten Lieferanteneingang hinüber, in dem ein Schupo Wache stand. Der Regen hatte sich in Gräfs Hutkrempe gesammelt und ergoss sich auf den Betonboden, als er den Kopf neigte, um seinen Dienstausweis aus der Westentasche zu fummeln. Der Schupo trat einen Schritt beiseite, um das Wasser nicht auf die Stiefel zu bekommen.
»Melde gehorsamst: Polizeioberwachtmeister Reuter vom sechzehnten Revier, Voßstraße. Uns wurde gegen vier Uhr zweiunddreißig telefonisch ein Leichenfund gemeldet. Haben die Lage in Augenschein genommen und dann unverzüglich die Mordbereitschaft informiert.«
»Schon irgendwelche Erkenntnisse?«
»Keine, Herr Kommissar, nur dass …«
»Kriminalsekretär«, sagte Gräf. »Kommissar ist noch unterwegs.«
»Melde gehorsamst: keine Erkenntnisse, Herr Kriminalsekretär. Außer dass der Mann tot ist.«
Gräf nickte. »Wo liegt sie denn, unsere Leiche?«
Der Tschako zuckte zur Betondecke. »Oben.«
»Auf dem Dach?«
»Im Lastenaufzug. Vierte Etage. Oder dritte. Ist stecken geblieben.«
Gräf schaute sich um. Links waren zwei schmucklose metallene Aufzugtüren zu sehen. Rechts führte eine Betontreppe nach oben.
»Wir haben niemanden mehr mit den Aufzügen hier fahren lassen«, sagte der Schupo, »wegen der Spurensicherung.«
»Sehr gut«, lobte Gräf. Derartige Umsicht war bei Schutzpolizisten nicht selbstverständlich, obwohl Gennat nicht müde wurde, auch den Blauen immer wieder die Grundlagen moderner Polizeiarbeit zu predigen. »Gab’s irgendwelche Probleme deswegen?«
»Nur mit dem Gerichtsmediziner. Der hat geflucht, als er die Treppe hochsteigen musste.«
»Gibt’s denn keine Personenaufzüge?«
»Jede Menge. Aber nicht hier hinten. Weiter vorne im Gebäude, in der Mittelhalle.«
Gräf seufzte und nickte der Stenotypistin zu, die inzwischen auch angekommen war und ihren Regenschirm ausschüttelte. »Wir müssen Treppen steigen, Fräulein Temme«, sagte er und öffnete die Tür. Er sah noch, dass Lange den Kofferraum endlich aufbekommen hatte, bevor er mit der Stenotypistin zur vierten Etage hinaufstiefelte. Eine Handvoll Männer blickte sie an, als sie oben aus dem Treppenhaus traten. Neben dem Schupo, der hier Wache schob, stand ein Wachmann der Berliner Wach- und Schließgesellschaft, daneben ein Mann, der unschwer als Koch zu erkennen war, dann einer im Blaumann und schließlich ein elegant gekleideter drahtiger Herr, dessen sandfarbener Sommeranzug dunkle Regenflecken aufwies. Mit wenigen Blicken verschaffte sich Gräf einen Überblick: hinter ihm die Tür zum Treppenhaus, in der Wand links von ihm zwei Fenster, in der Wand gegenüber die beiden Aufzugtüren. Die linke Doppeltür war geöffnet und gab den Blick in den düsteren Schacht frei und auf ein dickes Drahtseil, an dem die stecken gebliebene Aufzugkabine hing, von der nur die oberen zwei Drittel zu sehen waren. Das Licht in der Kabine brannte noch und beleuchtete einen großen Stapel sperrhölzerner Schnapskisten, die auf einem Gitterwagen standen. Mathée Luisenbrand war in schnörkeligen Buchstaben auf das Holz gebrannt.
Der schmeckt, dachte Gräf und zückte seinen Dienstausweis.
»Was ist denn passiert?«, fragte er in die Runde.
Bevor der Schupo etwas sagen konnte oder sonst jemand, hatte sich der Anzugmann, dessen struppiges Haar davon kündete, dass man ihn aus dem Bett geholt hatte, schon in Bewegung gesetzt.
»Ich kann es mir nicht erklären, Herr Kommissar, es ist alles …«
»Kriminalsekretär«, verbesserte Gräf. »Kommissar kommt gleich.«
»Fleischer, Direktor Richard Fleischer«, sagte der Anzugmann und streckte seine Hand aus. »Ich leite Haus Vaterland.«
»Soso.«
»Ich hoffe, wir können diese unerfreuliche Angelegenheit diskret behandeln, Herr Kriminalsekretär. Und schnell. Wir öffnen in wenigen Stunden, und …«
»Wir werden sehen«, sagte Gräf.
Direktor Fleischer wirkte irritiert. Er war es offenbar nicht gewohnt, unterbrochen zu werden. Schon gar nicht zweimal hintereinander.
»All unsere Fahrstühle«, fuhr er fort, »auch die Lastenaufzüge und selbst die Speiseaufzüge werden regelmäßig gewartet, zuletzt vor einem Vierteljahr. Immerhin haben wir siebzehn Aufzüge in unserem Haus und können uns nicht erlauben, dass …«
»Aber stecken geblieben ist er, Ihr Lastenaufzug, oder?«
Fleischer wirkte beleidigt. »Das sehen Sie ja selbst«, sagte er. »Aber dadurch ist Herr Lamkau nicht ums Leben gekommen.«
»Solche Schlussfolgerungen überlassen Sie mal der Kriminalpolizei. Sie kennen den Toten?«
»Nicht persönlich. Einer unserer Lieferanten.«
Gräf nickte und betrachtete die Aufzugkabine, in der sich ein Schatten bewegte. Neben der Schnapslieferung erhob sich eine hagere Gestalt in einem weißen Kittel, und ein blond gescheitelter Kopf schaute aus der Kabine. Obwohl Doktor Karthaus fast eins neunzig maß, war von ihm nur ein Brustbild zu sehen. Es sah aus wie im Kasperletheater.
»Na, wenn das mal nicht die Kripo ist!«
Karthaus’ Worte klangen metallisch hohl aus dem Schacht.
»Herr Doktor! Erstaunlich, dass Ihr Horch immer schneller ist als das Mordauto!«
»Beschweren Sie sich nicht. Seien Sie froh, dass ich Dienstbereitschaft habe. Doktor Schwartz hätte sich geweigert, hier reinzuklettern. Hätte er in seinem Alter wahrscheinlich auch gar nicht mehr geschafft.«
»Tja«, sagte Gräf, »die Würde des Alters lässt sich mit dem, was wir hier tun, nicht immer vereinbaren.«
»Da haben Sie recht«, meinte Karthaus, »trotzdem würde ich lieber arbeiten, als hier nur Däumchen zu drehen.«
Gräf ging hinüber und schaute in die Kabine. Der Tote lag neben seiner Lieferung und steckte in einem hellgrauen Krämerkittel. Sein Gesicht war bleich, die Lippen blau. Über ihm war ein rotes Tuch an das Gitter geknotet, der Stoff schien wasserdurchtränkt zu sein. Auch die Haare glänzten nass, die Schultern ebenfalls, der Stoff des Kittels hatte sich an den Schultern dunkelgrau gefärbt, und rings um den Kopf waren noch die Spuren einer Wasserlache und eines Rinnsals zu erkennen, das zur Aufzugsecke hin abgeflossen war.
»Ist noch in den Regen gekommen, was?«
Der Gerichtsmediziner zuckte die Achseln. »Das müssen Sie die Spurensicherer fragen. Ich hoffe, die kommen bald, damit ich endlich loslegen kann.«
»Sind unterwegs.«
»Und wo bleibt der Kommissar?«
»Kommt Zeit, kommt Rath«, sagte Gräf. Er zeigte zur Tür, wo sich die Spitze eines Kamerastativs aus dem Treppenhaus schob. »Jetzt kommt erst einmal der Kollege Lange und macht Fotos. Und danach dürfen Sie an die Leiche.«
Lange, der Kamera und Stativ geschultert hatte, schaute fragend in die Runde. Gräf nickte nur kurz in Richtung Aufzug, und der Kriminalassistent verstand.
»Morgen, Doktor«, sagte Lange und ließ das schwere Gerät in die Aufzugskabine hinab, »könnten Sie das vielleicht mal annehmen?«
Gräf wandte sich wieder den wartenden Zeugen zu. »Wer hat den Toten eigentlich gefunden?«
Der Koch hob die Hand wie in der Schule. »Ich, Herr Kriminalsekretär.«
»Herr Unger ist einer unserer Chefköche«, soufflierte Direktor Fleischer.
Gräf ging es mehr und mehr auf den Wecker, wie der Geschäftsführer sich in den Vordergrund drängte. »Wo waren denn Sie, als die Leiche gefunden wurde, Herr Direktor?«, fragte er.
»Ich?« Fleischer stutzte. »Natürlich zu Hause. Wieso wollen Sie das wissen?«
»Ehrlich gesagt wundert es mich, dass sich der Direktor persönlich zu dieser Uhrzeit schon im Gebäude aufhält.«
»Aber ich bitte Sie! Es wurde ein Toter gefunden! Der Wachdienst hat mich selbstverständlich umgehend benachrichtigt, also bin ich hergekommen.«
»Sehr lobenswert«, sagte Gräf und nickte anerkennend. »Ich nehme aber an, die anderen Herren hier waren vor Ort, als die Leiche gefunden wurde.«
Wachmann, Koch und Blaumann nickten.
»Gut. Dann werde ich Sie als Erstes befragen. Wo kann man sich denn hier in Ruhe unterhalten?«
»Ich … ähh … Ich könnte Ihnen mein Büro anbieten«, sagte Direktor Fleischer, sichtlich überrumpelt.
»Gute Idee. Steht dort auch ein Telefon?«
»Selbstverständlich.«
»Dann führen Sie mich und Fräulein Temme doch bitte dorthin. Und lassen Sie alle Mitarbeiter zusammentrommeln, die zum Zeitpunkt des Leichenfundes im Hause waren.«
Fleischer nickte und setzte sich in Bewegung. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen. Wir müssen zwei Etagen tiefer.«
Aus dem Lastenaufzug blitzte es. Lange hatte mit dem Fotografieren begonnen. Gräf seufzte. Jetzt musste er nur noch herausbekommen, wo zum Teufel Gereon Rath sich gerade herumtrieb, dann würde der Tag vielleicht doch zu retten sein.