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Das Gedächtnis wäre uns zu nichts nütze, wenn es unnachsichtig treu wäre.

Paul Valéry

Tante Anna starb mit sechzehn an einer Lungenentzündung, die aufgrund ihres gebrochenen Herzens und des noch nicht entdeckten Penizillins nicht heilen konnte. Ihr Tod trat an einem Spätnachmittag im Juli ein. Und als Annas jüngere Schwester Bertha daraufhin weinend in den Garten rannte, sah sie, dass mit Annas letztem rasselnden Atemzug alle roten Johannisbeeren weiß geworden waren. Es war ein großer Garten, die vielen alten Johannisbeerbüsche krümmten sich unter den schweren Früchten. Längst hätten sie gepflückt werden müssen, aber als Anna krank wurde, dachte keiner mehr an die Beeren. Meine Großmutter hat mir oft davon erzählt, denn sie war es damals gewesen, die die trauernden Johannisbeeren entdeckt hatte. Seitdem gab es nur noch schwarze und weiße Johannisbeeren im Garten meiner Großmutter, und jeder weitere Versuch, einen roten Busch zu pflanzen, schlug fehl, es wuchsen nur weiße Beeren an seinen Zweigen. Doch

 

Meine Großmutter Bertha Lünschen, geborene Deelwater, starb etliche Jahrzehnte nach Tante Anna, doch da wusste sie längst nicht mehr, wer ihre Schwester gewesen war, wie sie selbst hieß oder ob es Winter oder Sommer war. Sie hatte vergessen, was man mit einem Schuh, einem Wollfaden oder einem Löffel anfangen konnte. Im Laufe von zehn Jahren streifte sie ihre Erinnerungen mit derselben fahrigen Leichtigkeit ab, mit der sie sich die kurzen weißen Locken aus dem Nacken strich oder unsichtbare Krümel auf dem Tisch zusammenfegte. An das

 

Bertha musste sich daran erinnert haben, wie sehr ich das Haus früher liebte. Von ihrem Letzten

 

Auch Tante Harriet war gekommen. Nur hieß sie inzwischen nicht mehr Harriet, sondern Mohani. Sie trug jedoch weder orange Gewänder noch eine Glatze. Einzig die Holzperlenkette mit dem Bild des Gurus wies auf ihren neuen, erleuchteten Zustand hin. Mit ihren kurzen hennaroten Haaren und Reebok-Turnschuhen sah sie dennoch anders aus als der Rest der schwarzen Gestalten, die sich in kleinen Gruppen vor der Kapelle sammelten. Ich freute mich, Tante Harriet zu sehen, obgleich ich mit Beklommenheit und Unruhe daran dachte, dass ich sie das letzte Mal vor dreizehn Jahren gesehen hatte. Das war, als wir Rosmarie beerdigen mussten, Harriets Tochter. Die Unruhe war mir eine enge Ver-

Später wachte ich im Krankenhaus auf. Im Fallen hatte ich mir die Stirn am Kantstein aufgeschlagen, und das Loch musste genäht werden. Oberhalb der Nasenwurzel blieb eine Narbe zurück, ein blasses Mal. Es war meine erste Ohnmacht, ich bin danach noch oft in Ohnmacht gefallen. Das Fallen liegt bei uns in der Familie.

 

So war Tante Harriet nach dem Tod ihrer Tochter vom Glauben abgefallen. Zum Bhagwan sei sie gegangen, die Ärmste, hieß es im Kreis der Bekannten. In die Sekte. Wobei man das Wort Sekte mit gesenkter Stimme aussprach, so als fürchte man, die Sekte lauere einem auf und schnappe einen, rasiere einem den Schädel und ließe einen daraufhin wie die

Später gingen alle in das Lokal neben dem Friedhof, um Butterkuchen zu essen und Kaffee zu trinken. Wie das so ist nach Beerdigungen, fingen alle Trauernden sofort an zu sprechen, erst leise murmelnd, dann immer lauter. Selbst meine Mutter und Tante Harriet unterhielten sich fiebrig. Die drei Verehrer standen nun um Tante Inga, stellten die Beine weit auseinander und drückten ihre Rücken durch. Tante Inga schien ihre Huldigungen zu erwarten, nahm sie aber gleichzeitig mit sanfter Ironie entgegen.

Die Kränzchenschwestern saßen zusammen und

 

Als wir das Lokal verließen, war es immer noch warm. Herr Lexow klemmte sich metallene Ringe um die Hosenbeine und stieg auf sein schwarzes Fahrrad, das unabgeschlossen an der Hauswand lehnte. Er hob kurz die Hand und fuhr in Richtung Friedhof davon. Meine Eltern und Tanten blieben vor der Tür des Lokals und blinzelten in die Abendsonne. Mein Vater räusperte sich:

– Die Männer von der Kanzlei, ihr habt sie ja gesehen, Bertha hat ein Testament gemacht.

Also waren es doch die Anwälte gewesen. Mein Vater war noch nicht fertig, er öffnete den Mund

– Sie warten am Haus.

 

Als Rosmarie starb, war es auch Sommer gewesen, aber nachts kroch aus den Wiesen schon ein Geruch von Herbst. Menschen kühlten da schnell aus, wenn sie auf dem Boden lagen. Ich dachte an meine Oma, die unter der Erde lag, an das feuchte schwarze Loch, in dem sie sich nun befand. Moorboden, schwarz und fett, doch darunter der Sand. Der aufgeschaufelte Erdhaufen neben ihrem Grab trocknete in der Sonne, und immer wieder war Sand abgegangen, in kleinen Moränen war er herabgerieselt wie bei einer Eieruhr.

– Das bin ich, hatte Bertha einmal gestöhnt, das ist mein Kopf.

Sie nickte der Eieruhr zu, die auf dem Küchentisch stand, und erhob sich rasch von ihrem Stuhl. Dabei wischte sie mit der Hüfte die Uhr vom Tisch. Das dünne Holzgestell brach, das Glas splitterte, spritzte. Ich war ein Kind, und ihre Krankheit war noch nicht so, dass man viel merkte. Ich kniete mich hin und breitete mit dem Zeigefinger den weißen Sand auf dem schwarz-weißen Steinfußboden aus. Der Sand war ganz fein und glitzerte im Licht der Küchenlampe. Meine Großmutter stand daneben, seufzte und fragte mich, wie mir denn die schöne Sanduhr

 

Tante Harriet nahm meinen Arm, ich zuckte zusammen.

– Wollen wir?, fragte sie mich.

– Ja, natürlich.

Ich versuchte, mich aus ihrem sanften Griff zu befreien, sie ließ sofort los, ich spürte ihren Blick von der Seite.

 

Wir gingen zu Fuß zum Haus, Bootshaven ist ein sehr kleines Dorf. Die Leute nickten ernst, als wir vorbeigingen. Einige Male stellten sich alte Frauen in den Weg und gaben uns die Hand, meinem Vater aber nicht. Ich kannte keine von ihnen, aber sie schienen alle mich zu kennen und sagten zwar leise – aus Respekt vor unserer Trauer – und doch mit einem kaum zu unterdrückenden Triumph darüber, dass es eine andere erwischt hatte, ich sähe aus wie de lüttje Christel. Es dauerte eine Weile bis ich begriff, dass de Lüttje meine Mutter war.

 

Das Haus war schon von weitem zu sehen. Der Wilde Wein wucherte über die Fassade, und die oberen

 

Am Fuß der Treppe, die zur Haustür führte, standen die Anwälte. Der eine warf seine Zigarette weg, als er uns kommen sah. Dann bückte er sich hastig und hob die Kippe auf. Als wir die breiten Stufen hinaufgingen, senkte er den Kopf, er hatte gesehen, dass wir ihn gesehen hatten, sein Hals war rot angelaufen, und er wühlte konzentriert in seiner Aktentasche. Die beiden anderen Männer schauten auf Tante Inga, beide waren jünger als sie, fingen aber sofort an, sie zu umwerben. Einer von ihnen holte aus seiner Aktentasche einen Schlüssel und schaute uns fragend an. Meine Mutter nahm den Schlüssel und steckte ihn ins Schloss. Als das schmatzende Klingeln der Messingglocke am oberen Türscharnier ertönte, hatten alle drei Schwestern dasselbe Halblächeln im Gesicht.

– Wir können ins Arbeitszimmer, sagte Tante Inga und ging voraus.

 

Großvaters Arbeitszimmer war aufgeräumt. Meine Eltern und einer der Anwälte, der junge mit der Zigarette, schoben vier Stühle zusammen, drei auf der einen Seite und einen gegenüber. Hinnerks Schreibtisch stand schwer und von dem ganzen Auftrieb unberührt an der Wand zwischen den beiden Fenstern, die auf die Einfahrt mit den Linden schauten. Licht brach sich in den Lindenblättern und sprenkelte den Raum. Staub tanzte. Kühl war es hier, meine Tanten und meine Mutter setzten sich auf die drei dunklen Stühle, einer der Anwälte nahm sich Hinnerks Schreibtischstuhl. Mein Vater und ich standen hinter den drei Schwestern, die beiden anderen Anwälte standen rechts an der Wand. Beine und Lehnen der Stühle waren so hoch und gerade, dass sich der sitzende Körper sofort in rechte Winkel faltete: Füße und Schienbeine, Schenkel und Rücken, Unter- und Oberarme, Hals und Schulter,

Der Mann auf Hinnerks Bürostuhl, es war nicht der mit der Zigarette, schnalzte mit den Schlössern seiner Aktentasche, das schien den anderen beiden ein Zeichen zu sein, sie räusperten sich und schauten den ersten Mann, offenbar ihr Anführer, ernst an. Dieser stellte sich vor als Partner des früheren Partners von Heinrich Lünschen, meinem Großvater.

Berthas Testament wurde verlesen und erklärt, mein Vater als Vollstrecker eingesetzt. Es ging eine einzige fließende Bewegung durch die Körper der Schwestern, als sie hörten, dass das Haus an mich gehen würde. Ich ließ mich auf einen Hocker fallen und sah den Partner des Partners an. Der mit der Zigarette schaute zurück, ich senkte den Blick und starrte auf den Zettel mit den Liedern von der Trauerfeier, den meine Hand noch immer umschlossen hielt. Auf dem Daumenballen hatten sich die Noten von »O Haupt voll Blut und Wunden« abgedrückt. Tintenstrahldrucker. Häupter voll Blut und Wunden, Haare wie rote Tintenstrahlen sah ich vor mir, Löcher in Köpfen, Berthas Gedächtnislücken, Eieruhrsand. Aus Sand, wenn er nur heiß genug war, machte man Glas. Ich berührte mit den Fingern

 

Im Gänsemarsch schritten alle wieder aus dem Arbeitszimmer hinaus, den Flur entlang zurück zur Haustür, die Glocke schepperte blechern. Die Männer gaben uns die Hand, gingen fort, und wir setzten uns draußen auf die Treppe. Fast jede der glatten gelbweißen Steinplatten hatte einen Riss, aber nicht quer durch, sondern längs: Flache Stücke waren herausgesprungen, die nun lose auflagen und wie Deckel abgenommen werden konnten. Früher waren es nicht so viele gewesen, nur sechs oder sieben, wir hatten sie als Geheimfächer benutzt und Federn, Blüten und Briefe darin versteckt.

Damals schrieb ich noch Briefe, glaubte noch an Geschriebenes, Gedrucktes, Gelesenes. Das tat ich inzwischen nicht mehr. Ich war Bibliothekarin an der Freiburger Universitätsbibliothek, ich arbeitete mit Büchern, ich kaufte mir Bücher, ja, gelegentlich lieh ich mir auch welche aus. Aber lesen? Nein. Früher ja, da schon, da las ich ununterbrochen, im Bett, beim Essen, auf dem Fahrrad. Doch damit war Schluss. Lesen, das war das Gleiche wie sammeln,

Das war eine Erklärung.

Ich war aber gern Bibliothekarin. Aus denselben Gründen, aus denen ich nicht mehr las.

Erst hatte ich Germanistik studiert, aber bei den Seminararbeiten merkte ich, dass mir alles, was nach dem Bibliografieren kam, belanglos erschien. Kataloge, Schlagwortregister, Handbücher, Indizes hatten ihre eigene feine Schönheit, die sich beim flüchtigen Lesen ebenso wenig erschloss wie ein hermetisches Gedicht. Wenn ich mich von einem allgemeinen Nachschlagewerk mit seinen vom vielen Benutzen schmiegsamen Seiten langsam über mehrere andere Bücher an eine hoch-spezialisierte Monografie, deren Umschlagdeckel vor mir noch niemals von irgendjemandem außer einem Bibliothekar in die Hand genommen worden waren, herangetastet hatte, so löste dies in mir ein Gefühl der Genugtuung aus, mit welchem sich das, was ich für meinen eigenen Text empfand, nie messen konnte. Zudem war das, was man aufschrieb, auch das, was man sich nicht merken musste, also das, was man getrost vergessen

 

Besonders liebte ich an meinem Beruf das Aufstöbern vergessener Bücher, Bücher, die schon seit Hunderten von Jahren an ihrem Platz standen, wahrscheinlich noch nie gelesen worden waren, eine dicke Staubkruste im Schnitt, und die doch Millionen von ihren Nichtlesern überlebt hatten. Ich hatte mittlerweile sieben oder acht dieser Bücher ausfindig gemacht und besuchte sie in unregelmäßigen Abständen, berührte sie aber nie. Gelegentlich schnupperte ich ein bisschen an ihnen. Wie die meisten Bibliotheksbücher rochen sie schlecht, das Gegenteil von frisch. Am schlimmsten roch das Buch über alt-ägyptische Mauerfriese, es war schon ganz schwarz und wüst. Meine Großmutter hatte ich nur ein einziges Mal im Heim besucht. Sie saß in ihrem Zimmer, hatte Angst vor mir und machte sich in die Hose. Eine Pflegerin kam und wechselte ihre Windeln. Ich küsste Bertha zum Abschied auf die Wange, sie war kühl, und an meinen Lippen konnte ich das Netz von Runzeln fühlen, das weich über ihrer Haut lag.

 

Während ich auf der Treppe wartete und die Risse in den Steinen mit dem Finger nachzeichnete, saß

Meine Eltern, meine Tanten und ich übernachteten in den drei Fremdenzimmern des Dorfkrugs.

– Wir fahren wieder hinunter ins Badische, sagte meine Mutter am nächsten Morgen. Sie sagte es ein ums andere Mal, als müsse sie sich selbst davon überzeugen. Ihre Schwestern seufzten, es hörte sich an, als sagte sie, sie fahre jetzt hinunter ins Glück. Und vielleicht war es auch so. Tante Inga ließ sich bis nach Bremen mitnehmen, ich umarmte sie kurz und bekam einen elektrischen Schlag.

– Schon so früh am Morgen?, fragte ich erstaunt.

– Es wird heiß heute, sagte Inga entschuldigend. Sie kreuzte die Arme vor ihrem Körper, und ihre Hände strichen mit einer langen, raschen Bewegung von den Schultern hinunter bis über die Handgelenke, sie spreizte die Finger und schüttelte sie. Es knisterte leise, als die Funken aus ihren Fingerspitzen fielen. Rosmarie hatte Tante Ingas Funkenschlag geliebt.

– Tut das weh?, fragten wir, sie schüttelte den Kopf. Aber ich glaubte ihr nicht, sie zuckte zusammen, wenn sie sich an ein Auto lehnte, eine Schranktür aufmachte, das Licht oder den Fernseher anknipste. Es kam vor, dass sie Sachen fallen ließ. Manchmal kam ich in die Küche, und Tante Inga saß in der Hocke, um mit dem Handfeger Scherben aufzukehren. Wenn ich sie fragte, was passiert sei, sagte sie:

– Ach, nur ein dummer Unfall, ich bin so ungeschickt.

Wenn sie es nicht vermeiden konnte, Leuten die Hand zu reichen, entschuldigte sie sich, da diese oftmals erschreckt aufschrien. »Funkenfinga« nannte Rosmarie sie, aber allen war klar, dass sie Tante Inga bewunderte.

– Warum kannst du das nicht, Mama?, fragte sie Tante Harriet einmal. Und warum ich nicht?

Tante Harriet schaute sie an und erwiderte, dass Inga ihre innere Spannung nicht anders nach außen geben könne und dass Rosmarie sich pausenlos verausgabe, sodass es zu diesen Entladungen nie

 

Nachdem meine Mutter, mein Vater und Tante Inga fort waren, tranken Tante Harriet und ich Pfefferminztee in der Gaststube. Unser Schweigen war wehmütig und entspannt.

– Gehst du jetzt ins Haus?, fragte Tante Harriet schließlich. Sie stand auf und griff nach ihrer ledernen Reisetasche, die neben unserm Tisch stand. Ich

Auf der Straße drehte sie sich um und winkte. Ich hob die Hand. Sie stellte sich an die Bushaltestelle und wandte mir den Rücken zu. Ihre Schultern hingen ein wenig nach vorne, und das kurze rote Haar in ihrem Nacken rutschte in den Kragen der schwarzen Bluse. Ich erschrak. Erst von hinten konnte ich sehen, wie unglücklich sie war. Hastig drehte ich mich weg und setzte mich zurück an den Frühstückstisch. Ich wollte sie nicht demütigen. Als das Dröhnen des anfahrenden Busses an den Fensterscheiben rüttelte, blickte ich auf und erhaschte noch einen Blick auf Tante Harriet, die starr auf die Rückenlehne des Sitzes vor ihr blickte.

 

Ich ging wieder zu Fuß zum Haus. Die Tasche war nicht schwer, der schwarze Samtrock war drin, ich trug ein kurzes schwarzes Kleid ohne Ärmel und

Die Hauptstraße machte eine scharfe Linkskurve, geradeaus führte eine Schotterstraße noch an der BP-Tankstelle und zwei Häusern vorbei auf die Weiden. Nachher wollte ich mir eines der Fahrräder aufpumpen und diese Straße bis zur Schleuse fahren. Oder an den See. Warm würde es heute werden, hatte Tante Inga gesagt.

Ich ging auf der rechten Seite der Straße. Links konnte man jetzt schon die große Mühle hinter den

 

Im Morgenlicht war das Haus ein dunkler, schäbiger Kasten mit einer breiten, hässlich zugepflasterten Einfahrt. Die Linden standen im Schatten. Auf dem Weg zur Treppe sah ich, dass der ganze Vorgarten mit Vergissmeinnicht zugewuchert war. Die blauen Blüten waren gerade im Welken begriffen, manche blichen aus, andere wurden braun. Ein Dickicht verblühter Vergissmeinnicht. Ich beugte mich hinunter und riss eine Blüte ab, sie war gar nicht blau, sie war grau und violett und weiß und rosa und schwarz. Wer hatte sich eigentlich um den Garten gekümmert, als Bertha im Heim war? Wer ums Haus? Das wollte ich Miras Bruder fragen.

Beim Eintreten schlug mir wieder der Geruch von Äpfeln und kühlen Steinen entgegen. Ich stellte meine Tasche auf die Truhe und lief den ganzen Flur

Die Tür zur Diele war abgeschlossen. Der Schlüssel hing an der Wand daneben, und an ihm war ein kleiner Holzklotz befestigt. Ich ließ ihn hängen. Dann stieg ich die Treppe hinauf in die Zimmer, wo wir früher geschlafen und gespielt hatten. Die dritte Treppenstufe von unten knarrte noch lauter als früher, aber vielleicht war das Haus nur stiller geworden. Und wie war es oben mit den beiden letzten? Ja, die knarrten auch immer noch, es war sogar noch die drittletzte hinzugekommen. Das Geländer wimmerte, sobald ich es berührte.

Oben war die Luft dick und alt und warm wie die Wolldecken, die dort in den Truhen lagen. Ich öffnete die Fenster im großen Raum, dann alle vier

– Aber beide versponnen, sagte ich laut zum Dachfenster, und die Spinnweben wallten unter meinem Atem.

 

Hier oben standen die mächtigen alten Kleiderschränke, hier hatten wir gespielt, Rosmarie, Mira und ich. Mira war ein Mädchen aus der Nachbarschaft, es war ein bisschen älter als Rosmarie und zwei Jahre älter als ich. Alle sagten, Mira sei ein sehr ruhiges Mädchen, aber das fanden wir nicht. Sie sagte zwar nicht viel, verbreitete aber dennoch Unruhe, wo auch immer sie sich befand. Ich glaube nicht, dass

Mira trug nicht nur Schwarzes, sie aß auch nur Schwarzes. In Berthas Garten pflückte sie sich Brombeeren, schwarze Johannisbeeren und nur die ganz dunklen Kirschen. Wenn wir drei picknickten, mussten wir immer Bitterschokolade einpacken oder Schwarzbrot mit Blutwurst belegen. Mira las auch nur Bücher, die sie vorher in schwarzes Tonpapier eingeschlagen hatte, hörte schwarze Musik und wusch sich mit schwarzer Seife, die sie sich von einer Tante aus England schicken ließ. Im Kunstunterricht weigerte sie sich, mit Wasserfarben zu

– Schlimm genug, dass wir auf weißes Papier malen müssen, und dann noch bunt!, sagte sie verächtlich, aber sie zeichnete gerne auf weißem Papier, das merkte man.

– Besuchst du auch schwarze Messen?, fragte Tante Harriet.

– Die bringen mir nichts, sagte Mira gelassen und blickte meine Tante unter schweren Lidern an, zwar sei da wohl auch alles schwarz, aber unappetitlich und laut. Schließlich sei sie ja auch nicht in der CDU, fügte sie mit einem langsamen Lächeln hinzu. Tante Harriet lachte und reichte ihr die Schachtel mit After Eight hinüber, Mira nickte und nahm sich das schwarze Papiertütchen mit spitzen Fingern.

Eine Leidenschaft hatte Mira jedoch. Eine, die nicht schwarz war. Sie war bunt und unstet und schillernd – Rosmarie. Was nach Rosmaries Tod aus Mira wurde, wusste nicht einmal Tante Harriet. Nur, dass sie nicht mehr im Dorf lebte.

 

Ich kniete auf einer der Aussteuertruhen und lehnte mich mit den Unterarmen auf das Fensterbrett. Draußen flimmerten die Blätter der Trauerweide. Der Wind, ich hatte ihn fast vergessen in der

 

Wie spät war es überhaupt? Ich trug keine Armbanduhr, verließ mich auf die Uhren an den Apotheken, Tankstellen und Juweliergeschäften, auf die Bahnhofsuhren und die Wecker meiner Verwandten. Im Haus gab es viele prächtige Uhren, aber keine von