Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

Zitat aus der Resolution 242 des UN-Sicherheitsrates, die am 22. November 1967 einstimmig angenommen worden war. In der Präambel ist ausdrücklich von »der Unzulässigkeit, Gebiete durch Krieg zu erwerben« die Rede sowie von »der Notwendigkeit, auf einen gerechten und dauerhaften Frieden hinzuarbeiten, in dem jeder Staat der Region in Sicherheit leben kann«. Die erste Klausel des ersten Artikels der Resolution verlangt »den Rückzug der israelischen Streitkräfte aus den Gebieten, die während des jüngsten Konflikts besetzt wurden«.

Mitzpeh Avigayil ist ein von jüdischen Siedlern gegründeter Außenposten, dessen Existenz unter israelischem Recht illegal ist. Der oberste Gerichtshof befahl zunächst einen sofortigen Baustopp der Siedlung, und 2003 ordnete die israelische Regierung deren Abriss an. Doch dieser Anordnung wurde nie Folge geleistet. Im Gegenteil: Die Siedlung wuchs. 2014 kündigte die israelische Regierung an, Schritte unternehmen zu wollen, um den Außenposten zu legalisieren. Mitzpeh Avigayil grenzt unmittelbar an Nael Abu Arams Land, dessen Besitzrechte von israelischen Gerichten eigentlich anerkannt worden waren. Das hinderte die israelische Regierung jedoch nicht daran, einen Teil dieses Landes zu annektieren und zur militärischen Sperrzone zu erklären.

In dem an die Vereinten Nationen angeschlossenen Amt zur Koordination humanitärer Angelegenheiten, das sich mit den besetzten palästinensischen Gebieten befasst, gibt es eine Karte mit dem Titel »Räumliche Einschränkung in der besetzten Area C, Dezember 2011«. Darauf sind 99 Prozent der Area C für Palästinenser nur stark eingeschränkt oder überhaupt nicht für bauliche Maßnahmen freigegeben. 68 Prozent sind für israelische Siedlungen vorbehalten, etwa 21 Prozent für militärische Sperrzonen und 9 Prozent für Naturschutzgebiete.

Besagter Weltbankbericht stellte fest, dass die möglichen Einnahmen, die die Palästinenser aus der Area C erhalten könnten, mindestens 2,2 Milliarden US-Dollar im Jahr betragen würden. Das wären 23 Prozent des palästinensischen Bruttoinlandproduktes. Der potenzielle Gesamtwert, der addiert würde, beliefe sich auf 3,4 Milliarden Dollar oder 35 Prozent des BIPs. Siehe hierzu: »West Bank and Gaza – Area C and the Future of the Palestinian Economy« (Das Westjordanland und Gaza – die Area C und die Zukunft der palästinensischen Wirtschaft), Weltbank-Bericht vom 2. Oktober 2013.

Miri oder staatliches Gebiet ist ein Terminus, der aus dem osmanischen Landrecht übernommen wurde.

B’Tselem hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten aufzuzeigen, während Ta’ayush eine arabisch-jüdische Partnerschaft ist, in der Israelis und Palästinenser gemeinsam mit täglichen gewaltlosen Aktionen darum kämpfen, ein Ende der israelischen Besatzung und eine vollständige staatsbürgerliche Gleichstellung herbeizuführen.

Hier einige Beispiele aus den internationalen Medien im Juli 2015: In der New York Times erschien am 23. Juli 2015 ein Artikel von Diaa Hadid mit dem Titel »How a Palestinian Hamlet of 340 Drew Global Attention« (Wie ein kleines palästinensisches Dorf mit 340 Einwohnern internationale Aufmerksamkeit erregte) und am 24. Juli 2015 wurde auf CNN die Dokumentation »Life in Susiya, the Palestinian Village Under Threat from Israeli Bulldozers« (Das Leben in Susiya, dem palästinensischen Dorf, das von israelischen Bulldozern bedroht wird) von Erin McLaugli, Kareem Khadder und Bryony Jones gesendet. Siehe auch: www.cnn.com/2015/07/24/middleeast/susiya-palestinian-village-under-threat/ und Peter Beaumonts Artikel in The Guardian vom 21. Juli 2015: »EU Protests against Israeli Plans to Demolish Palestinian Village« (Die EU protestiert gegen die israelischen Pläne, ein palästinensisches Dorf abzureißen).

Remi Kanazi, Before the Next Bomb Drops: Rising Up from Brooklyn to Palestine (Chicago: Haymarket, 2015)

Inschrift auf der Wand der archäologischen Fundstätte »Davidstadt«

Lesen und sehen Sie die Interviews von Breaking the Silence unter www.breakingthesilence/testimonies/database.

Einige Namen und Eigenschaften der Personen in diesem Buch wurden zum Schutz der Betroffenen geändert.

Vorwort

Ayelet Waldman und Michael Chabon

Wir wollten dieses Buch nicht herausgeben. Wir wollten nicht in nachhaltiger Form über Israel und Palästina schreiben, wollten nicht mal nachdenken über Bedeutung und Wesen der Besatzung, über Intifadas, Siedlungspolitik und die Fragen, wessen Anspruch stichhaltiger, wessen Leiden schlimmer, wessen Verbrechen ungeheuerlicher, wessen Zorn gerechter ist. Die Abneigung, uns mit dem Thema zu befassen, war so groß, dass wir die Stadt, in der Ayelet geboren wurde, fast ein Vierteljahrhundert lang mieden.

1992 hatten wir Israel besucht, wenige Monate nachdem wir uns kennengelernt hatten. Ayelet war zwar in den USA und Kanada aufgewachsen, aber in Jerusalem geboren, als Tochter von Immigranten aus Montreal; im Laufe ihres Lebens hatte sie immer wieder kürzere Zeit in Israel gewohnt und studiert. Michael kam das erste Mal dorthin. Jitzchak Rabin war vor Kurzem gewählt worden; es war eine Zeit voller Optimismus, neuer Initiativen, relativer Ruhe. Wir besuchten Verwandte und Freunde, absolvierten das Touristenprogramm, pilgerten nach Yad Vashem, zur Klagemauer, nach Masada, ans Tote Meer. Wir gingen ins Muslimische Viertel der Jerusalemer Altstadt und sahen uns die berühmten Moscheen dort an, auch die al-Aqsa-Moschee auf dem Tempelberg und die in Akkon. Einiges von dem, was Michael damals erlebte, fand, stark abgewandelt, seinen Weg in das Buch Die Vereinigung jiddischer Polizisten. Es war eine denkwürdige Reise, die erste von vielen, dachten wir damals, die wir gemeinsam unternehmen würden.

Zweiundzwanzig Jahre lang kehrten wir nicht zurück.

In dieser Zeit starb die zarte Hoffnung, die Oslo ausgelöst hatte. Jitzchak Rabin wurde ermordet. Die Zweite Intifada, lang und blutig, brach aus und wurde gewaltsam niedergeschlagen. Immer schneller und größer wuchsen die Siedlungen in den besetzten Gebieten, die militärische Besatzung etablierte sich, führte zu immer mehr Brutalität und Elend. Entsetzt und bestürzt über das Chaos aus Gewalt und Zerstörung, Vergeltung und Gegenvergeltung, abgestoßen von der zynischen Rhetorik auf beiden Seiten, taten wir das, was so viele in der neutralen Mitte machten: Wir wandten den Blick ab. Wir stiegen aus der Diskussion aus und blieben dem Land fern.

2014 jedoch kehrte Ayelet auf Einladung des Jerusalem International Writers’ Festival nach Israel zurück. Sie traf sich mit den couragierten Mitgliedern der gemeinnützigen Organisation Breaking the Silence (BTS), ehemalige israelische Soldaten, die durch ihren Dienst in den Autonomiegebieten zu dem Schluss gekommen waren, die Besatzung mutig und engagiert zu bekämpfen und irgendwann zu beenden. Die Gruppe nahm Ayelet mit auf eine Fahrt durch die Stadt Hebron. Sie wurde mit Issa Amro bekanntgemacht, dem Gründer einer Bewegung namens »Youth Against Settlements«. Deren gewaltlose Protestaktionen und Kampagnen gehören zu den kreativsten und aufsehenerregendsten im Westjordanland. Zum ersten Mal begann Ayelet ansatzweise zu verstehen, was genau Besatzung bedeutet, wie sie funktioniert und wie viele Jahrzehnte strategischer Planung in den Aufbau einer oft brutalen und immer menschenverachtenden israelischen Militärbürokratie eingeflossen waren, die die politischen Vorgaben ausführt und kontrolliert.

Dann fuhr Ayelet nach Tel Aviv und traf sich mit Schriftstellern, Filmemachern, Künstlern und Intellektuellen, die in dieser weltoffenen Stadt leben, wo man schwule Paare Hand in Hand auf der Straße sieht, wo die traditionelle Küche des Mittleren Ostens in neuen Restaurants frisch interpretiert wird, eine Stadt, deren Lebensrhythmus und Grundhaltung sababa ist (ein Wort mit arabischen Wurzeln aus der israelischen Umgangssprache, das ungefähr das Gleiche bedeutet wie das deutsche »cool«). Die Stadt schillert, sie brummt. Und sie wendet den Blick ab. Auf den Straßen von Tel Aviv würde man niemals ahnen, dass nur eine Autostunde entfernt Millionen von Menschen unter erdrückender Militärherrschaft leben und sterben.

Ayelet gefiel es gut in Tel Aviv, und das war das Problem. Sie fühlte sich unglaublich wohl in dem Land, wo sie geboren war, so heimisch. Aber wenn sie dieses Gefühl hatte – irgendwie dorthin zu gehören, sei es durch Geburt, Temperament und Erziehung oder einfach, weil sie jüdisch war –, dann trug sie in gewisser Hinsicht auch die Verantwortung für die Verbrechen und Ungerechtigkeiten, die im Namen dieser Heimat und deren »Sicherheit« begangen wurden.

Kaum war Ayelet zu diesem Schluss gekommen, stand sie vor dem nächsten Problem: Sie fühlte sich machtlos. Was konnte sie tun, um in diesem undurchdringlichen Sumpf sinnvolle Veränderungen anzustoßen, wie geringfügig auch immer, wo schon gute wie schlechte Versuche zahlloser Präsidenten und Premierminister, Staatssekretäre und Nobelpreisträger, Nichtregierungsorganisationen und Staatsmänner, Diplomaten und Friedensaktivisten wirkungslos geblieben waren, ganz abgesehen von den Generationen gewalttätiger Extremisten jeder Couleur mit ihren eigenen verrückten Lösungen?

Als Ayelet von dieser Reise zurückkehrte, erzählte sie Michael, was sie in Hebron gesehen hatte. Sie berichtete von den Stahlstäben in den Haustüren, die die Bewohner in ihrem Heim einschlossen. Sie schilderte eine beängstigende Situation, als zwei junge Palästinenser in einer Mischung aus Langeweile, Heldenmut und Verzweiflung sich in große Gefahr begaben, indem sie, obwohl es Palästinensern verboten ist, waghalsig den Fuß auf die Hauptstraße ihrer Stadt setzten, wo sie schwer bewaffneten israelischen Soldaten schutzlos ausgeliefert waren. Ayelet beschrieb, wie angewidert sie von Graffiti auf Mauern im palästinensischen Hebron gewesen sei, die auf Hebräisch allen Arabern den Tod wünschten. Sie erzählte, was sie gesehen und erlebt hatte, und Michael hörte zu. Allmählich schwand seine Verweigerungshaltung, das Produkt jahrzehntelanger Ernüchterung und Distanzierung.

Dabei wurde uns klar, dass das Erzählen selbst – Zeugnis abzulegen von Dingen, die man persönlich erlebt hat, und zwar in klaren, eindringlichen Worten – die Fähigkeit besitzt, bei Menschen wie uns Beachtung zu finden, die längst nicht mehr achtgegeben oder bereits aufgegeben haben.

Erzählen – das war ein Feld, frei und unbegrenzt, auf dem wir uns auskannten. Wichtiger noch, wir kannten viele Erzähler: Schriftsteller und Autoren, deren alleinige Aufgabe nach Aussage von Henry James darin besteht, ein Mensch zu sein, »on whom nothing is lost«, dem also nichts entgeht. Berufsbedingte Beobachter und Beachter, die, wenn wir sie denn würden aktivieren können, die Fähigkeit und das Talent besitzen, andere mitzureißen, die mit ihrer meisterhaften Sprachbeherrschung und ihrem Auge fürs Detail Menschen ermutigen könnten, den Blick nicht abzuwenden, sondern genauer hinzuschauen und vielleicht etwas zu entdecken, das fünfzig Jahre Berichterstattung, Diskussionsvorschläge und Propaganda übersehen haben.

Im Bewusstsein, dass der Juni 2017 näher rückt, der fünfzigste Jahrestag der Besatzung, meldeten wir uns bei Schriftstellern auf jedem Kontinent, außer der Antarktis. Wir schrieben Kollegen aller Altersgruppen aus acht Muttersprachen an, Autoren, die sich als Christen, Muslime, Juden, Hindus oder keiner Religion zugehörig bezeichnen. Einige hatten ihre politischen Ansichten zum Thema Palästina-Israel bereits öffentlich kundgetan, die meisten jedoch nicht, und viele räumten anfangs ein, dass sie sich nie eingehender damit beschäftigt hatten. Für viele war es der erste Besuch in der Gegend, andere kehrten an einen Ort zurück, den sie gut kannten. Die palästinensischen und israelischen Autoren schrieben über ihre Heimat. Es geschah, was wir kaum zu hoffen gewagt hatten: Bei ihrer Rückkehr sprudelten alle nur so über vor unmittelbaren Eindrücken und dem Bedürfnis, sie in Worte zu fassen, die Geschichte mit anderen zu teilen.

Im Verlauf des Jahres 2016 reisten die in diesem Buch versammelten Autoren mal allein, mal in kleinen Gruppen von bis zu sieben Personen nach Palästina-Israel, organisiert von Breaking the Silence. Vor Ort verbrachten sie den Großteil der Zeit in den besetzten Gebieten wie den Ostjerusalemer Stadtteilen Silwan und Sheikh Jarrah oder dem Flüchtlingslager Shuafat, in Städten des Westjordanlands wie Hebron, Ramallah, Nablus, Jericho oder Bethlehem, in Dörfern wie Nabi Saleh, Susiya, Bili’in, Umm Al-Khair, Hinba, Al-Walajeh, Kufr Qaddum sowie dem Gazastreifen. Vor Ort trafen sich die Schriftsteller mit Organisatoren der palästinensischen Gemeinschaft und gewaltlosen Widerständlern wie Issa Amro, aber auch mit Ladenbesitzern, Künstlern, Intellektuellen und Arbeitern, Frauenrechtsverfechtern und Journalisten, Geschäftsleuten und Bauern, Großeltern, Eltern und Kindern. Sie sprachen gleichermaßen mit israelischen Siedlern wie mit israelischen und palästinensischen Besatzungsgegnern, Menschenrechtsanwälten, Akademikern und Schriftstellern. Die Reiseroute der Autoren richtete sich nach ihren jeweiligen Vorlieben beziehungsweise Interessen. Einige schliefen in den Häusern von Familien in Dörfern, Städten oder palästinensischen Flüchtlingslagern, während andere Seifenfabriken oder archäologische Ausgrabungsstätten besichtigten. Wieder andere besuchten das Militärgericht oder verbrachten Zeit mit trauernden palästinensischen und israelischen Familien. Die gewählten Themen waren sehr unterschiedlich; die gesamte Bandbreite der Erfahrungen, Perspektiven und Sichtweisen ist in dieses Buch eingeflossen.

Wir möchten ausdrücklich klarstellen, dass wir keinerlei politische Erwartungen an die Autoren hatten. Wir haben sie eingeladen, an diesem Projekt mitzuarbeiten, weil sie hervorragende Literaten sind und Einfluss auf eine große, treu ergebene Leserschaft im eigenen Land und in vielen Fällen auf der ganzen Welt haben. Wir haben niemanden zensiert und ebenso wenig versucht, ihre Wortwahl zu beeinflussen. Was sie sahen, schrieben sie auf und ist jetzt hier zu lesen. Ein sorgfältiges Fact-checking-Team war monatelang damit beschäftigt, alle Angaben in diesen Essays zu überprüfen und zu verifizieren.

So wie alle an diesem Projekt beteiligten Autoren hat keiner von uns eine irgendwie geartete Bezahlung für die Arbeit bekommen und wird auch nichts erhalten. Alle Tantiemen aus dem Verkauf dieses Buchs werden nach Abzug der Herstellungskosten zwischen Breaking the Silence und Youth Against Settlements aufgeteilt, deren unentgeltliche harte Arbeit im Dämmerlicht noch lange, lange weitergehen wird, nachdem der Leser dieses Buch zugeschlagen hat.

 

Aus dem Englischen von Andrea Fischer

Der Taubenzüchter

Geraldine Brooks

Ihr Plan war ziemlich präzise: Sie wollten keine Frauen, ältere Menschen und Kinder in ihrem Alter angreifen. Ihr Ziel sollten Männer um die zwanzig sein – junge Männer im Soldatenalter. All das wurde beschlossen, bevor sie das Haus verließen. Hassan Manasra, 15, nahm ein Fleischmesser aus der Küche seiner Mutter, doch sein Cousin Ahmed, 13, konnte das dolchartige Messer nicht finden, das er als Waffe benutzen wollte. Erst nach einer Weile entdeckte er es in einem Schrank, wo sein Vater es zur sicheren Aufbewahrung versteckt hatte.

Die Manasras wohnen auf einem Gelände mit mehreren Mehrfamilienhäusern, das fast einen kompletten Straßenblock in dem auf einem Hügel gelegenen Jerusalemer Viertel Beit Hanina einnimmt. In dem gemeinsamen Innenhof lehnen Fahrräder verschiedener Größe an einem Baum oder liegen neben dem hohen Eingangstor auf dem Lehmboden. Zehn Brüder samt ihren Familien teilen sich das Gelände, und die Kinder bewegen sich frei zwischen den Wohnungen hin und her. Onkel oder Vater, Bruder oder Cousin, Schwester oder Cousine, das macht kaum einen Unterschied. Während die Treppenhäuser provisorisch und unfertig aussehen wie in einem Zustand permanenten Anbaus, sind die Räume in den Wohnungen ziemlich konventionell eingerichtet: an den Wänden Drucke von Berglandschaften, samtbezogene Sofas, Spitzentischdecken. Die Bettwäsche in Ahmeds Zimmer ist mit Comic-Astronauten bedruckt. Es ist das Heim einer Sippe von bescheidenem Wohlstand, deren Brotverdiener einen familieneigenen Lebensmittelladen betreiben, als Handwerker und im Transportwesen arbeiten.

Bis zum 12. Oktober 2015 folgten Hassan und Ahmed dem gleichen Stundenplan wie alle ihre schulpflichtigen Cousins und Cousinen: zum Unterricht gehen, nach Hause kommen, essen, umziehen und spielen auf einem unbebauten, von ihren Onkeln geräumten Stück Land unter der Autobahnüberführung zwischen Beit Hanina und dem Nachbarstadtteil Pisgat Ze’ev. Manchmal spielten die Cousins Fußball, aber am liebsten trainierten Hassan und Ahmed für Parkour – die Sportart, bei der man artistisch einen durch die Stadtlandschaft vorgegebenen Hinderniskurs bewältigt. Die Betonsäulen und die Grasböschung waren ein ideales Trainingsgelände für Sprünge und Saltos.

Die Autobahn trennt zwei Stadtteile von Ostjerusalem – das Haus von Hanina und die Spitze von Ze’ev –, die sich in dem schmalen Tal gegenüberliegen. Beide sind seit Langem besiedelt. Beit Hanina war schon zu kanaanitischen Zeiten die Heimat einiger Bauernfamilien; in Pisgat Ze’ev haben Ausgrabungen rituelle Bäder aus der Periode des Zweiten Tempels freigelegt.

Seit Israel das Gebiet im Sechstagekrieg 1967 von Jordanien erobert hat, ist das Bevölkerungswachstum in beiden Stadtteilen explodiert. Ihre bebauten Flächen haben sich über das ehemals Olivenhainen und Weinbergen vorbehaltene Land aufeinander zubewegt. Heute markiert nur noch die viel befahrene Stadtautobahn die Grenze zwischen dem palästinensischen und dem jüdischen Viertel. Pisgat Ze’ev ist die Endstation der Jerusalemer Stadtbahn, Beit Hanina die vorletzte Haltestelle. Die Bewohner beider Stadtteile leben Seite an Seite und doch in zwei unterschiedlichen Welten.

Pisgat Ze’ev, benannt nach dem revisionistischen Zionisten Ze’ev Jabotinsky, war eine der neuen Siedlungen, die nach dem Krieg im Eiltempo auf dem von Israel annektierten Land hochgezogen wurden. Obwohl die Annexion nach internationalem Recht illegal bleibt (und zum Beispiel von den Vereinigten Staaten nicht anerkannt wird), ist Pisgat Ze’ev heute eines der größten Viertel Jerusalems mit gut 42000 Einwohnern, etwa fünfhundert davon Palästinenser. Mittlerweile sind Schatten spendende Bäume herangewachsen, die die harten Kanten der steinernen Fassaden von Wohnblocks und brummenden Gewerbegebieten auflockern.

Das Dorf Beit Hanina ist im Laufe der Zeit organisch gewachsen, es gibt eine große Palette alter und neuer Häuser. Gut 35000 Palästinenser leben hier auf von Israel annektiertem Land. Weitere tausend wurden durch den Bau der Sperranlage vor zehn Jahren von ihren Nachbarn getrennt, nachdem es in dem als Zweite Intifada bekannten Aufstand zu einer Welle von Selbstmordattentaten gekommen war. Die hohe Betonmauer trennt in der Hauptsache von den Israelis annektiertes und beanspruchtes von besetztem und unter israelischer Militärverwaltung stehendem Land, was gewaltige Folgen hat. Ohne einen von den israelischen Behörden nach deren Ermessen ausgestellten Passierschein dürfen Menschen nicht von der palästinensischen Seite in das annektierte Ostjerusalem einreisen – um zur Schule zu gehen, Verwandte zu besuchen oder Lebensmittel einzukaufen.

Auf der anderen Seite der Sperranlage genießen Palästinenser Bewegungsfreiheit, sind jedoch häufig Feindseligkeiten von jüdischen Extremisten ausgesetzt, deren Zahl mit dem Rechtsruck in Israel in den letzten Jahren gewachsen ist. Manchmal finden Bewohner morgens Graffitibotschaften wie »Tod den Arabern« und »Jerusalem den Juden« an ihre Häuserwände gesprüht. Fahrzeuge werden demoliert und verbrannt, Reifen aufgeschlitzt. Die Palästinenser machen die Militanten aus Pisgat Ze’ev dafür verantwortlich. Ebenso schnell geben die Bewohner von Pisgat Ze’ev den Palästinensern die Schuld für Verbrechen im Viertel.

Vor einiger Zeit sprach eine jüdische Frau die Manasra-Jungen an, als die unter der Autobahn Parkour trainierten. Sie beschuldigte sie, die Handschuhe ihres Sohnes gestohlen zu haben. Der Onkel der Jungen, der ebenfalls Ahmed heißt und zu der Zeit zu Hause war, wurde hinzugerufen. »Als ich auf den Platz runterkam, sahen die Jungen aus wie verängstigte Kaninchen, umringt von Siedlern und Polizisten«, erzählt er. Wegen einer Welle von Vandalismus hatten er und seine Brüder vor ihrem Gelände eine Sicherheitskamera installiert. Er schlug vor, dass die Polizei mit deren Hilfe überprüfen sollte, ob die Jungen ihren Spielplatz verlassen hätten, um in dem israelischen Viertel zu stehlen. Die Aufnahmen bewiesen, dass die Jungen zum Zeitpunkt ihres angeblichen Diebstahls friedlich unter der Brücke gespielt hatten. Die Polizei erkannte den Beweis an, berichtet er, doch die Frau beschimpfte und beschuldigte die Jungen weiter. Ahmed hat über den Zwischenfall nachgedacht, darüber, ob die Furcht, die er geweckt hat, ein Auslöser für seine Neffen gewesen sein könnte. »Unsere Kinder haben keine normale Kindheit«, sagt er. »In dem Moment, in dem sie die Augen aufschlagen, erwachen sie in einer Realität von Checkpoints, von Soldaten und von Siedlern, die ihre Mutter beleidigen. Sie sehen die Nachrichten aus Gaza, Kinder wie sie, ausgebombt und obdachlos. Sie hören von einem Jungen in ihrem Alter, der von den Israelis bei lebendigem Leib verbrannt wurde. Sie sind traurig und ängstlich. Es ist keine gesunde Umgebung.« Trotzdem, sagt er, kann er es einfach nicht fassen, dass seine Neffen zu der Tat fähig waren, die sie an einem gewöhnlichen Nachmittag des Jahres 2015 begingen.

Es war ein Montag, und Hassan kam wie üblich aus der zehnten Klasse der Ibn-Khaldoun-Schule nach Hause, wo man ihn als ausgezeichneten Schüler und wohlerzogenen Jungen kannte. Ahmed, der schulische Probleme hatte und als recht unreif für sein Alter galt, kehrte aus der nahe gelegenen Grundschule »Neue Generation« zurück. Hassan erzählte seiner Mutter, dass er ein Videospiel für seine Playstation kaufen wolle. Er fragte sie, was sie zum Abendessen kochen wollte. Er habe Hunger, erklärte er ihr, und würde nicht lange weg sein. Das war gegen drei Uhr nachmittags.

Auf den wenig später aufgenommenen Bildern der Sicherheitskameras sieht man Ahmed und Hassan gemeinsam in Richtung des Einkaufszentrums von Pisgat Ze’ev laufen, ein bequemer Weg von ihrem Haus, sobald man die viel befahrene Autobahn überquert hat. Sie wirken entspannt und nicht weiter auffällig – zwei Jugendliche, die nach der Schule einen Spaziergang machen. Sie schlendern aus dem Blickfeld. Dann fängt die Kamera unvermittelt ein vollkommen anderes Bild ein. Ein junger Mann in dem weißen Hemd und der schwarzen Hose der Orthodoxen läuft an der Kamera vorbei und sieht sich verzweifelt zu zwei Jungen um, die ihn mit langen gezückten Messern verfolgen. Obwohl Hassan Yosef Ben Shalom, 21, schon mit einem Stich verletzt hatte, konnte der Mann entkommen. Daraufhin machten die Jungen kehrt und liefen zu den Geschäften in der Sisha-Asar-Straße.

Wenige Minuten später hörte Ruti Ben Ezra ein paar Blocks entfernt in ihrer Dachgeschosswohnung dreimal hintereinander ein kurzes Ploppen. Sie ist eine drahtige Frau mit pechschwarzem Haar und kobaltblauen Augen, die 1977 im Alter von acht Jahren nach Israel kam. Zehn Jahre später hatte sie ihren Militärdienst bei der Armee in Gaza geleistet und war sich deshalb sofort sicher, dass sie Schüsse gehört hatte. Während sie die Treppe hinunterrannte, um zu sehen, was passiert war, ging sie im Kopf durch, wo sich ihre fünf Kinder gerade aufhielten. Zwei waren noch in der Schule, zwei waren Fußball spielen und eines, Ofek, war gerade losgegangen, um seine Großmutter zu besuchen. Ofek war es auch, der schreiend zum Haus zurückgerannt kam. »Mama! Mama! Orlev, Na’or … Terrorist!«

»Geh nach oben, mach die Tür zu!«, befahl sie ihm und lief auf die Straße in Richtung Einkaufszone, wo ihr ein total verängstigter Orlev entgegenkam. Sie fasste seine Hand, und er zog sie zu dem Süßigkeitenladen, vor dem sein älterer Bruder Na’or, 13, auf dem Bürgersteig lag. Ruti kniete sich neben ihren Sohn, rief seinen Namen und flehte ihn an, die Augen zu öffnen. Wenige Minuten später standen Notärzte hinter ihr und brüllten, sie solle aus dem Weg gehen.

»Nein!«, sagte sie. »Ich bin seine Mutter!«

»Wollen Sie, dass wir ihn retten? Dann gehen Sie aus dem Weg.«

Sie stand ein wenig abseits, während sie ihren bewusstlosen Sohn bearbeiteten. Puls: schwach. Blutdruck: absackend. Die Notärzte erkannten sofort, dass man dreimal von hinten auf Na’or eingestochen hatte. Aber bei der relativ geringen Menge an Blut auf dem Bürgersteig konnte sie sich seine abstürzenden Vitalfunktionen nicht erklären, weil die tödlichste aller Verletzungen, ein Stich in die Halsschlagader, nicht sofort offensichtlich war. Der Junge verblutete unsichtbar innerlich.

Zu diesem Zeitpunkt war Hassan Manasra, ein paar Blocks entfernt, bereits tot, erschossen aus kurzer Distanz von Polizeibeamten, auf die er mit gezücktem Messer zugerannt war. Ein Stück die Straßenbahngleise hinunter lag sein Cousin, angefahren von einem Auto, ausgestreckt auf dem Boden, die Beine unterhalb des Knies unnatürlich und grotesk neben dem Körper nach oben gebogen wie eine Actionfigur, die ein Kind achtlos weggeworfen hatte. Um seinen Kopf bildete sich eine Blutlache, nachdem ein Ladenbesitzer ihn verfolgt, mit einem Knüppel geschlagen und ihm den Schädel gebrochen hatte.

Trotz der Kopfverletzung war er bei Bewusstsein. Ein Handyvideo zeigte sein verzerrtes Gesicht, während sich um ihn herum eine Meute versammelte. Eine Stimme rief: »Stirb, du Hurensohn!«

Binnen Stunden verbreiteten die Handyaufnahmen sich in allen Netzwerken und Ahmed Manasra wurde zum Rohrschach-Klecks; ein Leinentuch, auf das jede Seite des Konflikts ihre eigene Erzählung projizieren konnte.

Der Palästinenserführer Mahmoud Abbas war der Erste, der den Jungen benutzte und in einer vom Fernsehen übertragenen Ansprache fälschlicherweise behauptete, die Israelis hätten ihn im Schnellverfahren hingerichtet. Als Antwort ließ der israelische Premierminister Bibi Netanyahu Filmaufnahmen von Ahmed veröffentlichen, auf denen er mit bandagiertem Kopf im Hadassah Medical Center mit pürierten Speisen gefüttert wird. Palästinenser wiesen rasch darauf hin, dass nicht die Israelis diese Hilfe leisteten, sondern der palästinensische Anwalt des Jungen, der das unangerührte Essen bemerkt und erkannt hatte, dass Ahmed es vielleicht nicht geschafft hatte, es zu sich zu nehmen, weil seine Hand an das Bett gefesselt war. Auf dem Video sieht man, wie Ahmed seine freie Hand hebt, vielleicht um den Filmenden zu verscheuchen. Ein israelischer Kommentator beschrieb die Geste als »ISIS-Gruß«. Derweil gaben die Ärzte für Menschenrechte eine Erklärung ab, in der sie die Veröffentlichung der Aufnahmen als illegale Preisgabe der Identität eines Minderjährigen und eine Verletzung des Persönlichkeitsschutzes von Patienten verurteilten. Aber der Persönlichkeitsschutz wurde in diesem explosiven Fall offenbar von keiner Seite geachtet. Ein paar Wochen später strahlte das palästinensische Fernsehen eine längere Videoaufnahme von Ahmeds Vernehmung aus. Es ist unklar, wer dem Sender den Film zugespielt hatte. Ahmed sitzt zusammengesunken an der Ecke eines Tischs, umringt von drei Beamten in Zivil, dem Augenschein nach in einer israelischen Polizeiwache. Der Beamte, der die Vernehmung leitet, ein kräftiger Mann, der eine Sonnenbrille über seine gestrickte Kippa geschoben hat, versucht, dem Jungen das Geständnis eines Doppelmordes zu entlocken.

Als der Vernehmende auf Arabisch schreit und drohend einen Finger vor Ahmeds Gesicht hält, schlägt sich der Junge mehrmals an seinen verletzten Kopf.

»Ich schwöre bei Gott, ich kann mich nicht erinnern«, wimmert er.

»Du schwörst bei Gott? Wer ist dieser Scheißgott?« Der Vernehmende baut sich vor dem Jungen auf und will wissen, warum er seinem Cousin geholfen habe.

»Ich weiß es nicht«, ruft Ahmed und schlägt sich erneut an den Kopf. »Bringen Sie mich zum Arzt.«

»Halt’s Maul!«, brüllt der Vernehmende. »Setz dich gerade hin. Die Hände in den Schoß!«

Der gesendete Film war geschnitten worden, weshalb sich unmöglich sagen lässt, wie lange das Ganze so weiterging. Aber am Ende schluchzt der Junge unter Zuckungen. »Alles, was Sie sagen, ist wahr!«, jammert er. »Nur hören Sie auf!«

Da die Manasras auf der israelischen Seite der Sperranlage wohnen, wurde vor einem zivilen Gericht und nicht durch die Militärgerichtsbarkeit gegen Ahmed Manasra verhandelt, bei der die Verurteilungsquote bei 99,74 Prozent liegt. Nach israelischem Recht darf kein Minderjähriger, der zum Zeitpunkt seiner Verurteilung jünger als vierzehn ist, ins Gefängnis geschickt werden.

Es war jedoch von Anfang an klar, dass die Frage seines rechtlichen Schutzes die Öffentlichkeit in Ahmeds Fall polarisieren würde. Bei der Vernehmung von Minderjährigen müssen normalerweise ein Elternteil oder ein Anwalt zugegen sein. Das war bei Ahmed nicht so. Vielmehr hatten seine Eltern Mühe, überhaupt einen Anwalt zu finden, der qualifiziert und bereit war, den Fall zu übernehmen. Ein Anwalt, der das Mandat zunächst akzeptiert hatte, sagte es am nächsten Tag telefonisch mit der Entschuldigung wieder ab, dass man ihn gewarnt habe, es würde das Ende seiner Karriere bedeuten. Schließlich entschied die Familie sich für Leah Tsemel, eine altgediente Bürgerrechtsanwältin, die seit mehr als fünfundvierzig Jahren an israelischen Zivil- und Militärgerichten praktizierte.

Tsemel ist eine in Israel gebürtige Jüdin, deren Eltern in den 1930er-Jahren aus Russland eingewandert waren. Sie wuchs in Haifa auf, leistete ihren Wehrdienst und studierte an der Universität, als der Sechstagekrieg ausbrach und die Existenz Israels bedrohte. Während der heftigen Gefechte in Ostjerusalem meldete sie sich freiwillig bei der Armee und half, jüdische Zivilisten aus den am stärksten bedrohten Vierteln zu evakuieren. Als die Kämpfe vorüber waren, führten die Soldaten sie in das neu eroberte Gebiet des Westjordanlands, das biblische Land von Judea und Samaria, das Juden in den Jahren der jordanischen Herrschaft nicht betreten durften. Die Fahrt sollte eine Belohnung sein, eine besondere Aufmerksamkeit. Aber beim Anblick der Kolonnen palästinensischer Flüchtlinge am Straßenrand wurde Tsemel übel, weil er Erinnerungen an die Geschichten ihrer Eltern über die europäischen Verfolgungen und einen Widerhall des ewig heimatlosen, wandernden Juden wachrief. Damals sei sie »naiv und unpolitisch« gewesen, sagt sie. »Ich dachte, es wäre ein Krieg für den Frieden gewesen, und wir würden den Sieg benutzen, um Frieden mit unseren Nachbarn zu schließen.« Stattdessen begriff sie schnell, dass das, was sie gesehen hatte, der Beginn der Besatzung gewesen war und selbst die maßgeblichen Führer der Arbeiterpartei keinerlei Absicht hatten, das Land zurückzugeben. Also orientierte sie sich politisch noch weiter nach links und begann nach ihrem juristischen Examen als Anwältin für die Palästinenser zu arbeiten. »Was ich mache, ist in Israels Interesse«, behauptet sie, »selbst wenn die Israelis das nicht begreifen.«

Eine von diesen Israelis ist Na’ors Mutter Ruti Ben Ezra. »Manche Menschen würden für Geld alles machen. Sogar ihre Seele an den Teufel verkaufen«, sagt sie. »Ich hoffe, dass ihre eigenen Kinder von einem Terroristen verletzt oder getötet werden.«

Obwohl Na’or körperlich genesen ist, sind seine seelischen Narben längst nicht verheilt, sagen seine Eltern. »Die Straße ist sein schlimmster Feind«, erzählt sein Vater Shai, ein sechsundvierzigjähriger Elektriker. Er berichtet, dass Na’or sich in der Schule nicht konzentrieren kann. Außerdem ist er extrem jähzornig geworden. »Alles stört ihn. Er und sein Bruder streiten viel öfter als früher. Orlev macht sich Vorwürfe, weil er weggelaufen ist und seinem Bruder nicht geholfen hat.« Shai musste seinen Job aufgeben, um Tag und Nacht bei Na’or zu sein. »Wir sind zerbrochen«, sagt er.

Ruti, eine Kindergartenhelferin, hat ebenfalls aufgehört zu arbeiten, weil sie Angst hat, ihre Kinder allein zu lassen. Zwei Tage nach der Attacke auf Na’or hat ihr jüngstes, siebenjähriges Kind ein Messer mit zur Schule genommen. »Die Lehrerin hat angerufen und es mir erzählt«, erinnert Ruti sich. »Ich habe es nicht mitgekriegt. Ich habe nicht bemerkt, dass er es mitgenommen hatte. Ein Siebenjähriger sollte keine Angst haben müssen.« Und auch sie lebt mit Angst. »Jedes Mal wenn ich eine Sirene höre, denke ich: ›Wo sind meine Kinder?‹ Und damit haben sie gewonnen«, sagt sie. »Sie wollen, dass wir Angst haben. Ich habe Angst.«

Und genau das war, wie Ahmed Manasra seiner Anwältin Leah Tsemel erklärte, als sie ihn endlich besuchen durfte, in der Tat die Absicht. »Sein Cousin hat gesagt: ›Jagen wir ihnen einen Schrecken ein so wie sie uns immer.‹ Sie wollten schlimmstenfalls Menschen verletzen. So sah das Szenario aus, das sie sich ausgemalt hatten.« Mit einem Achselzucken gesteht die Anwältin stillschweigend ein, wie unplausibel diese Version klingt. »Es sind Kinder«, sagt sie. »Aber selbst als Kinder hatten sie eines begriffen: Wenn sie ein Messer zückten, würden sie wahrscheinlich selbst getötet werden.«

Ahmed erzählte Tsemel, Hassan habe erklärt, dass er bereit sei zu sterben und sich den sogenannten Märtyrern anzuschließen, deren zerfetzte Porträts von den Mauern vieler palästinensischer Häuser blättern. Er selbst habe keineswegs so empfunden, sagt Ahmed. Er weiß nicht, warum er mit seinem älteren Cousin mitgegangen ist, aber als er das Blut des ersten Opfers sah, bekam er eine Riesenangst. Als der Mann entkommen war, sah Ahmed, wie Hassan zu einer Frau mit Kindern blickte. Er erzählte Tsemel, er habe gerufen: »Schau sie nicht mal an!« Dann entdeckte Hassan Na’or, der auf seinem Fahrrad aus dem Süßigkeitenladen kam, und rannte auf ihn zu. Ahmed berichtete Tsemel, er habe gerufen: »Haram!« – das arabische Wort für etwas Unheiliges und Verbotenes. »Wir hatten verabredet, es nicht zu tun!« Aber Hassan stach trotzdem auf den Jungen ein. Passanten und Ladenbesitzer stürmten herbei, und ein oder zwei Minuten später war Hassan erschossen, und Ahmed lag blutend auf den Straßenbahnschienen.

Vor dem ersten Gerichtstermin stand Ahmed vor einer schwierigen Entscheidung. Würde er sich bei der Anhörung schuldig bekennen, würde der Fall geschlossen, ohne dass Ahmed ins Gefängnis musste, weil er noch nicht strafmündig war. Aber dann wäre die Empörung der Israelis so groß gewesen, dass man das Gesetz geändert hätte, glaubt Tsemel. »Sie hätten einen Weg gefunden, ihn in Haft zu behalten.« Und Ahmeds Familie wollte ein Schuldbekenntnis ohnehin nicht erlauben. Er hatte bei den Angriffen keins der Opfer auch nur berührt. Die Spurensicherung ergab, dass sein Messer gar nicht benutzt worden war, und er beharrte darauf, dass er nie die Absicht gehabt hatte zu töten. Also brachte Tsemel den Fall vor Gericht, wohl wissend, dass Ahmeds Schutzrechte am 20. Januar 2016, seinem vierzehnten Geburtstag, verfallen würden. Danach würde er strafrechtlich wie ein Erwachsener behandelt und konnte zu einer Haftstrafe von bis zu zwanzig Jahren verurteilt werden. Als Ahmed am ersten Prozesstag in Handschellen ins Gericht geführt wurde, verletzten zwei andere palästinensische Cousins im Alter von zwölf und vierzehn aus Beit Hanina und dem benachbarten Flüchtlingslager Shuafat einen israelischen Wachmann durch Messerstiche. Die Medien begannen diese neue Welle der Gewalt als »Intifada der Kinder« zu bezeichnen.

»Die Kinder tun es, weil die Älteren es nicht tun«, sagte Tsemel. »Wenn die Erwachsenen handeln würden – wenn es nur irgendeine politische Bewegung gäbe –, würden sie nicht so empfinden.«

Während des Prozesses argumentierte Tsemel, dass ein jüdischer Junge unter ähnlichen Umständen niemals wegen versuchten Mordes angeklagt worden wäre, wenn er aus nationalistischen Motiven einen Araber angegriffen hätte. »Ihre Anklage fällt immer geringer aus – Totschlag, schwere Körperverletzung«, sagte sie. Siedler, die Palästinenser verletzen, werden häufig gegen Zahlung einer kleinen Geldstrafe aus der Haft entlassen.

Am 18. April 2016, dem Tag, an dem Ahmeds Urteil erwartet wurde, versammelte sich seine Familie nervös im Jerusalemer Bezirksgericht. Seine zweiunddreißigjährige Mutter Maysoon saß steif auf einer Bank, makellos gekleidet in einem grauen Kopftuch, einem langen dunkelblauen Rock und einer curryfarbenen Jacke. Während sie darauf wartete, dass die Wachen ihren Sohn brachten, erklärte sie, sie könne nach wie vor nicht glauben, dass Ahmed an den Messerattacken beteiligt gewesen sei. »Ich habe es damals nicht geglaubt, und ich glaube es heute auch nicht«, sagt sie kopfschüttelnd. »Ich kann nicht. Ich kann nicht. Das erste Video hat mich schockiert. Er ist ein kleiner, kleiner Junge. Schüchtern. Er ist immer bei mir in der Küche oder spielt mit seinen Tauben.« Sie lächelte matt. »Er wollte sie immer mit reinbringen und im Haus herumfliegen lassen. Ich habe geklagt: ›Sie machen so viel Dreck!‹ Aber er hat bloß gelächelt und gesagt: ›Mama, du weißt doch, dass ich hinterher immer sauber mache.‹« Sie wies mit dem Kopf auf eine Bank, wo Ahmeds Cousins darauf warteten, ein paar Worte mit Ahmed zu wechseln, wenn er in den Gerichtssaal geführt wurde, weil sie ihn in der Haft nicht besuchen durften. »Sie wollen ihm sagen, dass sie sich um seine Vögel kümmern«, erklärt seine Mutter. »Sie wissen, wie viel ihm daran liegt.«

Ahmed, klein und von schmächtiger Gestalt, traf ein, flankiert von zwei Jugendgerichtshelfern. Als er seine Familie sah, wirkte er überwältigt und den Tränen nahe. Nervös zupfte er an seinem grünen Hoodie, als seine Mutter ihn an sich drückte, und als seine Cousins ihn umarmten, raffte er sich zu einem flüchtigen Grinsen auf. Tsemel, deren schwarze Anwaltsrobe lässig von einer Schulter rutschte, zerzauste ihm das Haar. »Wie geht’s, Junge?«, fragte sie auf Arabisch, bevor die Gerichtshelfer ihn in den Gerichtssaal führten. Drinnen bestätigten die drei Richter, die den Fall verhandelt hatten, eine Verschiebung des Urteils und ordneten für die Dauer der weiteren Beratungen Ahmeds Rückführung in die Jugendhaftanstalt an. Wegen dieser Verschiebung verließ Tsemel die geschlossene Verhandlung vorsichtig optimistisch. »Ich hoffe, sie diskutieren. Ich hoffe, sie haben Zweifel. Ich hoffe, unser Plädoyer war stark genug, um sie zögern zu lassen.« Andererseits sei die überwältigende Mehrheit der öffentlichen Meinung in Israel gegen jede Nachsicht, sagte sie. In den Zeitungen wurde Ahmed als »Terrorist« und »der Messerstecher« bezeichnet, obwohl er sein Messer gar nicht benutzt hatte. »Das Kreuzverhör und die Zeugen waren sehr feindselig.« Die Anklage hatte die Höchststrafe von zwanzig Jahren gefordert.

Aber Ahmeds Familie war erleichtert, dass er zumindest noch für ein paar Wochen in der Jugendstrafanstalt bleiben würde, wo er weiter am Schulunterricht teilnehmen und Besuch von seinen Eltern empfangen konnte. Sie verabschiedeten sich im Flur des Gerichtssaals von ihm, bevor die Gerichtshelfer Ahmed wegführten.

Im Häuserblock der Manasras versucht die Familie noch immer zu verstehen, wie die beiden Cousins sich so radikalisieren konnten. Weil er mittlerweile Jura an der al-Quds-Universität studiert, ist der Onkel der beiden Jungen, Ahmed, während des Gerichtsverfahrens seiner Neffen zum Sprecher der Familie geworden. Aber er gibt zu, dass ihm häufig die Worte fehlen. »Sie haben normale Sachen gemacht, wie Kids sie machen«, sagt er. »Natürlich wissen wir nicht, was sie sich auf ihrem Computer ansehen, was sie im Internet lesen.«

Seine Brüder seien nicht mehr oder weniger radikal als die meisten Palästinenser ihrer Generation, sagt er. »In jeder Familie gibt es einen Aktivisten.« Als junger Mann nahm er selbst an Demonstrationen teil und wurde zu sieben Jahre Gefängnis verurteilt, weil er einen Molotowcocktail auf Soldaten geworfen hatte. Während der Ersten Intifada 1987 wurden zwei weitere der vierzehn Manasra-Brüder wegen Steinwürfen inhaftiert. »Aber als wir das gemacht haben, waren wir Männer«, sagt er. »Es ist schmerzlich, dass wir an diesen Punkt gekommen sind – dass Kinder darin verwickelt werden. Das ist keine Angelegenheit für Kinder. Keine palästinensische Mutter und kein Vater will das. Niemand. Die Einzigen, die davon profitieren, sind die gierigen, verdorbenen Politiker, die an ihren Sesseln kleben. Die haben kein Interesse an Ruhe.«

Er blickt durch die wehenden Gardinen auf seine geteilte Stadt und erinnert sich an eine Zeit, als die Kinder Jerusalems einander noch nicht als Feinde begegneten. »In Westjerusalem gab es einen Park – den Liberty-Bell-Park«, sagt er. »In Ahmeds Alter bin ich dauernd dorthin gegangen, um mit meinen israelischen Freunden zu spielen.«

Heute ist das unmöglich. Selbst als Erwachsener fühlt er sich in den jüdischen Vierteln nicht sicher. »Wenn früher ein Extremist versucht hat, dich anzugreifen, sind andere Israelis dazwischengegangen. Wenn heute etwas passiert – ein Autounfall, irgendwas –, wird es missverstanden. Alle attackieren dich, weil du Araber bist.«

Er sagt, jedes Kind in der Familie ist traumatisiert. Hassans siebzehnjähriger Bruder Ibrahim wurde am Tag der Messerattacke geschlagen und verhaftet, als schwer bewaffnete Polizisten das Wohngelände stürmten. Ein Polizist behauptete, Ibrahim habe versucht, ihm seine Waffe zu entreißen. Da die Polizei die Sicherheitskamera zerstört hatte, deren Aufnahmen die Ereignisse gezeigt hätten, konnte Ibrahim nicht das Gegenteil beweisen. Er wurde mehrmals mit einem Gewehrknauf geschlagen, erlitt Rippenbrüche und Gesichtsprellungen und kehrte erst nach fünf Monaten im Gefängnis nach Hause zurück. Obwohl er wieder den Unterricht an einem Technikkolleg besucht, kann er sich nicht konzentrieren. Seine zehn Jahre alte jüngere Schwester, die Zeugin der Misshandlung wurde, sprach danach eine Woche lang kein Wort. Ein anderer fünfjähriger Cousin verließ das Haus mehr als vier Monate überhaupt nicht mehr.

Es sei drei Wochen her, berichtet Ahmed, dass die israelischen Behörden endlich angeboten hätten, Hassans Leichnam an seine Familie zu übergeben. Sowohl der jüdische wie der islamische Brauch verlangen eine rasche Beerdigung der Toten, doch in letzter Zeit hält Israel die Leichen von bei Terrorangriffen getöteten Palästinensern zurück. Hassans Leichnam wurde vier Monate lang nicht freigegeben, bevor man eine Rückkehr unter strikten Bedingungen anbot: eine nächtliche Beerdigung, bei der nur die Onkel und das Friedhofspersonal anwesend sein durften; und alle mussten sich vorher einer strengen Sicherheitsüberprüfung unterziehen. Hassans Familie akzeptierte. Da es muslimische Sitte ist, den Leichnam nur in ein Tuch gehüllt und oft auch mit unbedecktem Gesicht vom Haus zum Grab zu tragen, bat sie jedoch darum, dass Hassans Leiche nicht in gefrorenem Zustand gebracht wurde.

An dem festgelegten Termin trafen die israelischen Behördenvertreter um Mitternacht mit der Leiche ein. »Bei seiner Ankunft war er starr wie dieser Tisch«, sagt sein Onkel und klopft auf die Mahagoniplatte vor sich. »Sein Gesicht war blau. Wie verabschiedet man sich von einem Eiswürfel?« Die Familie weigerte sich, die Leiche in diesem Zustand anzunehmen, also packte die Polizei ihn wieder in die Tiefkühltruhe.

»Hassans Seele ruht in Frieden, und Gott möge ihm verzeihen«, sagt Ahmed. »Eine Leiche ist eine Leiche. Am Ende bleibt nur der Schmerz der Hinterbliebenen.«

Nachbemerkung

Am 17. Dezember 2015 wurde Na’or Ben Ezra an der Jerusalemer Klagemauer in Jerusalem bei seiner Bar-Mizwa zu seinem ersten Thora-Aufruf zugelassen.

Am 10. Mai 2016 wurde Ahmed Manasra des zweifachen versuchten Mordes für schuldig befunden und zu einer zwölfjährigen Gefängnisstrafe verurteilt.

Sieben Monate nach seinem Tod wurde Hassan Manasras aufgetauter Leichnam seiner Familie schließlich zur Beerdigung übergeben.

 

Aus dem Englischen von Kristian Lutze

Das eigene Volk

Jacqueline Woodson

In Amerika fielen die braunen Körper in Scharen. Sie wurden so heftig und in so rascher Abfolge niedergemäht, dass man kaum den Blick abwenden konnte. Die Gesichter junger brauner Männer flackerten über die Plattformen sozialer Netzwerke. Junge braune Frauen schickten Selfies ins Universum, lange nachdem ihnen die Geräte abgenommen worden waren, und zwar just von den Menschen, die eigentlich laut ihrer Dienstmarke zu ihrem Schutz abgestellt waren. Kleine braune Jungen starrten uns mit unschuldsvollem Blick aus ihren Schulfotos entgegen. Mitten in dieser aufgeheizten Atmosphäre bestieg ich ein Flugzeug. Mein Ziel war Israel-Palästina.

Bitte lasst uns nach Hause gehen,