Weitere Romane von Christine Feehan bei Heyne:
Dämmerung des Herzens, Zauber der Wellen, Gezeiten der Sehnsucht und Magie des Windes (DRAKE SISTER-Serie)
Mehr über Autorin und Werk unter:
www.christinefeehan.com
Christine Feehan ist in Kalifornien geboren, wo sie heute noch mit ihrem Mann und ihren elf Kindern lebt. Sie begann bereits als Kind zu schreiben und hat seit 1999 zahlreiche Romane veröffentlicht, für die sie mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet wurde. Mit über sieben Millionen Büchern weltweit zählt sie zu den erfolgreichsten Autorinnen der USA.
setzt ihre atemberaubende Saga
um den Bund der Schattengänger
fort in:
DAS BOOT SCHOB sich durch den grünen Schlick der Louisiana Bayou, der Motor tuckerte langsam und gleichmäßig vor sich hin. Der eben noch blaue Himmel erglühte in farbenprächtigen Rosa-, Rot- und Orangetönen. Die Nacht brach schnell herein, und der Sumpf erwachte zum Leben. Schlangen ließen sich von Ästen ins Wasser fallen, und Alligatoren röhrten einander zu, ehe sie in das mit Algen überwucherte Brackwasser glitten. Die Luft war drückend und feucht und so heiß, dass sie geradezu durch Nicolas’ Kleidung sickerte. Der Schweiß lief ihm den Nacken hinunter und stand ihm in Perlen auf der Brust. Insektenschwärme tanzten dicht über dem Wasser, die Fische schnappten nach ihnen, und Fledermäuse schwirrten im Tiefflug darüber hinweg. Aufmerksam steuerte Nicolas das Boot durch das Labyrinth von schmalen Kanälen und Wasserläufen auf sein Ziel, die kleine Insel, zu.
Eine Vielzahl von Vögeln bewohnte die Sümpfe, und die meisten von ihnen fühlten sich von seiner Anwesenheit nicht gestört, doch ein paar größere Spezies betrachteten ihn offenbar als Eindringling und schlugen empört mit den Flügeln. Kormorane, Fischreiher und Ibisse erhoben sich mit ihren großen Schwingen in die Lüfte und suchten sich ein ruhigeres Plätzchen. Die Frösche und Unken stimmten ihr abendliches Konzert an, das rhythmisch an-und abschwoll. Die grauen Flechten, die in wirren Fetzen von den Ästen hingen, verwandelten die Bäume in der zunehmenden Dunkelheit in monströse Gespenster. Nicolas sah eine gewisse Schönheit in dieser ungewöhnlichen Umgebung. Er entdeckte verschiedene Schildkrötenarten und Eidechsen, manche von ihnen im Wasser, andere im Unterholz oder auf Ästen.
Während das Boot durch den Kanal glitt, ließ Nicolas den Blick fasziniert über das Wasser schweifen, das sich wie ein schwarzer Spiegel um ihn herum ausbreitete und die lodernden Farben des Sonnenuntergangs reflektierte. Seit jeher genoss er die Einsamkeit, die sein Job mit sich brachte. In der freien Natur fand er Frieden, und der Bayou ermöglichte ihm einen aufregenden Blick in eine andere Welt. Er war in der Abgeschiedenheit aufgewachsen, war mit seinem Großvater wochen-, ja sogar monatelang durch die Berge gewandert. Das waren glückliche Zeiten gewesen – ein kleiner Junge, der von einem weisen alten Mann das Leben in der Natur selbst erklärt bekam, dabei aber spielen und herumtollen konnte wie ein Kind – das er ja auch war. Bei der Erinnerung daran schlich sich ein Lächeln auf sein Gesicht, und er dankte seinem Großvater, der schon lange von ihm gegangen war, aber in seinem Herzen weiterlebte, für diese kostbare Zeit.
Nicolas wusste, dass die Wildnis seine Heimat war. Hier fühlte er sich zu Hause. Oft überlegte er, dass er eigentlich zu einer anderen Ära gehörte, wo es weniger Menschen und viel mehr Natur gegeben hatte. Er war Lily freilich dankbar dafür, dass er ihr Haus benutzen durfte, und für die Mühen, die sie auf sich genommen hatte, um sie alle dazu zu befähigen, in der normalen Welt zu leben. Das Experiment ihres Vaters hatte ihre Gehirne für die ständigen Gefühlsanstürme der Menschen in ihrer Umgebung geöffnet, und sie brauchten das Zuhause und das Training, das Lily ihnen bot. Doch Nicolas hatte immer noch Probleme damit, in enger Gemeinschaft mit anderen zu leben – was weniger mit der Intensivierung seiner übersinnlichen Fähigkeiten zu tun hatte, als vielmehr mit seiner Vergangenheit und seinem Naturell. Als er sich freiwillig gemeldet hatte, diese Frau in dem Sanatorium aufzuspüren, geschah das nicht nur aus Sorge um seine Teamgefährten, die er vor ihrem eigenen Mitgefühl schützen musste. Vielmehr ging es ihm darum, sich allein auf den Weg machen zu können, in eine Umgebung, wo er das Gefühl hatte, frei atmen zu können.
Zweimal hatte Nicolas die Karte zu Rate gezogen, die Lily ihm besorgt hatte. In dem Labyrinth von Kanälen und Flussarmen konnte man sich leicht verirren. Manche der Flussläufe waren so schmal, dass er das Boot gerade so eben hindurchsteuern konnte, wohingegen andere so breit waren, dass man sie für einen See halten konnte.
Lilys Vater, Dr. Whitney, hatte das Sanatorium absichtlich auf einer versteckten Insel eingerichtet, die überwiegend aus Marschland bestand, von der Vegetation überwuchert und noch weitgehend unberührt war. Die Insel lag so tief in diesem Gewirr von Kanälen verborgen, dass selbst die ansässigen Jäger nur eine unbestimmte Vorstellung davon hatten, wo genau sie sich befand. Lily hatte die detaillierte Landkarte in den Unterlagen der Stiftung gefunden, doch trotz der Karte und seinem untrüglichen Orientierungssinn hatte Nicolas alle Mühe, die richtige Insel zu finden. Er suchte immer noch danach, als die Nacht anbrach und der Bayou in sein dunkles Tuch hüllte, was seine Mission nicht gerade erleichterte. Zweimal hatte er das Boot durch hüfttiefe, mit Schlingpflanzen durchsetzte Kanäle ziehen müssen, und auch wenn ihm jetzt gelegentlich ein silberner Schimmer Mondlicht zu Hilfe kam, konnte er kaum unterscheiden, ob die dunklen Schatten im Wasser Alligatoren oder treibende Äste waren.
Als vor ihm eine kleine Insel auftauchte, sah Nicolas hinter einer dichten Baumreihe einige Vögel aufsteigen. Augenblicklich begann seine Haut zu prickeln, und sein Magen verkrampfte sich. Er stellte den Motor ab. Er ließ das Boot treiben, blieb ganz ruhig sitzen und lauschte den abendlichen Geräuschen. Bis vor kurzem noch hatten die Insekten gesummt, die Frösche gequakt. Jetzt waren sie verstummt. Im nächsten Moment glitt Nicolas tiefer ins Boot, um nicht so leicht entdeckt zu werden. Wenn nötig, würde er auch ins Wasser steigen – er hatte schon mehr als einmal die Bekanntschaft von Alligatoren gemacht –, aber er wollte seine Waffen nach Möglichkeit trocken halten.
Nicolas hielt sich von der Mole und dem Anlegesteg fern und auch von dem ausgetretenen Pfad, der zur Inselmitte führte. Er wusste, dass das Gelände der Insel größtenteils sumpfig und vermutlich mit Wasserlöchern durchsetzt war, in die ein unaufmerksamer Wanderer leicht stürzen konnte, doch es erschien ihm sicherer, sich querfeldein seinem Ziel zu nähern, als den Pfad zu nehmen, der möglicherweise bewacht wurde. Nein, er war ganz sicher, dass dort jemand hinter einem Busch auf der Lauer lag.
Er lenkte das Boot in eine kleine Bucht, einige hundert Meter von der Mole entfernt und hinter einer Biegung verborgen. Dort stieg er ins knietiefe Wasser, zog das Boot ans Ufer und vertäute es an einem Baum. Um jedes verräterische Geräusch zu vermeiden, ließ er sich viel Zeit, als er durch den Schlamm bis ans Ufer watete. Auch hier war der Untergrund morastig. Zwischen den Bäumen wucherten alle Arten von Gräsern, Blumen und Büschen.
Nahezu lautlos, wie er es als Junge gelernt hatte, schlich Nicolas durch die Nacht. Er war in einem Reservat aufgewachsen und hatte den größten Teil seiner Kindheit mit seinem Großvater verbracht, einem Schamanen, der an die alte Ordnung glaubte. Instinktiv mied er trockene Zweige und Blätter, und dank seiner telepathischen Fähigkeiten gelang es ihm, das Wild davon abzuhalten, seine Anwesenheit zu verraten, während er das sumpfige Marschland durchquerte und auf das höher gelegene Gelände zusteuerte, auf dem das Sanatorium stand.
Plötzlich ertönten in der Ferne Schüsse. Vögel flatterten kreischend auf und erhoben sich wie eine Wolke in den nachtschwarzen Himmel. Nicolas rannte in die Richtung, aus der die Schüsse gekommen waren. Hier oben standen die Bäume und Büsche sehr viel dichter beisammen. Sie waren offensichtlich bewusst so angepflanzt worden, dass sie eine breite Hecke bildeten und den Blick auf das große Gebäude verwehrten. Gerade als er sich durch eine dichte Schilfgraspflanzung drängte, hörte er das leise Knacken eines Funkgeräts und ging sofort in Deckung. Unbeweglich verharrte er in der Hocke, bis er die exakte Position des Wachpostens ermittelt hatte.
Die Nacht verstärkte jeden Laut, ganz besonders über dem Wasser. Der Posten allerdings war mehr daran interessiert, was sich in dem Gebäude abspielte, und achtete weniger auf das Wasser. Sein Blick war geradeaus nach vorn auf das erhöhte Gelände gerichtet, und zweimal hörte Nicolas ihn leise fluchen und sah, wie er mit der Hand über seine Waffe strich.
Langsam atmete Nicolas aus. Das hier waren keine Amateure. Keine Junkies, die auf Geld aus waren. Nein, das hier war eine professionelle Säuberungsaktion. Ein Team, das sich mit militärischer Präzision bewegte, hart und blitzschnell zuschlug und nur Tote zurückließ. Lily musste an der falschen Stelle nachgefragt haben, denn offenbar hatte man nun ein Killerkommando geschickt, das alle Beweise vernichten sollte. Dahlia Le Blanc stand auf der Abschussliste, und die Männer hatten Befehl, sie auszuschalten. In Nicolas’ Hinterkopf schrillten sämtliche Alarmglocken. Er war mitten in eine Operation geraten, die von ganz oben angeordnet worden war.
Nicolas hatte keine Möglichkeit festzustellen, ob Dahlia innerhalb des Sanatoriums geschnappt worden war oder ob es ihr vielleicht gelungen war, sich nach draußen durchzuschlagen. Sie hatte ein hartes Training durchlaufen, besaß übersinnliche Fähigkeiten und war offenbar sehr gefährlich. Die Tatsache, dass innerhalb des Gebäudes immer wieder Feuer ausbrachen, mochte darauf hindeuten, dass sie noch am Leben war und kämpfte. Wie auch immer, er hatte keine Zeit zu verlieren. Er musste unbemerkt an dem Wachposten vorbeikommen und ihr zu Hilfe eilen.
Es bedurfte einiger Manöver, um in seine Nähe zu gelangen. Nicolas lag ohne Deckung auf dem Boden, nur ein paar Meter von dem Wachmann entfernt, und wünschte, er besäße Dahlias Fähigkeit, ihr Äußeres mit der Umgebung verschmelzen zu lassen. Stattdessen musste er sich auf seine übersinnliche Fähigkeit verlassen, seinen Gegner dazu zu bringen, in die andere Richtung zu schauen. Indem er telepathisch seine Anweisungen in das Gehirn des Wachmanns schickte, »verschob« er quasi dessen Fokus und zwang ihn, sich auf das Wasser zu konzentrieren. Der Mann vibrierte vor Erregung, konnte es kaum erwarten, Beute zu schlagen, irgendeine Beute.
Nicolas erhob sich aus der feuchten Wiese, ein riesiger, dunkler Schatten, der sich über den Mann senkte und ihn verschlang, mit flinken Händen und scharfer Klinge. Er murmelte seine Bitten um Vergebung gen Himmel und gen Erde und versicherte dem Universum, dass er es bedauere, ein Leben genommen zu haben, während er gleichzeitig den Leichnam ins schwarze Sumpfwasser gleiten ließ und seinen Weg fortsetzte.
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Christine Feehan: Spiel der Dämmerung