Heidi Rehn
Gold und Stein
3
Serial Teil 3
Knaur e-books
Heidi Rehn wurde 1966 in Koblenz geboren und wuchs in einer Kleinstadt am Mittelrhein auf. Sie studierte Germanistik, Geschichte, BWL und Kommunikationswissenschaften in München. Nach dem Magisterexamen war sie zunächst Dozentin an der LMU, anschließend PR-Beraterin in einer Agentur. Seit mehr als zehn Jahren arbeitet sie als freie Journalistin und Autorin. Sie lebt mit Mann und zwei Kindern in München.
Preußen, Mitte des 15. Jahrhunderts. Die 17-jährige Agnes und ihre Mutter Gunda leben als angesehene Bierbrauerinnen in ihrer Stadt. Als diese jedoch von den Deutschordensrittern belagert wird, flieht Agnes nach Königsberg, wo sie dem gleichaltrigen Caspar begegnet. Warum nur fühlt sie sich sogleich zu ihm hingezogen, wo ihr Herz doch eigentlich einem anderen gehört? Ihre Verwirrung wächst, als sie an Caspars Nacken dasselbe Feuermal wie an dem ihren entdeckt. Was verbindet sie mit ihm? Plötzlich muss sie sich nicht nur zwischen zwei Männern, sondern auch zwischen zwei Müttern entscheiden …
eBook-Ausgabe 2012
Knaur eBook
© 2012 Knaur Verlag
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Regine Weisbrod
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: plainpicture/CLMasur; FinePic®, München
ISBN 978-3-426-42355-4
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Wehlau und Königsberg
Frühjahr 1455
Im fahlen Licht der Dämmerung schimmerte Gernots Haut feucht. Splitterfasernackt lag er auf dem Bauch, den breiten Schädel in die Armbeuge gebettet, die Augenlider geschlossen. Gleichmäßig hob und senkte sich sein Rumpf.
Kühle Luft zog durch das offene Fenster herein, ließ den Holzladen leise gegen die Wand klirren. Vorsichtig beugte sich Editha über Gernots Schulter, leckte die einzelnen Schweißperlen auf der Haut mit der Zungenspitze auf. Bald spürte sie, wie Gernot sich unter ihrer Berührung abermals genussvoll zu räkeln begann. Sie fuhr mit den Lippen über das Mal in seinem Nacken, blies sacht in die Kuhle. Ein Frösteln erfasste seinen Leib. Starr richteten sich die Härchen auf, Gänsehaut überzog den ganzen Körper. Ein langgezogenes Seufzen entfuhr ihm. Mit einem Mal drehte er sich um und umschloss sie fest mit den Armen, presste seinen Unterleib gegen ihren. Bald wiegten sie im selben Rhythmus gegeneinander, erst langsam, dann schneller, bis die Lust sie gierig werden ließ und er abermals aufstöhnend in sie eindrang. Ein Freudenjauchzer entfuhr ihr, als sie ihn in sich willkommen hieß. Viel zu bald schon entlud er sich mit einem dumpfen Brummen. Sie versuchte ihn noch einmal anzuspornen, um ihre eigene Lust zu stillen. Vergebens. Er rollte von ihr herunter.
»Ein Teufelsweib bist du!«, grunzte er. Breit ausgestreckt blieb er neben ihr auf dem Rücken liegen. »Was willst du nur immer mit den Pulvern der Hundskötterin? Die brauchen wir doch nicht. Unseren Spaß haben wir auch ohne sie. Du solltest nicht mehr zu ihr gehen.«
»Bist du von Sinnen?« Unwillig, ausgerechnet in diesem Moment an die leidige Hebamme erinnert zu werden, richtete sie sich halb auf, stützte den Oberkörper auf die Ellbogen und sah ihn an. Sie fröstelte. Bei ihrem heftigen Akt war die Decke vom Bett gerutscht. Sie hätte aufstehen müssen, um sie vom Boden aufzuheben. Stattdessen rückte sie näher zu Gernot, schmiegte sich eng an ihn an und atmete den Geruch seines Körpers. Sie versuchte noch einmal, ihn zum Liebesspiel zu verführen.
»Es reicht«, knurrte er und schälte sich mühsam aus dem Lager, um sich selbst nach der Decke zu bücken. Achtlos warf er sie aufs Fußende des Bettes und trat in die Mitte des Raumes. Sein feister Leib glänzte immer noch schweißnass. Aus diesem Blickwinkel entbehrte er sämtlicher Reize. Viel zu dick rollten sich die Wülste vom Bauch abwärts, kümmerlich baumelte sein eben noch so stark geschwollenes Glied zwischen den dünnen Oberschenkeln. Das weiße Fleisch leuchtete im Mondlicht, die Haare darauf wirkten borstig. Editha schauderte. Trotz seiner Plumpheit verschaffte ihr dieser Leib die kühnsten Genüsse. Er hatte recht: Die Pulver der Hundskötterin waren völlig überflüssig. Dennoch brauchte sie sie. Sie malte sich lieber nicht aus, was die gerissene Pfennigfuchserin anstellen würde, wenn sie einmal einen Donnerstagsbesuch ausließe oder gar erklärte, die wöchentliche Rezeptur zum überteuerten Preis künftig gar nicht mehr abzuholen.
»Niemals dürfen wir auf die Kräuter der Hundskötterin verzichten«, erklärte sie bestimmt. »Du weißt, warum. Nicht allein die Lust sollen sie bei uns wecken. Die, mein Lieber, ist bei dir erfreulicherweise noch immer ausreichend vorhanden. Auch ich fühle mich nach wie vor glücklich wie in der ersten Nacht mit dir.«
Sie suchte seinen Blick und räkelte sich abermals aufreizend auf dem Laken. Aus der Ferne drangen Glockenschläge herüber. Mitternacht. Bei weitem nicht die Stunde, um in einer schwülen Nacht wie dieser verzweifelt nach einem unruhigen Schlaf zu lechzen. Oder war Gernot ihr bereits mit seinen Gedanken entglitten?
Vor dem Fenster hob ein jämmerliches Geschrei an. Splitternackt stellte sich Gernot vors offene Fenster und sah hinaus. Sein breiter Rücken füllte den Rahmen ganz aus. Sie konnte die Augen nicht von ihm abwenden. Von hinten erinnerte er nach wie vor an den ungestümen jungen Burschen, der vor fast zwei Jahrzehnten ihr Herz im Sturm erobert hatte. Heimat und Familie hatte sie seinetwegen verlassen, um bei ihm im rauhen Königsberg zu leben. Heaven forbid! War es zu viel verlangt, dass auch er so manches Opfer dafür brachte? Umso bitterer, was sie noch alles hatte tun müssen, damit ihr das Glück mit ihm erhalten blieb. Der Tag von Caspars Geburt kam ihr in den Sinn. Wie groß war die Schmach gewesen, selbst nur ein blau angelaufenes, lebloses Wesen in den Armen zu halten, während Gunda gleich zwei gesunden Kindern das Leben geschenkt hatte! Gab Gernot ihr allein die Schuld dafür und sehnte sich heimlich doch nach der dunkelhaarigen Hexe? Vielleicht war es ein Fehler gewesen, Caspar ins Haus zu holen. Tag für Tag rief ihm der Junge die Erinnerung an die alte Geschichte ins Gedächtnis. Dabei war er seinem Vater zum Glück wie aus dem Gesicht geschnitten. Lediglich die lange, schmale Nase mit dem seltsamen Höcker gleich an der Wurzel stammte von der anderen Seite. Verstohlen wischte sich Editha die Augenwinkel. Nein, es war gut, Caspar zu sich geholt zu haben. Wie sollte sie ohne ihn das Dasein ertragen? Von klein auf hatte er ihr seine bedingungslose Liebe geschenkt. Sie war seine Mutter, für immer und ewig. Sie schluchzte auf.
»Katzen!« Kopfschüttelnd drehte Gernot sich wieder ins Schlafgemach um. Langsam glitt sein Blick über ihren bloßen Körper. Das weckte abermals die Begierde in ihr. Die Brüste reckten die Spitzen weit empor. Sie biss die Lippen fest zusammen, hob den Kopf, lächelte ihn an. »Du weißt, es ist noch nicht zu spät«, raunte sie leise und drehte sich aufreizend auf die Seite, brachte ihm alle Vorteile ihres üppigen Leibes dar. »Wir beide sind im besten Alter. Nach wie vor besteht die Hoffnung, weitere Kinder zu haben. Denk nur, welch Freude es wäre, ein kleines Mädchen hier im Haus zu haben. Du hast es immer sehr gemocht, als Caspar noch auf deinen Schenkeln gesessen und deinen schaurigen Geschichten gelauscht hat.«
»Denkst du immer nur daran?« Ein Anflug von Unmut huschte über sein Gesicht. Die Nasenflügel bebten. »Vergiss es endlich! Nie und nimmer werden wir beide noch ein Kind miteinander haben. Die Zeit ist einfach vorbei. Lass endlich die seltsamen Rezepturen, die die Hundskötterin dir jede Woche aufschwatzt. Schade um das Geld! Viel wichtiger ist doch, trotzdem die Freude aneinander zu genießen.«
»Ist es dir nur um das Geld zu tun?«, platzte es aus ihr heraus. »Steht es also tatsächlich schon so schlecht, dass wir mit jedem Pfennig rechnen müssen? Heaven forbid!«
»Hör auf, auf Englisch …«
»Gott bewahre«, fügte sie misslaunig hinzu. »Dann kommt es bald also noch weitaus schlimmer für uns. Umso wichtiger, sich auf das Hier und Jetzt zu besinnen.«
Entschlossen zog sie die Decke von ihren Füßen bis zur Brust hoch und kuschelte sich in das nach Rosen duftende Leinen.
»Was redest du da? Wie kommst du darauf?« Gernot setzte sich auf die Bettkante. »Wer hat behauptet, es stünde schlimm mit uns? Hat Spelmann heute Nachmittag versucht, dir das einzureden? Vergiss den neidzerfressenen, stinkenden Zwerg! Nur weil er sich immerzu mit seinen Geschäften verrechnet und den Litauern und Russen selbst leere Fässer noch zu horrenden Preisen abkauft, geht es nicht auch mit uns anderen am Pregel gleich bergab.«
»Was war das dann heute auf der Holzwiese? Habe ich mir das nur eingebildet, oder hast du tatsächlich verzweifelt um die Aufmerksamkeit der Braker gebuhlt? Selbst Perlbach kam mit seinen kümmerlichen Dauben vor dir dran. Ganz abgesehen davon, dass mir dein guter, alter Freund«, sie betonte das letzte Wort mit einem höhnischen Auflachen, »vor Wochen schon zugeflüstert hat, wie argwöhnisch deine lieben Zunftgenossen sind, weil du nicht nur nach Wehlau, sondern auch nach Danzig, Bremen und Lübeck so außergewöhnlich gute Beziehungen unterhältst. Und das ausgerechnet jetzt, wo erst die Altstadt und der Löbenicht, unlängst auch der Kneiphof nach zähem Aufbegehren den Weißmänteln wieder gehuldigt haben. Hast du etwa vergessen, dass wir damit nicht mehr zum Reigen der Bündischen gehören? Dass wir fortan wieder ganz brav im Sinn des raffgierigen Großschäffers und seines Ordens nur das vom Kuchen bekommen dürfen, was die hehren Ritter uns Kaufleuten gnädig übrig lassen? Davon abgesehen, wie hart sie gleich die Daumenschrauben wieder angezogen und neue Abgaben ersonnen haben, um das viele Geld für die teuren Söldner zu beschaffen! Es kann also gar nicht zum Besten mit dir stehen, mein Lieber, wenn du in Zeiten wie diesen ausgerechnet mit fremden Kaufleuten im weiterhin bündischen Wehlau Geschäfte abschließt oder gute Verbindungen nach Danzig und Lübeck pflegst. Jeder weiß, dass die Wehlauer gerade die ersten Schanzen gegen Reuß von Plauens Truppen aufwerfen und die Danziger und Lübecker die aufmüpfigen Kneiphöfer bis zum bitteren Ende noch per Schiff gegen die Deutschordensleute unterstützt haben. Wer als einziger Altstädter mit solchen Lumpen Geschäfte macht, muss am Ende seiner Weisheit angelangt sein.«
»Ich tue nichts Unrechtes«, erwiderte er leise. »Ich tue nichts anderes als das, was alle tun: zugreifen, wenn sich mir eine günstige Gelegenheit bietet. Das war mit der Lieferung Eibenholz aus Wehlau so, das ist mit den Verbindungen nach Danzig und Lübeck nicht anders. Gerade weil sich dort neue Möglichkeiten auftun, wollte ich Caspar dorthin schicken, damit er in unserem Sinn vor Ort mit den Zunftgenossen verhandelt. Dass sich die Lage im Ordensland nach all den Jahren des Stillstands derart rasch gewandelt hat, konnte ich ebenso wenig ahnen wie jeder andere hier am Pregel. Wie aber stehe ich da, wenn ich meine Geschäfte danach ausrichte, wie die Gunst der Ordensritter gerade verteilt ist? Der Handel mit dem Wehlauer Kaufmann ist bereits im April beschlossen worden. Du weißt, ich stehe mit dem Holz bei meinem Gewährsmann in London in der Pflicht. Liefere ich nicht wie verabredet bis zum Herbst, werden wir künftig keine weiteren Geschäfte mit ihm machen. Davon abgesehen, halten es die anderen Zunftgenossen hier auch nicht anders.«
»Nur, dass sie, wenn überhaupt, mit altbekannten Kaufleuten in Wehlau und den anderen Städten zu tun haben und nicht mit gänzlich Unbekannten wie du.«
»Gänzlich unbekannt ist der Kaufmann in Wehlau nicht. Rehbinder hat das Geschäft vermittelt, also kennt er ihn. Er würde niemanden empfehlen, dem nicht zu trauen ist.«
»Das muss nichts bedeuten. Überall heißt es, der Unbekannte in Wehlau hätte einzig mit dir das Geschäft abschließen wollen, ganz egal, wie günstig die anderen es ihm angeboten haben. Denkst du nicht, dahinter steckt mehr als nur die Hoffnung auf einen guten Gewinn? Das stinkt doch zum Himmel!«
»Was willst du damit sagen? Befürchtest du etwa einen Hinterhalt? Weshalb sollte mir jemand aus Wehlau eine Falle stellen? Seit Jahren habe ich keine Verbindungen mehr dorthin unterhalten. Deshalb habe ich jetzt auch so freudig zugegriffen, als sich mir dank Rehbinder die Gelegenheit geboten hat.«
»Good grief! Das ist nicht dein Ernst.« Editha räusperte sich. In ihrem Innern tobte ein heftiger Kampf. Sollte sie Gernot für seine einfältige Gutgläubigkeit verachten oder bewundern? Verstohlen musterte sie ihn von der Seite. »Worauf wartest du eigentlich noch? Tu endlich das Naheliegende und erkundige dich bei Rehbinder, wer dieser rätselhafte Kaufmann in Wehlau ist, was er über ihn weiß und welche Absichten hinter den Geschäften stecken. Erst dann wirst du Gewissheit haben.«
Es hielt sie ebenfalls nicht länger im Bett. Schwungvoll schlug sie die Decke zurück und erhob sich, schlüpfte in ein Hemd, kämmte sich mit den Fingern durch das offene aschblonde Haar. Glatt fiel es ihr bis auf den breiten Hintern hinab. Ihre Finger zitterten, ihr Leib bebte. Schwer atmend zwang sie sich zur Ruhe. Sosehr sie mit sich beschäftigt war, stellte sie dennoch fest, wie gebannt Gernot von der Bettkante aus jeden einzelnen ihrer Handgriffe verfolgte. Langsam trat sie zu ihm, blieb dicht vor ihm stehen, so dass er den Kopf ein wenig recken musste, um ihren Blick zu erwidern. Ihre nackten Zehenspitzen berührten seine Füße. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Gernot senkte verlegen das Antlitz. Als er jedoch feststellte, so die Nase genau auf Höhe ihrer Scham zu haben, schob er sie brüsk beiseite und starrte zum offenen Fenster in den wolkenverhangenen Nachthimmel.
»Ich habe Rehbinder versprochen, das niemals zu tun«, sagte er tonlos.
»Was?«
»Ich habe ihm mein Wort gegeben, nicht nachzufragen, wer mir warum das vielversprechende Angebot mit dem Eibenholz unterbreitet hat. Das war die einzige Bedingung für ein außerordentlich gutes Geschäft zu unerhört günstigen Preisen.«
»Sag das bitte noch einmal«, bat sie und setzte sich vorsichtig neben ihn auf die Bettkante, hielt die Augen dabei starr auf sein Antlitz gerichtet. »Du willst nicht allen Ernstes behaupten, dich angesichts des Geredes hier in Königsberg weiter an diese Zusage halten zu wollen?«
»Rehbinder hat mein Wort.«
»Aber es treibt dich in den Ruin!«
Aufgewühlt sprang sie auf und begann, auf nackten Füßen über den blanken Holzboden hin und her zu laufen. Wieder griffen ihre kurzen Finger in das offene Haar, durchkämmten es, als könnte sie dadurch Erleichterung finden. Schließlich verschränkte sie die Arme vor der Brust, blieb dicht vor Gernot stehen und betrachtete ihn von oben herab.
»For heaven’s sake! Bist du wirklich so einfältig? Glaubst du tatsächlich, niemand wollte dir arg? Wie lange nennst du dich schon Kaufmann?« Laut sog sie die Luft ein und warf den Kopf nach hinten.
»Jahr und Tag habe ich meine Geschäfte nach bestem Wissen und Gewissen getätigt. Bis zum heutigen Tag gibt es nichts, was ich mir vorzuwerfen hätte. Auch bei den derzeitigen Abschlüssen nicht. Da können die anderen Kaufleute sich das Maul wetzen, wie sie wollen. Und deshalb, meine Liebe«, jetzt war es an ihm, ihren Blick zu suchen, »habe ich weder von jemandem hier in Königsberg noch in Wehlau oder sonst wo einen Hinterhalt zu befürchten. Voller Vertrauen stehe ich zu der Abmachung mit Rehbinder. Er hat mir den Mann in Wehlau empfohlen. Er wird wissen, warum er mir den Schwur abgenommen hat, nicht nach Einzelheiten zu fragen. Du wirst sehen: Da gibt es keine Falle und keinen Hinterhalt. Warum auch? Oder zweifelst etwa du an meiner Rechtschaffenheit?«
Unter seinen letzten Worten hatte er sich vom Bett erhoben, richtete sich dicht neben ihr zu voller Größe auf.
»Heaven forbid! Natürlich zweifle ich nicht an deiner Rechtschaffenheit. Dafür aber zweifle ich allmählich an etwas ganz anderem.«
Eindringlich sah sie ihn an. Ohne Arg erwiderte er ihren Blick. Konnte das tatsächlich wahr sein? Glaubte er allen Ernstes, von nichts und niemandem etwas befürchten zu müssen? Hatte sie etwa all die Jahre umsonst in der schlimmen Furcht gelebt, die Erinnerung an das dunkelhaarige Gespenst der anderen nicht aus seinem Kopf tilgen zu können? Bei der kleinsten Unachtsamkeit die Geschwätzigkeit der Hundskötterin herauszufordern, die sie beide ein für alle Mal vernichten würde? Lag es nicht auf der Hand, dass dieser geheimnisumwitterte Kaufmann in Wehlau irgendetwas mit Gernots Vergangenheit zu tun hatte, die leider nicht immer so makellos gewesen war, wie er das offenbar selbst glauben mochte?
»Du willst doch nicht allen Ernstes ausgerechnet mir gegenüber behaupten, nie im Leben etwas Unrechtes getan zu haben?«, rief sie unerwartet schrill aus. »Zwingst du mich, dir jene Nacht im Mai vor siebzehn Jahren in Erinnerung zu rufen? Deinen Streit mit dem wackeren Kelletat, der sich dir mutig entgegengestellt und diesen Mut mit dem Leben bezahlt hat? Glaubst du, Gunda hätte das alles im Lauf der Jahre vergessen und nie an Rache gedacht? Du hast ihr den Sohn gestohlen und den Ehemann getötet!«
»Bist du des Wahnsinns? Willst du etwa behaupten, hinter dem unbekannten Kaufmann aus Wehlau würde Gunda stecken? Nie und nimmer wäre sie zu so etwas fähig! Sie ist die ehrbarste Frau, die mir je …«
Sein plötzlich aufflammender Zorn hinderte ihn daran, den Satz zu Ende zu sprechen. Grob packte er Editha an den Armen und schüttelte sie heftig. Wirr standen ihm die Haare zu Berge. In seinen Augen blitzte es gefährlich. Plötzlich wusste Editha sehr genau, wie es damals so weit hatte kommen können, dass er dem armen Kelletat den entscheidenden Stoß versetzt hatte. Ihr Mund öffnete sich zu einem Schrei. Im selben Moment ließ er sie los, sackte reumütig in sich zusammen und rieb sich das bärtige Kinn.
»Verzeih«, murmelte er leise. »Bitte verzeih mir, Liebes. Ich weiß nicht, was da gerade in mich gefahren ist. Natürlich hast du recht, natürlich habe ich damals ein schreckliches Unrecht begangen. Du weißt, wie wild entschlossen ich war, es wiedergutzumachen. Du und die Hundskötterin aber habt mich gezwungen, es nicht zu tun. Tagelang habt ihr auf mich eingeredet, bis ich am Ende nicht mehr wusste, wo mir der Kopf stand, was richtig und was falsch war. Als Gunda dann spurlos mit dem Mädchen aus der Stadt verschwunden war, war es längst zu spät. Da hätte es niemandem mehr genutzt, die Wahrheit zu sagen. Damit hätte ich außerdem dich und Caspar mit ins Verderben gerissen.«
Er hielt inne, schöpfte schwer nach Luft und rieb sich das bärtige Kinn. »Doch glaube nicht«, fuhr er leise fort, »ich könnte mir je verzeihen, was ich damals getan habe, was ich der armen Gunda angetan habe. Meine einzige Möglichkeit, mit der schweren Schuld zu leben, ist, alles, was in meiner Macht steht, für Caspar und für dich zu tun.«
Er trat wieder zum Fenster. Wie er da so stand, versunken in die schrecklichen Bilder der Vergangenheit, dauerte er sie. Ihn leiden zu sehen, hatte sie nicht gewollt. Immer nur wollte sie ihn glücklich machen und ihm helfen, das Geschehene ein für alle Mal aus seinem Gedächtnis zu tilgen. Deshalb liebte sie auch Caspar so abgöttisch und sehnte sich nichts mehr herbei als viele weitere, eigene Kinder mit Gernot.
Langsam drehte er sich zu ihr um, betrachtete sie versonnen. »Das alles hat nichts, aber auch rein gar nichts mit meiner Redlichkeit als Kaufmann zu tun. Geschweige denn, dass es irgendeinen Grund gibt zu befürchten, es gäbe Zweifel an der Aufrichtigkeit dieses Fremden in Wehlau. Für ihn legt Rehbinder seine Hand ins Feuer. Ich vertraue ihm.«
»Das ehrt dich«, erwiderte sie mit matter Stimme. »Ich hoffe für dich, dass dein Vertrauen niemals enttäuscht werden wird.«
Fast hatte Agnes die Hoffnung aufgegeben, Laurenz Selege jemals wiederzufinden. Seit einer Woche wurde eifrig an den Schanzen vor den Mauern der Stadt gebaut. Längst erhob sich in Wehlaus Osten und Süden ein beeindruckender Befestigungsring. Seine Fertigstellung würde nur noch wenige Tage in Anspruch nehmen. Alle hofften, Reuß von Plauen und seine Mannen taten ihnen den Gefallen, nicht vorher schon am Horizont aufzutauchen.