Der Gottesspion
Thriller
Aus dem Spanischen von Luis Ruby
Trauer im Vatikan
Drei Leichen in Purpur.
Ein Mörder geht um im Herzen der Kirche.
Der Papst ist gestorben, und in Rom treffen Kardinäle aus aller Welt zur Wahl des Nachfolgers ein. Doch dann werden nacheinander drei Kirchenfürsten auf unmenschliche Weise abgeschlachtet. Die Tat eines Geisteskranken? Oder will jemand das Konklave beeinflussen? Aber wer? Italiens Top-Profilerin Paola Dicanti wird eingeschaltet. Und auch ein Priester mit CIA-Vergangenheit macht sich auf die Jagd nach dem Mörder.
Juan Gómez-Jurado, geboren 1977 in Madrid, hat als Journalist für Radio und Fernsehen sowie als Marketingdirektor gearbeitet. Für seine journalistischen Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet. In seiner Heimat Spanien gilt der Autor seit dem Bestseller-Erfolg «Der Gottesspion» als «der neue Papst des Verschwörungsromans». (Qué Leer).
Weitere Veröffentlichungen:
Der Gottes-Pakt
Das Zeichen des Verräters
Für Katu, das Licht meines Lebens
Und ich will dir des Himmelreichs Schlüssel geben.
Matthäus 16,19
Geistliche
ANTHONY FOWLER, Ex-Offizier des Geheimdienstes der US-Air-Force. US-Amerikaner.
VIKTOR KAROSKI, Serienmörder. US-Amerikaner.
CANICE CONROY, ehemaliger Direktor des Saint-MatthewInstituts. US-Amerikaner.
Hohe Zivilbeamte des Vatikans
JOAQUÍN BALCELLS, Sprecher des Vatikans. Spanier.
GIANLUIGI VARONE, einziger Richter des Vatikanstaats. Italiener.
Kardinäle
EDUARDO GONZÁLEZ SAMALO, Kardinal-Kämmerer. Spanier.
FRANCIS SHAW, US-Amerikaner.
EMILIO ROBAYRA, Argentinier.
ENRICO PORTINI, Italiener.
GERALDO CARDOSO, Brasilianer.
Weitere einhundertzehn Kardinäle.
Ordensleute
Pater FRANCESCO TOMA, Karmelit. Pfarrer der Kirche Santa Maria in Traspontina.
Schwester HELENA TOBINA, Leiterin des Domus Sanctae Marthae. Polin.
Vatikanpolizei (Corpo di Vigilanza dello Stato Vaticano)
CAMILO CIRIN, Generalinspektor.
FABIO DANTE, Superintendent.
Italienische Polizei – Mordkommission (Unità per l’Analisi di Crimini Violenti – UACV)
PAOLA DICANTI, Inspektorin und promovierte Psychiaterin. Leiterin des Labors für Verhaltensforschung (LAC).
CARLO BOI, Generaldirektor des LAC und Paolas Chef.
MAURIZIO PONTIERO, stellvertretender Inspektor.
ANGELO BIFFI, Polizeizeichner und Experte für Bildbearbeitung.
Zivilisten
ANDREA OTERO, Sonderberichterstatterin der Tageszeitung El Globo. Spanierin.
GIUSEPPE BASTINA, Bote vom Kurierdienst Tevere Express. Italiener.
Prolog
(Rehabilitationszentrum für katholische Priester, die des sexuellen Missbrauchs überführt wurden)
Silver Spring, Maryland
JULI 1999
Pater Selznick erwachte mitten in der Nacht mit einem Fischmesser an der Kehle. Ein Rätsel, wie Karoski überhaupt an das Messer gelangen konnte. In endlosen Nächten hatte er jedenfalls die Klinge an der Kante einer losen Bodenfliese seiner Isolationszelle geschliffen.
Es war das vorletzte Mal, dass es ihm gelang, diesen engen, drei mal zwei Meter großen Raum zu verlassen. Mit Hilfe einer Kugelschreibermine hatte er sich der Kette entledigt, die ihn an die Wand fesselte.
Selznick hatte ihn beleidigt. Das würde er büßen müssen.
«Versuch gar nicht erst zu schreien, Peter.»
Karoskis weiche Hand lag fest auf Selznicks Mund, während er mit dem Messer sanft über die Bartstoppeln des Priesters strich. Auf und ab, die makabre Parodie eines Barbiers. Selznick blickte mit weit aufgerissenen Augen zu ihm auf, starr vor Schreck, seine Finger krallten sich ins Bettlaken. Er spürte das schwere Gewicht dessen, der auf ihm kniete.
«Du weißt, warum ich hier bin, nicht wahr, Peter? Du kannst blinzeln. Einmal für ja und zweimal für nein.»
Selznick reagierte nicht, bis er merkte, dass die Klinge ihren Tanz auf seinem Gesicht unterbrochen hatte. Er blinzelte zweimal.
«Deine Ignoranz ist das Einzige, was mich noch wütender macht als dein Mangel an Respekt, Peter. Ich bin hier, um dir die Beichte abzunehmen.»
In Selznicks Augen schien Erleichterung aufzublitzen.
«Bereust du, unschuldige Kinder missbraucht zu haben?»
Ein Blinzeln.
«Bereust du, deine Priesterwürde besudelt zu haben?»
Ein Blinzeln.
«Bereust du, so viele Seelen in Aufruhr versetzt und damit unsere Mutter Kirche verraten zu haben?»
Noch ein Blinzeln.
«Bereust du schließlich, mich vor drei Wochen in der Gruppentherapie unterbrochen und damit meine Wiedereingliederung in die Gesellschaft und meine Rückkehr in den Dienst Gottes beträchtlich erschwert zu haben?»
Ein deutliches, nachdrückliches Blinzeln.
«Es freut mich, deine Reue zu sehen. Für die ersten drei Sünden erlege ich dir als Buße sechs Vaterunser und sechs Avemarias auf. Für die letzte …»
Der Ausdruck in Karoskis kalten grauen Augen blieb unverändert, doch er hob das Messer, schob es zwischen Selznicks Lippen und ließ es immer tiefer in den Rachen seines völlig verängstigten Opfers gleiten.
«Ach, Peter, du weißt gar nicht, wie ich das genießen werde …»
In erzwungener Stille kämpfte Pater Selznick beinahe fünfundvierzig Minuten mit dem Tod. Die Wärter, die dreißig Meter entfernt die Gänge bewachten, bemerkten nichts.
Karoski kehrte in seine Zelle zurück und schloss leise die Tür hinter sich. Am nächsten Morgen fand ihn dort der Leiter des Instituts. Er saß auf seiner Pritsche, über und über mit geronnenem Blut bedeckt. Doch es war nicht dieses Bild, das den alten Priester am meisten schockierte.
Was ihm durch Mark und Bein ging, das war die kalte, unmenschliche Logik, mit der Karoski ihn ungerührt um ein Handtuch und eine Schüssel Wasser bat: Er habe sich «schmutzig gemacht».
SAMSTAG, 2. APRIL 2005. 21 : 37 UHR
Der Mann im Bett hörte auf zu atmen. Sein Privatsekretär, Monsignore Stanislao Dwisicz, der seit sechsunddreißig Stunden die rechte Hand des Sterbenden gehalten hatte, brach in Tränen aus. Die Hausärzte mussten ihn mit Gewalt vom Bett wegzerren. Sie versuchten schon über eine Stunde lang, den alten Mann wiederzubeleben. Damit taten sie weit mehr, als es ihre ärztliche Vernunft geboten hätte. Wieder und wieder begannen sie mit der Reanimation. Sie wussten, dass sie alles tun mussten, was in ihrer Macht stand – sogar noch mehr, wenn sie ihr eigenes Gewissen entlasten wollten.
Die Privatgemächer des Papstes hätten so manchen schlecht informierten Beobachter überrascht. Der Kirchenfürst, vor dem sich Staatsoberhäupter aus aller Welt in Ehrfurcht verneigten, lebte in einem spartanisch eingerichteten Raum. Sein Zimmer war nur spärlich ausgestattet – die kahlen Wände zierte lediglich ein Kruzifix, die Möbel waren aus einfachem, lackiertem Holz: ein Tisch, ein Stuhl und eine bescheidene Bettstatt. Diese hatte man in den letzten Monaten durch ein Krankenhausbett ersetzt. Darum hatten sich nun Ärzte und Krankenpfleger versammelt, die mit aller Macht versuchten, den Papst wiederzubeleben; dabei fielen dicke Schweißtropfen auf die makellos weißen Laken. Vier polnische Nonnen hatten dreimal täglich die Bettwäsche gewechselt.
Schließlich gebot der Leibarzt des Papstes den nutzlosen Bemühungen Einhalt. Mit einer Handbewegung wies Dr. Silvio Renato die Krankenpfleger an, das alte Gesicht mit einem weißen Tuch zu bedecken, und bat dann alle Anwesenden, den Raum zu verlassen. Er blieb allein mit Dwisicz zurück. Dann stellte Renato an Ort und Stelle die Sterbeurkunde aus. Die Todesursache war offensichtlich: ein Kreislaufkollaps, verursacht durch eine Kehlkopfentzündung. Er zögerte kurz, ehe er den Namen des Verstorbenen eintrug, entschied sich aber schließlich für dessen Geburtsnamen, um Missverständnissen vorzubeugen.
Nachdem der Arzt das Formular ausgefüllt und unterzeichnet hatte, reichte er es Kardinal Samalo, der soeben eingetreten war. Dem Kardinal oblag die traurige Aufgabe, den Tod offiziell zu bestätigen.
«Danke, Doktor. Sie gestatten, dass ich fortfahre.»
«Er gehört ganz Ihnen, Eminenz.»
«Nein, Doktor. Jetzt gehört er nur noch Gott.»
Samalo näherte sich langsam dem Totenbett. Mit seinen achtundsiebzig Jahren hatte er Gott oft angefleht, diesen Augenblick nicht mehr erleben zu müssen. Er war ein ruhiger, gelassener Mann und wusste um die schwere Bürde und die unzähligen Aufgaben, die nun auf seinen Schultern lasteten.
Er blickte auf den Toten hinab. Dieser Mann war vierundachtzig Jahre alt geworden und hatte dabei eine schwierige Blinddarmentzündung, einen Darmtumor und einen Schuss in die Brust überstanden. Doch die Parkinson-Erkrankung hatte ihn Tag für Tag mehr geschwächt, und schließlich hatte sein Herz ihm den Dienst versagt.
Aus dem Fenster im dritten Stock des Palasts konnte der Kardinal sehen, wie sich fast zweihunderttausend Menschen auf dem Petersplatz drängten. Auf den Flachdächern der umliegenden Gebäude standen dicht an dicht Antennen und Fernsehkameras. «Bald werden es noch mehr sein», dachte Samalo. «Wir haben eine schwere Zeit vor uns. Die Menschen haben ihn geliebt, sie bewunderten seine Opferbereitschaft und seinen eisernen Willen. Es wird ein harter Schlag für sie sein, obwohl man doch seit Januar damit gerechnet hatte … freilich, nicht wenige haben seinen Tod auch herbeigesehnt. Und dann ist da noch das andere …»
Schritte näherten sich der Tür. Camilo Cirin, Sicherheitschef des Vatikans, trat ein. Ihm folgten drei Kardinäle, die den Tod des Papstes bestätigen mussten. Sorge und Erschöpfung standen ihnen ins Gesicht geschrieben. Die Prälaten traten an das Bett. Keiner wandte den Blick ab.
«Fangen wir an», sagte Samalo schließlich.
Dwisicz reichte ihm ein offenes Köfferchen. Der Kardinal-Kämmerer hob das weiße Tuch an, welches das Gesicht des Verstorbenen bedeckte, und öffnete ein kleines Gefäß mit Chrisamöl. Die anderen Kardinäle traten näher ans Bett heran. Nun begann der Kardinal-Kämmerer mit dem jahrtausendealten Ritual:
«Si vives ego te absolvo a peccatis tuis, in nomine Patris, et Filii, et Spiritus Sancti, amen.»
Samalo zeichnete dem Verstorbenen mit dem Finger das Kreuzzeichen auf die Stirn und fügte hinzu:
«Per istam sanctam Unctionem, indulgeat tibi Dominus a quidquid … Amen.»
Mit feierlicher Geste sprach er den apostolischen Segen:
«Kraft meines Amtes, das mir der Heilige Stuhl übertragen hat, gewähre ich dir vollständigen Ablass und spreche dich frei von all deinen Sünden und segne dich. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes … Amen.»
Aus dem Köfferchen, das ihm Dwisicz übergeben hatte, nahm er einen silbernen Hammer. Damit klopfte er dreimal sanft auf die Stirn des Toten, und bei jedem Schlag fragte er:
«Karol Wojtyła, bist du tot?»
Keine Antwort. Der Kämmerer sah die drei Kardinäle an, die mit ihm am Bett standen. Sie nickten.
«Wahrlich, der Papst ist tot.»
Mit der rechten Hand nahm Samalo dem Verstorbenen den Ring des Fischers ab, Zeichen seiner irdischen Macht. Ebenfalls mit der Rechten nahm er das Tuch und bedeckte das Antlitz Johannes Pauls II. Er atmete tief durch und sah seine drei Amtskollegen an.
«Es liegt viel Arbeit vor uns.»
Via della Conciliazione 14
DIENSTAG, 5. APRIL 2005. 10 : 41 UHR
Als Inspektorin Paola Dicanti die Kirche betrat, kniff sie die Augen zusammen, um in der Dunkelheit besser sehen zu können. Sie hatte fast eine halbe Stunde gebraucht, um an den Tatort zu gelangen. In Rom herrschen schon unter gewöhnlichen Umständen chaotische Verkehrsverhältnisse, aber nach dem Tod des Heiligen Vaters hatte sich die Stadt in ein Tollhaus verwandelt. Täglich strömten Tausende von Menschen in die Hauptstadt der katholischen Christenheit, um sich von dem Leichnam zu verabschieden, der im Petersdom aufgebahrt lag. Der Verstorbene galt schon jetzt als Heiliger, und in den Straßen sammelten einige Gläubige bereits Unterschriften, um seine Seligsprechung einzufordern. Stunde um Stunde nahmen 18 000 Menschen den Leichnam in Augenschein. Was für ein gigantischer Erfolg für die Gerichtsmedizin, dachte Paola sarkastisch.
Ihre Mutter hatte sie gewarnt, als sie die gemeinsame Wohnung in der Via della Croce verließ.
«Fahr nicht über die Via Cavour, da brauchst du ewig. Fahr lieber die Regina Margherita hoch und dann über die Via Rienzo», sagte sie, während sie in dem Haferbrei rührte, den sie seit dreiunddreißig Jahren jeden Morgen für ihre Tochter zubereitete.
Natürlich war Paola doch über die Via Cavour gefahren, und es hatte ewig gedauert.
Sie schmeckte noch den Haferbrei, diesen typischen Morgengeschmack. Während ihres Jahres an der FBI-Akademie in Amerika, wo sie zur Profilerin ausgebildet worden war, hatte sie dieses Aroma auf beinahe krankhafte Weise vermisst. Schließlich hatte sie ihre Mutter sogar gebeten, einen Topf voll zu schicken, und sich den Brei fortan in der Mikrowelle aufgewärmt. Es schmeckte nicht wie zu Hause, half ihr aber dieses harte und lehrreiche Jahr über ihr Heimweh hinweg.
Paola war einen Steinwurf von der Via Condotti entfernt aufgewachsen, eine der exklusivsten Adressen der Welt. Dennoch war ihre Familie arm gewesen. Was dieses Wort wirklich bedeutete, erfuhr sie allerdings erst während ihres Aufenthalts in den USA, einem Land, das für alles eigene Maßstäbe setzt. Am Ende des Jahres war sie heilfroh, in die Stadt zurückzukehren, die sie in ihrer Jugend so verabscheut hatte.
In Italien war erst im Jahr 1995 eine polizeiliche Einheit für die Analyse von Gewaltverbrechen und Serienmorden gegründet worden – die Unità per l’Analisi di Crimini Violenti (UACV). Kaum zu glauben, dass das Land, das in den Statistiken für Psychopathen weltweit an fünfter Stelle steht, so lange keine Einheit zu deren Bekämpfung hatte. Ein Teil der UACV war das Labor für Verhaltensforschung, kurz LAC, eine Sonderabteilung, die von Giovanni Balta aufgebaut worden war, Paola Dicantis Lehrer und Mentor. Leider kam Balta 2004 bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben, und so wurde aus der Dottoressa Dicanti die Inspektorin Dicanti, die das LAC in Rom leitete. Seit dem Tod ihres Chefs war das LAC ziemlich übersichtlich: Paola war die einzige Mitarbeiterin. Aber als Unterabteilung der UACV konnte das Labor auf die technische Unterstützung durch eine der fortschrittlichsten Forensikabteilungen Europas zählen.
Und doch gab es bisher kaum Erfolge zu verzeichnen. In Italien befanden sich dreißig nicht identifizierte Serienmörder auf freiem Fuß. Neun davon wurden so genannten heißen Fällen, also Morden aus jüngster Vergangenheit, zugeordnet. Seit Paola das LAC leitete, waren jedoch keine weiteren Leichen aufgetaucht, und das Fehlen von Spurenmaterial bedeutete für sie zusätzlichen Druck, da Täterprofile häufig das einzige Mittel waren, einem Verdächtigen auf die Spur zu kommen. «Luftschlösser» nannte das Dr. Boi, ein Physiker, der mehr Zeit am Telefon als im Labor verbrachte. Bedauerlicherweise war Boi Generaldirektor der UACV und damit Paolas direkter Vorgesetzter, und jedes Mal, wenn er ihr im Gang begegnete, warf er ihr einen spöttischen Blick zu. «Meine hübsche Geschichtenerzählerin» nannte er sie, wenn sie in seinem Büro alleine waren – eine sarkastische Anspielung auf das erstaunliche Maß an Vorstellungskraft, das Paola in ihren Täterprofilen an den Tag legte. Paola wünschte sich sehnlichst, dass ihre Arbeit endlich handfeste Ergebnisse brachte, die sie diesem Mistkerl dann unter die Nase würde reiben können.
In einer schwachen Stunde hatte sie den Fehler begangen, mit ihm ins Bett zu gehen. Zu viele Überstunden, da wurde man unvorsichtig, dazu eine unbestimmte Leere im Herzen … Der Umstand, dass Boi verheiratet war und fast doppelt so alt wie sie, machte den Katzenjammer am Morgen danach auch nicht erträglicher. Zwar hatte er sich wie ein Gentleman verhalten und sie nicht weiter bedrängt (tatsächlich war er gleich wieder auf Distanz gegangen), doch gestattete er Paola auch nicht, die Angelegenheit zu vergessen. Immer wieder streute er die eine oder andere halb chauvinistische, halb charmante Bemerkung ein. Dio, wie sie das hasste.
Nun aber hatte sie endlich, zum ersten Mal seit ihrer Beförderung, einen richtigen Fall. Von Anfang an konnte sie die Arbeit selbst in die Hand nehmen, ohne auf das verpfuschte Beweismaterial angewiesen zu sein, das diese Tölpel von Polizisten irgendwann gesammelt hatten. Der Anruf hatte sie erreicht, als sie gerade beim Frühstück saß. Sofort ging sie zurück in ihr Zimmer, um sich umzuziehen. Ihr langes schwarzes Haar steckte sie zu einem straffen Dutt hoch und entschied sich gegen Hosenrock und Pullover, die sie im Büro hatte tragen wollen. Stattdessen wählte sie ein elegantes, schwarzes Kostüm. Sie war sehr gespannt: Der Anrufer hatte ihr keinerlei Einzelheiten genannt, nur, dass ein Mord begangen worden sei, der in ihre Zuständigkeit falle; sie solle «umgehend» zur Kirche Santa Maria in Traspontina kommen.
Und da stand Paola nun, am Portal der Kirche. Hinter ihr zog sich eine fast fünf Kilometer lange Menschenschlange hin, die bis zur Vittorio-Emanuele-II-Brücke reichte. Sie warf einen besorgten Blick auf die Szenerie. Die Menge hatte schon die ganze Nacht dort ausgeharrt, aber selbst diejenigen, die etwas hätten sehen können, standen immer noch zu weit vom Tor der Kirche entfernt. Einige Pilger musterten im Vorübergehen die beiden Carabinieri, die unauffällig am Eingang des Gotteshauses postiert waren, um Spontanbesuchern den Einlass zu verwehren. Bei Nachfragen erklärten sie in freundlichem, aber überaus bestimmtem Ton, das Gebäude sei aufgrund von Renovierungsarbeiten geschlossen.
Paola atmete tief durch und betrat die Kirche. Sie war einschiffig und hatte auf beiden Seiten je fünf Kapellen. Der Geruch von abgestandenem Weihrauch hing in der Luft. Es brannte kein Licht. Vermutlich, weil das auch so war, als die Leiche gefunden wurde. Eine von Bois Maximen lautete: «Sehen wir, was der Täter gesehen hat.»
Sie kniff die Augen zusammen und blickte sich um. Zwei Personen, die mit dem Rücken zu ihr im hinteren Teil der Kirche standen, unterhielten sich leise. Ein nervöser Mönch des Karmeliterordens, der am Weihwasserbecken stand und den Rosenkranz betete, bemerkte, wie aufmerksam Paola sich im Raum umsah.
«Sie ist wunderschön, nicht wahr, Signorina? Die Kirche stammt aus dem Jahr 1566. Sie wurde von Peruzzi erbaut, und die Kapellen …»
Paola unterbrach ihn lächelnd, aber bestimmt.
«Leider, Pater, interessiere ich mich im Augenblick überhaupt nicht für Kunst. Ich bin Inspektorin Paola Dicanti. Sind Sie der Pfarrer?»
«In der Tat, Inspektorin. Und außerdem habe ich die Leiche gefunden. Bestimmt interessiert Sie das mehr. Gütiger Himmel, das sind vielleicht Zeiten … Kaum ist ein Heiliger von uns gegangen, bleiben nur noch Teufel!»
Er war ein Mann von ältlichem Aussehen, trug eine Brille mit dicken Gläsern und die braune Kutte des Karmeliterordens. Darüber hatte er ein langes Skapulier an, das um seine Hüften herum verschnürt war. Ein grau melierter, dichter Bart bedeckte sein Gesicht. Etwas vornübergebeugt und mit einem leichten Hinken lief er um das Weihwasserbecken herum.
«Beruhigen Sie sich, Pater. Wie ist Ihr Name?»
«Francesco Toma, Inspektorin.»
«Bitte, Pater, erzählen Sie mir ganz genau, wie alles abgelaufen ist. Ich weiß, Sie haben es bestimmt schon sechs- oder siebenmal erzählt, aber glauben Sie mir, das ist wichtig.»
Der Pater seufzte.
«Es gibt nicht viel zu erzählen. Ich bin hier nicht nur der Pfarrer, sondern auch der Küster und für die Instandhaltung der Kirche zuständig. Ich wohne in einer kleinen Zelle hinter der Sakristei. Wie jeden Morgen bin ich um sechs Uhr früh aufgestanden, habe mir das Gesicht gewaschen und meine Kutte angelegt. Dann bin ich durch die Sakristei gegangen. Es gibt da eine Tür, die hinter dem Hochaltar versteckt ist und in die Kirche führt. Das ist mein Weg in die Kapelle der Heiligen Maria vom Berge Karmel, wo ich jeden Tag meine Gebete spreche. Dort fiel mir auf, dass vor der Thomaskapelle Kerzen brannten. Als ich am Abend zu Bett gegangen war, brannten sie noch nicht, also bin ich hingegangen – und da habe ich ihn gesehen. Den Verstorbenen, meine ich. Zu Tode erschrocken, bin ich gleich in die Sakristei gelaufen, der Mörder hätte ja noch in der Kirche sein können. Und dann habe ich die Polizei angerufen.»
«Sie haben am Tatort nichts berührt?»
«Nein, Inspektorin. Gar nichts. Ich war völlig starr vor Schock, Gott sei mir gnädig.»
«Und Sie haben auch nicht versucht, dem Opfer zu Hilfe zu kommen?»
«Inspektorin … es war offensichtlich, dass für ihn jede menschliche Hilfe zu spät kam.»
Eine Gestalt kam durch den Mittelgang auf sie zu. Es war Vizeinspektor Maurizio Pontiero von der UACV.
«Paola, beeil dich, die schalten gleich die Lichter an.»
«Einen Moment noch, Pater. Hier haben Sie meine Karte. Meine Handynummer steht da unten. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich an, egal zu welcher Tageszeit.»
«In Ordnung, Inspektorin. Hier, das ist für Sie.»
Der Karmelit reichte ihr ein buntes Heiligenbildchen.
«Die Heilige Maria vom Berge Karmel. Tragen Sie sie immer bei sich. Sie wird Ihnen in diesen düsteren Zeiten den Weg weisen.»
«Danke, Pater», sagte Paola mit einem zerstreuten Blick auf das Bild.
Die Inspektorin folgte Pontiero durch die Kirche bis zur dritten Kapelle auf der linken Seite, die mit dem roten Absperrband der UACV abgeriegelt war.
«Du hast dich verspätet», tadelte sie der Vizeinspektor.
«Der Verkehr war mörderisch. Da draußen ist ganz schön was los.»
«Du hättest über die Via Rienzo fahren sollen.»
Paola Dicanti stand zwar in der Rangordnung der italienischen Polizei höher als Pontiero, aber als Leiter des Außenermittlungsteams der UACV war er jedem Laborbeamten übergeordnet, selbst Paola als Laborleiterin. Pontiero war einundfünfzig, spindeldürr und immer schlecht gelaunt. Auf seinem Gesicht, das einer verschrumpelten Rosine glich, lag ein permanentes Stirnrunzeln. Paola wusste, dass der Vizeinspektor sie anbetete, ließ sich aber natürlich nichts anmerken.
Sie wollte schon die Absperrung überqueren, wurde jedoch von Pontiero zurückgehalten.
«Warte einen Moment, Paola. Der Anblick ist schlimmer als alles, was ich bisher gesehen habe. Das kann nur die Tat eines Irren gewesen sein, glaub mir.» Seine Stimme zitterte.
«Ich komme schon klar, Pontiero. Aber danke.»
Sie betrat die Kapelle. Drinnen schoss ein Techniker von der UACV Fotos vom Tatort. Im hinteren Teil der Kapelle stand direkt an der Wand ein kleiner Altar, und darüber hing ein Porträt des heiligen Thomas, wie er gerade die Finger in die Wunden Jesu legte.
Darunter lag die Leiche.
«Heilige Madonna.»
«Ich hab’s dir ja gesagt, Dicanti.»
Es war eine Szene wie aus Dantes Inferno. Der Tote lehnte am Altar. Man hatte ihm die Augen herausgerissen; an ihrer Stelle waren nur noch zwei furchtbare, schwärzlich klaffende Wunden zu sehen. Aus dem Mund, der zu einer schrecklichen, grotesken Grimasse verzogen war, hing etwas Bräunliches. Die Hände waren abgetrennt worden und lagen neben der Leiche, frei von Blut, auf einem weißen Tuch. An einem der Finger steckte noch ein dicker Ring.
Der Tote trug eine schwarze Soutane mit roter Paspelierung, die Kleidung eines Kardinals.
Paola riss die Augen auf.
«Pontiero, sag mir, dass das kein Kardinal ist.»
«Das wissen wir noch nicht, Paola. Wir gehen der Frage nach. Von seinem Gesicht ist nicht viel übrig. Wir haben auf dich gewartet, damit du den Tatort so sehen kannst, wie ihn der Mörder gesehen hat.»
«Wo ist der Rest des Ermittlungsteams?»
Das Ermittlungsteam war der Kern der UACV. Es handelte sich ausnahmslos um Experten, Forensiker, Spezialisten für Spurensicherung aller Art, von Fußspuren bis zu Haaren, was immer die Täter auch hinterlassen haben mochten. Sie gingen von der Annahme aus, dass bei einem Verbrechen immer ein Tausch stattfindet: Der Mörder nimmt etwas und gibt dafür etwas anderes.
«Sie sind unterwegs. Der Streifenwagen steht auf der Via Cavour im Stau.»
«Sie hätten über die Via Rienzo fahren sollen», warf der Techniker ein.
«Hat Sie jemand um Ihre Meinung gebeten?», fuhr ihn Paola an.
Der Techniker murmelte ein paar Verwünschungen und entfernte sich langsam von der Gruppe der Ermittler.
«Du solltest langsam mal lernen, dich besser zu beherrschen, Paola.»
«Meine Güte, Pontiero, warum hast du mich nicht früher angerufen?», fragte Dicanti, ohne auf den Rat des Vizeinspektors einzugehen. «Das ist ein ziemlich schwerwiegender Fall. Wer das hier angerichtet hat, muss völlig wahnsinnig sein.»
«Ist das schon Ihr Täterprofil, Dottoressa?»
Carlo Boi betrat die Kapelle und schenkte Paola einen seiner spöttischen Blicke. Er liebte solche überraschenden Auftritte. Offenbar war er einer der beiden Männer gewesen, die bei ihrem Eintreten in die Kirche mit dem Rücken zu ihr am Weihwasserbecken gestanden und sich unterhalten hatten. Sein Gesprächspartner stand gleich hinter Boi, sagte jedoch kein Wort und kam auch nicht in die Kapelle. Im Stillen ärgerte sich Paola, dass Boi ihre Unbeherrschtheit mitbekommen hatte.
«Nein, Direktor Boi. Mein Täterprofil bekommen Sie auf Ihren Schreibtisch, sobald ich damit fertig bin. Aber ich kann jetzt schon sagen, dass, wer auch immer dieses Verbrechen begangen hat, sehr, sehr krank sein muss.»
Boi wollte etwas erwidern, doch in diesem Augenblick gingen die Lichter in der Kirche an. Und plötzlich sahen alle etwas, das ihnen zuvor entgangen war. Auf dem Boden neben dem Toten stand in nicht sehr großen Buchstaben geschrieben:
«Das sieht nach Blut aus.» Pontiero sprach damit aus, was jeder der Anwesenden dachte.
Ein Handy klingelte mit den Akkorden von Händels Messias. Die drei sahen Bois Begleiter an, der mit ernster Miene sein Telefon aus der Tasche zog und antwortete. Er sagte fast nichts, kaum mehr als ein Dutzend «Ahas» und «Hmhms».
Als er das Gespräch beendet hatte, sah er zu Boi hinüber und nickte.
«Dann ist es also, wie wir befürchtet haben», sagte der Direktor der UACV. «Inspektorin Dicanti, Vizeinspektor Pontiero, ich brauche wohl nicht zu betonen, dass es sich hierbei um eine überaus heikle Angelegenheit handelt. Was Sie hier vor sich sehen, ist die Leiche des argentinischen Kardinals Emilio Robayra. Die Ermordung eines Kardinals in Rom stellt an sich schon eine unfassbare Tragödie dar. Umso mehr jedoch in der gegenwärtigen Lage. Das Opfer war einer der einhundertfünfzehn Würdenträger, die in wenigen Tagen am Konklave teilnehmen werden, um den neuen Papst zu wählen. Das macht die Situation, wie gesagt, äußerst delikat. Unter gar keinen Umständen darf die Presse von diesem Verbrechen Wind bekommen. Stellen Sie sich nur die Schlagzeilen vor: ‹Serienmörder verbreitet vor der Papstwahl Angst und Schrecken.› Ich möchte gar nicht daran denken …»
«Einen Moment mal, Direktor. Sagten Sie Serienmörder? Gibt es da etwas, das wir noch nicht wissen?»
Boi räusperte sich und warf seinem Begleiter einen kurzen Blick zu.
«Paola Dicanti, Maurizio Pontiero, ich darf Ihnen Camilo Cirin vorstellen, den Generalinspektor der Vatikanpolizei.»
Cirin nickte und trat einen Schritt vor. Es schien ihn Überwindung zu kosten zu sprechen. Anscheinend widerstrebte es ihm, auch nur ein einziges Wort zu sagen.
«Wir haben Grund zu der Annahme, dass dies hier bereits das zweite Opfer ist.»
Silver Spring, Maryland
AUGUST 1994
«Treten Sie ein, Pater Karoski, treten Sie ein. Bitte seien Sie so gut und entkleiden Sie sich hinter diesem Wandschirm.»
Der Priester begann, sein Gewand abzulegen. Von der anderen Seite des Paravents drang die Stimme des Labormitarbeiters an sein Ohr.
«Sie brauchen sich wegen des Tests keine Sorgen zu machen, Pater. Ist doch das Normalste von der Welt, stimmt’s? Ja, das Normalste von der Welt, hehehe. Vielleicht haben Sie ja schon andere Patienten davon reden hören, aber wie meine Großmutter immer sagte: Das wird nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Wie lang sind Sie denn schon bei uns?»
«Seit zwei Wochen.»
«Ja, da wird’s Zeit, dass Sie das hier kennen lernen … Und, haben Sie schon Tennis gespielt?»
«Ich interessiere mich nicht für Tennis. Kann ich schon rauskommen?»
«Nein, Pater, ziehen Sie sich erst das grüne Hemd an, nicht dass Ihnen kalt wird, hehehe.»
Karoski trat hinter dem Wandschirm hervor.
«Nehmen Sie bitte auf der Liege Platz. So ist es gut. Warten Sie, ich stelle Ihnen die Rückenlehne ein. Sie müssen den Fernseher gut sehen können. Geht es so?»
«Ausgezeichnet.»
«Schön. Momentchen, ich muss erst noch ein paar Einstellungen an den Messinstrumenten vornehmen, und dann fangen wir gleich an. Das ist schon ein super Fernseher, stimmt’s? Der hat einen 32-Zoll-Bildschirm. Wenn ich so einen daheim hätte, würde meine Alte besser auf mich hören, was meinen Sie? Hehehehe.»
«Da bin ich mir nicht sicher.»
«Ha, natürlich nicht, Pater, natürlich nicht. Dieser Hausdrache würde nicht einmal auf Jesus Christus hören, und wenn er aus einer Schachtel Golden Grahams steigen und ihr in den Hintern treten würde, hehehe.»
«Du solltest den Namen des Herrn nicht leichtfertig in den Mund nehmen, mein Sohn.»
«Da haben Sie Recht, Pater. So, das hätten wir. Man hat Sie noch nie einer Penis-Plethysmographie unterzogen, stimmt’s?»
«Nein.»
«Aber natürlich nicht, wie denn auch, hehehehe. Haben Sie erklärt bekommen, wie der Test funktioniert?»
«In groben Zügen.»
«Also, ich greife jetzt unter Ihr Hemd und bringe diese beiden Elektroden an Ihrem Penis an, ja? So können wir Ihre sexuelle Reaktion auf bestimmte Stimuli messen. Gut, gleich haben wir’s. Fertig.»
«Ihre Hände sind kalt.»
«Ja, es ist frisch hier, hehehehe. So weit alles in Ordnung?»
«Mir geht es gut.»
«Dann fangen wir an.»
Auf dem Bildschirm begann eine Reihe von Bildern abzulaufen. Der Eiffelturm. Ein Sonnenaufgang. Nebel in den Bergen. Ein Schokoladeneis. Ein heterosexueller Geschlechtsakt. Ein Wald. Bäume. Eine heterosexuelle Fellatio. Holländische Tulpen. Ein homosexueller Geschlechtsakt. Die Meninas von Velázquez. Sonnenuntergang auf dem Kilimandscharo. Eine homosexuelle Fellatio. Schnee auf den Dächern eines Schweizer Dorfes. Eine pädophile Fellatio. Das Kind blickt direkt in die Kamera, während es das Glied des Erwachsenen in den Mund nimmt. Sein Blick ist traurig.
Karoski springt auf. Seine Augen lodern vor Wut.
«Pater, Sie dürfen nicht aufstehen, wir sind noch nicht fertig!»
Der Priester packt ihn am Hals, schlägt ein ums andere Mal den Kopf des Technikers gegen die Armaturen, während das Blut auf die Instrumente spritzt, auf den weißen Kittel des Labormitarbeiters, auf Karoskis grünes Hemd, überallhin.
«Du wirst nie wieder unreine Handlungen begehen, stimmt’s? Stimmt’s, du verdammter Dreckskerl, stimmt’s?»