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Mit 22 Federzeichnungen von Paul Flora
ISBN 978-3-492-95044-2
Juni 2016
Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2006 und 2010
Karte: cartomedia, Karlsruhe
Coverkonzept: Büro Hamburh
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, Egling
Covermotiv: Tappeiner AG
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
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Autor und Verlag erinnern mit Dankbarkeit an Paul Flora, der die Genehmigung zum Abdruck seiner Zeichnungen gegeben hat, die sich im Privatbesitz von Sabine Stehle befinden.
»Die Talbewohner von Villnöß sind verständige, arbeitsame Leute, welche die Landwirtschaft mit Auszeichnung betreiben … «
Johann Jakob Staffler
»Ich frage mich, wie viele Horizonte das Land hat, den von oben gesehenen, den aus Tälern gesehenen und den innen im Stein. Ich frage mich: wie viele ungesehene Horizonte, und welcher Teil den Teil überwiegt, der offen liegt; und um wie viel in diesem offenen Teil der abseits unbekannte, kaum je von einem Blick betretene, den überwiegt, mit dem wir uns begnügen müssen und uns zurechtfinden: hier die Straße, Richtung, Einteilung des Landes auf seinem uns zugänglichen, unvollständigen Teil.«
Franz Tumler
Wer von Berlin, Warschau oder Zakopane nach Rom fahren will – im Zug, mit dem Auto oder auf dem Fahrrad –, kommt um Südtirol schwer herum. Denn Südtirol liegt als eine Art Nadelöhr nicht nur auf dem Weg ins ehemalige Machtzentrum des antiken Europa, es liegt auch im Gebirge, im vielfältigsten Stück der Alpen, genau dort, wo der Süden Europas auf den Norden des Kontinents trifft. Dieses Land ist schon lange nicht mehr das Ende der Welt. Südtirol liegt heute mitten in Europa.
Vor hundert Jahren war das nicht anders, und das Land Tirol war ungeteilt. Damals wagte es der Lehrer Sepp Schluiferer alias Carl Techet, seine Heimat in einem geistreichen Büchlein mit dem Titel »Fern von Europa. Tirol ohne Maske« als weltfremd, undemokratisch und hinterwäldlerisch zu schildern. Er wurde in die Verbannung geschickt. Nur weil er recht hatte. Heute würde ein solches Buch wahrscheinlich gar nicht erst gedruckt. Weil der Großteil der Druckmaschinen, die inzwischen vom Machtapparat subventioniert werden, jenen gehören, die immer noch keinen Wert auf Aufklärung legen. Denn in Südtirol sind Publikationen in erster Linie dazu da, um das Land zu preisen. Weder jene, die im Lande leben, noch all jene – es sind viel mehr, es sind Millionen –, die auf ihrer Urlaubsreise das lokale Bruttosozialprodukt aufbessern, sollen mehr über Land und Leute wissen als unbedingt notwendig. Gegen die Aufklärung haben schließlich schon die Schützen unter Andreas Hofer gekämpft.
Einen objektiven Ratgeber in Sachen Südtirol allerdings werden Sie auch in mir nicht finden, denn wie alle Südtiroler liebe auch ich meine Heimat. Nicht etwa, weil dies meine Pflicht wäre. Zuallererst weil sie so wunderschön ist.
Wenn ich von meinen Reisen nach Tibet, in die Antarktis oder nach Patagonien zurückkomme, empfinde ich dies in besonderem Maße. Denn aus der Ferne sieht man seine Heimat immer »schöner«. Es liegt also allein an mir, wenn meine Erwartungen beim Zurückkommen oft enttäuscht werden. Vielleicht hat mich nur diese Sehnsucht und dann der Schock, wenn das »Ideal« nicht den vorgefundenen Tatsachen entsprach, zu einem kritischen Südtiroler werden lassen. Trotzdem bin ich Südtiroler geblieben. Für mein Selbstwertgefühl allerdings brauche ich kein Vaterland und keine Heimatfahne, keine Nation und keine Revolution, auch keine Nationalhymne. Ich bin nicht stolz, Südtiroler zu sein, höchstens dankbar dafür, in diesem kleinen »Land an der Etsch und im Gebirge« groß geworden zu sein, und bereit, Verantwortung für die Zukunft hier zu übernehmen.
Als Südtiroler habe ich kein national geprägtes Selbstverständnis. Mir reicht ein lokales. Also bin ich weder Italiener noch Österreicher oder Deutscher. Ich bin Südtiroler, als solcher italienischer Staatsbürger, auch Europäer und ein bisschen Weltenbürger. Bin ich doch viel auf diesem Planeten herumgekommen. Vor allem dort, wo die Erde wild geblieben ist: in den Sand- und Eiswüsten, in den großen Gebirgen und auf menschenleeren Hochflächen. Das Überleben war dort oft das einzige Problem.
Leicht hat man mir das Leben auch daheim nicht gemacht. Denn als moderner Nomade war ich rasch zum heimatlosen Gesellen abgestempelt, gar zum Egomanen, zum Nestbeschmutzer auch, weil ich vergessen hatte, die Heimatfahne am Everest zu hissen. Als gelte die Selbstbestimmung, die wir Südtiroler unentwegt fordern, nur im Kollektiv, nicht für den Einzelnen.
Trotz alledem aber bin ich Südtiroler geblieben. Auch werde ich immer wieder in dieses Land zwischen Ortler und Dolomiten, zwischen Brenner und Salurn zurückkehren. Ich habe vor hierzubleiben. Nicht nur, weil ich mit meinem Bergmuseum endlich eine Chance erhalten habe, mich auch hier auszudrücken, meine Erfahrungen einzubringen, vor allem, weil ich kein lebenswerteres Fleckchen Erde in Mitteleuropa kenne. Zwischen Weinreben und Gletscherfirn, zwischen Dörfern und Höfen ist es gerade dieses Landschaftsbild, dieses Licht, dieser Menschenschlag, die zu mir gehören. Dieses mir Eigene, das Lokale, das Unsere ist es, das mir Heimat bedeutet. Ja, ich stehe zu Südtirol, dieser kleinen Provinz, und ich bin überzeugt davon, dass es vor allem das Provinzielle ist – sollten wir es bewahren können –, das uns Südtiroler in einer globalisierten Welt auszeichnet und bestehen lässt.
Vor 5300 Jahren, als sich ein fellbekleideter Mann in den Ötztalern, einen Steinwurf weit vom Alpenhauptkamm entfernt, zum Sterben niederlegte, gab es weder nationale noch regionale Grenzen. Die Menschen lebten als Halbnomaden und zogen sommers, Steinböcke jagend und Beeren sammelnd, mit ihren domestizierten Tieren umher. Im Frühling ging es bergwärts, im Herbst talwärts. An ihren Winterplätzen, wo sie Hirse und Gerste anbauten, bleiben sie nur ein paar Monate lang. Dort, in festen Behausungen, wurden Kraxen, Hausrat, Waffen und Kleider ergänzt, alles, was sie zum Überleben brauchten, wenn sie im Sommer wieder auf die Weideflächen über der Waldgrenze zogen, wo die Tiere stark und widerstandsfähig für die harten Winter wurden. Diese späten Steinzeitmenschen wussten nichts von Vitaminen und Mineralien. Sie teilten sich ihr Territorium, das sie in Tagesmärschen ausmaßen, mit anderen Sippen und gehorchten den Gesetzen der Natur. Ihre Religion entsprach der Natur draußen, der Menschennatur und dem Lauf der Gestirne.
Wir wissen nicht, wie der Mensch, den wir heute Ötzi oder Similaunmann nennen – für die Amerikaner heißt er Frozen Fritz –, in einen Hinterhalt geriet. Auch nicht wann und wo. Ausgekannt allerdings hat er sich gut zwischen den Fernern und Felsen hoch oben über der Baumgrenze. Er ist wohl ein Stück weit geflohen – nach überstandenem Nahkampf, angeschossen, die Pfeilspitze im Rücken. Ob er an seinen Verletzungen, an Schwäche oder an Unterkühlung gestorben ist, muss vorerst offen bleiben. Jedenfalls hatte er alles bei sich, was ein Halbnomade damals so brauchte: Kupferbeil, Bärenfellmütze, Messer, Pfeile, bestens isolierte Schuhe und einen noch unfertigen Langbogen.
Als man ihn 1991 am Hauslabjoch in Südtirol aus dem Eis pickelte, entschlüsselte sich der Wissenschaft das alpine Leben in der Kupferzeit. Heute ist die Eisleiche weltberühmt. Gewebeproben des ausgetrockneten, spindeldürren Körpers, mit einer Haut wie gegerbt, wurden von Wissenschaftlern rund um den Globus angefordert. Sein Mageninhalt, sein Stuhl, seine Tätowierungen wurden untersucht, seine Lebensweise studiert. Diese Mumie ist inzwischen Forschungsobjekt und Ausstellungsstück zugleich, sie wird weiter untersucht, beschrieben und ausgestellt. Ihre Zelle im großzügig gestalteten Archäologischen Museum in der Bozener Altstadt ist ein- und ausbruchsicher, bestens isoliert und offensichtlich anziehender als jeder Reliquienschrein. Denn Ötzis Anblick lässt niemanden kalt. Auch wenn er den meisten Museumsbesuchern einen kalten Schauer ins Herz jagt. Obwohl Temperatur und Luftfeuchtigkeit nur in der Zelle konstant wie im Gletschereis gehalten werden. Das kleine Guckloch, durch das Millionen einen Blick geworfen haben, besteht aus acht Zentimeter dickem Panzerglas. Niemand allerdings fragt sich: Ob sich Ötzi auch jodelnd unterhalten hat? Wie die Südtiroler es heute noch tun, wenn sie von Bergkamm zu Bergkamm rufen. Aber das Einsteigen in fremde Behausungen, »Fensterln« genannt, gehörte sicherlich schon damals zum männlichen Vorspiel im Sexualverhalten! Denn es gibt seit alters her sonderbare Verhaltensmuster der Gebirgler. Auch seltene Krankheitsbilder. Wie das »Ausrichten«, die schlechte Nachrede hinterm Rücken des Betroffenen zum Beispiel. Vermutlich waren die Regeln des menschlichen Zusammenlebens vor gut fünftausend Jahren lockerer als jene in einem modernen Südtirol, wo fast alles verboten ist, was Bürokraten der EU in Brüssel und das Heer von Beamten in Rom oder Bozen nicht ausdrücklich erlaubt haben. Ötzi hat seine Tiere noch selbst geschlachtet, das Fleisch zerlegt, gekocht oder gebraten und zuletzt mit den Seinen verspeist. Für den Selbstgebrauch ist diese Vorgehensweise bei uns heute noch erlaubt. Will ich das Öko-Fleisch vom eigenen Hof aber Gästen, die vorbeikommen, vorsetzen, brauche ich neben einer Gasthauslizenz ein Schlachthaus, das EU-konform sein muss und damit mehr kostet, als ein Hof in einer Generation abwirft. Die EU-Regeln erlauben das Schlachten und Vermarkten am eignen Hof zwar ohne besondere Auflagen, Rom duldet es, Bozen aber hat so strikte Regelungen erlassen, dass dem professionellen Metzger mindestens ein Rechtsanwalt und ein Verwalter zur Seite gestellt werden müssen, will er als Öko-Bauer nach einer Hofschlachtung straffrei bleiben. Die Tiere in ein gemeinschaftliches Schlachthaus zu liefern, was Stresshormone im Fleisch zur Folge hat, bedeutet zwar weniger Sorgen, verursacht aber viel mehr Kosten, als das Tier auf dem freien Markt wert ist. Weil die allermeisten Bauern aber Subventionsempfänger sind, dulden sie diese gesetzlichen Regelungen aus der Landeshauptstadt und sind still.
Nur was der Papst sagt, nimmt kaum jemand ernst. Auch wenn ihn in seiner Weltfreundlichkeit alle beklatschen. Das bringt die Popkultur so mit sich, die inzwischen Berg und Alm, Vatikan und Kirche gleichermaßen erobert hat.
Jedem Land, jedem Sender, jeder Sekte ihre Stars. Wir Südtiroler haben Ötzi. Dabei wissen wir nicht einmal, ob Ötzi ein neolithischer Häuptling, eine Art Clanchef also, ein Schamane oder ein Händler gewesen ist. Nein, wir wissen es nicht wirklich. Vielleicht war er ja auch nur unterwegs, um nach seinen Schafen zu sehen. Er war tätowiert, besaß wohl heilende Fähigkeiten, denn in seinem Medizinbeutel fand man einen bewusstseinsverändernden Pilz. Hexen aber konnte er so wenig wie spätere Generationen von Südtirolern. Auch zaubern nicht. Er kannte sich nur gut aus in seinem Gebirge. Es ist jedenfalls anzunehmen, dass auch er schon das heutige Hoch- oder Niederjoch als Übergang über den Alpenhauptkamm gewählt hat, ehe er irgendwo hoch oben im Gebirge in einen Hinterhalt geriet. Was in den letzten Stunden im Leben des Eismannes dann geschah, bleibt ein unaufgeklärter Mordfall, ein »Steinzeitcrime«, zu dem die Wissenschaft zwar immer neue Indizien, aber keinerlei Beweise liefern kann. Dass es Mord war, ist klar. Die Pfeilspitze in Ötzis Schulter und Blutspuren von vier Menschen an seinen Kleidern und Waffen sind Beweise genug. Der alte Mann – immerhin 47 – muss sich also mächtig gewehrt haben. Dann ist er wohl geflohen. Dorthin, wo er sich verstecken konnte? Dorthin, wo sich seine Verfolger nicht auskannten? Dorthin, wo er sie abschütteln konnte? Zwischen Hoch- und Niederjoch gibt es nur diesen einen Fluchtweg über den Gletscher, den Übergang, den Ötzi gewählt hat. Kein Problem für einen Steinzeitbergsteiger. Auch vor 5300 Jahren nicht. So vereist, wie es heute ist, würde auch ich mich dort aus dem Staub machen, wenn ich in Bedrängnis geriete. Nein, Ötzi hat sich nicht im Gebirge verlaufen, er hat seine Kenntnisse von den Bergen zur Flucht nach vorne genutzt. Wie wir Südtiroler es heute noch tun.
Hinterhältigen Mord gab es also zu allen Zeiten. »Im Land an der Etsch und im Gebirge« ebenso wie im Zweistromland oder in den zentralasiatischen Steppen. Auch in unseren Bergen ersannen die Menschen folglich Möglichkeiten des Entkommens, der Verteidigung und der Abgrenzung. Berge sind schließlich keineswegs nur als hochgelegene Weide- und Jagdgründe zu gebrauchen. Bereits Jahrtausende vor dem Zeitalter der Nationen und Nationalismen muss es also im hiesigen Gebirge so etwas wie ein lokales Zusammengehörigkeitsgefühl gegeben haben, das später in Freiheitskämpfen, Sonderrechten – über Jahrhunderte hinweg zusammen mit dem Rest von Tirol – und einem selbstbewussten Bauernstand seinen Ausdruck gefunden hat. Kein Wunder, trotz verbreiteter Armut und zeitweise vernachlässigt von den Habsburgern, blieb der Großteil der Südtiroler bis zum Ersten Weltkrieg kaisertreu, bodenständig und konservativ. Dann erst geriet das dreisprachige Land, das zu keiner »Kulturnation« passen wollte, in den Sog nationalstaatlicher und nationalistischer Auseinandersetzungen, deren Folgen bis heute nachklingen. Erst ein wachsendes Europabewusstsein hat Südtirol zur Brücke zwischen Süd und Nord, uns Südtiroler zu einem lebendigen Teil im Gärteig des Europa der Vielfalt werden lassen. Südtirol ist heute zugleich Grenzregion und Kontaktzone zwischen dem deutschen und dem italienischen Kulturraum. Bei inzwischen offenen Grenzen sind wir Südtiroler dabei, uns zu positionieren, unsere Nische, unseren Stellenwert zu finden. Dass dabei immer wieder Abgrenzung und Vereinnahmung, Selbstbehauptung und Fremdbestimmung hochkochen, ist wohl normal in einem Land, das erst seit zwei, drei Generationen eine klare territoriale Eingrenzung kennt.
Auch weil Südtirol im Norden des Brenners Jahr für Jahr zur österreichischen »Herzensangelegenheit« erklärt wird, verstummen die Forderungen nach Wiederherstellung der Landeseinheit im Süden des Brenners nicht mehr. Dazu immer diese Bitte um Schutz. Auch wenn die Vision eines »Europa der Regionen« an Strahlkraft verliert, die politische und kulturelle Eigenständigkeit des autonomen Südtirol wäre stark genug, um seine Kinderkrankheiten zu überstehen.
Zum Beispiel die Toponomastik. 2010 wieder kam es zum Streit zwischen staatlichen Behörden und Südtiroler Landesregierung, weil der Südtiroler Alpenverein mehr als 30 000 nur deutschsprachige Wegweiser aufgestellt hatte. Der Landtagsabgeordnete der SÜD-TIROLER FREIHEIT, Sven Knoll, warnte damals davor, das Militär nach Südtirol zu schicken, damit dieses alle deutsch- und ladinischsprachigen Hinweisschilder entfernt, wie angedroht. Dies sei eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit.
»Nicht auszudenken, was passieren kann, wenn bewaffnete Militäreinheiten durch die Wälder Südtirols streifen und es zu Auseinandersetzungen mit Bürgern kommt, die gegen dieses Vorhaben protestieren, oder sich die Eigentümer von Privatgrund weigern, die auf ihrem Grund befindlichen Hinweisschilder zu entfernen.
Wenn Italien seine Drohungen wahr macht, ist damit nicht nur die Autonomie am Ende, sondern auch der Schutz der deutsch- und ladinischsprachigen Bevölkerung.
Auf erschreckende Art und Weise wird der Bevölkerung vor Augen geführt, mit was für einem Staat man es mit Italien zu tun hat, der zur Durchsetzung seiner nationalistischen Politik sogar vor militärischen Initiativen in Südtirol nicht zurückschreckt.
Angesichts derart besorgniserregender Entwicklungen ist die Einschaltung der Schutzmachtfunktion Österreichs absolut notwendig.«
Nun, Südtirol ist seit 1919 Teil von Italien, und auch die Italienisch sprechenden Südtiroler haben das Recht, sich im Land anhand von italienischen Hinweisschildern zu orientieren. Deswegen müssen nicht, wie es während des Faschismus leider passiert ist, Eigennamen ins Italienische übersetzt werden. Aber wir Deutsch sprechenden Südtiroler dürfen die Landeshauptstadt auch weiterhin Bozen nennen, obwohl die Mehrheit in dieser Stadt von Bolzano spricht. Toleranz, Augenmaß und die Kunst des Miteinander sind in diesem Zusammenhang gefordert und nicht das alte »nationale« – oder Kirchturm-Denken: »Siamo in Italia« und »Mir sein mir«. Schließlich leben wir von einem internationalen Tourismus und sind stolz auf unsere Mehrsprachigkeit.
Die Autonomie, die alle drei Südtiroler Sprachgruppen schützt, garantiert dem Land heute weitgehende Selbstverwaltung in Italien und im Rahmen der EU. Ob diese Südtirol-Autonomie allerdings zum Modell für andere Minderheiten wird, hängt zuletzt wohl davon ab, wie weit sich die drei Sprachgruppen mit ihrer gemeinsamen Verwaltung identifizieren können. Selbstbestimmung garantiert nicht nur Rechte, sie ist auch Verpflichtung. Ich gehöre gerne dazu und verteidige wo auch immer unsere Autonomie. Meinen starken Drang zu einem selbstbestimmten Leben allerdings will ich für das Dazugehören nicht opfern müssen. Deshalb werde ich als Südtiroler weiterhin für mehr Südtiroler Selbstverständnis, für mehr Autonomie des Einzelnen und vor allem für den Erhalt unserer einmaligen Landschaft streiten.
Ich bin in diesem Land nicht nur deshalb auf Widerstände gestoßen, weil dieses Land von Tälern zerfurcht, von Wildbächen durchflossen und von schroffen Bergen umstanden ist. Es sind immer wieder Monopole – Verwaltungsmonopol, Sammelpartei, Medienmonopol –, die versuchen, sich das Land zur Beute zu machen. Dabei gehört Südtirol uns allen gemeinsam, vor allem jenen, die bereit sind, die Verantwortung für das Morgen zu übernehmen. Denn unser Reichtum ist schnell verspielt, wenn wir im weltweiten Wettbewerb unser Südtiroler-Sein, unsere Landschaft und unsere persönliche Autonomie dem billigen und schnellen Erfolg opfern. Und damit meine ich auch und vor allem die Selbstbestimmung des Einzelnen. Ob wir dabei Dichter, Handwerker oder Bergbauern sind, bleibt sekundär.
»Wer die schwierige Kunst des Zusammenlebens schätzt oder gar erlernen möchte, wisse, dass gemischte Gruppen der beste Weg dazu sind. Sie stellen heute wohl das einfachste und gleichzeitig das wirksamste Gegenmittel gegen den allerorts aufflackernden ethnischen Konflikt und gegen den Rückfall in ethnozentrische Barbarei dar.«
Alexander Langer, Die Mehrheit der Minderheiten
Wie vielen anderen ist auch den Südtirolern ihre Heimat heilig. Aber wer sind wir Südtiroler überhaupt, und wessen Heimat ist Südtirol? Gibt es da nicht mehrere Kulturen, viele Minderheiten, mehrere Sprachgruppen in diesem kleinen Land? Ladiner, Italienisch sprechende, deutsche Südtiroler? Und haben wirklich alle Südtiroler das gleiche Heimatrecht? Natürlich, alle Südtiroler haben ein ganz eigenes Bild von ihrer Stadt, ihrem Land, ob Bauer oder Fabrikarbeiter, Händler oder Hausfrau. Alle haben ihren unmittelbaren Bezug zu ihrer Geschichte, zu ihrem Haus. Wie zu ihren Vorfahren, Nachbarn und Verwaltern auch. Für jede und jeden ist ein anderer Winkel von besonderem Flair. Diese Südtiroler aber sind nicht immer und überall zu jedermann gleich. Zudem neigen deutschsprachige Südtiroler bei all ihrer Liebe zu Ordnung, Disziplin und Geradlinigkeit zur Unberechenbarkeit. Italienisch sprechende Südtiroler sind in ihrer Kreativität oft sprunghaft, aber sofort in der Defensive, wenn es um ihre Rechte geht. Aus dieser Art Unbehagen heraus sind ihre Klagen um mehr Mitsprache zwar nicht gerechtfertigt, dennoch ist da ein ungutes Gefühl. Der Bevölkerungsteil Südtirols, der einen rätoromanischen Dialekt spricht, die Ladiner – die weitaus kleinste Gruppe zwischen grob einem Drittel »Italienern« und zwei Drittel »Deutschen« im Lande –, sind die Einzigen, die immer und überall in der Minderheit sind. Außer in ihren Tälern, wo sie Gäste aus aller Welt verwöhnen. Sie sind die einzig wahre Minderheit im Lande.
Benachteiligt aber fühlen sich nur Italiener. Wie kommt es denn dazu? Gehören doch jene Südtiroler mit Italienisch als Muttersprache zur Mehrheit in Italien. Nur weil sich die Deutschsprachigen, die zur größten Sprachgruppe im Rahmen der EU zählen und in Italien eine Minderheit darstellen, als die eigentlichen Landesherren fühlen? Wie es umgekehrt bis 1960 die Italiener im Lande taten. Ja, der Schlüssel zum Verständnis dieser Spannung, der heutigen Südtirol-Problematik also, ist die Tatsache, dass die »Deutschen« die Mehrheit im Lande bilden. Mit ihrer Politik der Sammelpartei – eine Mittepartei, die einst drei Viertel der deutschen Stimmen auf sich vereinte – wurde das Land lange Zeit politisch monopolisiert. Ich will dies weder kritisieren noch gutheißen – jedes freie Volk wählt sich das politische System, das es verdient. Es gilt nur darauf hinzuweisen, dass dieser Zustand beim Ita