Robin S. Sharma

Der Mönch, der seinen Ferrari verkaufte

Eine Parabel vom Glück

Aus dem Amerikanischen von
Bernardin Schellenberger

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Robin S. Sharma

Robin S. Sharma war ein erfolgreicher Anwalt, als er mit Der Mönch, der seinen Ferrari verkaufte einen Weltbestseller schrieb. Mittlerweile ist er einer der weltweit besten Personal Coaches mit beachtlichen Referenzen – sein Unternehmen Sharma Leadership International, Inc., agiert international und zählt u.a. Microsoft, Nike und IBM zu seinen Kunden. Robin Sharma ist verheiratet und lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in Toronto/Kanada.

Impressum

Die kanadische Originalausgabe erschien 1999 bei Harper Collins Publishers Ltd., Toronto.

 

eBook-Ausgabe 2013

Knaur eBook

© 1997 Robin S. Sharma

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2007 Knaur Taschenbuch

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

ISBN 978-3-426-42183-3

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.


Noch mehr eBook-Programmhighlights & Aktionen finden Sie auf
www.droemer-knaur.de/ebooks.


Sie wollen über spannende Neuerscheinungen aus Ihrem Lieblingsgenre auf dem Laufenden gehalten werden? Abonnieren Sie hier unseren Newsletter.


Sie wollen selbst Autor werden? Publizieren Sie Ihre eBooks auf unserer Akquise-Plattform www.neobooks.com und werden Sie von Droemer Knaur oder Rowohlt als Verlagsautor entdeckt. Auf eBook-Leser warten viele neue Autorentalente.


Wir freuen uns auf Sie!

Das Leben ist für mich kein Kerzenstummel.

Es gleicht einer lodernden Fackel, die ich derzeit in der Hand trage.

Ich möchte, dass sie so hell wie möglich brennt, bevor ich sie an die kommenden Generationen weitergebe.

 

George Bernard Shaw

Erstes Kapitel

Der Sturz ins Erwachen

Mitten in einem dicht besetzten Gerichtssaal brach er zusammen. Er war einer der hervorragendsten Anwälte des Landes. Für die sündhaft teuren italienischen Anzüge, die seinen massigen Körper zierten, war er genauso bekannt wie für seine bemerkenswerte Reihe von Siegen vor Gericht. Und jetzt dieser Zusammenbruch. Ich war schockiert, stand gelähmt da. Es durfte nicht wahr sein: Der große Julian Mantle war jäh zu einem hilflosen Wesen zusammengesackt, wand sich wie ein kleines Kind am Boden, zitterte, bebte und schwitzte wie ein Epileptiker.

Von diesem Augenblick an schien alles wie in Zeitlupe weiterzugehen. »Mein Gott, Julian ist zusammengebrochen!«, schrie seine Assistentin. Sie trug mit diesem Gefühlsausbruch nur zur Ratlosigkeit bei über das, was sowieso alle sahen. Der Richterin flackerte Angst in den Augen, und sie flüsterte hastig etwas in die Notrufanlage. Ich selbst konnte nur starr dastehen, benommen und verwirrt. Bitte stirb nicht, alter Haudegen. Du kannst noch nicht abtreten. Einen solchen Tod hast du nicht verdient.

Der Gerichtsdiener, der bislang wie eine Mumie auf seinem Posten gestanden hatte, sprang hinzu und leistete dem hingestreckten Staranwalt Erste Hilfe. Die Assistentin kniete neben ihm. Ihre langen blonden Locken hingen über Julians blaurotem Gesicht und flüsterten ihm tröstende Worte zu, Worte, die er offensichtlich nicht wahrnahm.

Ich kannte Julian schon siebzehn Jahre. Zum ersten Mal waren wir uns begegnet, als ich als junger Jurastudent von einem seiner Partner als Aushilfskraft für den Sommer angestellt worden war. Damals stand er in der Fülle seiner Kraft und Möglichkeiten. Er war ein brillanter, stattlicher und furchtloser Rechtsanwalt, der davon träumte, es zu Ruhm und Ehren zu bringen. Julian war der junge Star der Firma, der Karriere und viel Geld machen würde. Ich erinnere mich noch genau, wie ich einmal bis in die Nacht gearbeitet hatte, an seinem fürstlichen Eckbüro vorbeikam und heimlich einen Blick auf ein Zitat warf, das eingerahmt auf seinem massiven Eichenschreibtisch stand. Es stammte von Winston Churchill und sprach Bände über den Menschen, der Julian war:

Ich bin mir sicher, dass wir am heutigen Tag die Meister unseres Schicksals sind und die uns gestellte Aufgabe nicht über unsere Kräfte geht. Ihre Mühen und Qualen übersteigen nicht mein Vermögen. Solange wir an unsere eigene Sache glauben und den unbezwingbaren Willen zum Siegen haben, ist uns der Sieg auch gewiss.

Für Julian waren das keine leeren Worte; er lebte danach. Er war zäh und knallhart. Er war willens, achtzehn Stunden täglich für den Erfolg zu arbeiten, von dem er überzeugt war, dass er ihm winke. Vom Hörensagen wusste ich, sein Großvater sei ein bekannter Senator gewesen und sein Vater ein hochgeachteter Richter am Bundesgericht. Offensichtlich stammte er aus einer schwerreichen Familie. Auf seinen in Armani-Sakkos steckenden Schultern lasteten ungeheure Erwartungen. Doch eines muss ich einräumen: Er ging kreativ seinen ganz eigenen Weg. Er war fest entschlossen, die Dinge so anzupacken, wie er sie für richtig hielt – und er zog gern eine Schau ab.

Julians exzentrische Darbietungen im Gerichtssaal fanden regelmäßig in die Schlagzeilen der Zeitungen. Die Reichen und Berühmten holten sich ihn immer unverzüglich zur Seite, wenn sie einen genialen juristischen Strategen mit aggressivem Einschlag brauchten. Vermutlich genauso bekannt waren seine außerplanmäßigen Aktivitäten. Nächtliche Besuche der feinsten Lokale der Stadt in Begleitung von sexy jungen Models oder ausschweifende Trinkgelage mit der wilden Bande der Makler, die er als sein »Abbruchkommando« bezeichnete, gehörten in der Firma zum festen Bestandteil seiner Legende.

Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, warum er gerade mich auswählte, um mit ihm den sensationellen Mordprozess zu bearbeiten, in dem er damals in diesem ersten Sommer auftreten sollte. Ich hatte zwar an seiner Alma Mater, der Harvard Law School, graduiert, war aber bestimmt nicht der begabteste Mitarbeiter in der Firma, und mein Familienstammbaum wies kein blaues Blut auf. Mein Vater diente nach einem Intermezzo bei den Marines sein Leben lang als Wachmann bei einer örtlichen Bank. Meine Mutter war in bescheidenen Verhältnissen in der Bronx aufgewachsen.

Und doch wählte er mich aus all den anderen aus, die ihn diskret für sich einzunehmen versucht hatten, um in den Genuss des Privilegs zu kommen, sein juristischer Handlanger in dem Prozess zu werden, der als »die Mutter aller Mordprozesse« bekannt werden sollte. Er sagte, was ihm an mir gefalle, sei mein »Hunger«. Wir gewannen den Prozess natürlich, und der Firmenchef, der unter der Anklage gestanden hatte, seine Frau brutal ermordet zu haben, war ein freier Mann – oder jedenfalls so frei, wie ihn sein beladenes Gewissen frei sein lassen konnte.

In diesem Sommer lernte ich ungemein viel dazu. Es war weit mehr als eine Lektion darüber, wie man einen vernünftigen Zweifel einbringt, wo keiner besteht. Das bringt jeder Anwalt fertig, der sein Geld wert ist. Es war obendrein eine Lektion in der Psychologie des Gewinnens, und dazu noch eine seltene Gelegenheit, aus nächster Nähe einen Meister in Aktion zu sehen. Ich saugte diese Erfahrungen auf wie ein Schwamm.

Auf Julians Einladung hin blieb ich als Sozius bei der Firma. Rasch entwickelte sich zwischen uns eine bleibende Freundschaft. Ich räume gern ein, dass es als Anwalt nicht leicht war, mit ihm zusammenzuarbeiten. Das Dasein als Junior neben ihm bot reichlich Gelegenheit, Frust zu ertragen. Mehr als einmal schrien wir uns bis spät in die Nacht bei Streitgesprächen gegenseitig an. Alles musste immer so gehen, wie er es wollte. Dieser Mann war felsenfest davon überzeugt, nie falschzuliegen. Doch unter seinem ruppigen Äußeren war er ein Mensch, der eindeutig ein Herz für andere hatte.

Er konnte noch so beschäftigt sein, immer fragte er mich, wie es Jenny gehe, der Frau, die ich immer noch »meine Braut« nenne, obwohl wir schon verheiratet waren, bevor ich das Jurastudium anfing. Als Julian von einer anderen Sommer-Aushilfskraft erfuhr, ich sei finanziell in einem Engpass, sorgte er dafür, dass ich ein großzügiges Stipendium erhielt. Er konnte durchaus gelegentlich gegen seine besten Freunde mit harten Bandagen antreten, und zeitweise konnte er auch unausstehlich werden, aber er ließ seine Freunde trotzdem nie im Stich. Das eigentliche Problem war, dass Julian von der Arbeit wie besessen war.

In den ersten paar Jahren rechtfertigte er seine vielen Arbeitsstunden damit, dass er sagte, er »tue es zum Wohl der Firma«, aber er habe vor, sich einen Monat frei zu nehmen und eine Reise in die Karibik zu machen, »nächsten Winter ganz bestimmt«. Aber je mehr Zeit verging, desto mehr nahm Julians Ruf, ein brillanter Anwalt zu sein, zu, und damit auch alles, was er bewältigen musste. Die Fälle wurden einfach immer größer und besser, und Julian, der nie einer gesunden Herausforderung auswich, legte sich immer noch mehr ins Zeug. In seinen seltenen ruhigen Augenblicken gestand er, dass er kaum mehr einige Stunden am Stück richtig schlafen könne, ohne schon gleich beim Aufwachen wieder Schuldgefühle zu haben, dass er nicht pausenlos arbeite. Mir wurde bald klar, dass er vom Hunger nach immer mehr aufgefressen wurde: nach noch mehr Prestige, noch mehr Ruhm und noch mehr Geld.

Wie erwartet, wurde Julian ungemein erfolgreich. Er erreichte alles, wovon die meisten Menschen nur träumen können: Beruflich galt er als Spitzenstar und hatte ein siebenstelliges Einkommen. Er besaß eine Villa in einer noblen Wohngegend, ein Privatflugzeug, ein Sommerhaus auf einer tropischen Insel und das, worauf er am stolzesten war: einen funkelnden roten Ferrari, der mitten in seiner Einfahrt parkte.

Allerdings wusste ich, dass seine Lebensumstände nicht so idyllisch waren, wie sie sich oberflächlich darboten. Ich nahm die Vorzeichen einer sich anbahnenden Katastrophe nicht deshalb wahr, weil ich etwa sensibler als die anderen in der Firma gewesen wäre, sondern einfach, weil ich die meiste Zeit mit Julian verbrachte. Wir waren immer zusammen, weil wir immer am Arbeiten waren. Das Geschäft schien sich nie zu beruhigen. Immer tauchte am Horizont ein noch größerer Knüller-Fall auf als der vorige. Und für Julian konnte man sich nie genug vorbereiten. Was wäre, wenn der Richter diese Frage stellen würde, oder jene, was Gott verhüte? Was würde geschehen, wenn unsere Recherchen doch nicht ganz perfekt wären? Was, wenn er mitten in einem dicht gedrängten Gerichtssaal plötzlich durch ein Argument so verblüfft würde, dass er dastünde wie ein Reh, das nachts blind in zwei Autoscheinwerfer starrt? So trieben wir es bis an unsere Grenzen, und auch ich wurde von seiner kleinen Welt in Beschlag genommen, in der alles nur noch um die Arbeit kreiste. So plagten wir zwei uns als Sklaven der Uhr im vierundsechzigsten Stock eines Monoliths aus Stahl und Glas, indes die meisten vernünftigen Menschen daheim bei ihren Familien waren – und wir meinten, die Welt im Griff zu haben. Wir waren geblendet von einem Trugbild des strahlenden Erfolgs.

Je mehr Zeit ich mit Julian verbrachte, desto deutlicher konnte ich wahrnehmen, dass er sich selbst immer mehr zugrunde richtete. Es war, als stecke in ihm eine Art Todestrieb. Nichts befriedigte ihn. Schließlich scheiterte seine Ehe, er redete kein Wort mehr mit seinem Vater. Obwohl er materiell alles besaß, was man sich nur wünschen konnte, hatte er noch immer nicht gefunden, wonach er eigentlich suchte. Man merkte ihm diese Suche an, emotional, physisch – und spirituell.

Mit dreiundfünfzig sah Julian aus, als sei er schon Ende siebzig. Sein Gesicht war von Falten überzogen, ein alles andere als ruhmreicher Tribut an seine grundsätzliche Lebensphilosophie des »Alles oder nichts« und erst recht an den ungeheuren Stress seines unausgeglichenen Lebensstils. Er pflegte spät in der Nacht in teuren französischen Restaurants zu speisen, dicke kubanische Zigarren zu rauchen und einen Cognac nach dem anderen zu kippen. Das hatte ihm ein gewaltiges Übergewicht verschafft. Ständig beklagte er sich, er fühle sich nicht wohl und könne dieses dauernde Unwohl- und Übermüdetsein nicht mehr ertragen. Seinen Sinn für Humor hatte er verloren, und er schien nie mehr zu lachen. Julians ehemals begeistertes Wesen war von einer tödlichen Nüchternheit verdrängt worden. Ich selbst bin der Meinung, sein Leben hatte damals allen Sinn und Zweck verloren.

Das Traurigste an der ganzen Sache war, dass auch im Gerichtssaal seine einstige Konzentration und Gedankenschärfe verblasst waren. Hatte er früher alle Anwesenden mit einem eloquenten und messerscharf schlüssigen Argument verblüffen können, so polterte er jetzt stundenlang vor sich hin und schweifte zu obskuren Fällen ab, die wenig oder nichts mit dem zu tun hatten, worum es gerade vor Gericht ging. Wo er einst elegant die Einwände der Gegenseite pariert hatte, entwickelte er jetzt einen beißenden Sarkasmus, der die Geduld der Richter auf eine harte Probe stellte, die ihn früher als juristisches Genie betrachtet hatten. Schlicht gesagt: Julians Lebensflamme hatte kritisch zu flackern begonnen.

Es war nicht nur seine angespannte, hektische Gangart, was ihn als frühen Kandidaten für das Grab erscheinen ließ. Ich spürte, das ging viel tiefer. Letztlich schien es eine spirituelle Frage zu sein. Fast jeden Tag äußerte er mir gegenüber, er empfinde keine Leidenschaft mehr für das, was er tue, und komme sich furchtbar leer vor. Julian sagte mir, als junger Anwalt sei er wirklich auf das Recht versessen gewesen, unabhängig davon, dass er ursprünglich von den sozialen Erwartungen seiner Familie in dieses Gebiet gedrängt worden sei. Die Komplexität und die intellektuellen Herausforderungen des Rechts hätten ihn lange fasziniert und seine Energien geweckt. Die Macht des Rechts, soziale Änderungen herbeizuführen, inspirierte und motivierte ihn. Damals, am Anfang, sei er nicht bloß ein Kind reicher Eltern aus Connecticut gewesen. Er habe sich als Kraft für das Gute verstanden, als Instrument zur Besserung der sozialen Verhältnisse. Seine offensichtlichen Gaben wollte er einsetzen, um anderen zu helfen. Diese Vision habe seinem Leben Sinn und Inhalt verliehen. Sie sei sein Ziel gewesen und nährte seine Hoffnungen.

Aber der Umstand, dass seine Beziehung zu der Tätigkeit, mit der er sein Geld verdiente, in einer Krise steckte, war nicht alles, was Julian innerlich zersetzte. Bevor ich der Firma beigetreten war, hatte er irgendetwas erschütternd Tragisches erlebt. Nach Aussage eines der Seniorpartner war ihm etwas wirklich Unsagbares zugestoßen, aber ich konnte niemanden so weit bringen, mir mitzuteilen, was das gewesen war. Selbst Harding, der Partner fürs Management mit seiner notorisch losen Zunge, der mehr Zeit in der Bar des Ritz-Carlton als in seinem unglaublich großen Büro verbrachte, sagte, er sei auf Schweigen eingeschworen. Worin immer dieses tiefe, dunkle Geheimnis bestand, ich hatte den Verdacht, dass es irgendwie die Abwärtsspirale von Julian mit bedingte. Ich gebe zu, ich war neugierig, aber mehr noch wollte ich ihm helfen. Er war schließlich nicht nur mein Mentor, sondern auch mein bester Freund.

Und dann dieser Schlag. Dieser massive Herzanfall, der den brillanten Julian Mantle auf den Boden zurückbrachte und ihn daran erinnerte, dass er ein sterblicher Mensch sei. Am Montagvormittag ausgerechnet mitten im Gerichtssaal sieben, demselben Gerichtssaal, in dem er »die Mutter aller Mordprozesse« gewonnen hatte.

Zweites Kapitel

Der geheimnisvolle Besucher

Alle Firmenmitglieder wurden zu einer Krisensitzung einberufen. Als wir uns in den Hauptsitzungssaal drängten, wusste ich gleich: Ein schweres Problem stand an. Der alte Harding war der Erste, der zur versammelten Menge sprach.

»Leider muss ich Ihnen eine sehr schlechte Mitteilung machen. Julian Mantle hat gestern vor Gericht während seines Plädoyers im Fall Air Atlantic einen schweren Herzanfall erlitten. Er liegt derzeit auf der Intensivstation, aber seine Ärzte haben mir mitgeteilt, sein Zustand habe sich stabilisiert und er werde wieder auf die Beine kommen. Doch hat Julian eine Entscheidung getroffen, um die Sie meiner Ansicht nach alle wissen sollten. Er hat beschlossen, unsere Familie zu verlassen und seine Anwaltspraxis aufzugeben. Er wird nicht in die Firma zurückkehren.«

Ich war geschockt. Ich wusste, dass er sein Päckchen Schwierigkeiten hatte, aber ich hatte nie gedacht, er werde gehen. Und zudem, nach allem, was wir miteinander durchgemacht hatten, hätte ich von ihm den Anstand erwartet, mir das persönlich zu sagen. Er empfing mich nicht einmal im Krankenhaus zu einem Besuch. Jedes Mal, wenn ich vorbeischaute, hielten sich die Schwestern an die Anweisung, mir zu sagen, er schlafe gerade und dürfe nicht gestört werden. Er weigerte sich sogar, meine telefonischen Anrufe entgegenzunehmen. Vielleicht erinnerte ich ihn zu sehr an das Leben, das er vergessen wollte. Wer weiß das schon? Jedenfalls tat es weh.

Dies alles war jetzt gerade drei Jahre her. Das Letzte, was ich von ihm gehört hatte, war gewesen, Julian habe sich auf eine Art Expedition nach Indien begeben. Einem der Partner gegenüber hatte er geäußert, er wolle sein Leben vereinfachen; er »brauche einige Antworten«, und er hoffe, sie in diesem Land der Mystik zu finden. Er hatte seine Villa, sein Flugzeug und seine Privatinsel verkauft. Und sogar seinen Ferrari. »Julian Mantle als indischer Yogi«, dachte ich. »Die Juristerei kann schon sehr seltsame Folgen haben.«

Im Lauf dieser drei Jahre wurde auch ich aus einem überarbeiteten jungen Anwalt zu einem blassen Routine-Advokaten mit einem kräftigen Schuss Zynismus. Ich lebte allein mit meiner Frau Jenny zusammen. Schließlich machte ich mich selbst auf die Suche nach Sinn. Soweit ich jetzt sehe, suchte ich ihn vorwiegend in meinen Kindern. Sie veränderten auch tatsächlich meine Sichtweise der Welt und meiner Rolle darin grundlegend. Mein Vater hatte es einmal auf die denkwürdige Formel gebracht: »John, auf deinem Sterbebett wird dir bestimmt nicht der Wunsch kommen, mehr Zeit im Büro verbracht zu haben.« So fing ich an, etwas mehr Zeit daheim zu verbringen. Ich richtete mich in einem ziemlich guten, wenn auch gewöhnlichen Dasein ein. Ich wurde Mitglied bei den Rotariern und ging samstags zum Golfspielen, um mit meinen Partnern und Klienten in gutem Kontakt zu bleiben. Aber ich muss Ihnen sagen, in meinen stillen Augenblicken musste ich oft an Julian denken. Mich beschäftigte die Frage, was in diesen Jahren seit damals, als sich unsere Wege jäh getrennt hatten, wohl aus ihm geworden war.

Vielleicht hatte er sich in Indien niedergelassen, einem Land, das so anders war, dass darin sogar eine so rastlose Seele wie die seine ein Stück Heimat finden konnte. Oder vielleicht war er auf einer Trekkingtour durch Nepal? Oder übte er sich im Sporttauchen in der Karibik? Nur eines war sicher: Er war nicht in die Juristerei zurückgekehrt. Seit er aus freien Stücken daraus ausgestiegen war, hatte niemand auch nur eine Postkarte von ihm erhalten.

Ein Klopfen an meiner Tür vor ungefähr zwei Monaten brachte mir die ersten Antworten auf einige meiner Fragen. Ich hatte gerade nach einem aufreibenden Tag meinen letzten Klienten aus dem Gespräch entlassen, als Genevieve, meine gescheite Assistentin, ihren Kopf in mein kleines, elegant möbliertes Büro hereinsteckte.

»Da ist jemand, der dich sprechen möchte, John. Er sagt, es sei dringend. Er werde nicht gehen, bis du mit ihm gesprochen hast.«

»Ich bin gerade am Gehen, Genevieve«, erwiderte ich ungeduldig. »Ich will schnell etwas essen gehen und dann die Papiere für den Fall Hamilton fertigmachen. Im Augenblick habe ich also absolut keine Zeit, jemanden zu sprechen. Sag ihm, er soll sich genau wie alle anderen auch einen Termin geben lassen, und ruf den Wachdienst, wenn er noch irgendwelche Schwierigkeiten macht.«

»Aber er sagt, er müsse dich unbedingt sofort sprechen. Er weigert sich, ein Nein als Antwort zu akzeptieren.«

Einen Augenblick lang dachte ich selbst daran, den Wachdienst zu rufen, aber dann kam mir der Gedanke, es könne jemand in Not sein, und ich wurde zugänglicher.

»Also, dann lass ihn herein«, gab ich nach.

Die Tür zu meinem Büro ging langsam auf. Schließlich stand sie ganz offen und zeigte einen lächelnden Mann, der Mitte dreißig sein mochte. Er war groß, schlank und muskulös und strahlte ungeheure Vitalität und Energie aus. Ich musste unwillkürlich an diese perfekten Jungs denken, mit denen ich Jura studiert hatte: aus perfekten Familien mit perfekten Häusern, perfekten Autos und perfekter Haut. Aber mein Besucher vermittelte noch mehr als dieses jugendlich gute Aussehen. Er strahlte einen Frieden aus, der etwas geradezu Religiöses an sich hatte. Und dann seine Augen: stechende blaue Augen, die rasiermesserscharf durch mich hindurchschnitten.

»Wieder so ein heißsporniger Jurist, der mich fertigmachen will«, dachte ich bei mir. »Meine Güte, was steht er so da und schaut mich an? Ich hoffe, es war nicht seine Frau, für die ich letzte Woche den Sieg in dem großen Scheidungsfall durchgeboxt habe. Vielleicht war es doch keine so schlechte Idee, den Wachdienst zu rufen.«

Der junge Mann schaute mich immer noch an, fast so, wie wahrscheinlich der lächelnde Buddha einen Lieblingsschüler angeschaut hätte. Nach einem langen Augenblick unangenehmen Schweigens fing er mit einem überraschend gebieterischen Tonfall zu sprechen an:

»Behandelst du so alle deine Besucher, John? Sogar die, die dir beigebracht haben, wie man sich mit Erfolg im Gerichtssaal durchsetzt?« Und dann fuhr er mit einem großen Grinsen im Gesicht fort: »Dann hätte ich meine Geheimnisse doch lieber für mich behalten sollen.«

Ich verspürte ein merkwürdiges Kribbeln in der Magengrube. Jäh erkannte ich die kehlige, honigweiche Stimme. Mein Herz fing an, schneller zu schlagen.

»Julian? Bist du das? Ich kann’s nicht glauben! Bist das wirklich du?«

Das laute Lachen des Besuchers bestätigte meine Vermutung. Der junge Mann, der da vor mir stand, war kein anderer als der seit Langem in Indien vermisste Yogi: Julian Mantle. Angesichts seiner unglaublichen Verwandlung war ich ganz benommen. Keine Spur mehr von dem konturlos fülligen Körper, dem kränklichen Hüsteln und den leblosen Augen meines früheren Kollegen. Keine Spur mehr von der für ihn typisch gewordenen gealterten Erscheinung und dem kränklichen Ausdruck. Nein, ganz im Gegenteil: Der Mann da vor mir schien blendend gesund zu sein, sein faltenloses Gesicht strahlte warm und hell. Seine Augen waren klar und wirkten wie Fenster, die in seine außergewöhnliche Vitalität blicken ließen. Für mich noch erstaunlicher war die heitere Gelassenheit, die Julian ausstrahlte. Ich fühlte mich selbst von tiefem Frieden erfüllt, als ich so dasaß und ihn anstarrte. Das war nicht mehr der angespannte, allbeherrschende Seniorpartner einer führenden Anwaltsfirma. Nein, der Mann vor mir war das gerade Gegenteil: der Ausbund eines jugendlichen, vitalen und heiter lächelnden Menschen.

Drittes Kapitel

Die wunderbare Verwandlung des Julian Mantle

Angesichts des neuen und verjüngten Julian Mantle konnte ich nur staunen.

»Wie kann jemand, der noch vor wenigen Jahren wie ein müder alter Mann ausgesehen hat, jetzt so sprühend lebendig wirken?«, fragte ich mich ungläubig. »Hat er eine Wunderdroge gefunden, die ihn derart verjüngt hat? Oder was hat diese unglaubliche Verwandlung bewirkt?«

Julian fing als Erster zu sprechen an. Er erzählte mir, dass ihm der wahnsinnige Wettbewerb in der Juristerei seinen Tribut abverlangt habe, nicht nur physisch und emotional, sondern auch spirituell. Die ewige Hektik und die endlosen Ansprüche hätten ihn ausgelaugt und abgewirtschaftet. Er gab zu, dass sein Körper langsam zum Wrack geworden sei und sein Geist seinen Glanz verloren habe. Sein Herzanfall sei lediglich ein Symptom eines tiefer liegenden Problems gewesen. Der ständige Druck und der erschöpfende Terminkalender eines Gerichtsanwalts von Weltklasse habe auch seine wichtigste – und wahrscheinlich menschlichste – Gabe versehrt: sein spirituelles Gespür. Als ihn sein Arzt vor die Wahl gestellt habe, entweder seinen Beruf oder sein Leben aufzugeben, so sagte er, sei ihm schlagartig klar geworden: Hier bietet sich mir noch einmal in meinem Leben die Möglichkeit, jenes innere Feuer wieder zu entzünden, das ich in jungen Jahren gekannt habe, ein Feuer, das ausgelöscht worden ist, als mir die Juristerei immer weniger zur Freude und stattdessen immer mehr zum Geschäft geraten ist.

Julian wurde sichtlich erregt, als er erzählte, wie er seinen gesamten materiellen Besitz verkauft habe und nach Indien gereist sei, ein Land, dessen uralte Kultur und mystische Traditionen ihn schon immer fasziniert hätten. Dort habe er ein kleines Dorf ums andere bereist, manchmal zu Fuß, manchmal mit der Bahn. Er habe neue Sitten und Gebräuche kennengelernt, die zeitlosen Landschaften auf sich wirken lassen und zunehmend größere Zuneigung zum indischen Volk empfunden, das Wärme und Güte ausstrahle. Außerdem vermittle es eine erfrischende Vorstellung vom wahren Sinn des Lebens. Selbst diejenigen, die kaum etwas besaßen, hätten vor ihm, dem ausgelaugten Besucher aus dem Westen, ihre Häuser – und ihre Herzen – nicht verschlossen. Als in dieser bestrickenden Umgebung aus Tagen Wochen wurden, fühlte sich Julian allmählich wieder als lebendiger und ganzer Mensch, vielleicht das erste Mal seit seiner Kindheit. Zunehmend erwachten seine angeborene Neugier und Begeisterungsfähigkeit und damit auch seine Lebensgeister. Er fing an, sich froher und friedvoller zu fühlen. Und er konnte wieder lachen.

Julian erläuterte mir, er habe zwar jeden Augenblick seiner Zeit in diesem exotischen Land genossen, aber bei seiner Reise nach Indien habe es sich um mehr als nur einen Erholungsurlaub für seinen überarbeiteten Geist gehandelt. Er bezeichnete seine Zeit in diesem fernen Land als »eine Odyssee meines eigenen Ichs«. Dabei sei er fest entschlossen gewesen, so sagte er mir weiter, herauszufinden, wer er wirklich sei und worauf es in seinem Leben ankomme, bevor alles zu spät sei. Dazu habe er vor allem anderen versucht, in die Kultur dieses Landes einzutauchen. Es verfüge nämlich über einen reichen Vorrat an Schätzen alter Weisheit darüber, wie man ein lohnenderes, erfüllteres und glücklicheres Leben führe.

»Auch auf die Gefahr hin, dass das etwas sonderbar klingt, John, aber mir war, als gebiete mir eine innere Stimme, eine innere Anweisung, ich solle mich auf eine spirituelle Reise begeben, um den Funken wieder zu entzünden, den ich verloren hatte«, sagte Julian. »Es war eine ungemein befreiende Zeit für mich.«

Je mehr er in diese Welt hineinfand, desto öfter hörte er von indischen Mönchen, die weit über hundert Jahre alt geworden waren; Mönchen, die sich trotz ihrer fortgeschrittenen Jahre eine geradezu jugendliche Vitalität erhalten hatten. Je weiter er reiste, desto mehr erfuhr er über Yogis, von denen man gar nicht mehr wusste, wie alt sie waren, und die die Kunst der Gedankenbeherrschung gemeistert hatten und spirituell erwacht waren. Und je mehr er sah, desto dringlicher wurde in ihm der Wunsch, jene geheimnisvolle Kraft zu entdecken, die den Menschen zu so außergewöhnlichen Dingen befähigten, in der Hoffnung, ihre Lebensphilosophie auch auf sein eigenes Leben anwenden zu können.

Während der frühen Phasen seiner Reise suchte Julian viele bekannte und hochgeachtete Lehrer auf. Er erzählte mir, sie alle hätten ihn mit offenen Armen und Herzen aufgenommen und ihn an allen ihren kostbaren Einsichten über die subtilen Fragen des Daseins teilnehmen lassen, die ihnen im Lauf ihres langen Lebens in schweigender Kontemplation geschenkt worden seien. Julian versuchte auch, mir die Schönheit der alten Tempel zu beschreiben, die über die ganze Landschaft dieses geheimnisvollen Landes Indien verstreut seien, Gebäude, die als Bollwerke jahrtausendealter Weisheit das Land zierten. Er sagte mir, die sakrale Atmosphäre, die diese Orte umgebe, habe ihn tief bewegt.

»So war das für mich ein ungemein tief greifender Abschnitt meines Lebens, John. Da stand ich nun, ein alter Streithahn, der seine ganze Habe, vom Rennpferd bis zur Rolex, verkauft und seine letzten paar Habseligkeiten in einen großen Rucksack gepackt hatte. Dieser Rucksack sollte mein ständiger Begleiter auf meiner Entdeckungsreise in die zeitlosen Traditionen des Ostens werden.«

»War das ein schwerer Abschied?«, fragte ich laut, weil ich meine Wissbegier nicht mehr zurückhalten konnte.

»Nein, in Wirklichkeit fiel mir das leichter als alles, was ich je getan hatte. Die Entscheidung, meine Praxis und meinen gesamten Besitz aufzugeben, fiel wie von allein. Albert Camus hat einmal gesagt: ›Die wahre Großzügigkeit gegenüber der Zukunft besteht darin, alles der Gegenwart zu widmen.‹ Und genau das habe ich getan. Mir war klar, dass ich mich ändern musste – so beschloss ich, auf mein Herz zu hören und mich radikal zu ändern. Als ich mein ganzes Gepäck aus der Vergangenheit einfach stehen ließ, wurde mein Leben mit einem Schlag ungemein einfach und sinnvoll. In dem Moment, als ich damit aufhörte, mit aller Kraft den großen Vergnügen des Lebens nachzuhetzen, fing ich an, seine kleinen Freuden zu genießen, etwa, wenn ich zusah, wie die Sterne am mondbeschienenen Himmel tanzten oder wenn ich die Sonnenstrahlen eines glorreichen Sommermorgens in mich aufsog. Im Übrigen ist Indien ein Land, das den Geist so stark anregt, dass ich kaum mehr an das dachte, was ich hinter mir gelassen hatte.«

Zwar fand Julian seine anfänglichen Begegnungen mit den Gebildeten und Gelehrten dieser exotischen Kultur faszinierend, aber dennoch boten sie ihm nicht das Wissen, nach dem er hungerte. Während dieser ersten Etappe seiner Odyssee blieben ihm die Weisheit, nach der er sich sehnte, und die praktischen Methoden, von denen er sich eine Veränderung seiner Lebensqualität erhoffte, weiterhin verborgen. Erst nachdem Julian bereits ungefähr sieben Monate in Indien verbracht hatte, kam sein erster wirklicher Durchbruch.

Es war zu der Zeit, als er sich in Kaschmir aufhielt, einem Land mit alten mystischen Traditionen, das verschlafen zu Füßen der Himalajaberge liegt, dass ihm das Glück beschert wurde, einen Mann namens Yogi Krishnan kennenzulernen. Dieser schmächtige Mann mit glatt rasiertem Kopf pflegte im Scherz und breit grinsend zu sagen, er sei in seiner »vorigen Inkarnation« ebenfalls Anwalt gewesen. Als ihm die hektische Gangart, die auch das moderne New Delhi auszeichnet, zu viel geworden war, hatte auch er seinen gesamten materiellen Besitz aufgegeben und sich in eine Welt größerer Einfachheit zurückgezogen. Krishnan hatte die Betreuung eines Dorftempels übernommen, und er sagte, so sei es ihm möglich geworden, sich selbst und seinen Sinn im größeren Zusammenhang des Lebens zu erkennen.

»Ich war es müde, ständig nur wie im Alarmzustand zu leben. Mir ging auf, dass meine Sendung darin besteht, anderen zu dienen und auf meine Art dazu beizutragen, dass diese Welt ein besserer Platz zum Leben wird. Jetzt lebe ich, um anderen etwas zu geben«, erläuterte er Julian. »Ich verbringe meine Tage und Nächte in diesem Tempel und führe ein strenges, aber erfülltes Leben. Ich teile das, was mir an Einsichten geschenkt wird, mit allen, die hierher zum Gebet kommen. Ich diene den Bedürftigen. Ich bin einfach ein Mensch, der seine Seele gefunden hat.«

Julian schilderte diesem zum Yogi gewordenen Anwalt seine eigene Geschichte. Er erzählte von seinem bisherigen Leben als prominenter und privilegierter Staranwalt. Er gestand Yogi Krishnan seinen Hunger nach Reichtum und sein Besessensein von der Arbeit. Er offenbarte ihm erregt sein inneres Brodeln und beschrieb ihm, wie sein spirituelles Wahrnehmungsvermögen in die Krise geraten sei, als das einst strahlende Licht seines Lebens im Fahrtwind eines aus dem Ruder gelaufenen Lebens schließlich nur noch schwach geflackert habe.

»Auch ich bin diesen Weg gegangen, mein Freund. Ich habe den gleichen Schmerz kennengelernt wie Sie. Doch ist mir die Erkenntnis beschieden worden, dass alles, was geschieht, seinen Grund hat«, entgegnete ihm Yogi Krishnan voller Sympathie. »Jedes Ereignis hat seinen Sinn, und jeder Rückschlag enthält seine Lehre. Mir ist aufgegangen, dass ein Scheitern, sei es auf persönlichem, beruflichem oder sogar spirituellem Gebiet, ein ganz wesentlicher Faktor für die persönliche Entfaltung ist. Es führt zum inneren Wachsen und bringt eine ganze Fülle psychischer Belohnungen mit sich. Bedaure nie deine Vergangenheit. Lass dich vielmehr auf sie als Lehrmeisterin ein. Denn das ist sie in Wirklichkeit.«

Julian sagte mir, als er diese Worte vernommen habe, habe ihn eine ungemeine Freude überkommen. Vielleicht, so dachte er, hatte er jetzt den Mentor gefunden, nach dem er suchte. Wer sollte ihn besser die Geheimnisse der Kunst lehren können, sich ein ausgeglicheneres, faszinierenderes und erfüllteres Leben gestalten zu können, als ein anderer früherer hitzköpfiger Anwalt, der auf seiner eigenen spirituellen Odyssee eine fruchtbarere Lebensweise gefunden hatte?

»Ich brauche Ihre Hilfe, Krishnan. Mich muss jemand dazu anleiten, wie ich mein Leben reicher und voller gestalten kann.«

»Es wäre mir eine Ehre, Ihnen auf alle nur erdenkliche Weise zu helfen, soweit ich das kann«, erbot sich der Yogi. »Aber darf ich Ihnen einen Vorschlag machen?«

»Gewiss.«

»Seit ich diesen Tempel in diesem kleinen Dorf hier betreue, habe ich immer wieder Gerüchte von einer Gruppe von Weisen und Mystikern gehört, die hoch droben im Himalajagebirge leben sollen. Es heißt, sie hätten eine Art Methode entdeckt, die die Lebensqualität jedes Menschen ungemein nachhaltig zu verbessern vermag – und zwar nicht nur in physischer Hinsicht. Es soll sich um eine ganzheitliche, integrierte Sammlung uralter Grundsätze und zeitloser Techniken handeln, mit deren Hilfe sich das gesamte Potenzial von Geist, Körper und Seele freisetzen lassen soll.«

Julian war fasziniert. Das schien ganz und gar das zu sein, was er suchte.

»Aber wo genau leben diese Mönche?«

»Das weiß niemand, und ich bedaure, dass ich zu alt bin, um mich noch auf die Suche nach ihnen zu begeben. Aber eines will ich Ihnen sagen, mein Freund: Viele haben schon versucht, sie zu finden, und viele sind dabei gescheitert – mit tragischen Folgen. Die höheren Zonen der Himalajaberge sind heimtückisch wie sonst kein Gebirge. Selbst der gewandteste Kletterer sieht sich ihren Verheerungen hilflos ausgeliefert. Aber wenn Sie wirklich nach den goldenen Schlüsseln zu strahlender Gesundheit, anhaltendem Glück und innerer Erfüllung suchen, dann verfüge nicht ich über diese Weisheit – das tun sie.«

Julian war ein Mensch, der nie schnell aufgab, und drang weiter in Yogi Krishnan. »Und Sie wissen wirklich überhaupt nicht, wo sie leben?«

»Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, dass die hiesigen Dorfbewohner sie als ›Die großen Weisen von Sivana‹ kennen. In ihrer Mythologie bedeutet Sivana ›Oase der Erkenntnis‹. Diese Mönche werden verehrt, als seien sie ihrer Verfassung und ihrem Einfluss nach göttlicher Natur. Wenn ich wüsste, wo man sie finden kann, wäre ich verpflichtet, es Ihnen zu sagen. Aber ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Ja, niemand weiß es.«

Schon am nächsten Morgen, als die ersten Strahlen der Sonne Indiens über den farbenprächtigen Horizont tanzten, machte sich Julian auf seine Wanderung, um das verlorene Land Sivana zu suchen. Zuerst hatte er daran gedacht, sich einen Sherpa-Führer zu mieten, um ihm beim Übersteigen der Berge zu helfen, aber aus einem rätselhaften Grund sagte ihm sein inneres Gespür, dies sei eine Reise, die er ganz allein antreten müsse. Daher schüttelte er vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben die Fesseln seiner Vernunft ab und setzte sein Vertrauen voll auf seine Intuition. Er spürte, dass er sicher sein werde. Irgendwie wusste er, dass er finden würde, wonach er suchte. Mit unglaublicher Zuversicht begab er sich an den Aufstieg.

Die ersten paar Tage waren einfach. Manchmal begegnete er einem der liebenswürdigen Bewohner des Dorfes unten, einem Mann oder einer Frau, die auf einem der Bergpfade unterwegs waren, vielleicht das passende Holzstück für ein Schnitzwerk suchten oder eines der Heiligtümer besuchten, die in dieser unwirklichen Gegend den Wanderer erwarteten, der sich so hoch in den Himmel hinaufwagte. Zeitweise war er mutterseelenallein unterwegs und nutzte die Zeit, um schweigend über sein bisheriges Leben nachzudenken – und wohin er jetzt unterwegs war.

Es dauerte nicht lange, bis das Dorf unten nur mehr ein winziger Fleck in diesem Gemälde einer atemberaubend schönen Natur war. Die Majestät der schneebedeckten Gipfel des Himalajas ließ sein Herz höherschlagen und nahm ihm zeitweise fast den Atem. Er fühlte sich ganz und gar mit seiner Umgebung eins. Es war wie eine Art Verwandtschaft, wie sie vielleicht zwei alte Freunde empfinden, nachdem sie viele Jahre lang ihre innersten Gedanken miteinander geteilt und miteinander gescherzt und gelacht haben. Die frische Bergluft klärte seinen Geist und erfüllte ihn spirituell mit neuer Energie. Julian hatte die Welt kreuz und quer bereist und gemeint, praktisch schon alles gesehen zu haben. Jedoch eine Schönheit wie diese war ihm noch nie begegnet. In vollen Zügen sog er die traumhafte Welt, die er hier entdeckt hatte, in sich hinein und wurde selbst Teil dieser gewaltigen Symphonie der Natur. Ihn durchströmte das Empfinden reiner Freude, heiterer Gelöstheit und herrlicher Sorglosigkeit. Hier, hoch oben in den Bergen, fern des Getümmels der Menschen da drunten, wagte sich Julian langsam aus dem Kokon des Gewöhnlichen heraus und begann die Welt des Außergewöhnlichen zu erkunden.