Matthias Lohre
Der Film-Verführer
Warum Frauen Action lieben und Männer Romantik wollen
Fischer e-books
Covergestaltung: grape.media.design., München
Coverabbildung: fotolia, iStockphoto
Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402636-7
Seit ich Schlaflos in Seattle gesehen habe, weiß ich, wie wir alle die große Liebe finden können. Die Idee ist, wie alle genialen Ideen, im Kern einfach. Und das Beste daran: Um den passenden Menschen zu finden, muss niemand wie Meg Ryan eine nächtliche Radiosendung hören, in der einer wie Tom Hanks zögerlich von seiner verstorbenen Frau erzählt. Damit hätte ich ein Problem. Schließlich bin ich ein Mann auf der Suche nach einer Frau, was soll ich da mit einem Witwer? Es braucht auch niemand seinem kleinen Sohn nach New York hinterherzufliegen, der ausgebüxt ist, um seine neue Mama auf der Aussichtsplattform des Empire State Buildings zu treffen. Ich zumindest will die perfekte Frau ja erst kennenlernen, mit der ich ein Kind bekomme, das meine Nerven strapaziert. Nein, die Sache ist viel einfacher. Wer hätte gedacht, dass man beim Suchen und Finden der Liebe auch bequem sitzen und Popcorn essen kann? Aber der Reihe nach.
Vordergründig geht es bei Schlaflos in Seattle ja um die Frage, ob Tom Hanks und Meg Ryan zueinander finden – entgegen aller Wahrscheinlichkeit und über Tausende Kilometer hinweg. Es ist eine typische, perfekt inszenierte Romantische Komödie. Aber jeder gute Hollywoodfilm ist mehr als die Summe seiner Drehbucheinfälle und Schauspielleistungen. Ein Meisterwerk seines Genres bringt etwas in Menschen zum Schwingen, von dem sie oft selbst nicht wissen, was es ist. Es lässt sie ahnen, was sie fürchten und wünschen. So war es auch bei mir, als ich neulich Schlaflos in Seattle guckte.
Es war später Abend, ich sah allein fern. Mehr brauche ich wohl kaum zu sagen, um klarzumachen, dass ich schlechte Laune hatte. Meine Freundin und ich hatten uns kurz zuvor getrennt, grässliche Streitereien und noch grässlicheres Schweigen inklusive. Der Eisberg, der unserer Beziehung den tödlichen Stoß versetzte, hieß Titanic 3D. Von diesem Schiffbruch erzähle ich gleich, vorher aber zu Schlaflos in Seattle.
Im Fernsehen war gerade zu sehen, wie Sam (Tom Hanks) nach dem Krebstod seiner Frau versucht, ins Leben zurückzufinden. Spätestens da hätte ich auf einen Film für Männer umschalten müssen, aber sogar dafür war ich zu deprimiert. Und in diesem Moment kommt Annie (Meg Ryan). Sie macht sich zu Filmbeginn daran, ihren netten, aber langweiligen Freund zu heiraten. Annie redet sich ein, als Frau in den Dreißigern müsse sie ihre Jungmädchenträume von der großen Liebe aufgeben.
»Schicksal«, sagt Annie ihrer Mutter, »ist etwas, das wir erfunden haben, weil wir den Gedanken nicht ertragen können, dass alles, was passiert, reiner Zufall ist.«
Ich legte die Fernbedienung aus der Hand. Genau, dachte ich, so ist es! Wir können nicht darauf warten, dass der perfekte Mensch an der Tür klingelt nach dem Motto: »Dingdong, du hattest die große Liebe bestellt. Hier bin ich. Oh, du guckst Schlaflos in Seattle. Hast du noch Platz auf der Couch? Ich hab’ auch Choco Crossies.«
Wer die große Liebe finden will, muss etwas dafür tun. Aber was? Ich schaute auf die DVD-Hülle. Darauf stand: »Stell Dir vor, jemand, den Du nie getroffen hast, den Du nie gesehen hast, den Du nie kennengelernt hast, ist die Liebe Deines Lebens.« (Okay, ich geb’s zu: Ich habe den Film nicht zufällig im Fernsehen gesehen, ich habe die DVD in der Videothek ausgeliehen. Bitte nicht meinen männlichen Freunden erzählen.) Mir wurde klar, dass tief in mir große Unruhe herrschen musste, wenn eine Romantische Komödie es schafft, mich derart zu berühren. Irgendwo verbarg sich eine ungestillte Sehnsucht, und sie scherte sich einen Dreck darum, ob ein Film kitschig ist oder nicht. Die perfekte Frau für mich mochte da draußen sein, und ich saß allein zu Hause und hatte nicht mal Choco Crossies. Das musste sich ändern. Vielleicht verhält es sich mit dem Schicksal wie mit Marmelade: Selbst gemacht ist es am besten. Aber wie helfe ich dem Lebensglück nach? Dann kam diese unscheinbare Filmszene.
Annie eilt zu ihrem älteren Bruder. Sie ist verwirrt, ihr geht die Stimme aus der nächtlichen Radiosendung nicht aus dem Kopf: die Stimme des Witwers Sam. Annie fragt ihren Bruder, ob es tatsächlich sein könne, dass sie verliebt ist in einen Mann, den sie gar nicht kennt. Ihr Bruder antwortet ruhig:
»Wenn du dich zu jemandem hingezogen fühlst, heißt das nur, dass dein Unterbewusstsein sich von dem anderen Unterbewusstsein angezogen fühlt – unterbewusst. Also ist das, was wir Schicksal nennen, das Bewusstsein zweier Neurosen, dass sie perfekt zusammenpassen.«
Es war gut, dass meine große Liebe noch nicht neben mir auf der Couch saß, denn mein Mund stand offen. Etwas in mir wusste: Das ist es. Das ist die Lösung der Probleme bei der Partnersuche. Die Lösung meiner Probleme. Dass ich nicht früher darauf gekommen bin! Dabei hatte ich die Antwort die ganze Zeit direkt vor meinen Augen.
Filme beeinflussen uns weit mehr, als wir verstehen. Sie verbinden sich mit unseren Hoffnungen, Ängsten und Sorgen, ohne dass wir es ganz begreifen. Sie prägen unseren Blick auf die Welt. Romanzen beispielsweise haben großen Einfluss darauf, welche Bilder in unseren Köpfen entstehen, wenn wir an Verliebtheit, Liebe und Heirat denken. Als Victoria von Schweden im Jahr 2010 heiraten wollte, gab es ein Problem. Die Kronprinzessin bestand darauf, dass ihr Vater, König Carl XVI. Gustaf, sie durchs Kirchenschiff bis zum Altar begleitete, wo ihr Bräutigam auf sie wartete. Eine typische Hollywood-Situation, bekannt etwa aus Vater der Braut mit Spencer Tracy und Elizabeth Taylor. Das Abba-Musical Mamma Mia! handelt sogar größtenteils von der Suche einer Braut nach ihrem unbekannten Vater, damit dieser sie zum Altar geleitet. Doch dieser Akt der Übergabe war in dem skandinavischen Land unüblich. Es gab Streit. Die protestantischen Kirchenoberen und große Teile der Bevölkerung sahen darin einen archaischen, unemanzipierten Brauch: den symbolischen Übergang des väterlichen »Eigentums« in das des Bräutigams. Diese amerikanische Sitte sollte nicht Einzug in das schwedische Königshaus halten! (Ins Musical einer schwedischen Popband hatte es das ja schon geschafft.) Doch Victoria bestand darauf. Man einigte sich auf einen Kompromiss: Carl XVI. Gustaf begleitete seine Tochter bis zur Mitte des Kirchenschiffs. Dort übergab er sie an seinen künftigen Schwiegersohn, und der schritt mit der Prinzessin zum Altar. Es war ein Kampf zwischen Hollywood auf der einen Seite, jahrhundertealten Kirchentraditionen und einem europäischen Königshaus auf der anderen. Punktsieg für die Traumfabrik.
Die Macht der Bilder reicht aber viel weiter. Bei den Anschlägen vom 11. September 2001 war die erste Reaktion vieler Menschen: »Das ist ja wie im Film.« Wir hatten Szenen einer Katastrophe im Kopf, die sich noch gar nicht ereignet hatte. Als die beiden Türme des World Trade Centers in New York zusammenbrachen, Menschen vor den herabstürzenden Trümmern flohen und kurz darauf der US-Präsident ernste Worte in eine TV-Kamera sprach, da schien das Leben Hollywood zu imitieren. Nicht umgekehrt.
Filme sind mächtig, weil sie uns Bilder einprägen können. Das gelingt ihnen aber nur, wenn sie dabei an etwas rühren, was bereits in uns schlummert. »Im Laufe eines Tages sind wir mehrmals in das Entstehen und Vergehen kompletter Seelenwelten einbezogen«, schreibt Dirk Blothner in seinem Buch Erlebniswelt Kino. Blothner ist Medienpsychologe und Psychotherapeut, er analysiert, warum und wie Filme auf uns wirken. Sie hinterlassen einen bleibenden Eindruck, wenn sie unser Unbewusstes ansprechen. Auch in alltäglichen Situationen geraten wir ständig »in die Dramatik von Gelingen und Verfehlen, von Sieg und Niederlage, Ordnung und Chaos, Treue und Verrat. Jeden Tag aufs Neue«, schreibt Blothner. Im Büro gibt es Streit, jemand nimmt uns die Vorfahrt, oder der Blick eines Menschen auf der Straße irritiert uns. An das meiste erinnern wir uns schon bald nicht mehr. Das Unbewusste aber vergisst nicht, es kennt weder Vergangenheit noch Zukunft. »Das Kino ist ohne diesen zugleich erregenden und beängstigenden Alltagsbetrieb nicht zu verstehen. Es erwächst aus ihm«, schreibt Blothner. »Im Kino haben wir die dramatische Lebenswirklichkeit noch einmal vor Augen. Es eröffnet Wirkungswelten mit Herz. So wie unser Leben von Momenten wie Aufbrechen, Eindringen, Siegen, Verwirrung, Angst, Glück und Abschied bestimmt wird, so suchen wir diese Erlebnisse im Kino. Wir wollen sie immer wieder erfahren. Wir wollen den Wegen des Lebens folgen – Sieg und Vereinigung in gesteigerter Intensität, Trennung und Verlust in ungewöhnlicher Tiefe erleben. Wir möchten im freieren Raum der fiktionalen Unterhaltung ausprobieren, was wir uns im realen Leben nicht (zu)trauen. Wir benutzen das Kino, um zu erfahren, was uns lieb und teuer ist, und um unsere Grenzen kennenzulernen.« Hier kommt Schlaflos in Seattle ins Spiel. Annies Bruder Dennis sagt: »Was wir Schicksal nennen, ist das Bewusstsein zweier Neurosen, dass sie perfekt zusammenpassen« – unbewusst. Beim Sich-Verlieben verstehen zwei Menschen also gar nicht, was sie am Gegenüber so anziehend finden. Etwas in ihnen aber weiß es genau. Bekanntlich erweisen sich Beziehungen als besonders stabil, die auf Gemeinsamkeiten, nicht auf Unterschieden beruhen. Auf lange Sicht halten Menschen es nur mit ähnlich Gesinnten aus. Wie aber lässt sich herausfinden, welche Neurosen, Ängste, Sehnsüchte und Vorlieben ein Mensch hat und ob sie zu meinen passen, ohne viel Geld fürs Bestechen seines Psychotherapeuten auszugeben? Jemanden direkt zu fragen nützt häufig wenig; schließlich kennen die meisten Menschen sich selbst schlechter, als sie glauben. Und gegenüber anderen malen sie von sich oft ein Bild, das zu charmant ist, um wahr zu sein. (Abgesehen von mir. Ich bin ganz objektiv ein toller Typ.) Wenn Menschen eine Beziehung eingehen, brauchen sie oft Monate, gar Jahre, um zu verstehen, dass sie sich im Partner getäuscht haben. Beispielsweise, wenn ein Mann – ein objektiv toller Typ – erfährt, dass seine Freundin seine Leidenschaft für Filme gar nicht teilt. Jetzt aber habe ich die perfekte Abkürzung zum Glück gefunden.
Meine Idee: Der effizienteste und kurzweiligste Partnerschaftstest, den es gibt, ist ein gemeinsamer Kino- oder DVD-Abend. Nichts verrät so untrüglich wie ein beiläufiger Blick in die Augen des Sitznachbarn, was diesen Menschen im Innersten bewegt. Lächelt er oder sie unwillkürlich im selben Moment wie ich? Oder gähnt da etwa jemand während meiner Lieblingsszene? Hält mein Date meinen Leinwandhelden für einen Trottel? Ein Kichern und ein Seufzen an der richtigen oder falschen Stelle sagen eine Menge aus. Auch ein Plausch über Filme verrät viel. Ein Spielfilm ist wie ein Lügendetektor. Wir können ihn nicht überlisten, weil wir oft nicht mal ahnen, was das Leinwandgeschehen in unserem Unbewussten berührt. Das Es mag pulsen und beben, und wir bekommen es kaum mit. Ein Filmabend ist ein Lügendetektortest, bei dem man zwischendurch aufs Klo gehen kann. Mich beispielsweise bewegt weniger die Frage, ob die von Meg Ryan und Tom Hanks gespielten Figuren tatsächlich zueinander passen. Mein Unbewusstes schert sich auch nicht darum, ob die Schauspieler große Stars oder Nobodys sind. Viel wichtiger ist, dass die Leinwandhelden stellvertretend für mich ihre Hoffnungen erhalten und Widerstände überwinden. Wenn die beiden es schaffen, sagt etwas tief in meinem Hirn, dann kann ich es auch. Wenn Annie und Sam am Ende zueinander kommen, habe auch ich eine Chance, die große Liebe zu finden. Zugegeben: Es ist kein gutes Gefühl zu merken, dass ich die Erfüllung meines Lebensglücks in die Hände fiktiver Figuren einer überzuckerten Hollywood-Romanze lege. Aber Schlaflos in Seattle ist nur der Auslöser. Jetzt nehme ich die Sache in die Hand.
Ich drückte auf die Stoptaste der Fernbedienung, und auf dem Fernseher gefror das Bild des einsamen Tom Hanks, der nachts vor seinem Hausboot auf einem Stuhl hockt. Anders als die Figur im Film stand ich auf. Ich warte nicht mehr auf das Schicksal. Das ist doch bloß etwas, was wir erfunden haben, weil wir den Gedanken nicht ertragen können, dass alles, was passiert, reiner Zufall ist.
Ich mache mich auf, die Frau fürs Leben zu finden. Wie Männer so sind, habe ich dabei einen Plan: Ich werde gezielt Frauen kennenlernen und mit ihnen über Filme plaudern. Ich werde sie zum Kino- oder DVD-Abend einladen. Und ich werde schneller denn je verstehen, ob eine von ihnen wirklich zu mir passt. Wer die unbewusste Wirkung von Filmen begreift, der begreift auch die Charaktere derer, die sie schauen. Das Verständnis von Lieblingsfilmen ist der Königsweg zum Herzen moderner Menschen – Frauen wie Männer. Womöglich ist die Liebe meines Lebens jemand, den ich nie getroffen habe, den ich nie gesehen habe, den ich nie kennengelernt habe. Doch Liebe überwindet derlei Kleinigkeiten. Hab’ ich im Kino gesehen.
Hoffnung ist angeblich die letzte Zuflucht der Schwachen. Wenn das stimmt, geht es mir noch schlechter, als ich dachte. Denn ich habe nicht mal mehr Hoffnung. Es ist der Abend vor meiner Eingebung, wie ich die große Liebe finde. Ich gehe mit der Frau, von der ich einmal dachte, sie könne die große Liebe werden, ins Kino. Retten, was nicht zu retten ist. Letztlich ist mir klar, dass aus Tina und mir kein glückliches Paar mehr werden kann. Wir haben einfach zu wenig gemein. Seit acht Monaten sind wir ein Paar, seit schätzungsweise sieben Monaten füllen wir unsere Treffen mit Streitereien, und wir wüssten nicht einmal genau zu sagen, worum es dabei geht. Manchmal kommt es mir vor, als seien unsere Dates Verabredungen zum Kampf. Wir treffen uns, der eine sagt irgendetwas, der andere fühlt sich aus irgendeinem Grund angegriffen, und los geht das Geschrei. Eine desolate Paarbeziehung, präzise aufeinander abgestimmt wie eine Schweizer Kuckucksuhr. Aber statt eines Vogels, der »Kuckuck« ruft, kommen zu festgelegten Zeiten Tina und ich aus dem Doppeltürchen und meckern. Diese Beziehung ist ein sinkendes Schiff. Dummerweise erkennen Menschen die Wahrheit ja häufig erst an, nachdem alle anderen Möglichkeiten erschöpft sind.
Wenn uns irgendein Film daran erinnern kann, was wir aneinander haben, dann dieser. Das sage ich natürlich nicht laut, sondern denke es nur, während Tina und ich unsere Plätze im dunklen Kinosaal suchen. Als wir uns in die Sessel fallen lassen, brüllt die Werbung los. Auch gut, denke ich, dann brauchen wir uns nicht zu unterhalten. Wir gucken Titanic in der digital überarbeiteten Version. Die Geschichte einer aussichtslos erscheinenden, aber großen Liebe. Der Versuch zweier Menschen, sich selbst und den geliebten Menschen aus unentrinnbar scheinenden Zwängen zu befreien. Und das Ganze in 3D. Wen lässt so was kalt?
»Ich stehe ja nicht so auf 3D«, sagt Tina, als sie die sperrige, schwarze Brille aufsetzt. »Erst recht bei alten Filmen. Warum bringt man Titanic, der auch ohne so’n Schnickschnack total erfolgreich war, noch mal ins Kino?«
Ich könnte jetzt antworten: Weil »so ’n Schnickschnack« jede Menge Geld einspielt. Die digitale Nachbearbeitung, um das Dreistundenwerk in 3D darzustellen, mag zwar 60 Wochen und 18 Millionen Dollar gekostet haben. Dafür muss das Studio aber keine teure Werbekampagne starten, den Film kennt ja eh jeder. Und noch ist die 3D-Technik etwas, was sich nicht einfach illegal von Internetseiten herunterladen lässt. Wer das dreidimensionale Erlebnis will, muss zahlen. Aber allein wegen tiefenscharf dargestellter Smokings und Abendkleider geht niemand ins Kino. Technische Raffinesse erklärt nicht den Erfolg des Dramas. Es geht um Gefühle. Und Gefühle, so viel weiß ich über Frauen, sollten Männer ernst nehmen. Oder, wie in Tinas Fall, deren Abwesenheit.
»Okay, technisch kommt der Film vielleicht nicht an Avatar ran«, sage ich. »Aber der James-Cameron-Blockbuster wurde ja von vornherein in 3D gedreht. Und anders als dieses ›Pocahontas im Weltall‹ hat Titanic Herz.« Tina seufzt. Ein gutes Zeichen. Sie denkt bestimmt: Mensch, mein Freund ist nicht so ein kalter Klotz, kein Eisberg, der …
»›Herz‹?«, fragt Tina.
»Na, du weißt schon. Die Geschichte einer großen, tragischen Liebe. Armer, aber schöner und lebenshungriger Draufgänger trifft reiche, aber in Konventionen gefangene, junge Frau, die des Geldes wegen einen bösen Mann heiraten soll. Die beiden lernen voneinander, was es heißt, zu leben, und …«
»… und zu sterben!« Tina lacht laut auf. »Wenigstens«, ruft sie mit einem Blick, den ich wohl kaum erklären muss, »hatten die beiden vorher schmutzigen Sex auf’m Autorücksitz!« Grummeln in der Sitzreihe hinter uns.
Ich blicke Tina von der Seite an. Ein wichtiger Grund, weshalb wir uns seit acht Monaten die Streitereien antun, ohne entnervt aufzugeben, ist starke körperliche Anziehung. Unzufriedenheit über zu wenig oder schlechten Sex ist für uns nie Anlass für Streit gewesen, im Gegenteil: Sex war oft die Lösung. Zumindest bis zum nächsten Streit.
Tinas Gesicht ist erhellt vom strahlenden Licht der Abschiedsszene in Southampton: An einem sonnigen Frühlingstag im Jahre 1912 gehen mehr als 2200 Menschen an Bord des damals größten Schiffes der Welt. Jubel, Uniformen, schöne Kleider, rauchende Schornsteine. Zwei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs birgt die Zukunft das Versprechen auf ein schöneres Leben für fast alle. Die Titanic, kurz vor ihrer ersten Atlantiküberquerung, wird inszeniert als dessen glanzvolle Einlösung. Tina scheint das weniger zu beeindrucken. Ihr Gesicht leuchtet auch deshalb, weil das Display ihres Smartphones so hell ist. Sie verschickt eine SMS.
»Das Geniale an der Szene«, sage ich leise, »ist die perfekte Nutzung von Technik. Nur ein Teil der Schiffswand ist echt, der Rest stammt aus dem Rechner. Außerdem gab es nur eine Bordwand. Für die Szene brauchten sie die andere. Da haben sie einfach alle Beschriftungen spiegelverkehrt aufgeklebt und in der Postproduktion das Bild gespiegelt. Und das Tageslicht strahlt nicht in England, sondern in Mexiko. Alles ist Fake – und wirkt doch echt.«
»Hmm.«
»Krass, oder? Alles strahlt Aufbruchstimmung aus. Aus Technik wird Emotion. Wie bei der Titanic selbst.«
Ich freue mich, dass ich mich über so etwas dermaßen freuen kann. Tina scheine ich damit beeindruckt zu haben, jedenfalls lässt sie endlich ihr Handy sinken und schaut mich mit großen Augen an.
»Du bist verknallt in Titanic«, sagt sie ungläubig. Irgendwas läuft hier schief.
»Pfffffft, doch nicht verknallt«, sage ich mit einem Achselzucken. »Mich reizt die technische Umsetzung des Films. Und die perfekte Dramaturgie. Es ist ja nicht leicht, die Leute für einen Film zu begeistern, wenn jeder weiß, wie die Sache ausgeht. Mittlerweile hat sich ja ’rumgesprochen, dass die Titanic gesunken ist. Aber Cameron hat es geschafft, drumherum eine Geschichte zu erfinden, die alles verbindet: Explosionen und dampfende Maschinen für die Männer, und eine tragische Romanze für die Frauen.«
»›Für die Frauen‹?«
»Na ja, also …« Jetzt bloß nicht in Stereotypen verfallen. Nach dem Motto: Männer sind so, Frauen so.
»Ehrlich gesagt«, erklärt Tina, ohne die Stimme zu senken: »Das Schicksal von Jack und Rose ist mir ziemlich schnurz.«
»Uns aber nicht«, sagt eine ungehalten klingende Männerstimme hinter uns. »Wenn ihr den Film nicht gucken wollt, dann geht doch bitte raus.«
»Habt ihr etwa Angst, ihr könntet was Wichtiges verpassen?«, fragt Tina laut. »Ich verrat’ euch was: Am Ende verrecken fast alle.«
Wieder dieses grollende Lachen. Aus irgendeinem Grund erinnert es mich an die drohende Katastrophe auf der Leinwand. Glücklicherweise ist nur eins von beiden in Dolby Surround.
Wie kann jemand nicht beeindruckt sein von dieser perfekten Symbiose filmischer Mittel, von Action- und Liebesgeschichte? Millionen Frauen haben sich identifiziert mit Rose DeWitt Bukater, der siebzehnjährigen Tochter aus gutem, aber verschuldetem amerikanischen Hause, die einem Leben an der Seite eines reichen, aber herzlosen Mannes entgegensieht. Rose, gespielt von Kate Winslet, durchlebt stellvertretend für die Zuschauerinnen die Entwicklung vom pubertierenden und verwirrten Mädchen zu einer selbstbewussten Frau. Rose lernt, sich von ihrer vereinnahmenden Mutter zu lösen, und entscheidet selbst über ihren Lebensweg. Die Begegnung mit dem Herumtreiber Jack Dawson geschieht passenderweise in dem Moment, in dem Rose beschlossen hat, lieber in den Tod zu stürzen, als sich den Konventionen ihres sozialen Milieus zu beugen. Mit Hilfe Jacks (Leonardo DiCaprio) lernt sie, einen vom Elternhaus unabhängigen Weg zu gehen. Sie emanzipiert sich als Frau und lernt die Liebe kennen. Wie kann Tina davon nicht beeindruckt sein? Erst recht, da sie selbst fast noch ein Teenager war, als der Film im Januar 1998 das erste Mal in die deutschen Kinos kam. Ich gebe nicht auf. Die nächste Szene kann auch Tina nicht kalt lassen.
Jack und Rose stehen gemeinsam am Schiffsbug, Jack hält Rose zärtlich fest, als diese, die Arme ausgebreitet, gen Horizont blickt. Ihre sexuelle und gedankliche Befreiung erreicht einen ersten Höhepunkt. Auf der Jungfernfahrt (!) rast sie in ein neues, freieres Leben. Tinas Gesicht flammt rot und blau auf: Die Farben der Meeresoberfläche unter und des Sonnenuntergangs vor ihr spiegeln sich darin. Der gesamte Film ist geprägt von in Blau- und Rot-Tönen gehaltenen Szenen. Rot steht für Leben, Emotion, Aufbruch. Etwa in der Liebesszene im Auto, die Tina offenbar so mag. Blau steht für Erstarrung, Kälte und Gefahr, beispielsweise beim Zusammenstoß mit dem Eisberg. Dass in der Bugszene beides verbunden wird; dass Farben das Entstehen eines vollwertigen, Kontrolle und Leidenschaft verbindenden Menschen symbolisieren; dass sich dabei das Versprechen der Freiheit und die Drohung der Verletzung vermengen und einen Rausch erzeugen – welche Frau berührt das nicht?
»Warum ist nicht die dicke Winslet ertrunken?« Wer in die atemlose Stille des Kinos hinein diese rhetorische Frage stellt, muss ich wohl kaum erwähnen.
»Im Ernst«, sagt die immer genervtere Stimme hinter uns, »hier sitzen zufällig noch ein paar Leute mit Sinn für Romantik. Wenn ihr keinen Bock auf den Film habt, dann geht doch vögeln.«
»Eins nach dem anderen«, sagt Tina und schaut mich wieder auf eine Weise an, dass mein Gehirn kribbelt.
Mir dämmert, dass mein Plan für den Verlauf des Abends gerade zerfällt. Frau + Liebesdrama = Romantik? Nicht mit Tina. Meine Freundin scheint gegen Emotionen immun zu sein. Aber ein neuer Plan tut sich auf: Frau + Mann = Sex. Oder bin ich da zu rationalistisch, wie die Erbauer und Passagiere der Titanic? Habe ich gedacht, die technische Finesse der 3D-Animationen würde Tina beeindrucken und eine mir bislang unbekannte Seite an ihr zum Vorschein bringen? Am schwierigsten, sagten die Produzenten der dreidimensionalen Version, waren die Close-Ups und Szenen, in denen viel Kleinteiliges zu sehen ist, wie etwa ein Abendessen auf dem Oberdeck. Da stehen zwölf Gläser auf dem Tisch, und jedes muss in der richtigen Perspektive angeordnet werden. Ich habe geglaubt, mein Date wie eine mathematische Gleichung angehen zu können. Und dabei habe ich eines vergessen: den Faktor Mensch. Deshalb habe ich den Eisberg, der alle Planungen ins Wanken bringt, nicht früh genug gesehen. Mein verhängnisvolles Hindernis heißt Tina. Zumindest können dieser Eisberg und ich Sex haben. Dazu muss ich jetzt dasselbe tun wie Rose: bis zum Ende durchhalten. Für mich heißt das: bloß keinen Streit mit Tina anzetteln, egal, was sie sagt.
Nach der Hälfte des Films nimmt die Katastrophe ihren Lauf – auf der Leinwand wie im Kinosaal. Ich entgegne nichts, als meine Eisklotz-Nachbarin nach und nach jede Filmszene mit ihren Kommentaren belegt. Tapfer schweige ich, während Jack und Rose durchs sinkende Schiff irren, auf der Flucht vor Roses wütendem, extrem unsympathischem Verlobten, und Tina urteilt, diesen Schauspieler würde sie »nicht von der Bettkante schubsen«. Ich atme tief durch, als Offiziere und Heizer auf dem sinkenden Schiff weiterarbeiten, so ihr Leben für andere opfern und Tina kommentiert, das sei ja »schön blöd von diesen Fraggles«. Und ich räkle mich nur ein wenig im Sessel, als sie mäkelt, ein dahergelaufener Straßenjunge aus Wisconsin (Jack) könne doch niemals wissen, wie man sich beim Untergang eines Ozeandampfers verhält: »Hallo? Drehbuch?« Dabei ist Jack weit mehr als die Projektionsfläche für Begierden weiblicher Zuschauer. Er ist ein junger Mann, der die Welt entdeckt, in Paris Prostituierte zeichnet und mit irischen Auswanderern ausgelassen im Schiffsbauch tanzt. Er lebt und kümmert sich nicht um die Erwartungen anderer. Ein ausgefülltes Leben ist ihm wichtiger als materieller Erfolg. Titanic ist auch ein Männer-Film.
Das Schiff sinkt immer schneller. Jack und Rose klettern aufs hoch in der Luft schwebende Heck und blicken gemeinsam in den Abgrund: aufs schwarze, kalte Meer und die hinabstürzenden Menschen. Die Kamera rast mit den beiden in die Tiefe, die Identifikation mit Jack und Rose lässt sich kaum noch steigern. Ihre Angst wird zur Angst der Zuschauer, erst recht in 3D. Es ist, als erblickten sie alle gemeinsam den gleichgültigen, dröhnenden Tod selbst. Ein Angriff auf menschliche Urängste, der niemanden kaltlassen kann.
»Ich geh’ kurz für kleine Überlebende«, sagt Tina, und hiermit nehme ich meine jüngste Annahme zurück.
»Bleib am besten gleich draußen«, sagt die Männerstimme hinter uns. Und eine weitere, zwei Reihen weiter vorn, ergänzt: »Wenn diese Frau Leo noch einmal ›schwule Kartoffel‹ nennt, schrei’ ich.«
Da habe ich eine Idee.
»Lass uns gehen«, sage ich zu Tina. »Die Leute hier haben echt keine Ahnung. Wir müssen uns von denen nicht beschimpfen lassen.«
Genial: Endlich hört sie auf, über diesen Meilenstein der Filmgeschichte zu lästern, und ich bin der galante Begleiter, der seinen Mann steht. Als wir in der Dunkelheit unsere Jacken greifen, lächle ich: Wieder mal habe ich alles richtig gemacht. Als wir dem Ausgang zustreben, erfrieren auf der Leinwand gerade mehr als eintausend Menschen im Wasser des nächtlichen Nordatlantiks. Da scheint es doch eher unpassend, dass einige Zuschauer unserem Abgang applaudieren.
»Boah, endlich draußen«, sagt Tina, als wir unsere Jacken anziehen. »Nur gut, dass wir nicht mehr zuschauen mussten, wie die Matrone den Hänfling nicht aufs rettende Holzstück lässt.«
Wann hört sie endlich auf zu reden?
»Trotzdem schade, dass wir nicht bis zum Ende drin waren. Dann läuft ja ›My Heart Will Go On‹. Das ist mal romantisch!« Mit offenem Mund forsche ich nach Spuren von Ironie in Tinas Gesicht. Das Suchergebnis gefällt mir gar nicht. »Aber DiCaprio war schon großartig in diesem Behinderten-Film«, sagt Tina. Ich schöpfe Hoffnung.
»Du meinst Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa?«
»Genau. Wie er da diesen geistig behinderten Bruder von Johnny Depp spielt, das war so, so …« Tina schaut in die Luft, als schwebe dort die Antwort.
Sag’ es: Es war so bewegend. So traurig. Großartig gespielt. DiCaprios erste, völlig verdiente Oscar-Nominierung. Vielleicht ist Tina doch nicht so kalt.
»… so lustig!«
Tina nimmt meinen offen stehenden Mund nicht wahr. Entschuldigung: Was hat sie gerade gesagt? Tina lächelt mich an.
»Wir haben einen ganzen Abend ohne Streit geschafft. Das ist doch was. Zur Feier geht’s ab zu mir. Spring auf, Cowboy!«
Liebes Gehirn, an dieser Stelle möchte ich dir einen Deal vorschlagen, okay? Du tust, als hättest du Tinas Worte über Gilbert Grape nicht gehört. Dafür revanchiere ich mich gleich im Bett mit der Ausschüttung einer gehörigen Portion Glückshormone. Was hältst du davon? Leider hört mein Gehirn selten auf mich.
»Tina, ich glaub’, das lassen wir lieber.«
»Was meinst du? Den Sex?«
»Den Sex und den Streit. Also unsere Beziehung.«
»Damit ich richtig verstehe: Also auch kein Sex mehr?«
»Ja!«
Hätte ich eine Liste der Dialoge, die ich niemals führen wollte, wäre dieser hier in den Top 3. Auf Platz 2 läge ein Gespräch, das anfängt mit: »Sie haben die Wahl: Tod oder Amputation aller Gliedmaßen. Nummer 1 wäre vermutlich eine Variation von Nummer 2, nur ginge es da um meinen Penis.
Nur dieses eine Mal wünsche ich mir, wir würden streiten. Weil es zeigen würde, dass wir noch aneinander hängen. Weil etwas in uns den Trennungsschmerz noch ein wenig hinauszögern will, und sei es durch Gemecker. Aber so ist es nicht.
Kurz darauf gehen Tina und ich nach Hause, jeder für sich. Mir wird klar, es ist besser so. Spätestens als ich in dieser Nacht, so sternenklar wie damals im eiskalten Nordatlantik, eine immer leiser werdende Frauenstimme höre, die schief »My heart will go on« singt.
Mein Fazit auf dem Nachhauseweg: Titanic ist ein Film für Männer und Frauen – wenn auch nicht für jede Frau. Er spricht beide Geschlechter an, weil hier zwei Protagonisten Reisen antreten, die sie zu einem erfüllten Leben bringen sollen. Diese Geschichte ist universell, nur die Akzente sind unterschiedlich. Wenn Rose am Bug stehend die Arme ausbreitet, dann ist ohne viele Worte klar: Hier entfalten sich die Sehnsüchte und die Sexualität einer jungen Frau. Nicht zufällig steht Jack ihr bei – wie ein Liebespartner. Als er an der Schiffsspitze thront, jubelt Jack »Ich bin der König der Welt!« und lädt so maskuline Erwartungen auf sich: Ich kann es schaffen in der Welt, selbst bestimmt und autark. Es ist das Versprechen, die ängstlichen, kleinen Anfänge der Jugend hinter sich lassen zu können, um ein starker Mann zu werden. Sexuelle Konnotationen spielen da natürlich auch hinein, schließlich reitet Jack gewissermaßen auf einem 269 Meter langen Phallus. Das ist ja schon was. Allerdings frage ich mich, was es damit auf sich hat, dass in diesem Moment hinter dem Wellenreiter ein weiterer Mann steht – sein wissend lächelnder italienischer Freund. Wie jeder große Hollywood-Film bietet auch Titanic eine Lebensregel. Sie lässt sich zusammenfassen mit »Wahre Liebe engt nicht ein, sondern befreit.« Oder: »Nur wer nach eigenen Maßstäben lebt, lebt wirklich.« In gewisser Weise bin auch ich, indem ich Nein zur Beziehung mit Tina gesagt habe, meinen Maßstäben treu geblieben.
Titanic ist das seltene Beispiel eines Films, bei dessen Anblick Frauen wie Männer Emotionen zeigen dürfen. Normalerweise gestatten sich Kerle Trauer oder Angst im Kino nur, wenn Aliens oder Roboter im Spiel sind. Nicht zufällig ist James Cameron auch der Regisseur von Aliens – Die Rückkehr und den ersten beiden Terminator-Filmen. Männer werden in ihrer Jugend noch immer dazu angehalten, ihre Emotionen stärker zu unterdrücken als Frauen. Auch wenn die Eltern diese Norm nicht einfordern, werden sich Mitschüler und Vereinskollegen bestimmt darum kümmern – keine Sorge. Doch Titanic ist eine perfekte Symbiose aus Liebes- und Katastrophenfilm. Und er bietet damit die willkommene Tarnung für Männer, die sich vom Leinwandgeschehen berühren lassen wollen. Der Lärm des Schiffsuntergangs überdeckt mögliches Schluchzen. Genauer betrachtet, haben Männer hier sogar mehr Grund zu weinen als Frauen. Immerhin lautet die unausgesprochene Moral von der Geschicht’: Kinder und Frauen zuerst, nur feige Kerle wollen überleben. Jacks böser Verlobter überlebt die Tragödie, während Jack seiner Geliebten ohne Zögern den einzigen Platz auf der Holzplanke lässt – und damit seinen sicheren Tod in Kauf nimmt. Der Körper der Frau ist extrem kostbar, der eines Mannes bloße Verhandlungsmasse.
Erst, als ich ein paar hundert Meter gegangen bin, merke ich, was ich gerade getan habe, und bleibe stehen.
»Ich Idiot habe gerade tollen Sex ausgeschlagen?«, sage ich laut vor mich hin. »Weil Tina Titanic nicht romantisch fand, Céline Dion aber schon? Was sind denn das für bescheuerte ›eigene Maßstäbe‹?«
»Hab’ doch gesagt: ›Nehmt euch ’n Zimmer.‹« Der Mann aus der Reihe hinter uns schlendert an mir vorüber, im Arm hält er seine Freundin. Einer von uns beiden geht im sicheren Gefühl nach Hause, richtig gehandelt zu haben. Der andere redet mit sich selbst.
Auf dem nächtlichen Nachhauseweg verfluche ich die brillanten Spezialeffekte und die zeitlose Romeo-und-Julia-Liebesgeschichte, in der nicht Kinder zweier verfeindeter Familien, sondern gesellschaftlicher Schichten zueinanderkommen wollen. Und ich verfluche Enya, die eigentlich die Filmmusik schreiben sollte, aber absagte und so Mitschuld trägt am Entstehen eines der scheußlichsten Lieder der Welt, vor allem aber am Ende meiner Beziehung.
»Man lernt, das Leben so zu nehmen, wie es gerade kommt«, sagt Jack am hoffnungsfrohen Beginn des Films. Was weiß der schon?, denke ich. Der Bengel war ja sogar zu blöd, nach einem größeren Wrackteil zu suchen, auf das er sich hätte retten können. Hätte nicht Kate Winslet auf dem Stück Holzvertäfelung gehockt, sondern die erste Wahl James Camerons für den Part der Rose, die schlankere Claire Danes, dann wäre bestimmt Platz genug gewesen für den dünnen DiCaprio. Genau: Kate Winslet hat Jack auf dem Gewissen! Wenn ich länger darüber nachdenke, fällt mir ein: Vielleicht gefällt mir Titanic doch nicht so gut. Und Winslet ist eine Matrone. Hätte ich das bloß Tina gesagt. Da wären wir uns endlich mal einig gewesen.
Das also war der Tiefpunkt. Bevor mir großes Kino behilflich war, meine große Liebe zu finden, half es, eine Beziehung zu beenden. Am nächsten Tag lieh ich mir deprimiert Schlaflos in Seattle aus.
Und die Geschichte vom Filmverführer beginnt.
Liebesszenen: Eine. Da schippern die Verliebten auf dem luxuriösesten Gefährt ihrer Zeit über den Ozean. Und wo entjungfert Jack seine Rose? Auf einem Autorücksitz.
Dramatische Küsse: Jede Menge – zum Leidwesen Winslets. Sie klagte später über DiCaprios Kettenraucher-Atem.
Zentraler Dialog: »Es ist nicht Ihre Aufgabe, mich zu retten, Jack.« – »Da haben Sie recht. Das können nur Sie allein.«
Bester Männer-Spruch: »Ah, vergiss es, mein Freund. An eine Frau wie die kommst du nicht ran. Vorher fliegen dir kleine Engel aus dem Hintern.«
Bester Frauen-Spruch: »Aber jetzt wissen Sie, dass es einen Mann namens Jack Dawson gab. Und, dass er mich gerettet hat. In jeder Weise, wie ein Mensch nur von einem anderen gerettet werden kann.«
Taschentuchfaktor für Männer: 5/5
Taschentuchfaktor für Frauen: 5/5
Der nächste Film, den Frauen gucken sollten: Marrakesch. Kate Winslet auf Selbsterkundungstrip in Nordafrika.
Der nächste Film, den Männer gucken sollten: Avatar. Wieder ein James-Cameron-Film mit jeder Menge Spezialeffekten. Und diesmal überlebt der Hauptdarsteller.