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Neuausgabe

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2019

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ISBN Printausgabe 978-3-499-13547-7 (1. Auflage 1986)

ISBN E-Book 978-3-644-00262-3

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-00262-3

Daddy

Die Väter sollen

sich in die Lüfte schwingen

Und die Kinder sollen

ihre Namen wissen

1

Der Vertreter der Genossenschaftlichen Lebensversicherung von North Carolina versprach, pünktlich um drei vom Mercy ans andere Ufer des Lake Superior zu fliegen. Zwei Tage, bevor das Ereignis stattfinden sollte, heftete er einen Anschlag an die Tür seines kleinen gelben Hauses:

Um drei Uhr nachmittags am Mittwoch, dem 18.

Februar 1931, werde ich vom Mercy abheben und

auf meinen eigenen Schwingen davonfliegen. Bitte,

vergebt mir. Ich liebe euch alle.

Robert Smith

Vers.-Vertr.

Mr. Smith zog keine solchen Massen an wie Lindbergh vier Jahre zuvor – nicht mehr als vierzig oder fünfzig Personen stellten sich ein –, denn es war bereits elf Uhr am Morgen eben jenes Mittwochs, den er für seinen Flug gewählt hatte, als überhaupt jemand den Anschlag las. Zu dieser Tageszeit und mitten in der Woche sprachen sich Neuigkeiten nur schleppend herum. Die Kinder waren in der Schule, die Männer bei der Arbeit, und die meisten Frauen schnürten ihre Korsetts und machten sich auf den Weg, um zu sehen, was an Schwänzen oder Innereien der Metzger zu vergeben hatte. Nur die Arbeitslosen, die Selbständigen und die Allerjüngsten waren zur Stelle – absichtlich zur Stelle, weil sie davon gehört hatten, oder zufällig zur Stelle, weil sie gerade in eben diesem Augenblick am Uferende der Not Doctor Street vorbeikamen – ein Straßenname, den die Post nicht anerkannte. Auf Stadtplänen war die Straße als Mains Avenue verzeichnet, aber der einzige farbige Doktor der Stadt hatte bis zu seinem Tod in dieser Straße gewohnt, und als er

Eine wahrhaft erhellende Bekanntmachung, denn sie wies den Bewohnern der Southside einen Weg, wie sie ihre Erinnerungen lebendig erhalten und dennoch die Kommunalpolitiker zufriedenstellen konnten. Sie nannten die Straße Not Doctor Street und neigten dazu, das Hospital an ihrem nördlichen Ende, eine Einrichtung christlicher Nächstenliebe, No Mercy Hospital zu nennen, denn erst 1931, am Tage nach Mr. Smiths Sprung von der Krankenhauskuppel, wurde es der ersten farbigen werdenden Mutter gestattet, in seinem Innern statt draußen auf seinen Eingangsstufen zu gebären. Die Großzügigkeit des Hospitals dieser bestimmten Frau gegenüber lag nicht darin begründet, daß sie das einzige Kind jenes schwarzen Doktors war – in all den Jahren seines Berufslebens waren ihm nie Belegbetten zugestanden und nur zwei seiner

Als die Tochter des toten Doktors Mr. Smith so pünktlich, wie er es versprochen hatte, hinter der Kuppel zum Vorschein kommen sah, die weiten blauseidenen Flügel bauschig vor der Brust zusammengerafft, ließ sie ihren bedeckten Henkelkorb fallen. Rotsamtene Rosenblüten ergossen sich daraus. Der Wind blies sie herum, auf, nieder und in kleine Schneehaufen hinein. Ihre halbwüchsigen Töchter liefen gebückt umher und versuchten sie einzufangen, während ihre Mutter sich stöhnend den Unterleib hielt. Die Jagd nach den Rosenblüten fand eine Menge Aufmerksamkeit, nicht aber das Stöhnen der Schwangeren. Jedermann wußte, daß die Mädchen Stunde um Stunde mit dem Markieren, Zuschneiden und Heften des kostbaren Samts zugebracht hatten und daß man im Kaufhaus Gerhardt schnell bei der Hand sein würde, jede beschmutzte Blüte zurückzuweisen.

Eine Weile ging es nett und heiter zu. Die Männer halfen mit bei dem Versuch, die Blüten aufzulesen, ehe der Schnee sie durchweichte – retteten sie vor einem Windstoß oder pflückten sie vorsichtig aus dem Schnee. Und die ganz kleinen Kinder konnten sich nicht entscheiden, ob sie den blau umhüllten Mann auf dem Dach im Auge behalten sollten oder die unten auf der Erde umherwirbelnden roten Tupfen. Sie wurden aus ihrem Dilemma erlöst, als eine Frau plötzlich zu singen anfing. Die Sängerin, hinten in der Menge stehend, war so ärmlich gekleidet, wie die Tochter des Doktors gut gekleidet war. Die letztere trug einen adretten grauen Mantel mit der traditionellen Schleife der Schwangeren in Nabelhöhe, einen schwarzen Glockenhut und ein Paar Damengaloschen mit vier Knöpfen. Die singende Frau trug eine dunkelblaue Strickmütze, tief in die Stirn gezogen. Sie hatte sich statt in einen Wintermantel in eine alte Steppdecke gehüllt. Den Kopf auf die Seite geneigt, die Augen starr auf Mr. Robert Smith gerichtet, sang sie mit kraftvoller Stimme:

Sugarman ließ uns allein

Sugarman saust durch die Luft

Sugarman flog heim

Einige der rund fünfzig dort versammelten Leute stießen sich gegenseitig an und kicherten. Andere hörten zu, als sei es die helfende und erklärende Klaviermusik zu einem Stummfilm. So standen sie eine Weile da, und niemand schrie zu Mr. Smith hinauf, so beschäftigt waren sie alle mit den geringfügigen Ereignissen um sie herum – bis die Krankenhausleute kamen.

Sie hatten von den Fenstern aus zugesehen – anfangs mit milder Neugier, später, als die Menge bis zu den Mauern des Krankenhauses anzuschwellen schien, mit Besorgnis. Sie fragten sich, ob da eine dieser Kundgebungen stattfinde, wie sie die Gruppen gegen Rassendiskriminierung ständig veranstalteten. Doch als sie weder Plakate noch Redner sahen, wagten sie sich in die Kälte hinaus: weißbekittelte Chirurgen, Angestellte der Verwaltungs- und Personalabteilung in schwarzen Jacketts und drei Krankenschwestern in gestärkten Schürzenkleidern.

Der Anblick von Mr. Smith und seinen weiten blauen Flügeln lähmte sie einige Sekunden lang, ebenso der Gesang der Frau und die verstreuten Rosen. Manche von ihnen dachten flüchtig, daß es sich vielleicht um so etwas wie einen Gottesdienst handle. Philadelphia, wo Father Divine regierte, war nicht sehr weit entfernt. Vielleicht waren die jungen Mädchen mit den Blumenkörben zwei seiner Jungfrauen. Aber das Lachen eines Goldzahnmannes brachte sie wieder zu Sinnen. Sie hielten inne in ihren Tagträumereien und kamen schnell zur Sache, gaben Befehle. Ihre Rufe und ihre Geschäftigkeit stifteten große Verwirrung, wo vorher nur einige wenige Männer und ein paar Mädchen, die mit Samtstückchen spielten, und eine singende Frau gewesen waren.

Eine der Krankenschwestern erforschte, in der Hoffnung, mit Tatkraft das Durcheinander entwirren zu können, die Gesichter um sie herum, bis sie eine stämmige Frau entdeckte, die so aussah, als könnte sie, wenn sie nur wollte, die Erde bewegen.

«Sie», sagte sie und bewegte sich auf die stämmige Frau zu. «Sind das Ihre Kinder?»

«Madam?»

«Schicken Sie eines rüber zur Notaufnahme. Sagen Sie ihm, er soll dem Pförtner sagen, er soll schnell herkommen. Der Junge da kann gehen. Der da.» Sie zeigte auf einen katzenäugigen Jungen von etwa fünf oder sechs Jahren.

Die stämmige Frau ließ ihre Augen am Finger der Krankenschwester entlanggleiten und sah den Jungen an, auf den sie zeigte.

«Gitarre, Ma'am.»

«Was?»

«Gitarre.»

Die Krankenschwester starrte die stämmige Frau an, als hätte sie Walisisch gesprochen. Dann schloß sie den Mund, sah wieder den katzenäugigen Jungen an und verschränkte die Finger, während sie ihre nächsten Worte sehr langsam an ihn richtete.

«Hör zu. Lauf zur Pförtnerloge an der Rückseite des Krankenhauses. An der Tür steht ‹Notaufnahme›. N-O-T-A-U-F-N-A-M-E.Aber der Pförtner sitzt da. Sag ihm, er soll hierherkommen. Doppelt plötzlich. Los jetzt. Los!» Sie löste ihre Finger voneinander und stieß die Handflächen mit schaufelnden Bewegungen in die winterliche Luft.

Ein Mann in braunem Anzug kam auf sie zu, weiße Atemwölkchen ausstoßend. «Feuerwehr ist unterwegs. Gehn Sie rein. Sie friern sich zu Tode.»

Die Schwester nickte.

«Sie ham ein H ausgelassen, Madam», sagte der Junge. Er war neu im Norden und hatte gerade gelernt, daß er Weißen gegenüber den Mund aufmachen konnte. Aber die Schwester war schon davongegangen und rieb sich die Arme wegen der Kälte.

«Granny, sie hat ein H ausgelassen.»

«Und ein ‹bitte›.»

«Glaubst du, er springt?»

«Spinner bringen alles fertig.»

«Wer ist das?»

«Kassiert Versicherungsbeiträge. Spinner.»

«Wer ist die Frau, die da singt?»

In der Menge breitete sich jetzt, da die Gesetzeshüter herbeigerufen wurden, eine leichte Nervosität aus. Alle kannten Mr. Smith. Zweimal im Monat kam er an ihre Türen, um einen Dollar und achtundsechzig Cents zu kassieren und auf einem gelben Kärtchen das Datum sowie ihre Wochenraten in Höhe von vierundachtzig Cents zu vermerken. Sie waren immer etwa einen halben Monat im Rückstand und redeten endlos von Vorauszahlungen – nachdem sie zu Beginn erörtert hatten, was er denn überhaupt so bald schon wieder bei ihnen suche.

«Sie schon wieder hier? Möchte meinen, ich wär Sie grad erst losgeworden.»

«Satt hab ich Ihr Gesicht. Richtig satt.»

«Wußt ichs doch. Kaum hab ich zwanzig Cents beisammen, da kommen Sie. Pünktlicher als der Sensenmann. Kennt der Hoover Sie eigentlich?»

Sie zogen ihn auf, beschimpften ihn, ließen ihm durch ihre Kinder sagen, sie seien nicht da oder krank oder nach Pittsburgh gefahren. Aber sie klammerten sich an diese kleinen gelben Karten, als bedeuteten sie etwas – legten sie zärtlich in die Schuhschachtel zu den Mietquittungen, Heiratsurkunden und nicht mehr gültigen Fabrikkennmarken. Mr. Smith lächelte sich durch das alles hindurch, brachte es fertig, die Augen fast die ganze Zeit auf die Schuhe des Kunden gerichtet zu halten. Er trug einen dunklen Straßenanzug bei seiner Arbeit, aber sein Haus war nicht besser als ihre Häuser. Nie hatte er, soweit sie wußten, eine Frau gehabt, und in der Kirche sagte er nichts als ein gelegentliches «Amen». Niemals verprügelte er jemanden, nie wurde er nach Einbruch der Dunkelheit gesehen, also nahmen sie an, er sei wahrscheinlich ein anständiger Mensch. Aber er war eng verbunden mit Krankheit und Tod, auch wenn von beidem nichts zu erkennen war auf dem braunen Bild von dem Gebäude der Genossenschaftlichen Lebensversicherung von North Carolina auf der Rückseite ihrer gelben Karten. Vom Dach des Mercy zu springen, war das Interessanteste, was er

Die singende Frau wurde leiser und ging, die Melodie vor sich hinsummend, durch die Menge auf die Rosenblüten-Dame zu, die noch immer ihren Bauch umfaßt hielt.

«Solltest dich aufwärmen», wisperte sie ihr zu und berührte sie leicht am Ellbogen. «In der Morgenfrühe ist ein Vögelchen da.»

«Oh», sagte die Rosenblüten-Dame. «Morgen früh?»

«An welchem Morgen sonst?»

«Das kann nicht sein», sagte die Rosenblüten-Dame. «Es ist noch zu früh.»

«Nichts da. Genau rechtzeitig.»

Die Frauen sahen einander tief in die Augen, als ein lauter Schrei von der Menge aufstieg – ein wogendes Oooh. Mr. Smith hatte eine Sekunde lang die Balance verloren und versuchte tapfer, sich an ein hölzernes Gestänge zu klammern, das von der Kuppel emporragte. Sogleich begann die singende Frau wieder:

Sugarman ist fortgeflogen

Sugarman ließ uns allein …

In der Stadt zogen die Feuerwehrleute ihre Mäntel an, aber als sie am Mercy Hospital ankamen, hatte Mr. Smith die Rosenblüten gesehen, die Musik gehört und war in die Luft gesprungen.

 

Am nächsten Tag wurde im Mercy Hospital zum erstenmal ein farbiges Kind geboren. Mr. Smiths blauseidene Flügel mußten ihren Eindruck hinterlassen haben, denn als der kleine Junge mit vier entdeckte, was Mr. Smith vor ihm gelernt hatte – daß nämlich nur Vögel und Flugzeuge fliegen konnten –, verlor er jedes Interesse an sich. Die Gewißheit, ohne jene einzigartige Gabe leben zu müssen, machte ihn traurig und ließ seine Phantasie so beraubt zurück, daß er sogar den Frauen, die seine Mutter nicht haßten, langweilig erschien. Diejenigen, die sie haßten, die ihre Einladungen zum Tee annahmen und auf das große düstere Doktorhaus mit seinen zwölf Zimmern und die grüne Limousine neidisch waren, bezeichneten ihn als «sonderbar». Die anderen, die wußten, daß das

«Ist er mit einer Glückshaube zur Welt gekommen?»

«Sie hätten sie trocknen und ihm einen Tee davon zu trinken geben sollen. Sonst sieht er eines Tages Geister.»

«Das glauben Sie?»

«Ich nicht, aber das sagen die alten Leute.»

«Na, ein Tiefer jedenfalls ist er. Schaut euch seine Augen an.»

Und sie lösten Klumpen des zu schnell gebackenen Rodonkuchens von ihren Gaumen und schauten dem Jungen noch einmal in die Augen. Er hielt ihren starrenden Blicken nach Kräften stand, bis er nach einem flehenden Blick zu seiner Mutter das Zimmer verlassen durfte.

Es gehörte einige Planung dazu, um, den Rücken vom Summen ihrer Stimmen umspült, aus dem Salon zu gehen, die schwere Doppeltür, die ins Eßzimmer führte, zu öffnen und die Treppe hinaufzuschleichen, an all den Schlafzimmern vorbei, ohne die Aufmerksamkeit von Lena und Corinthians zu erregen, die wie große Babypuppen vor einem Tisch voller roter Samtreste saßen. Seine Schwestern nähten nachmittags Rosen. Leuchtende, leblose Rosen, die monatelang in Körben lagen, bis der SpezialitätenEinkäufer von Gerhardt den Hausmeister Freddie herüberschickte und den Mädchen ausrichten ließ, man könne ein weiteres Gros gebrauchen. Wenn es ihm gelang, an seinen Schwestern vorbeizuschleichen und ihren beiläufigen Bosheiten aus dem Wege zu gehen, kniete er sich in seinem Zimmer ans Fensterbrett und fragte sich immer wieder aufs neue, warum er unten auf der Erde bleiben müsse. Die Stille, die das Doktorhaus dann durchflutete, unterbrochen nur von dem Gemurmel der Kuchen essenden Frauen, war nichts anderes als eben dies: Stille. Sie war nicht friedlich, denn was ihr vorausging und ihr bald ein Ende machen würde, war die Anwesenheit von Macon Dead.

Massig, polternd, zu Ausbrüchen ohne Vorwarnung neigend, hielt Macon jedes Mitglied seiner Familie in einem beklommenen Zustand der Angst. Sein Haß auf seine Frau glitzerte und funkelte in jedem Wort, das er zu ihr sprach. Die Enttäuschung, die er über

Wenn sie hinter ihren Nachmittagsgästen die Tür schloß und das stille Lächeln auf ihren Lippen ersterben ließ, begann sie mit der Zubereitung von Speisen, die ihr Mann ungenießbar fand. Sie legte es nicht darauf an, daß ihre Mahlzeiten Übelkeit erregten; sie wußte einfach nicht, wie sie es anders machen sollte. So merkte sie etwa, daß der Rodonkuchen zu krümelig war, als daß sie ihn ihrem Mann vorsetzen konnte, und entschied sich für ein Renettendessert. Aber das Mahlen von Kalb- und Rindfleisch für einen Hackbraten dauerte so lange, daß sie nicht nur das Schweinefleisch vergaß und sich entschließen mußte, den Braten mit ausgelassenem Speck zu übergießen, sondern auch gar nicht mehr genug Zeit hatte, einen Nachtisch zu machen. Dann begann sie in aller Eile den Tisch zu decken. Wenn sie das weiße Leinentischtuch entfaltete und über den edlen Mahagonitisch wogen ließ, sah sie jedesmal wieder den großen Wasserfleck. Nie deckte sie den Tisch oder ging durch das Speisezimmer, ohne einen Blick darauf zu werfen. So wie es den Leuchtturmwärter immer wieder an sein Fenster zieht, wie er immer wieder hinausblickt aufs Meer, oder wie ein Gefangener unwillkürlich nach der Sonne späht, wenn er zu seinem täglichen Rundgang den Hof betritt, so sah Ruth mehrmals am Tage nach dem Wasserfleck. Sie wußte, daß er da war, immer da sein würde, aber sie mußte sich seines Vorhandenseins vergewissern. Wie der Leuchtturmwärter und der Gefangene betrachtete sie ihn als einen Anhalt, als Orientierungspunkt, als einen beständigen, sichtbaren Gegenstand, der ihr versicherte, daß die Welt noch existierte, daß dies das Leben

Noch in der Höhle des Schlafs spürte sie, ohne daß sie etwa davon träumte oder daran dachte, seine Gegenwart. Oh, sie sprach endlos mit ihren Töchtern und ihren Gästen darüber, wie er zu entfernen sei – was diesen einzigen Makel auf dem prächtigen Holz verdecken könne: Vaseline, Tabaksaft, Jod, eine Behandlung zunächst mit Sandpapier und anschließend mit Leinöl. Sie hatte es alles versucht. Doch ihr Blick war nährend: der Fleck trat im Laufe der Jahre eher noch deutlicher hervor.

Der wolkige graue Kreis bezeichnete die Stelle, an der die Schale gestanden hatte, die zu Lebzeiten des Doktors tagtäglich mit frischen Blumen gefüllt worden war. Tagtäglich. Und wenn es keine Blumen gab, enthielt sie ein Blätterarrangement, einen Strauß Zweige und Beeren, Kätzchen, Kiefernzweige … Aber immer etwas, was der Tafel am Abend Anmut verlieh.

Für ihren Vater war dies ein Detail, das seine Familie von den Leuten unterschied, unter denen sie wohnten. Für Ruth war es die Summe der liebevollen Eleganz, von der ihre Kindheit, wie sie glaubte, umgeben gewesen war. Als Macon sie heiratete und in das Doktorhaus zog, behielt sie den Brauch, den Tisch zu schmücken, bei. Dann kam die Zeit, in der sie durch die liederlichste Gegend der Stadt zum Strand hinunterwanderte, um Treibholz zu suchen. Sie hatte auf der Frauenseite der Zeitung ein Tischschmuckarrangement aus Treibholz und getrocknetem Tang gesehen. Es war ein feuchter Novembertag, und der Doktor war damals schon gelähmt und lebte von flüssiger Nahrung, die er in seinem Schlafzimmer zu sich nahm. Der Wind hatte ihren Rock rund um die Knöchel gelüftet und war schneidend durch ihre geschnürten Schuhe gedrungen. Sie hatte sich die Füße mit warmem Olivenöl einreiben müssen, als sie zurückkam. Beim Abendessen, bei dem nur sie beide am Tisch saßen, wandte sie sich ihrem Mann zu und fragte ihn, wie ihm der Tischschmuck gefalle. «Die meisten Leute übersehen solche Dinge. Sie sehen es, aber sie sehen nichts Schönes darin. Sie sehen nicht, daß die Natur es schon so vollkommen geschaffen hat, wie es nur sein kann. Sieh es mal von der Seite an. Es ist hübsch, nicht?»

Ruth ließ den Tang verfallen, und später, als seine Rippen und Stengel sich als brauner Schorf auf dem Tisch ringelten, entfernte sie die Schale und bürstete den Schorf weg. Aber der Wasserfleck, den die Schale all die Jahre hindurch verdeckt hatte, kam zum Vorschein. Und einmal zum Vorschein gekommen, verhielt er sich, als sei er selbst eine Pflanze, und erblühte zu einer riesigen, samtig grauen Blume, die pulste wie Fieber und seufzte wie Wanderdünen. Aber er konnte auch still sein. Geduldig, geruhsam und still.

Doch angesichts einer Boje blieb einem nichts, als sie zur Kenntnis zu nehmen, sie als Beweis für die vage Ahnung zu betrachten, daß man am Leben bleiben will. Noch eines anderen bedarf man, um von Sonnenaufgang zu Sonnenuntergang zu gelangen: eines Balsams, einer sanften Berührung oder Liebkosung. So erhob sich Ruth aus ihrer arglosen Untüchtigkeit, um gleich nach der Zubereitung des Abendessens und knapp vor der Rückkehr ihres Mannes aus seinem Büro ihren Teil Balsam zu beanspruchen. Es war eine ihrer beiden geheimen Schwächen – diejenige, die mit ihrem Sohn zu tun hatte –, und teilweise kam die Lust, die diese Schwäche ihr bereitete, von dem Zimmer, in dem sie ihr frönte. Ein feuchtes Grün hauste da, erzeugt von dem Immergrün, das sich gegen das Fenster preßte und das Licht filterte. Es war nur ein kleiner Raum, den der Doktor Studierzimmer genannt hatte, und abgesehen von einer Nähmaschine, die zusammen mit einer Schneiderpuppe in einer Ecke stand, gab es darin nur noch einen Schaukelstuhl und einen winzigen Schemel. In diesem Raum saß sie mit ihrem Sohn auf dem Schoß, schaute auf seine geschlossenen Lider und lauschte dem Geräusch seines Saugens. Schaute auf seine Lider weniger aus Mutterfreude als aus dem Bedürfnis, dem Anblick seiner fast bis zum Boden baumelnden Beine auszuweichen.

Bevor ihr Mann am Spätnachmittag sein Büro verschloß und nach Hause kam, rief sie ihren Sohn zu sich. Wenn er in den kleinen Raum trat, knöpfte sie ihre Bluse auf und lächelte. Er war zu jung, um von ihren Brustwarzen eingeschüchtert zu werden, aber er war

Sie spürte ihn. Seine Zurückhaltung, seine Höflichkeit, seine Gleichgültigkeit – das alles drängte sie zu Phantasien. Sie hatte den deutlichen Eindruck, daß seine Lippen ihr einen Faden von Licht entzogen. Es kam ihr vor, als sei sie ein Zaubergefäß, das Goldfäden absonderte. Wie die Müllerstochter – die da des Nachts in einem Raum voller Stroh saß, entzückt von der geheimen Macht, die Rumpelstilzchen ihr verliehen hatte: goldene Fäden von ihrer ganz persönlichen Spindel rinnen zu sehen. Und dies war die andere Seite ihrer Lust, einer Lust, auf die sie nicht verzichten mochte. Als daher Freddie, der Hausmeister – der gern so tat, als sei er ein Freund der Familie und nicht nur ihr Handlanger und Mieter –, eines Tages noch spät seine Miete zum Doktorhaus brachte und an dem Immergrün vorbei durchs Fenster sah, ging der Schrecken, der Ruth sogleich in den Augen stand, auf die prompte Einsicht zurück, daß sie nicht weniger als die Hälfte dessen verlieren würde, was ihr tägliches Leben ertragbar machte. Freddie indes deutete ihren Blick als schlichte Scham, was ihn jedoch nicht davon abhielt zu grinsen.

«Gnädiger Himmel. Verdammich.»

Er kämpfte mit dem Immergrün um bessere Sicht, von seinem Gelächter mehr behindert als von den Ranken. Ruth sprang so schnell auf, wie sie nur konnte, und bedeckte ihre Brust; ihren Sohn ließ sie zu Boden fallen und bestätigte ihm somit den Verdacht, den er zu hegen begonnen hatte – daß diese Nachmittage sonderbar und unrecht waren.

Bevor Mutter und Sohn noch sprechen, sich auf geziemende Weise neu gruppieren oder auch nur Blicke tauschen konnten, war Freddie schon ums Haus gelaufen, die Verandastufen hinaufgesprungen und rief nach ihnen unter prustendem Gelächter.

«Miss Rufie. Miss Rufie. Wo? Wo treibt ihr euch alle turn?» Er öffnete die Tür zu dem grünen Zimmer, als sei es nun seines.

«Verdammich, Miss Rufie. Wann hab ich 'n das zuletzt gesehn?

Freddie trug seine Entdeckung nicht nur in die Häuser von Ruths Nachbarschaft, sondern auch zur Southside, wo er wohnte und wo Macon Dead Mietshäuser besaß. Darum blieb Ruth in der Nähe des Hauses und empfing fast zwei Monate keine Nachmittagsgäste, um nicht hören zu müssen, daß man ihrem Sohn einen neuen Namen gegeben hatte – den abzuschütteln er niemals imstande war und der nichts dazu beitrug, beider Beziehung zu seinem Vater zu verbessern.

Macon Dead erfuhr nie, wie es dazu kam – wie sein einziger Sohn einen Spitznamen erwarb, der ihm anhaftete, obwohl er selbst sich weigerte, ihn zu gebrauchen oder ihn anzuerkennen. Es war eine Sache, die ihn nicht wenig beschäftigte, denn die Namensgebung in seiner Familie war immer von etwas umgeben gewesen, was er für monumentale Torheit hielt. Niemand erwähnte ihm gegenüber den Zwischenfall, aus der der Spitzname erwachsen war, denn er war ein Mann, dem man sich nur schwer nähern konnte, ein harter Mann von so kühler Art, daß niemand sich zu einem zwanglosen oder spontanen Gespräch mit ihm ermutigt fühlte. Nur Freddie, der Hausmeister, nahm sich Freiheiten bei Macon Dead heraus, und

Ohne irgendein Detail zu kennen, erriet er jedoch mit der Präzision seines von Haß geschärften Verstands, daß der Name, bei dem er Schulkinder seinen Sohn rufen hörte, der Name, den er den Lumpensammler gebrauchen hörte, als er dem Jungen 3 Cents für ein Bündel alter Kleider auszahlte – erriet er, daß dieser Name nicht rein war. Milchmann. Das klang gewiß nicht nach dem ehrlichen Beruf eines Milchhändlers, und er dachte dabei auch nicht an kalte, blanke Kannen, die glänzend wie wachhabende Offiziere auf der Küchenveranda standen. Es klang schmutzig, intim und schwül. Er wußte, daß der Name, woher er auch immer kam, etwas mit seiner Frau zu tun hatte und wie das Gefühl, das er stets empfand, wenn er an sie dachte, mit Ekel bedeckt war.

Dieser Ekel und das Unbehagen, mit dem er seinen Sohn betrachtete, beeinflußte alles, was er in der Stadt tat. Wenn er sich hätte traurig fühlen können, einfach traurig, es hätte ihm Erleichterung gebracht. Fünfzehn Jahre des Bedauerns über das Ausbleiben eines Sohnes waren in Bitterkeit darüber gemündet, daß er nun endlich unter widerwärtigsten Umständen einen besaß.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der sein Kopf voller Haar gewesen war und Ruth entzückend komplizierte Unterwäsche getragen hatte, von der sie zu befreien er sich absichtlich viel Zeit nahm. In der sein Vorspiel einzig darin bestanden hatte, die Verschlüsse und Verschnürungen ihrer Unterwäsche aufzubinden, aufzuhaken, aufzuschnallen, welche die schönste, die zarteste, die weißeste und weichste gewesen sein mußte, die es auf der Welt gab. Mit jeder Öse ihres Korsetts spielte er (und es waren vierzig – zwanzig auf jeder Seite); jedes gerippte Seidenband, das sich blaßblau durch das schneeige Oberteil ihres Mieders schlängelte, schnürte er auf. Er löste nicht nur die blaue Schleife, ganz heraus aus dem Saum zog er es, so daß sie es später mit einer Sicherheitsnadel wieder einfädeln mußte. Die elastischen Bänder, die ihre Achselblätter mit dem Unterrock verbanden, ließ er auf- und zuschnappen, neckte sie und

Wenn Ruth nackt war und so feucht und krümelig dalag wie ungebleichter Zucker, beugte er sich hinab, um ihre Schuhe aufzuschnüren. Das war die abschließende Wonne, denn gleich nachdem er ihre Füße entblößt hatte, drang er in sie ein und ejakulierte schnell. Ihr gefiel es so. Ihm auch. Und in fast zwanzig Jahren, während derer er kein Auge auf ihre nackten Füße geworfen hatte, vermißte er allein die Unterwäsche.

Einst hatte er geglaubt, der Anblick ihres Mundes auf den Fingern des Toten werde dasjenige sein, was ihm immer in Erinnerung bleiben würde. Er hatte sich geirrt. Nach und nach erinnerte er sich an immer weniger Details, bis er sie sich schließlich neu ausdenken, ja erfinden mußte, erraten mußte, wie sie ausgesehen haben mochten. Die Vorstellung schwand dahin, die Widerlichkeit niemals. Um seine Wut zu nähren, blieb er auf die Erinnerung an ihre Unterwäsche angewiesen; an jene runden, unschuldigen Korsettösen, die für ihn nun auf immer verloren waren.

Wenn also die Leute seinen Sohn Milchmann riefen und wenn sie die Lider senkte und sich den Schweiß von der Oberlippe tupfte, sobald sie es hörte, dann bestand da eindeutig ein schmutziger Zusammenhang, und es war für Macon Dead nicht von der geringsten Bedeutung, ob jemand ihm die Details mitteilte oder nicht.

Und sie taten es nicht. Niemand war zugleich mutig und interessiert genug, es ihm zu erzählen. Die interessiert genug waren, Lena und Corinthians, die lebenden Beweise für jene Jahre, in denen er seine Frau entkleidet hatte, waren nicht mutig genug. Und die einzige Person, die es gewagt hätte, aber kein Interesse zeigte, war die einzige Person auf der Welt, die er mehr haßte als seine Frau – ungeachtet der Tatsache, daß sie seine Schwester war. Er hatte sich seit der Geburt seines Sohnes nicht mehr herabgelassen, sie zu besuchen, und er hegte nicht die Absicht, ihre Beziehungen nun zu erneuern.

Macon Dead grub in seiner Tasche nach den Schlüsseln und krümmte die Finger um sie, ließ ihre gebündelte Festigkeit

Dorthin ging er nun – stolzierte wäre das bessere Wort, denn er besaß einen hohen Hintern und den weit ausholenden Gang eines Athleten – und dachte über Namen nach. Sicher, dachte er, hatten er und seine Schwester irgendeinen Vorfahren, einen geschmeidigen jungen Mann mit onyxfarbener Haut und Beinen, so gerade wie Bambusrohr, der einen wirklichen Namen gehabt hatte. Einen Namen, der ihm bei der Geburt mit Liebe und Ernst verliehen worden war. Einen Namen, der kein Witz war, keine Maske und kein Markenzeichen. Aber wer dieser geschmeidige junge Mann war und von woher seine Bambusbeine ihn wohin getragen hatten, würde man nie erfahren. Nein. Auch nicht seinen Namen. Seine eigenen Eltern hatten, in irgendeiner perversen Anwandlung von Resignation, eingewilligt, einen Namen hinzunehmen, der ihnen von jemandem angetan worden war, dem nichts hätte gleichgültiger sein können. Eingewilligt, ihn hinzunehmen und all ihren Nachkommen weiterzugeben, diesen belastenden Namen, den ein betrunkener Yankee der Unionsarmee in völliger Gedankenlosigkeit hingekritzelt hatte. Buchstäblich ein Schreibfehler, seinem Vater auf einem Stück Papier ausgehändigt, das er an seinen einzigen Sohn weiterreichte, der desgleichen tat und es an seinen Sohn weiterreichte, an Macon Dead, der einen zweiten Macon Dead zeugte, der Ruth Foster (Dead) ehelichte und Magdalene, Lena Dead genannt, und First Corinthians Dead und (als er es am wenigsten erwartete) einen weiteren Macon Dead zeugte, der nun in dem Teil der Welt, auf den es ankam, als Milchmann Dead bekannt war. Und, als sei dies

Als junger Vater hatte er die Sitte unterstützt, die Namen für alle Kinder – mit Ausnahme des ersten männlichen – blindlings der Bibel zu entnehmen. Und auf was immer sein Finger deutete, dabei war er geblieben, denn er wußte um jede Konfiguration bei der Namensgebung seiner Schwester. Wie sein Vater, verwirrt und melancholisch ob des Todes seiner Frau im Kindbett, die Bibel durchgeblättert und, da er nicht ein Wort lesen konnte, eine Gruppe von Buchstaben ausgewählt hatte, die ihm stark und schön erschien; in der er eine ausladende Figur erblickte, die aussah wie ein Baum, der sich hoheitsvoll, aber beschützend über eine Reihe kleinerer Bäume breitete. Wie er die Gruppen von Buchstaben auf ein Stück braunes Papier kopiert hatte – wie es Analphabeten tun –, jeden Schnörkel, Bogen und Balken der Buchstaben kopiert und das Ganze der Hebamme vorgelegt hatte.

«Das ist der Name des Babys.»

«Das willst du als Namen für das Baby?»

«Das will ich als Namen für das Baby. Sag ihn.»

«So kannst du das Baby nicht nennen.»

«Sag ihn.»

«Das ist ein Männername.»

«Sag ihn.»

«Pilate.»

«Was?»

«Pilate. Du hast Pilate aufgeschrieben.»

«Peillot, wie auf den Flußschiffen?»

«Nein. Nich wie das Peillot auf 'nem Flußschiff. Wie 'n Heilandmörder. Kannst kaum 'n schlimmeren Namen finden. Für 'n kleines Mädchen auch noch.»

«Mein Finger hat drauf gedeutet.»

«Na, brauchst mit dem Hirn ja nich folgen. Willst das mutterlose Kind hier doch nich nach dem Mann nennen, der Jesus ermordet hat, oder?»

«Vorsicht, Macon.»

«Hab ihn die ganze Nacht gebeten.»

«Hat dir dein Baby gegeben.»

«Ja. Hat er. Baby namens Pilate.»

«Jesus, Erbarmen.»

«Wo willst du hin mit dem Stück Papier?»

«Wandert hin, wo es herkommt. Gradwegs in dem Teufel sein Feuer.»

«Gibs her. Kommt aus der Bibel. Bleibt in der Bibel.»

Und da blieb es, bis das Mädchen zwölf wurde und es herausnahm, zu einem winzigen Päckchen faltete und in ein Messingkästchen steckte und das ganze Ding an seinem linken Ohrläppchen befestigte. So eigen, wie sie als Zwölfjährige mit ihrem Namen gewesen war – wieviel eigenartiger sie seitdem geworden sein mochte, konnte Macon nur raten. Aber er wußte sicher, daß sie die Namensgebung des dritten Macon Dead mit der gleichen Achtung und Ehrfurcht behandeln würde, mit der sie sich bei der Geburt des Jungen verhalten hatte.

Macon Dead erinnerte sich, daß sie, als sein Sohn geboren wurde, sich mehr für diesen ersten Neffen zu interessieren schien als für ihre eigene Tochter und sogar für die Tochter dieser Tochter. Noch lange nachdem Ruth wieder wohlauf und so gut imstande war, den Haushalt zu führen, wie man es von ihr je erwarten durfte – und da war nicht viel zu erwarten –, kam Pilate weiterhin zu Besuch, mit offenen Schnürbändern, eine Strickmütze tief in die Stirn gezogen, und trug ihr närrisches Ohrgehänge und ihren widerlichen Geruch in die Küche. Seit seinem sechzehnten Jahr hatte er sie nicht mehr gesehen, erst ein Jahr vor der Geburt seines Sohnes war sie in seiner Stadt aufgetaucht. Nun benahm sie sich wie eine Schwägerin, wie eine Tante, pfuschte herum in dem Versuch, Ruth und den Mädchen zur Hand zu gehen, aber da sie von ordentlicher Haushaltsführung weder etwas verstand noch ein Interesse dafür aufbrachte, war sie im Weg. Schließlich setzte sie sich bloß auf einen Stuhl neben die Wiege und sang dem Baby vor. Das war so schlimm nicht, aber woran Macon sich vor allem erinnerte, war der Ausdruck in ihrem Gesicht. Überraschung stand darin und Eifer. Aber in solcher Intensität, daß es ihm Unbehagen bereitete. Oder vielleicht war es

Schließlich hatte er ihr verboten wiederzukommen, solange sie nicht ein wenig Selbstachtung an den Tag legen konnte. Eine richtige Arbeit finden konnte, statt eine Weinbude zu betreiben.

«Warum kannst du dich nicht kleiden wie eine Frau?» Er stand neben dem Herd. «Was soll die Matrosenmütze da auf deinem Kopf? Hast du keine Strümpfe? Willst du, daß ich mein Gesicht verliere hier in der Stadt?» Er bebte, wenn er daran dachte, daß die Weißen in der Bank – die Männer, die ihm halfen, Häuser zu kaufen und Hypotheken aufzunehmen – herausfinden könnten, daß diese abgerissene illegale Weinpanscherin seine Schwester war. Daß der begüterte Neger, der sein Geschäft so geschickt führte und in dem großen Haus in der Not Doctor Street wohnte, eine Schwester besaß, die eine Tochter, aber keinen Mann hatte, und daß diese Tochter eine Tochter, aber keinen Mann hatte. Ein Haufen Irrer, die Wein brauten und in den Straßen sangen «wie gewöhnliche Straßendirnen! Genau wie gewöhnliche Straßendirnen!»

Pilate hatte dagesessen und ihm zugehört, ihre fragenden Augen auf sein Gesicht gerichtet. Dann sagte sie: «Hab mich um dich auch krank gesorgt, Macon.»

Aufgebracht war er zur Küchentür gegangen. «Mach nur weiter, Pilate. Nur weiter so. Die Wand zwischen mir und dem Bösen ist hauchdünn, und ich versuch, sie nicht zu durchbrechen.»

Pilate stand auf, warf sich ihre Steppdecke um und ging, mit einem letzten liebevollen Blick auf das Baby, zur Küchentür hinaus. Sie kam nie wieder.

Als Macon Dead die Tür seines Büros erreichte, sah er ein paar Schritte entfernt eine untersetzte Frau und zwei kleine Jungen stehen. Macon schloß seine Tür auf, ging zu seinem Schreibtisch

«Tag, Mr. Dead, Sir. Bin Mrs. Bains. Wohn drüben in Nummer drei in der Fünfzehnten.»

Macon erinnerte sich – nicht an die Frau, aber an die Umstände in Nummer drei. Die Großmutter oder Tante oder was auch immer seines Mieters war dort eingezogen, und die Miete war seit langem überfällig.

«Ja, Mrs. Bains. Sie haben was für mich?»

«Also – deswegen komm ich, mit Ihnen reden. Wissen ja, Cency hat mich mit den ganzen Babies hängenlassen. Un mein Wohlfahrtsscheck reicht für nich mehr, als 'nen ausgewachsnen Hofhund lebendig zu halten – halblebendig, sollt ich sagen.»

«Ihre Miete beträgt 4 Dollar im Monat, Mrs. Bains. Sind schon zwei Monate im Rückstand.»

«Weiß wohl, Mr. Dead, Sir, aber Babies halten nich durch, ohne was im Bauch.»

Ihre Stimmen waren leise, höflich, nichts deutete auf einen Konflikt hin.

«Halten sie auf der Straße durch, Mrs. Bains? Da sitzen sie nämlich, wenn Sie sich nich was ausdenken, wie Sie mir mein Geld verschaffen.»

«Nee, Sir. Halten nich durch auf der Straße. Wir brauchen beides, schätz ich. Grad so wie Ihre.»

«Dann halten Sie sich mal besser dran, Mrs. Bains. Haben Zeit bis –» er drehte sich zur Wand, um den Kalender zu Rate zu ziehen – «bis kommenden Samstag, Mrs. Bains. Nich Sonntag. Nich Montag. Samstag.»

Wäre sie jünger gewesen und noch voller Saft, das Glitzern in ihren Augen hätte ihre Wangen überströmt. Nun, in dieser Phase ihres Lebens, schimmerte es nur. Sie preßte die Handfläche auf Macon Deads Schreibtisch, beschränkte das Schimmern auf ihre Augen und schob sich vom Stuhl hoch.

«Was bringts Ihnen, Mr. Dead, mich un die Kinder da rauszusetzen?»

«Samstag, Mrs. Bains.»

Gesenkten Kopfes flüsterte Mrs. Bains etwas und ging langsam und schwerfällig aus dem Büro. Als sie die Tür zu Sonnys Laden

«Was hat er 'n gesagt, Granny?»

Mrs. Bains legte dem größeren Jungen eine Hand aufs Haar und spielte leicht damit, suchte mit den Nägeln gedankenabwesend nach verschorften Stellen.

«Muß nein zu ihr gesagt haben», meinte der andere Junge.

«Müssen wir raus?» Der große Junge schüttelte ihre Finger ab und sah sie von der Seite an. Seine Katzenaugen waren goldene Schlitze.

Mrs. Bains ließ ihre Hand herabfallen. «Ein Nigger im Geschäft is ein schrecklicher Anblick. Ein schrecklicher, schrecklicher Anblick.»

Die beiden Jungen sahen einander an und wieder auf ihre Großmutter. Ihre Lippen waren geöffnet, als hätten sie etwas Bedeutsames vernommen.

Als Mrs. Bains die Tür schloß, wandte Macon Dead sich wieder den Seiten seines Rechnungsbuchs zu, ließ die Fingerspitzen über die Zahlen gleiten und dachte mit dem unbeschäftigten Teil seines Verstands daran, wie er Ruth Fosters Vater zum erstenmal seine Aufwartung gemacht hatte. Nur zwei Schlüssel steckten damals in seiner Tasche, und hätte er Leuten wie der Frau, die eben gegangen war, ihren Willen gelassen, dann hätte er überhaupt keinen Schlüssel besessen. An diesen Schlüsseln lag es, daß er es wagen konnte, in jenen Abschnitt der Not Doctor Street hinüberzugehen (Doctor Street hieß sie damals noch) und sich dem wichtigsten Neger in der Stadt zu nähern. Die Löwenklaue klopfend gegen die Tür fallen zu lassen, sich mit dem Gedanken zu tragen, die Tochter des Doktors zu ehelichen – das war nur möglich, weil jeder Schlüssel für ein Haus stand, das er zu jener Zeit besaß. Ohne jene Schlüssel wäre er bei dem ersten «Ja?» des Doktors abgedriftet. Oder wie frisches Wachs unter der Hitze dieser fahlen Augen zerschmolzen. Statt dessen war er imstande zu sagen, er sei seiner Tochter, Miss Ruth Foster, vorgestellt worden und würde sich glücklich schätzen, wenn der Doktor ihm erlaube, ihr hier und da Gesellschaft zu leisten. Daß seine Absichten ehrenwert seien und er selbst es gewiß verdiene, vom Doktor als ritterlicher Freund seiner Tochter in Erwägung gezogen zu werden, da er, mit fünfundzwanzig, bereits ein farbiger Mann von Besitz sei.

In Wirklichkeit wußte der Doktor eine ganze Menge über ihn und war diesem hochgewachsenen jungen Mann dankbarer, als zu zeigen er sich gestattete. Lieb wie ihm sein einziges Kind war, nützlich wie sie sich im Haus seit dem Tod seiner Frau erwies, hatte er doch in letzter Zeit begonnen, sich an ihrer Anhänglichkeit zu stoßen. Ihr steter Strom von Liebe war beunruhigend, und sie hatte die Gesten der Zuneigung, die in ihrer Kindheit so liebenswert gewesen waren, nie abgelegt. Allein schon der Gutenachtkuß war ein Meisterstück an Begriffsstutzigkeit auf ihrer und von Unbehagen auf seiner Seite. Mit sechzehn bestand sie noch immer darauf, daß er abends zu ihr kam, sich auf ihr Bett setzte, ein paar scherzhafte Worte mit ihr tauschte und ihr einen Kuß auf die Lippen drückte. Vielleicht lag es am lauten Schweigen seiner toten Frau, vielleicht an Ruths bestürzender Ähnlichkeit mit ihrer Mutter. Wahrscheinlicher noch lag es an der Ekstase, die in Ruths Gesicht immer aufzuglühen schien, wenn er sich zum Kuß über sie beugte – einer Ekstase, die er als dem Anlaß unangemessen empfand.

Nichts von alldem hatte er natürlich dem jungen Mann dargelegt, der seine Aufwartung machen kam. Worauf zurückzuführen ist, warum Macon Dead noch immer glaubte, die beiden Schlüssel hätten magisch gewirkt.