Roald Dahl
Die Prinzessin und der Wilderer
Vier Geschichten
Aus dem Englischen von Thomas Koch
Rowohlt E-Book
Roald Dahl wurde am 13. September 1916 in Llandaff bei Cardiff in Wales als Sohn norwegischer Einwanderer geboren. Sein Vater starb, als der Junge drei Jahre alt war. Nach dem Besuch der Public School Repton absolvierte Dahl eine kaufmännische Lehre bei der Shell Oil Company in London. Im Zweiten Weltkrieg diente er als Pilot der Royal Air Force. Nach einer schweren Verwundung wurde er bis zum Kriegsende als stellvertretender Luftwaffenattaché an die britische Botschaft in Washington versetzt. Anschließend lebte Dahl abwechselnd in den USA und in England als Drehbuchautor, Publizist und freier Schriftsteller. Er starb am 21. November 1990 in der Nähe von London.
Weitere Veröffentlichungen:
Charlie und die Schokoladenfabrik
Danny oder Die Fasanenjagd
James und der Riesenpfirsich
Sophiechen und der Riese
Hexen hexen
Matilda
Die Zwicks stehen kopf
Der gläserne Fahrstuhl
Das Wundermittel
Ich sehe was, was du nicht siehst
Onkel Oswald und der Sudankäfer
… steigen aus … maschine brennt …
Konfetti
Mein Freund Claud
Boy
Im Alleingang
Gibt es eine unterhaltsamere Lektüre als die unglaublichen Geschichten des unvergleichlichen Roald Dahl? Alle Leser, die phantasievolle Wechselbäder zwischen Spannung und Schmunzeln lieben, werden auch an diesen vier Erzählkunststücken ihre helle Freude haben. Ob besinnliche Fabel oder makabre Story – Dahls Geschichten sind funkelnde kleine Juwelen: respektlos, heiter und tiefsinnig.
«Unterhaltung von der feinen englischen Art.» (Der Standard)
«The Princess And The Poacher» und «Princess Mamalia» erschienen 1986 unter dem Titel «Two Fables» im Verlag Viking Penguin, London und New York.
«The Bookseller» und «The Surgeon» wurden nach dem Manuskript des Autors übersetzt.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, August 2014
Copyright © 1989 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«Two Fables» Copyright © 1986 by Roald Dahl Nominée Ltd.
«The Bookseller» Copyright © 1987 by Roald Dahl Nominée Ltd.
«The Surgeon» Copyright © 1988 by Roald Dahl Nominée Ltd.
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Umschlaggestaltung und Illustration von Bernhard Kunkler
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
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ISBN Printausgabe 978-3-499-13996-3 (1. Auflage 1997)
ISBN E-Book 978-3-644-04121-9
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-04121-9
Obwohl Hengist inzwischen 18 Jahre alt war, spürte er noch immer kein Verlangen danach, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und Korbmacher zu werden. Ja, er weigerte sich sogar, am Flussufer Weidenruten zu schneiden. Dies betrübte seine Eltern sehr, doch sie waren klug genug zu wissen, dass es sich selten auszahlt, wenn man einen jungen Burschen zu einer Arbeit zwingt, die er nicht mit Lust und Liebe verrichtet.
In seiner äußeren Erscheinung war Hengist ein über die Maßen reizloser Jüngling. Mit seinem gedrungenen Körper, seinen kurzen Säbelbeinen, seinen überlangen Armen und seinem grobschlächtigen Gesicht sah er beinahe so aus, als habe er etwas von einem Gorilla an sich. Gewiss, er war sehr stark. Mit bloßen Händen konnte er eine fünf Zentimeter dicke Eisenstange biegen, und einmal hatte er einen alten Fuhrmann, dessen Pferd in den Graben gestürzt war, in Erstaunen versetzt, als er das Tier kurzerhand mit den Armen umfasste und wieder auf den Weg hob.
Natürlich fand Hengist Gefallen an schönen Jungfrauen. Doch wie zu erwarten steht, fand keine Jungfrau, ob schön oder nicht, an Hengist Gefallen. Gewiss, er war ein liebenswerter Bursche, doch die Hässlichkeit, die Frauen an Männern noch zu ertragen gewillt sind, hat Grenzen. Bei Hengist waren diese Grenzen überschritten. Er war so hässlich, dass außer seiner Mutter kein weibliches Wesen etwas mit ihm zu tun haben wollte. Das bereitete dem Burschen großen Kummer. Es war auch ganz ungerecht, denn kein Mensch kann etwas für sein Aussehen.
Der arme Hengist. Obwohl er wusste, dass keine Jungfer und keine Magd im Königreich ihm je angehören würde, sehnte und verzehrte er sich mit unverminderter Leidenschaft nach ihnen. Immer wenn er ein Mädchen Kühe melken oder Wäsche aufhängen sah, hielt er inne, starrte es an, und es verlangte ihn ganz schrecklich danach, es zu besitzen.
Zu seinem Glück sollte er seine überschüssigen Kräfte bald auf andere Weise einsetzen können. Um seine Glut zu kühlen, hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, ausgedehnte Wanderungen durch Wald und Flur zu unternehmen, und in den folgenden Wochen gewann er Mutter Natur fast unmerklich lieb. Er verbrachte seine Tage damit, in der Einöde umherzustreifen, eine stille, einsame und furchtbar abstoßende Gestalt im Zwiegespräch mit der Natur. Und so kam es, dass er allmählich und wie von selbst vieles über die Lebensweise der Tiere und Vögel lernte. Zu seiner Freude erkannte er zudem seine Begabung, so leise durch den Wald zu pirschen, dass er eine scheue Kreatur wie den Hasen oder Hirsch fast mit der Hand berühren konnte, bevor sie seiner Anwesenheit gewahr wurde. Das war nicht allein seiner Übung zuzuschreiben. Es schien ein ihm gegebenes Talent zu sein, ein seltenes Geschick, mit der Umgebung zu verschmelzen und, beinahe wie eine Spukgestalt, unversehens wieder aufzutauchen, ohne dass Mensch, Tier oder Vogel ihn hatten nahen sehen.
Seine Familie war bettelarm; nur alle Jubeljahre kam einmal Fleisch oder Wild auf den Tisch. Wen wundert es da, dass Hengist schnell darauf kam, wie er ihr Los, und freilich auch sein eigenes, ganz leicht verbessern konnte, indem er ein bisschen wilderte. Zuerst hielt er sich noch zurück, er beschränkte sich auf ein Kaninchen oder Rebhuhn die Woche, doch über kurz oder lang übermannten ihn das Jagdfieber und das schiere Vergnügen an der Pirsch. Endlich etwas, in dem er sich hervortat! Denn Wildern ist eine Kunst. Der Kitzel, wenn er sich unbemerkt an einen kauernden Hasen anschlich oder einen auf einem Ast schlummernden Fasan mit einem raschen Griff packte, erfüllte ihn mit einer nie gekannten Befriedigung. Hengist verfiel der Jagd.
Doch im Königreich zu wildern, war ein gefährliches Unterfangen. Ländereien, Forste und Gewässer gehörten allesamt entweder dem König selbst oder einem der angesehenen Herzöge, und wenngleich das Volk auf den Pfaden durch ihre Besitzungen spazieren gehen durfte, war das Wildern strengstens verboten. Wer von den gekennzeichneten Wegen abwich, tat dies auf eigene Gefahr. Überall im Unterholz waren geschickt getarnte Menschenfallen aufgestellt, deren eiserne Fangzähne einem Mann das Bein bis auf den Knochen durchbeißen konnten, wenn er auf die Platte trat, die den Federmechanismus zuschnappen ließ. Und darin saß der Ärmste dann wie angewurzelt fest, bis ein die Runde machender Aufseher ihn tags darauf fand.
In den Augen des Königs und der Herzöge war Waldfrevel ein schlimmeres Verbrechen als Mord. Auf Mord stand einfach nur Tod durch Erhängen, doch die Strafe für Waldfrevel war weitaus unangenehmer. Einen überführten Wilderer wog man zunächst auf einer besonderen Waage. Dann verfertigte man zwei bleierne Fußreifen, deren Gewicht der Hofmathematiker zuvor auf das Sorgfältigste berechnet hatte. Die legte man dem Opfer um die Knöchel, bevor man es mit auf dem Rücken gefesselten Händen in das große steinerne Ersäuffass hinabließ, das auf dem Marktplatz der Hauptstadt stand. Auch die Größe des Mannes war zuvor vom Mathematiker gemessen und dem Fass entsprechend Wasser hinzugefügt oder entnommen worden, sodass sich der Scheitel des Mannes knapp unter der Wasseroberfläche befand, wenn er auf Zehenspitzen auf dem Grund stand. Infolgedessen verausgabte sich das Opfer stunden-, zuweilen tagelang, indem es, vom Gewicht der Fußreifen hinabgezogen, immer wieder hochsprang, sobald seine Füße Grund berührten, um nach Luft zu schnappen. Schließlich ging der Delinquent vor Erschöpfung vollends unter. Diese unangenehme Strafe trug sehr dazu bei, das Volk von Gesetzesübertretungen abzuhalten. Die Jagd blieb ausschließlich der königlichen Familie und den Herzögen vorbehalten.
Doch Hengist ließ sich nicht abschrecken. Er vertraute so sehr auf seine Schleichkünste, dass er sich vor dem schrecklichen Ersäuffass nicht fürchtete. Seine Eltern ängstigten sich natürlich zu Tode. Jedes Mal wenn er des Abends fortging oder bei Tagesanbruch mit einem leckeren Rebhuhn oder einem Häschen unter der Joppe zurückkehrte, bangten sie um ihren Sohn und freilich auch um sich selbst. Doch die Überzeugungskraft des Hungers ist groß, und noch stets wurde die Beute entgegengenommen, gebraten und mit Genuss verschlungen.
«Du bist doch auf der Hut, nicht wahr, mein Sohn?», sagte die Mutter dann, während sie schmatzend auf dem zarten Bruststück einer Waldschnepfe kaute.
«Ich pass schon auf, Mama», pflegte Hengist zu erwidern. «Der hochmögende König und seine Hofschranzen, die können mir nix anhaben.»
Bald verließ Hengist sich so sehr auf sein Jagdgeschick, dass er den Schutz der Dunkelheit verschmähte und am helllichten Tag zu wildern begann wie nur die ganz Mutigen oder die ganz großen Toren. Und eines schönen Frühlingsmorgens beschloss er, sein Glück im Allerheiligsten des Reiches zu versuchen, in jenem sorgsam bewachten Bezirk des königlichen Forstes, der am Fuß der Schlossmauern lag, hinter denen der König wohnte. Dort gab es Wild in Hülle und Fülle, mehr als irgendwo sonst, doch es drohte auch große Gefahr. Hengist genoss ihren Kitzel, als er auf leisen Sohlen in den Wald schlich.
Nun stand er reglos unter einer mächtigen dunklen Buche, belauerte einen jungen Rehbock, der keine fünf Schritt vor ihm äste, und wartete auf den geeigneten Augenblick, um sich auf ihn zu stürzen. Aus den Augenwinkeln konnte er die Südmauer des Königsschlosses sehen, und in der Ferne hörte er Hornsignale. Am Tor wird Wachwechsel sein, sagte er sich. Doch bei einem weiteren Seitenblick erspähte er unversehens am Rand seines Gesichtsfeldes eine Gestalt unter den Bäumen, kaum 40 Schritt entfernt. Langsam wandte er den Kopf, um das Wesen näher in Augenschein zu nehmen, und siehe da, er sah sogleich, dass es niemand anderes war als die Prinzessin, des Königs einziges Kind und sein Augenstern. Die Jungfer war so schön, dass Hengist der Atem verging. Sie war ganze 17 Jahre alt, und ihre Haut war so sanft und glatt wie ein Seidenhandschuh. Offenbar verbrachte sie den Vormittag Glockenblumen pflückend im Wald. Und da stand sie nun. Als Hengist sie erblickte, tat sein Herz einen Sprung, und ihn überkam ein Schwall der vertrauten Leidenschaft. Im ersten unbesonnenen Augenblick erwog er, die Jungfer zu überrumpeln, vor ihr auf die Knie zu fallen und ihr flüsternd seine Liebe und Verehrung zu gestehen. Doch er wusste nur zu genau, was dann geschehen würde. Sie würde einen einzigen Blick auf seinen hässlichen Körper werfen und dann schreiend davonlaufen, und ihn würde man ergreifen und hinrichten. Als Nächstes fiel ihm ein, dass er sich an sie heranschleichen, unbemerkt hinter ihr auftauchen, ihr den Mund zuhalten und sie sich mit Gewalt gefügig machen könnte. Diesen schändlichen Gedanken schlug er sich allerdings sogleich aus dem Kopf, denn er verabscheute jegliche Gewalt.
Was dann geschah, ging sehr schnell. In der Nähe erschallten Jagdhörner. Hengist fuhr herum und sah den gewaltigsten Keiler, der ihm je unter die Augen gekommen war, zwischen den Bäumen heranpreschen, und keine fünfzig Schritt dahinter ritten der König persönlich und eine Schar Edelleute, die dem Keiler in vollem Galopp mit eingelegten Spießen nachsetzten. Die Prinzessin stand dem Keiler genau im Weg, und er machte keinerlei Anstalten, einen Bogen um sie zu schlagen. Im Gegenteil: Ein gehetzter Keiler wird in seinem Zorn jeden angreifen, der ihm in die Quere kommt. Schlimmer noch, manchmal weicht er sogar von seiner Bahn ab und attackiert zufällig in der Nähe befindliche Unbeteiligte. Jetzt hatte der Keiler die Prinzessin bemerkt, und schon ging er auf sie los. Hengist sah, dass die Jungfer ihren Strauß Glockenblumen fallen ließ und fortrannte. Aber dann schien sie die Nutzlosigkeit ihres Tuns einzusehen; sie blieb stehen und schmiegte sich an den Stamm einer riesigen Eiche. Und da stand sie nun, hilflos, die Arme ausgebreitet wie zur Kreuzigung, und erwartete das Tier, das in wildem Galopp auf sie zustürmte. Hengist sah den Keiler, der so groß war wie ein kleiner Bulle, mit gesenktem Haupt zum Angriff ansetzen; die spitzen, schimmernden Stoßzähne waren geradewegs auf das Opfer gerichtet.
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