DAEMON

Keine Gutenachtgeschichten mehr …

1 Hinrichtung

 

Matthew A. Sobol, Mitbegründer und technischer Leiter der Firma CyberStorm Entertainment (HSTM – Nasdaq), erlag heute nach längerem Kampf einem Gehirntumor. Sobol, ein Pionier der mittlerweile bei 40 Milliarden Dollar Jahresumsatz angelangten Computerspiele-Branche, schuf u.a. die weltweit erfolgreichen CyberStorm-Onlinespiele Over the Rhine und The Gate. CyberStorm-Manager Kenneth Kevault nennt Sobol einen «unermüdlichen Innovator und Ausnahmeintellekt».

Was zum Teufel ist das? Das war alles, was Joseph Pavlos denken konnte, während er mit der behandschuhten Rechten seine Kehle umklammerte. Was das Blut nicht daran hinderte, zwischen seinen Fingern hervorzupulsen. Neben seinem Gesicht hatte sich bereits eine erschreckend große Lache gebildet. Aus irgendeinem Grund lag er auf dem Erdboden. Er konnte die Wunde zwar nicht sehen, aber der Schmerz sagte ihm, dass sie tief war. Er drehte sich auf den Rücken und starrte in einen makellos blauen Himmel.

Sein normalerweise so systematisch arbeitender Verstand versuchte hektisch, irgendwelche Optionen zu fassen zu bekommen – wie jemand, der in einem rauchvernebelten Gebäude nach einem Notausgang tastet. Er musste etwas tun. Irgendwas. Aber was? Die Frage Was zum Teufel ist das?

Er drückte so fest zu, dass er sich beinah selbst erwürgte. Und dabei hatte er sich doch eben noch so gut gefühlt. Das zumindest wusste er noch. Die letzten Schulden bezahlt. Endlich.

Er wurde allmählich ruhiger. Seltsam. Er versuchte sich zu erinnern, was er zuletzt getan hatte. Wie er hierhergekommen war. Es schien jetzt so unwichtig. Sein Griff lockerte sich. Es war völlig klar, dass keinerlei Maßnahmen nötig waren. Weil es kein logisches Szenario gab, wie er hier lebendig wieder herauskommen konnte. Und schließlich waren es Pavlos’ außerordentliche logische Fähigkeiten, die ihn im Leben so weit gebracht hatten. Ihn um die halbe Welt geführt hatten. Das war’s. Er hatte bereits alles getan, was er je tun würde. Sein Gesichtsfeld begann sich von den Rändern her zu verengen, und er fühlte sich wie ein unbeteiligter Beobachter. Er war jetzt ganz ruhig.

Und in diesem kühlen, distanzierten Zustand begriff er es plötzlich. Matthew Sobol war gestorben. Das war in den Nachrichten gekommen. Und da fügte sich plötzlich alles zusammen. Sobols Spiel ergab jetzt endlich einen Sinn. Es war wirklich phantastisch.

Cleverer Bursche …

2 Disziplinloser Prozess

Die besseren Ladenketten hatten ihre Filialen im Zentrum, und das Verkaufspersonal pendelte jeden Tag aus Vasallenkommunen hierher. Wie die Altstadt von Lyon ihre mittelalterliche Gerbergasse hatte, so gab es in Südkalifornien ein Valley der Coffee-Shop-Baristas und einen Canyon der Feuerwehrleute und Rettungskräfte.

Für die normale arbeitende Bevölkerung wurde Amerika immer mehr zum Rätsel. Wer kaufte eigentlich all diese Zweihundert-Dollar-Kupferkochtöpfe? Und wie bezahlten die Leute all diese BMW? Waren sie besonders gewieft oder einfach nur unfassbar leichtfertig?

Das Fernsehen, dachte Pete Sebeck, hatte dazu sicher einiges zu sagen. Wenn er nicht schlafen konnte, zappte er durch die Kanäle und ließ die Werbespots auf sich wirken. Gehörte er zur Zielgruppe? Hatten sie ihn richtig analysiert? Und was sagte das über ihn aus? Der History Channel hielt ihn offenbar entweder für einen Korea-Veteranen, der einen wirklich potenten Buschmäher suchte, oder aber

Der Freeway 101 schnitt Thousand Oaks in zwei Teile, aber es gab letztlich keine schlechtere Seite der Schnellstraße. Dieser Ort nannte sich die sicherste Stadt Amerikas, und als Detective Pete Sebeck die sauberen Boulevards an seinem Beifahrerfenster vorbeiziehen sah, fiel ihm wieder ein, warum Laura und er vor dreizehn Jahren hierhergezogen waren – damals, als man es sich noch hatte leisten können. Ventura County war für das Leben mit Kindern gemacht. Wenn man es hier nicht schaffte, seine Kleinen anständig großzuziehen, dann hätte einem auch Gott persönlich nicht helfen können.

«Migräne, Pete?»

Sebeck wandte sich Nathan Mantz zu, der ihn vom Fahrersitz besorgt beobachtete. Sebeck schüttelte kaum merklich den Kopf. Mantz kannte ihn zu gut, um nachzuhaken.

Sebeck dachte an Burkows Funkruf. Das würde in einigen Country Clubs ganz schöne Wellen schlagen. Sebeck und Mantz durchquerten die Stadt mit Blinklicht, aber ohne Sirene. Nur kein unnötiges Aufsehen. Aus seinem ungekennzeichneten Crown Victoria betrachtete Sebeck die nichtsahnenden Bürger – die Stützen der Gesellschaft beim Powerwalken. Heute Abend in ihrem Pilateskurs würden sie jedenfalls Gesprächsstoff haben.

Der Crown Vic tauchte in die noch unbebauten Canyons hinter der letzten Wohnanlage hinab. Ihr Ziel war nicht schwer zu finden. Ein Krankenwagen, drei Streifenwagen und ein paar ungekennzeichnete Fahrzeuge auf dem sandigen Bankett der Potrero Road markierten es deutlich. Zwei Beamte des Sheriff’s Department standen vor einem geschlossenen Stahltor in einem Maschendrahtzaun.

«Unterwegs, Sergeant.»

«Wo ist Detective Burkow?»

Der Beamte zeigte auf ein Loch, das in den Maschendrahtzaun geschnitten war.

Sebeck wartete auf Mantz, der noch mit der Zentrale sprach. Er wandte sich wieder an den Beamten. «Können wir das Tor hier öffnen?»

«Geht nicht, Sergeant. Es hat ein integriertes Fernbedienungsschloss. Da ist nichts, was man einfach durchsägen kann.»

Sebeck nickte, während Mantz herankam.

«Das Anwesen gehört einer hiesigen Firma – CyberStorm Entertainment. Mit denen haben wir schon gesprochen. Sie schicken jemanden her.»

Sebeck zwängte sich durch das Loch im Zaun, und Mantz kam hinterher. Sie folgten einem unbefestigten Weg, der sich durch den Chaparral auf dem Grund des Canyons wand. Schon nach einem kurzen Stück erreichten sie eine Gruppe von Sanitätern und Deputys des Sheriff’s Department, die in sorgsamem Abstand von einem Polizeifotografen schweißglänzend in der glühenden Mittagssonne standen. Die Sanitäter hatten eine Rolltrage, aber offenbar keine Eile. Die Köpfe drehten sich, als Sebecks und Mantz’ Schritte heranknirschten. «Tag, die Herren.» Ein Blick in die Runde. «Und Damen.»

Die Versammelten murmelten irgendwelche Begrüßungsfloskeln und traten beiseite, um Sebeck und Mantz durchzulassen.

Detective Martin Burkow, ein korpulenter Mann in den Fünfzigern mit schlechtsitzenden Hosen, stand auf einem sandigen Hügel am Wegrand. Neben ihm beugte sich der Polizeifotograf

Sebeck betrachtete die Umgebung. Eine Motocross-Maschine lag zwanzig Meter weiter an einer Böschung. Er konnte erkennen, wo sie gegen die linke Canyonwand geprallt und dann auf die andere Seite hinübergeschlittert war.

Zwischen ihm und der Leiche spannte sich in Halshöhe ein straffes Drahtseil über den Weg. Es schnitt diesen im Fünfundvierzig-Grad-Winkel, auf der linken Seite näher bei Sebeck als auf der rechten. Alles, was hier mit hohem Tempo entlangkam, musste das Drahtseil entlanggleiten wie über ein Sägeblatt. Auf einem gut drei Meter langen Stück war der Draht blutverkrustet. Die Leiche lag zehn Meter dahinter, ein Motorradhelm nochmal fünf Meter weiter.

Sebecks Blick folgte dem dünnen Drahtseil nach rechts zu einem Stahlpfosten, der aus dem Chaparral ragte. Dann nach links durch die Büsche. Direkt unter dem Seil zog sich eine frische Furche über den Weg.

«Was haben wir bisher, Martin?»

Detective Burkow gab das schwindsüchtige Husten eines lebenslangen Rauchers von sich. «Hallo, Pete. Danke, dass Sie gekommen sind. Männliche weiße Person, circa dreißig. Ein Anwohner, der mit seinem Hund spazieren war, hat ihn vor etwa einer Stunde gefunden. Es wurde zuerst als 10-54 gemeldet, aber ich dachte, ich hole euch doch besser dazu. Mir sieht das mehr nach einer 187 aus.»

Sebeck und Mantz sahen sich an und zogen die Augenbrauen hoch. Ein Tötungsdelikt. Eine Rarität in Thousand Oaks. Mörderisch waren hier für gewöhnlich nur die Immobilienpreise.

Der Fotograf nickte Burkow zu und ging vorsichtig den

 

Sebeck und Mantz duckten sich unter dem Drahtseil durch und traten an den Leichnam heran. Zu Sebecks Erleichterung war der Kopf noch dran. Der Motorradhelm war leer. Der Tote trug einen teuer aussehenden Motocross-Overall mit Logo-Aufnähern. In Brusthöhe war das gelbe Nylon aufgerissen. Wie es aussah, war er zuerst mit der Brust gegen das Drahtseil geprallt, das dann zu seiner Kehle hochgeschnellt war. Der Kehlkopf des Mannes war aufgeschnitten, und über der klaffenden Wunde schwirrten Fliegen. Seine Haut war alabasterweiß, und seine trockenen, glanzlosen Augen starrten auf Sebecks Schuhe.

Sebeck zog Latexhandschuhe an und beugte sich über den Toten. Er tastete seine Kleidung nach einer Brieftasche oder irgendeinem Ausweis ab. Da schien nichts zu sein. Er blickte auf die Cross-Maschine weiter vorn und drehte sich dann zu dem Polizeifotografen um. «Carey, versuchen Sie mal, die Nummernschilder der Maschine zu lesen. Vielleicht können wir den Mann ja darüber identifizieren.»

Der Fotograf spähte den Canyon entlang, setzte dann ein 200-Millimeter-Objektiv auf seine Kamera und visierte das Motorrad an.

Sebeck erhob sich. Sein Blick wanderte noch einmal das Drahtseil entlang bis zu der Stelle, wo es im Gebüsch verschwand. «Weiß jemand, wo es dort endet?»

Die Beamten und Sanitäter schüttelten den Kopf.

 

«Wir gehen dem Ding nach, Nathan. Nicht drankommen. Und Vorsicht mit möglichen Spuren.» Er wandte sich wieder an Burkow. «Marty, was sind das alles für Abdrücke da auf dem Weg?»

«Ich will einen Gipsabguss von jedem Abdruck in diesem Bereich.» Sebeck deutete den Weg entlang.

«Das gibt aber eine ganze Menge Abgüsse.»

«Sagen Sie der Spurensicherung, die Hundespuren können sie sich sparen.»

Mantz grinste. «Ich weiß nicht, ich habe gehört, Pekinesen sind ganz schön abgebrüht.»

Sebeck sah ihn grimmig an und zeigte auf die Büsche. Das Drahtseil verlief durch eine Bresche in der Böschung, die wieder zur Potrero Road führte. Er und Mantz nahmen sich je eine Seite vor und inspizierten den sandigen Boden, während sie sich durchs Gebüsch zwängten.

«Aufpassen wegen Klapperschlangen, Pete.» Mantz sprang über einen Erosionsgraben.

Das Drahtseil war leicht zu verfolgen, und die Furche im Boden begleitete es den ganzen Weg. Nach zwanzig Metern standen sie wieder am Maschendrahtzaun zur Potrero Road, vor der Rückseite eines Betreten-verboten-Schilds. Das Seil führte durch den Zaun und in die Rückwand eines etwa siebzig mal siebzig Zentimeter großen Stahlkastens, der auf einem dicken Holzpfahl saß. Die Furche endete etwa zwei Meter diesseits des Zauns. Sie hatten keine weiteren Fußspuren gefunden.

«Gehen wir außen rum auf die andere Seite.»

 

Ein paar Minuten später waren sie wieder am Tor zur Potrero Road. Sie schlüpften durch den Zaun und standen nach etwa hundert Metern vor dem Kasten. Eine Stahlschweißkonstruktion, die ziemlich robust aussah. Ein paar Dellen zeigten an, dass ihn irgendwelche Jugendlichen als Zielscheibe benutzt hatten, aber durchschlagen hatte ihn keine Kugel.

Mantz nickte. «Zuerst dachte ich ja, ein paar Kids hätten sich vielleicht einen üblen Streich ausgedacht. Aber das hier ist technisch ausgeklügelt. Wozu mag dieses Ding dienen?»

Sie drehten sich um, als ein Range Rover und ein Pick-up beim Tor hielten. Zwei Männer in Khakihosen stiegen aus dem Rover. Sie sprachen kurz mit den Deputys, die in Sebecks und Mantz’ Richtung zeigten. Die Khakihosen-Typen sprangen wieder in den Wagen, und beide Fahrzeuge kamen zu ihnen rüber. Der Rover stoppte kurz vor ihnen und hüllte sie in eine Staubwolke.

Die Typen stiegen wieder aus. Der Beifahrer kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu. Er sah nach Geld aus – Business-Casual mit Knitterfalten. «Detectives. Gordon Pietro, leitender Rechtsberater von CyberStorm Entertainment.» Sie gaben sich die Hand. Pietro überreichte jedem von ihnen eine Visitenkarte. «Das ist unser PR-Direktor, Ron Massey.»

Sebeck nickte. Massey hatte längere Haare als Pietro und eine gepiercte Augenbraue mit einem Goldring. Er war Ende zwanzig und sah ebenfalls nach Geld aus. Sebeck verspürte einen Anfall von Neid. Unwillkürlich schob sich der Gedanke in seinen Kopf, dass er diesem Bürschchen jederzeit mühelos die Scheiße aus dem Leib prügeln könnte. Er schob ihn wieder weg. «Das ist Detective Mantz. Ich bin Detective Sergeant Sebeck, East-County, Abteilung Schwerverbrechen.»

Pietro sah ihn verdutzt an. «Schwerverbrechen? Uns hat man gesagt, auf dem Anwesen habe es einen tödlichen Unfall gegeben.»

«Die Beamten vor Ort haben uns verständigt. Wir gehen von einem möglichen Tötungsdelikt aus.» Sebeck beugte sich

«Oh – jemand von der Immobilienverwaltungsfirma. Die sind für die Instandhaltung des Anwesens zuständig. Er hat eine Fernbedienung für das Zufahrtstor.»

«Er soll aussteigen. Ich will ihn sprechen.»

Pietro ging hin und gestikulierte auf den Mann im Pick-up ein.

Sebeck wandte sich an Massey. «Wofür wird das Anwesen genutzt?»

«CyberStorm hat das Grundstück als Investment erworben. Außerdem organisiert das Unternehmen hier Camps, Team-Building-Aktivitäten und dergleichen.»

Sebeck nahm Notizbuch und Stift heraus. «Sie sind also der PR-Mann? Was genau macht CyberStorm Entertainment, Ron?»

«Wir sind einer der bedeutendsten Computerspiele-Entwickler. Sagt Ihnen Over the Rhine etwas?»

«Nein.»

Burkow rief vom Tor herüber: «Pete! Ich habe einen Namen von der Kraftfahrzeugbehörde. Das Motorrad ist auf einen gewissen Joseph Pavlos zugelassen. Wohnt in einer dieser Villenbatterien auf dem Hügel.»

Massey schlug sich die Hand vor den Mund. «Ach, du Schande.»

«Sie kennen das Opfer?»

«Klar. Er ist einer unserer leitenden Spieleentwickler. Was ist passiert?»

Sebeck deutete mit dem Stift auf das Anwesen. «Er ist mit dem Hals gegen ein Drahtseil geprallt. Wissen Sie, ob er hier regelmäßig mit dem Motorrad unterwegs gewesen ist?»

Pietro kam mit einem Mann zurück, einem Mexikaner in den Vierzigern, der einen grünen Overall trug. Der Mann sah aus, als ob er ein hartes Leben hinter sich hätte – und jetzt damit rechnete, dass es gleich noch viel härter werden würde.

«Ron? Der Tote ist Pav?»

Massey nickte und zog ein Handy heraus. «Mistcanyon. Kein Empfang.»

Pietro zückte sein Handy zu einem Signalvergleich. «Bei welchem Anbieter sind Sie? Ich habe zwei Striche.»

Sebeck schaltete sich ein. «Und Sie sind?»

Pietro wandte sich ihm wieder zu. «Das ist Haime.»

«Wie heißen Sie mit ganzem Namen, Haime?»

«Haime Alvarez Jimenez, Señor.»

«Können Sie sich irgendwie ausweisen, Mr. Jimenez?»

«Was ist los?»

«Es gab einen Toten. Kann ich bitte einen Ausweis sehen?»

Haime sah Pietro und Massey an, kramte dann nach seiner Brieftasche. Er fand seinen Führerschein und streckte ihn Sebeck hin. Seine Hand zitterte merklich.

Sebeck lächelte leise. «Haime, haben Sie diesen Mann getötet?»

«Nein, Sir.»

«Dann bleiben Sie ganz ruhig.» Er nahm den Führerschein und inspizierte ihn.

Haime zeigte auf den Stahlkasten. «Ich heute erledige Arbeitsauftrag an diese Winde. Ich nur drehe Schlüssel. Wie steht in Arbeitsauftrag.»

«Wo ist der Arbeitsauftrag?»

«In Handheld in meine Pick-up.»

Haime nickte und zog einen Bund mit einem Barcode-Schildchen und drei Schlüsseln heraus.

«Sie haben heute diese Winde eingeschaltet? Um welche Uhrzeit?»

«So neun Uhr, neun Uhr dreißig. Ich kann genau sagen, wenn ich Arbeitsauftrag gucke.»

Sebeck ließ sich die Schlüssel geben und öffnete das Windengehäuse. Drinnen befand sich eine Elektrowinde mit einem weiteren Schlüsselloch auf der Vorderseite.

«Wofür ist der dritte Schlüssel?»

«Manuelle Öffnung von Zufahrtstor.»

«Sie haben also den Schlüssel gedreht. Die Winde ist angesprungen und hat das Drahtseil …», Sebeck beugte sich zum Zaun hin, «… aus dem Boden gezogen.»

«Nein, Señor. Nix Drahtseil. Nur Motor von Winde.»

Die anderen verdrehten die Augen.

«Haime, wenn Ihre Firma Sie hierhergeschickt hat, um das zu tun, haben Sie nicht viel zu befürchten. Wozu dient diese Winde überhaupt?»

Haime zuckte die Achseln. «Ich sie vorher nie mache an.»

«Können Sie mir diesen Arbeitsauftrag zeigen?»

«Ja, Sir.» Haime rannte zu seinem Pick-up.

Pietro blickte das Drahtseil entlang. «Was genau ist denn passiert, Detective Sebeck?»

«Jemand hat diese Winde und das Gehäuse hier installiert und dann ein Drahtseil im Boden versenkt. Beim Einschalten der Winde hat sich der Draht in Halshöhe über den Weg gespannt.»

Die beiden CyberStorm-Manager sahen verwirrt aus.

Pietro griff sich ans Kinn. «Sind Sie sicher, dass es nicht … so was wie eine Sperrkette ist?»

«Warum sollte man die vergraben? Warum sollte man

Darauf wusste Pietro keine Antwort.

Haime kam zurück und präsentierte Sebeck sein Handheld. Er schirmte das Display mit seiner schwieligen Hand gegen das Sonnenlicht ab und deutete auf den angezeigten Arbeitsauftrag. «Da – ‹Winde für Antenne laufen lassen, bis sie stehenbleibt›.»

Sebeck nahm das Handheld und studierte mit Mantz die Daten auf dem Display. «Nathan, wir brauchen einen Durchsuchungsbefehl für die Immobilienverwaltungsfirma. Lassen Sie das Büro überwachen, bis wir ein Team dort haben. Ach ja, und beschaffen Sie mir eine Fallnummer und Burkows Notizen. Ich übernehme die Ermittlungen. Ab jetzt läuft alles über mich.» Er sah Haime an. «Haime, wir müssen uns auf dem Revier noch ein bisschen mit Ihnen unterhalten.»

«Ich habe doch nichts gemacht, Señor.»

«Ich weiß, Haime. Deshalb werden Sie ja auch sicher mit uns kooperieren, während wir uns einen Durchsuchungsbefehl für Ihren Arbeitgeber beschaffen.»

Pietro schaltete sich ein. «Detective Sebeck –»

«Mr. Pietro, diese Drahtseilvorrichtung wurde von Ihrer Verwaltungsfirma gewartet – was doch wohl darauf hindeutet, dass Sie von ihrer Existenz wussten. Möchten Sie lieber, dass CyberStorm hierfür verantwortlich gemacht wird, oder zieht es CyberStorm vor, meine Ermittlungen zu unterstützen?»

Pietro presste die Lippen zusammen und wandte sich dann an Haime. «Keine Angst, Haime. Gehen Sie mit den Beamten mit. Tun Sie, was sie sagen. Erzählen Sie ihnen alles, was Sie wissen.»

«Ich nix wissen, Señor Pietro.»

«Das ist mir klar, Haime. Aber ich halte es für das Beste, wenn Sie tun, was Detective Sebeck sagt.»

Sebeck sah Mantz an. Mantz übernahm. «Nein, Haime. Wir werden nur ein bisschen reden. Den Pick-up können Sie hier stehenlassen. Um den kümmern wir uns.» Mantz bedeutete Haime mitzukommen und eskortierte ihn zu den Streifenwagen.

Pietro nickte Massey zu. «Detective Sebeck, wir werden uns an Ihre Dienststelle wenden und um eine Kopie des Polizeiberichts ersuchen. Sie wissen ja, wie Sie mich erreichen.» Die beiden Männer stiegen wieder in den Rover und preschten davon, um ein besseres Handysignal zu suchen.

Sebeck blickte noch einmal das Drahtseil entlang. Würde tatsächlich jemand so etwas bauen, nur um jemanden umzubringen? Da gab es doch unaufwendigere Methoden.

Er unterdrückte ein Lächeln. Das hier war sicher kein Selbstmord und auch kein schiefgegangener Drogendeal. Vielleicht war es ja wirklich vorsätzlicher Mord. War es pervers, das zu hoffen? Ob Unfall oder Mord, das Opfer war tot. Daran war nichts zu ändern. Was also sollte pervers daran sein, auf Mord zu hoffen?

Mit diesen Gedanken beschäftigt, drehte Sebeck sich um und ging zum Zufahrtstor zurück.

3 Black Box

Larson war Ende zwanzig und hatte etwas Militärisches – Bürstenhaarschnitt, athletische Statur, kantiges Kinn. Und er hatte einen jungenhaften Spaß daran, Computerbetrügern auf die Schliche zu kommen. Jedes Mal, wenn er eine sichere Spur hatte, schüttelte er in Zeitlupe den Kopf – unfassbar, womit die Leute unentdeckt durchzukommen glaubten.

Auf Larsons Bildschirm rollten Textzeilen durch. «Diese Logdatei protokolliert IP-Adressen, die Verbindung zu ihrem Server hergestellt haben. Wie Sie sehen, haben wir um den Zeitpunkt, als der fragliche Arbeitsauftrag einging, eine ganze Reihe von Verbindungen.»

Per Alt-Tab switchte er in ein Custom-Immobilienverwaltungsprogramm. «Ich habe mit der Sekretärin gesprochen, und die sagt, sie können Arbeitsaufträge von Kunden über eine sichere Website entgegennehmen.»

Sebeck nickte. «Dann kam der Auftrag also nicht unbedingt aus diesem Büro.»

«Stimmt.» Larson wandte sich wieder der Custom Application

Larson minimierte alle Fenster bis auf die Logdatei. Er markierte eine Zeile. «Das hier ist die ursprüngliche Verbindung. Wenn ich die IP-Adresse in die Domainabfrage eingebe …» Er wechselte den Screen. «Voilà.»

Eine Whois-Seite zeigte an, dass die Domain einer Alcyone-Versicherungsgesellschaft in Woodland Hills, Kalifornien, gehörte.

Sebeck las die kleine Schrift. «Dann kam der Arbeitsauftrag also ursprünglich von dieser Firma in Woodland Hills.»

«Vielleicht. Vielleicht auch nicht.»

«Sie meinen, der Absender könnte gespooft sein?»

«Das finden wir nur heraus, indem wir uns einen Durchsuchungsbefehl für deren Log-Protokoll besorgen.»

Ein weiterer Deputy betrat das ohnehin schon überfüllte Büro. «Sergeant, da draußen ist ein Ü-Wagen.»

Sebeck wedelte ihn weg, ohne sich umzudrehen. Zu Larson sagte er: «Dann hat also niemand von dieser Verwaltungsfirma hier den Auftrag erteilt, der Pavlos ins Jenseits befördert hat?»

«Scheint so.»

Sebeck sah auf den Monitor. «Ist diese Art Internet-Auftragsannahme bei Klitschen wie der hier üblich?»

Larson schüttelte lächelnd den Kopf. «Nein, ist es nicht. Das ist schon eher was Schickes. Der Büroleiter sagt, ihre Mutterfirma hat es für sie entwickelt. Und raten Sie mal, wer diese Mutterfirma ist?»

«CyberStorm Entertainment.»

Larson tippte sich an die Nase. «Sehr gut, Sergeant.»

«Einsatzkräfte Nähe Westlake. 10-54 in 3000 Westlake Boulevard gemeldet. Achtung, 10-29. 11-98 bei Gebäude-Sicherheitsdienst.»

Sebeck sah die anderen Beamten an. Ein weiterer Toter war gefunden worden. «Was zum Teufel …»

Die Adresse kam Sebeck irgendwie bekannt vor. Er zog Gordon Pietros Visitenkarte aus der Tasche. Wenigstens funktionierte sein Gedächtnis noch: Dieser Tote war bei CyberStorm Entertainment gefunden worden.

 

Sebecks Erfahrung nach gab es zwei Sorten Entertainment-Firmen: zwielichtige Läden, die in Steuerbetrug, Drogengeschäfte und organisierte Kriminalität verwickelt waren – und phänomenal erfolgreiche Imperien mit immensem weltweitem Einfluss. Dazwischen gab es kaum etwas, und die Verwandlung vom einen ins andere schien über Nacht vor sich zu gehen. Mit Beschilderungsrechten an einem zehnstöckigen Bürohochhaus schien CyberStorm diese Verwandlung bereits hinter sich zu haben.

Der Tote war in einem Sicherheitsvorraum gefunden worden – einer winzigen Durchgangsschleuse zu dem, was die Firmenangestellten eine Serverfarm nannten. Die Serverfarm selbst war voller Serverracks, deren LEDs im Halbdunkel der Notbeleuchtung munter flimmerten. Durch die Glasscheiben sah Sebeck mehrere Beschäftige hin und her gehen. Sie überwachten immer noch die Geräte.

Es war schwer, etwas Genaues zu erkennen, weil die Scheiben mit einem gelblichen Belag überzogen waren – der Niederschlag menschlichen Fetts, das in der geschlossenen Schleusenkammer verbrannt war. Das Opfer war durch einen Stromschlag regelrecht gegrillt worden.

Kevault war Ende dreißig, groß und schlank, mit Out-of-bed-look-Frisur. Sein kurzärmliges schwarzes Seidenhemd ließ Totenkopf-Tattoos auf seinen Unterarmen zur Geltung kommen, und er hatte jene Sorte Dauerbräune und Falten im Gesicht, die man durch jahrelanges Surfen bekommt. Er wirkte eher wie ein alternder Rockstar als wie ein Topmanager. Seit sie hier waren, hatte er noch kein Wort gesagt.

Sebeck wandte sich an den Mann von den Elektrizitätswerken. «Der Hauptstrom ist ausgefallen?»

Anstelle des Mannes von der Stadt antwortete der Gebäudetechniker. «Ja, Sir.»

Sebeck drehte sich zu ihm. «Dann laufen diese Rechner jetzt auf Notstrom?»

«Genau.»

«Wir müssen diesen Raum evakuieren.»

«Es gibt noch eine zweite Schleuse, aber die könnte genauso gefährlich sein. Ich habe den Leuten gesagt, sie sollen erst mal drinbleiben.»

Sebeck nickte. «Wer kann mir erklären, was passiert ist?»

Der Gebäudetechniker und der Network-Director sahen sich an, aber es war klar, dass der Gebäudetechniker hier die Sprecherfunktion übernommen hatte. «Vor einer halben Stunde etwa bekam einer von den CyberStorm-Leuten einen tödlichen Stromschlag, als er durch die innere Sicherheitstür gehen wollte. Ich weiß nicht, wie das sein kann, aber die IT-Jungs haben gesagt, er hätte etwa dreißig Sekunden mit qualmenden Schultern dagestanden und wäre dann umgefallen. Und jetzt liegt er da.»

Sebeck ignorierte ihn. «Einer von den CyberStorm-Leuten? Dann sind Sie also nicht bei CyberStorm?»

Der Techniker schüttelte den Kopf. «Nein, ich arbeite für den Eigentümer des Gebäudes.»

«Und wer ist dieser Eigentümer?»

Die beiden Männer wechselten Blicke, bis Kevault schließlich antwortete. «Das Gebäude gehört einem Immobilien-Investmenttrust, an dem CyberStorm die Mehrheit hält.»

Sebeck wandte sich wieder an den Gebäudetechniker. «Dann sind Sie also doch ein CyberStorm-Angestellter.»

Kevault mischte sich erneut ein. «Nein, der Trust ist eine eigene juristische Person, in die Gebäudetechnik, Security und andere Aufgaben, die mit den Immobilien zu tun haben, outgesourct sind.»

Sebeck sah im Geist schon Rechtsanwälte die nächsten zehn Jahre mit dem Finger aufeinander zeigen. «Vergessen wir das erst mal. Hat seit dem Vorfall irgendjemand das Gebäude betreten oder verlassen?»

Alle Anwesenden schüttelten den Kopf.

«Gibt es Pläne vom Leitungssystem der Schleuse? Irgendwelche ungenehmigten baulichen Veränderungen, von denen ich wissen sollte?»

Die Stimme des Gebäudetechnikers bekam jetzt etwas Scharfes. «Wir nehmen hier keine ungenehmigten Umbauten vor. Die ganze Anlage wurde vor zwei Jahren von der Stadt und den Brandschutzleuten abgenommen, wir können ihnen gern jederzeit die Nutzungsfreigabe vorlegen.»

Der Mann war um die fünfzig. Ein breitschultriger Latino mit einem Marine-Corps-Tattoo auf dem Unterarm. Sebeck hatte den starken Verdacht, dass er sich nichts würde bieten lassen. Der Gebäudetechniker ging rüber zu einer Flatpanel-Workstation

Der Gebäudetechniker tippte auf der Tastatur herum und highlightete zu jedem seiner Worte eine Farbschicht: «Wasser, Klimakontrolle, Brandschutz/Sicherheit, Elektrizität.»

Er zoomte auf die Graphik. Es war wie ein Videospiel mit durchsichtigen Wänden. Sie sahen jetzt eine räumliche Darstellung der Schleuse, und Sebeck erkannte, dass die gelben Elektrizitätsleitungen im Inneren des Türrahmens zu dem kombinierten Kartenlese-/Codeeingabegerät im Schließblech der Tür führten.

Kein Wunder, dass der Gebäudetechniker seinen Stolz hatte. Er konnte jede verdammte Schraube in 3D vorweisen.

«In dieser Wand gibt es keine Stromquelle, die ausreichen würde, um jemandem einen tödlichen Schlag zu verpassen, und selbst wenn es eine gäbe, müssten die Sicherungen rausgeflogen sein. Da ist irgendwo ein Kurzschluss. Vielleicht zu einer der Hauptleitungen. Vielleicht hat das ja den Türrahmen unter Strom gesetzt.»

Der Mann von den Elektrizitätswerken beugte sich vor. «Was führt in die Serverfarm? 480 Volt, dreiphasig?»

«Ja. Aber das kommt durch den Fußboden rauf. Es gibt da eine Hauptleitung, die durch eine vertikale Bohrung läuft. Der Boden wurde wegen des Gewichts der Racks verstärkt, und da ist ein Glasfaser-Backbone –»

«Meine Herren.» Sebeck trat zwischen sie. «Ich möchte, dass sämtliche Räumlichkeiten von CyberStorm bis auf die Notfallkräfte evakuiert werden. Nathan, ich brauche eine Absperrung an allen Treppen- und Liftzugängen. Wir richten unsere Kontrollzentrale hier vor der Schleuse ein. Ich will, dass jeder Evakuierte sofort befragt wird.»

«Heute sind zwei Ihrer Mitarbeiter durch ‹Unfälle› ums Leben gekommen. Wenn Sie mich fragen, ist das doch ein bisschen viel Zufall.»

Das Gesicht des Network-Directors verzerrte sich. «Zwei?»

«Ganz recht. Lassen Sie sich von Ihrem illustren Chef mal auf Stand bringen.»

Die CyberStorm-Leute wandten sich dem Firmenpräsidenten zu. Kevault kaute an den Fingernägeln – ob vor Ärger oder vor Konzentration, war schwer zu beurteilen. Schließlich sagte er: «Lamont, schalten Sie auf den Spiegelserver um. Und evakuieren Sie dann sämtliche Mitarbeiter.»

Sebeck sah ihn scharf an. «Sie lassen das Gebäude sofort evakuieren. Falls Sie sich irgendwelchen Illusionen hingeben, wer hier das Kommando hat, können Sie gern ein bisschen Bedenkzeit im Polizeigewahrsam haben.»

Kevault setzte an, etwas zu erwidern, besann sich dann aber eines Besseren. Er stapfte durch den Flur davon. Seine Leute folgten ihm.

Sebeck nickte Mantz zu, der daraufhin hinter Kevault hertrabte wie ein Rottweiler, der es auf ein Kleinkind abgesehen hat.

Sebeck hielt den Network-Director, der ebenfalls gehen wollte, am Ärmel fest. «Sie nicht. Sie bleiben hier.»

 

In vierzehn Jahren beim Sheriff’s Department hatte Sebeck einiges an tödlichen Unfällen mitbekommen, und er wusste, wenn so etwas am Arbeitsplatz der betreffenden Person passierte, bedeutete das eine Menge Papierkram. Arbeitsschutzinspektoren, Reporter, Anwälte, Leute von der Hausverwaltung –

Der Hauptstrom war weg, und sie hatten zudem über Funk veranlasst, die Zuleitung am öffentlichen Verteiler bis auf Widerruf zu unterbrechen.

Nachdem sie ein paar Tests mit dem Spannungsmessgerät durchgeführt hatten, befanden der Gebäudetechniker und der Mann von den Elektrizitätswerken, dass die Türrahmen nicht unter Strom standen. Sie gaben den Beschäftigten im Datencenter Anweisung, den zweiten Zugang zu öffnen und Polizei und Feuerwehr einzulassen. Dann evakuierten sie die IT-Leute. Jetzt war der Tatort frei von Zivilisten.

Sebeck wunderte sich, wie heiß und stickig es in dem Raum war. So lange konnte die Klimaanlage doch gar nicht aus gewesen sein. Er musterte die Dutzende von Rechnern, die in den Racks vor sich hin arbeiteten. Das produzierte eine ganze Menge Abwärme. Wahrscheinlich hatten sie deshalb diese Eingangsschleusen – um die Temperatur konstant zu halten. Er wandte sich an den Gebäudetechniker: «Wozu sind diese Dinger überhaupt da?»

«Dafür, dass Leute im Internet miteinander Spiele spielen können. Mein Enkel macht das.»

Von so etwas hatte Sebeck schon gehört. Aber er hätte nie gedacht, dass dabei so viel Hardware im Spiel war. Das wirkte alles ganz schön teuer.

Sie gingen zu der inneren Sicherheitstür. Das Opfer lag direkt hinter der Glasscheibe, und sie konnten es jetzt zum ersten Mal richtig sehen. Sebeck war durch die unzähligen Highway-Unfälle, mit denen er in seiner Zeit als Streifenbeamter zu tun gehabt hatte, ziemlich abgebrüht, aber der Network-Director schnappte nach Luft und entschuldigte sich. Wie

«Armer Teufel.»

Ein Vietnam-Veteran, dachte Sebeck.

Es war schwer, das Personalaktenfoto mit dem übereinzubringen, was da vor ihnen lag. Das Gesicht des Opfers war von Schmerz verzerrt – oder zumindest von den heftigen Muskelspasmen, die der Stromschlag verursacht hatte. Die Augäpfel hingen auf die Wangen. Das Haar war fast völlig weggesengt. Das ganze Gesicht war voller Blasen, aber Sebeck wusste bereits, wen er da vor sich hatte: einen leitenden Programmierer namens Chopra Singh – den angeblichen Absender des gespooften Arbeitsauftrags über die Winde an der Potrero Road.

Jetzt stand außer Zweifel, dass es in beiden Fällen Mord war. Er musste nur noch Beweise finden.

Sebeck ließ den Mann von den Elektrizitätswerken die Tür sicherheitshalber noch einmal mit dem Spannungsmesser überprüfen und trat dann beiseite, damit ein paar Feuerwehrleute sie öffnen konnten. Der Gestank von verbranntem Haar und Fleisch schlug ihnen entgegen, und aus dem gesamten Team kamen unwillkürliche Stöhnlaute. «Carey, machen Sie ein Video.»

Der Fotograf trat durch die Tür, und gleißendes Licht erfüllte die Schleuse. Danach bestätigten die Sanitäter, woran niemand zweifelte – dass das Opfer tot war. Die Kammer war zu klein für die Leiche und die Ermittler, also beschränkte man sich darauf, den Tatort von der schmalen Tür aus zu inspizieren. Da Sebeck in diesem Fall ausnahmsweise nicht glaubte, dass die Leiche viel an Spuren hergab, verzichtete er auf ihre nähere Untersuchung. Er ließ sie mit einer Plastikplane bedecken und rief den Mann von den Elektrizitätswerken wieder zu sich. «Ich muss wissen, was diese Tür unter Strom gesetzt hat, und zwar schnell.»

«Es geht mir nicht nur um dieses Gebäude.»

Der Elektriker brauchte einen Moment, um das zu begreifen, nickte dann aber ernst.

Sebeck und der Elektriker drängten sich in der Türöffnung, direkt vor dem inzwischen zugedeckten Toten. Das war alles andere als ideal, aber Sebeck hatte das Gefühl, keine Zeit vergeuden zu dürfen. Der Türrahmen sah ganz normal aus, doch dann löste der Elektriker ein paar Schrauben und hebelte mit einem Stemmeisen die Metallverkleidung ab. Und was darunter zum Vorschein kam, erschien selbst Sebeck merkwürdig.

Ein dünnes Kabel verlief im Inneren des Türrahmens vom Boden aufwärts und führte in die Rückseite des Kartenlesegeräts. Doch ein weiteres, wesentlich dickeres Kabel kam von der Decke herab, und die Kupferdrähte waren direkt am Metallrahmen festgenietet.

Sebeck sah den Elektriker an. «Ich kann mich nicht erinnern, das da auf dem Schaltplan gesehen zu haben.»

Der Elektriker trat neben ihn. «Das ist ein 480-Volt-Kabel. Damit können Sie eine Industrieschleifmaschine speisen.»

Sebeck zeigte an die Decke.

Trittleitern aus Fiberglas und Stirnlampen wurden gebracht. Wenig später drangen sie durch die abgehängte Decke in den Raum darüber vor. Im Licht der Stirnlampen erkannten sie die Brandschutzbeschichtung, die auf die Stahlträger und Stahlbodenplatten des darüberliegenden Stockwerks gespritzt war. Klimaanlagenrohre und Kabelstränge zogen sich durch den Zwischendeckenraum.

Und hier entdeckten sie das schwarze Kästchen – ein Metallgehäuse, in dem die 480-Volt-Leitung verschwand, um dann auf der gegenüberliegenden Seite wieder auszutreten.

Sebeck leuchtete den Leitungen nach, so weit es ging. «Okay, bis hierher und nicht weiter.»

 

Das Sprengstoffkommando brauchte zwei Stunden für die Räumungsmaßnahmen. Als die Männer schließlich grünes Licht gaben, wurden weitere Leitern gebracht und weitere Deckenplatten entfernt, bis Sebeck, Mantz, Deputy Aaron Larson und der Sprengstoffexperte des Departments, Bill Greer, schließlich die Köpfe durch die abgehängte Decke strecken und sich zu einer wackligen Besprechung um das nunmehr geöffnete schwarze Kästchen versammeln konnten.

Greer war ein heiter-gelassener Mann um die vierzig. Er hätte ebenso gut einen Kochkurs leiten können, als er jetzt das Visier seines Schutzhelms hochklappte und auf den Metalldeckel in seiner Hand zeigte. «Ziemlich handelsübliches Gehäuse.» Er deutete auf das offene Kästchen, das immer noch an dem Klimakontrollrohr festgeschraubt war. Das 480-Volt-Kabel führte durch ein Nest von Platinen und kleineren Kabeln. «Das ist am Ende nichts anderes als ein Schalter, Sergeant. Wer das hier installiert hat, konnte damit den Türrahmen unter Strom setzen.»

Larson zeigte auf einen Netzwerkport in der Seitenwand des schwarzen Kästchens, fuhr dann mit dem Zeigefinger zu einer kleineren Platine, die mit dem Port verbunden war. «Sehen Sie sich das an: ein Webserver auf einem Chip. Er hat einen winzigen TCP/IP-Stack. Das benutzt man, um so was wie Türen oder Lampen über ein IP-Netzwerk steuern zu können. Ich habe nachgesehen. Die Dinger gibt es im ganzen Haus.» Larson fuhr mit der Hand ein CAT5-Kabel entlang, das von der Platine ins Dunkel führte. «Diese Box ist mit dem Firmennetzwerk verbunden, und das Netzwerk wiederum ist

«Könnte der Schalter auch so eingerichtet sein, dass er sich einschaltet, wenn eine bestimmte Person ihre Schließkarte an der Sicherheitstür durchzieht?»

«Wahrscheinlich schon. Ich weiß noch nicht genug über diese Schließkarten.»

«Wie lange ist der Schalter schon hier?»

Greer musterte die Außenseite des Deckels. «Es war Staub drauf, als wir ihn geöffnet haben.»

«Dann ist diese Vorraumtür vermutlich ein paar tausend Mal geöffnet worden, ohne dass etwas passiert ist – und heute tötet sie plötzlich jemanden. Wir müssen herausfinden, ob dieser Singh jemals vorher im Datencenter war.»

Larson schrieb sich Seriennummern von der Platine ab. «Wir können die Zugriffslogs durchgehen. Und außerdem sind da auch Überwachungskameras.»

Sebeck schüttelte den Kopf. Das war alles zu komplex. Im Moment hatten sie nichts als Spekulationen. Er starrte noch einmal den Schalter an. «Meine Herren, ich glaube, es ist Zeit, das FBI hinzuzuziehen. Nehmen Sie’s mir nicht übel, Aaron, aber das hier übersteigt einfach unsere Fähigkeiten.»

 

Am frühen Abend stand Sebeck, flankiert von Mantz und einem uniformierten Beamten, vor dem Eingang des Gebäudes. Eine hysterische Meute von Reportern umringte sie, die vorgereckten Mikrophone eine einzige bunte Schaumstoffmasse. Hinten funkelten Kameraobjektive, während Reporter Fragen schrien.

Sebeck bat mit Gesten um Ruhe, bis er nichts mehr hörte als die Generatoren der in der Nähe parkenden Satelliten-Ü-Wagen. «Bis jetzt wissen wir Folgendes. Heute Vormittag,

Wieder brach eine Salve von Fragen über Sebeck herein. Und wieder bat er mit erhobener Hand um Ruhe. «Wie es aussieht, richteten sich die Anschläge gezielt gegen diese beiden Beschäftigten, und wir sehen keinen Anlass, von irgendeiner Gefahr für die Allgemeinheit auszugehen. Ich ersuche alle CyberStorm-Mitarbeiter, besonders wachsam zu sein und verdächtige Gegenstände oder Päckchen sofort der Polizei zu melden. Ich nehme jetzt Fragen entgegen.»

Wildes Gebrüll brach auf dem Parkplatz aus.

Sebeck zeigte auf eine Asiatin. Er hätte wohl zugeben müssen, dass er sie als Erste zu Wort kommen ließ, weil sie einfach umwerfend aussah.

«Sergeant, Sie sagten, Sie hätten das FBI eingeschaltet. Heißt das, dass es hier um mehr geht als um diese beiden Morde?»

«Das FBI hat die Ressourcen und Befugnisse, die für die Ermittlungen in diesem Fall erforderlich sind.»

Ein anderer Reporter mischte sich ein. «Können Sie genau beschreiben, wie die Opfer getötet wurden?»

«Den genauen Tathergang können wir zu diesem Zeitpunkt nicht publik machen.»

«Können Sie uns einen groben Anhaltspunkt geben?»

Erregtes Gemurmel ging durch das Pressecorps. Das war ihr Soundbite.

«Mehr können wir im Moment nicht sagen.»