Viktor Staudt

Die Geschichte meines Selbstmords

Und wie ich das Leben wiederfand

Aus dem Niederländischen
von Rolf Erdorf

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Viktor Staudt

Viktor Staudt, 1969 geboren, studierte Jura und arbeitete zehn Jahre für eine Fluggesellschaft. Nach seinem Selbstmordversuch lebte er fast zehn Jahre in Deutschland und der Schweiz, mittlerweile in Italien. Er hält Vorträge und veranstaltet Workshops zum Thema Selbstmordprävention.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel

Het verhaal van mijn zelfmoord – en hoek ik de angsten en

depressies overwonbei Nieuw Amsterdam Uitgevers, Amsterdam.

 

Die Übersetzung dieses Buches wurde von der niederländischen Stiftung für Literatur gefördert.

Einige Namen und Orte wurden aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes verändert.

 

 

© 2015 der eBook-Ausgabe Knaur eBook

© 2014 der deutschsprachigen Ausgabe Droemer Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur
GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –

nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: Mare di Foto S.r.L

ISBN 978-3-426-42616-6

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Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung sind die psychologischen Äquivalente von Patienten mit Verbrennungen dritten Grades. Sie haben sozusagen keine emotionale Haut. Schon die kleinste Berührung oder Bewegung kann ein großes Leiden verursachen.

Marsha Lineham,
Professorin für Psychologie an der University of Washington

Vorwort

Vergleicht man eine Depression mit einer lebensbedrohlichen Krankheit wie beispielsweise Krebs, stößt man häufig auf Unverständnis. Depressionen werden oft als eine chronische Form der Unzufriedenheit angesehen und diese Unzufriedenheit nicht selten als unberechtigt abgestempelt. Eine Depression erscheint wie ein Leiden, das zu beheben ist, wenn man sich nur aufrafft und die Sache angeht, im Gegensatz zu einer körperlichen Erkrankung, an der man selbst nichts ändern kann.

Ich habe sehr unter meinen Depressionen gelitten und meine jetzt zu verstehen, warum ich damals keine besseren Entscheidungen treffen konnte. Gerade das ist ein Merkmal von Depressionen: Man will zwar etwas anderes, schafft es aber einfach nicht. Man ist der Krankheit ausgeliefert.

Dass Leute sich immer noch erstaunt zeigen, wenn man ihnen sagt, man leide an Depressionen, ist einer der Gründe, warum ich meine Geschichte aufgeschrieben habe. Depressionen rühren an den Kern der Existenz; der Boden unter den eigenen Füßen verschwindet, und was bleibt, ist ein endloser freier Fall.

Dies ist kein Hurra-wir-leben-noch!-Buch geworden; manchmal denke ich, dass ich meine Depressionen überwunden habe, war nur ein Pyrrhussieg. Ich hoffe, meine Geschichte schenkt neue Einsichten darüber, wie Depressionen einen Menschen vernichten können. Falls nur ein einziger Mensch sich nach der Lektüre dieses Buchs entscheidet, Hilfe zu suchen, anstatt Hand an sich zu legen, habe ich mein Ziel erreicht.

Sommer 2014

Viktor Staudt

Prolog – Kapitel null

Ich höre eine Stimme. Nein, es sind mehrere. Wie sehr ich mich auch bemühe herauszufinden, woher sie kommen, ich kann sie nicht lokalisieren. Langsam öffne ich die Augen. Alles um mich her ist verschwommen. Wieder höre ich diese eine Stimme, eine Frau, irgendwo in meiner Nähe.

»Er kommt zu sich …«

Ich begreife sofort, dass ich von »irgendwo« zu mir komme, aber nicht von woher, und ich weiß auch nicht, wo ich bin.

»Herr Staudt, Herr Staudt? Können Sie mich hören?«

Die Stimme klingt kühl und sachlich. Wer ist diese Frau, und wo befindet sie sich? In den dunkel verschwimmenden Flecken erkenne ich links von mir eine Bewegung. Das muss die Frau sein, die zu mir spricht.

»Haben Sie Schmerzen?«

Das Denken geht langsamer als gewöhnlich. Sekundenlang frage ich mich, warum ich Schmerzen haben sollte. Aus mir unbekannten Gründen fühle ich mich schwach, aber Schmerzen habe ich nirgends. Ich schüttele den Kopf, obwohl das nur schwer geht.

»Herr Staudt, Sie haben sich heute Nachmittag vor einen Zug geworfen …«

Vor einen Zug geworfen? Ich muss sehr tief in meinem Gedächtnis graben, ehe es mir allmählich dämmert. Tatsächlich, ich hatte vorgehabt, mich vor den Zug zu werfen. Und dann die Erkenntnis: Ich habe mich vor diesen heranstürmenden Intercity geworfen. Aber das scheint Ewigkeiten her zu sein.

»Sie befinden sich im Krankenhaus«, sagt die Frau, die ich noch immer nicht einordnen kann.

Langsam wird mir klar, was geschehen ist. Auf dem Bahnhof Amsterdam RAI bin ich vor den Zug gesprungen, und jetzt liege ich im Krankenhaus.

»Wir mussten Sie an den Beinen operieren.«

Diese Bemerkung jagt mir keinen Schrecken ein. Ich laufe und schwimme regelmäßig, gehe ins Fitness-Studio. Diese Operation kann kein Problem sein, meine Beine halten einiges aus.

Die Augen fallen mir zu, und ich döse weg. Als ich sie wieder öffne, weiß ich nicht, ob ich ein paar Sekunden, einige Minuten oder vielleicht auch länger geschlafen habe. Ich habe Durst und versuche etwas zu sagen.

»Sie können nicht sprechen. Wir haben Sie an ein Beatmungsgerät angeschlossen«, sagt die Frau. »Ich gebe Ihnen einen Stift in die linke Hand, Herr Staudt, ihr rechter Arm ist nämlich gebrochen.«

Ich wurde an den Beinen operiert, mein rechter Arm ist gebrochen, und sprechen kann ich auch nicht? Ich kann mir absolut nicht vorstellen, dass es mir so dermaßen schlechtgehen soll. Die Frau, eine Krankenschwester, wie ich jetzt sehe, gibt mir einen Schreibblock und einen Stift. Ich nehme den Stift in die linke Hand, und sie hält den Schreibblock fest. Langsam bewege ich den Stift über das Papier, um so deutlich wie möglich »Kaffee« zu schreiben. Während ich das tue, ist da die Stimme meiner Mutter.

»Viktor, kannst du mich hören …?«

Die Stimme kommt von der anderen Seite meines Bettes. Ich drehe den Kopf zu ihr.

Ja, ich höre dich!, will ich sagen. Obwohl es nicht geht, versuche ich es.

»Lieber, du brauchst nichts zu sagen«, sagt sie leise. »Du kannst jetzt nicht sprechen, weil du einen Schlauch im Mund hast. Aber wir sind hier, Papa und ich.«

Meine Eltern wohnen in Deutschland, kurz hinter der Grenze bei Nijmegen, fast zwei Autostunden von Amsterdam entfernt. Ich liege hier also schon mehr als zwei Stunden. Wer hat ihnen Bescheid gegeben? Ich will ihr etwas sagen. Ich nehme den Stift und schreibe »B e i n e« auf den Notizblock, den diesmal meine Mutter festhält.

Meine Mutter nimmt meine Hand und sagt: »Ich muss dir sagen, Lieber, dass deine Beine nicht mehr da sind.«

Bestimmt habe ich es nicht recht verstanden, denn wie können meine Beine weg sein, während ich noch lebe?

»Der Zug ist über deine Beine gefahren, und sie sind weg«, sagt meine Mutter.

Dann sehe ich jemanden hinter ihr stehen. Es dauert etwas, ehe ich in der Person meinen Vater erkenne. Er weint, aber er sagt nichts. Mir kommt ein Gedanke. Ich nehme wieder den Stift in die linke Hand und führe ihn mehr schlecht als recht zum Schreibblock, der immer noch auf meinem Bauch liegt. Langsam bewege ich den Stift und kritzele »Rob Scholte«. Meine Schrift ist offenbar kaum lesbar, denn meine Mutter sagt, sie wisse nicht, was genau ich da geschrieben habe.

»Er meint den Mann, der auch seine Beine verloren hat«, sagt daraufhin die Krankenschwester.

Bei mir ist es jetzt also genau wie bei dem Künstler Rob Scholte, der durch ein Bombenattentat beide Beine oberhalb der Knie verloren hat und seither im Rollstuhl sitzt. Ich bin schockiert, völlig überrumpelt von der Vorstellung, keine Beine mehr zu haben. Ich weine, beruhige mich aber auch rasch wieder. Die Schmerzpumpe, an die ich angeschlossen bin, verhindert, dass ich in totale Panik gerate.

»Der Polizist, der als Erster bei dir war, ist hier«, sagt meine Mutter.

Ich erinnere mich nicht, einen Polizisten gesehen zu haben, aber ich will ihm trotzdem etwas mitteilen. Meine Mutter gibt mir abermals den Stift und hält den Schreibblock fest.

»Es tut mir leid. Lesen Sie das eines schönen Tages. Viktor«

Meine Mutter nimmt den Zettel und liest das Geschriebene vor, um zu wissen, ob sie es richtig verstanden hat. Ich nicke. Dann gibt sie dem Beamten den Brief.

Die Krankenschwester bringt den Kaffee mit einem Strohhalm, aber ich mag nicht mehr. Ich bin angekommen bei dem Kapitel null meines Lebens.

Teil 1

Rache

Schauspielern

Sommer 1994, fünf Jahre vor dem Sprung

Mit meiner Kollegin Mariëlle sitze ich in De Lantaarn, einem großen, besonders bei Yuppies sehr beliebten Restaurant. Mariëlle ist einige Jahre älter als ich und arbeitet schon viel länger in dem Büro, in dem ich vor einigen Jahren angefangen habe. Wir sind auf der Suche nach einer Location für die Abschiedsfeier unseres Kollegen Marc. Mariëlle und ich sind uns einig, dass dies ein geeigneter Ort dafür ist.

In dem Moment, als wir unser Vorhaben – eine Striptease-Nummer – mit der Mitarbeiterin des Restaurants besprechen wollen, passiert es. Ich fühle die Hitze in mir aufsteigen. Ich weiß, dass ich einen Anfall unterdrücken kann, wenn ich mein Gesicht jetzt sofort mit kaltem Wasser abspüle. Ich lege meine Serviette hin, schaue zu Mariëlle, die verstört wirkt, weil ich sie so plötzlich unterbreche, und entschuldige mich mit dem Hinweis, ich müsse kurz zur Toilette. Währenddessen spüre ich schon die ersten Schweißperlen auf der Stirn.

»Bin gleich wieder da!« Ich lächele, obwohl mich das Mühe kostet.

»Ja, ich sehe, dir wird schon ganz heiß bei der Sache!«, scherzt Mariëlle.

Die Restaurantmitarbeiterin lacht, während ich wortlos zur Herrentoilette gehe. Dort schlage ich die Tür hinter mir zu. Gott sei Dank ist außer mir niemand hier. Sofort drehe ich den Wasserhahn auf und halte die Hände darunter. Mist, bloß ein mickriges, laues Rinnsal. Ich lasse den Wasserhahn laufen und knöpfe mir das Hemd auf, um etwas kühle Luft auf der Brust zu spüren und zu verhindern, dass sich gleich große Schwitzflecke auf meinem Hemd abzeichnen.

Das Wasser, das ich mir über die Hände rinnen lasse, ist mittlerweile etwas kälter geworden. Ich mache einige Papierhandtücher nass und presse sie mir an den Kopf. Ich schließe die Augen und seufze. Ein paar Sekunden lang genieße ich die Abkühlung auf der Haut. Der Anfall scheint nachzulassen, und meine Muskeln entspannen sich. Mir entfährt ein weiterer Seufzer, und zugleich empfinde ich eine große Müdigkeit. Ich drehe das Wasser ab und knöpfe auch mein Hemd wieder zu. Es ist vorbei, das spüre ich. Aber ich weiß, dass ich jederzeit wieder einen neuen Anfall bekommen kann. Ich habe keine Ahnung, womit ich es begründen soll, wenn ich erneut zur Toilette muss.

Wieder bei unserem Tisch angekommen, entschuldige ich mich nochmals und erläutere der Mitarbeiterin den Grund unserer Personalfeier. Ohne von Angstattacken unterbrochen zu werden, kann ich erzählen, dass wir das Fest für einen gemeinsamen Kollegen veranstalten und zum Nachtisch gern einen Striptease-Tänzer auftreten lassen würden. Ich bringe die Geschichte locker. Wir lachen, was mich entspannt und einen sich bereits ankündigenden zweiten Anfall wieder abklingen lässt.

»Nach dem Dessert oder kurz davor werde ich das Wort ergreifen, während die Musik einsetzt. Dann fange ich an, mich auszuziehen. Sobald ich das Shirt ausgezogen habe …«

Die Restaurantmitarbeiterin unterbricht mich: »Aha, also Sie sind der Stripper?«

Mariëlle mustert mich, ein breites Grinsen umspielt ihre Mundwinkel. Man kann der Frau anhören, wie erstaunt sie ist. Ich sollte das eigentlich ignorieren, aber es ärgert mich ziemlich, wenn Leute an meinem physischen Erscheinungsbild zweifeln. Bin ich denn umsonst Stammkunde im Fitness-Center und unterwerfe mich dort seit Jahren einem strengen Trainingsplan? In Badehosen ernte ich Bewunderung für die Ergebnisse meiner intensiven Trainingsstunden. Bekleidet bin ich jedoch sozusagen ein »schmales Hemd« geblieben. Ich beschließe, nicht auf die Bemerkung einzugehen, und fahre fort.

»In dem Augenblick, wenn ich den ersten Hosenknopf öffne, taucht ein professioneller Stripper auf, verkleidet als Polizist.«

»Eine tolle Idee!«, reagiert die Mitarbeiterin spontan und fügt hinzu, dass es so etwas in ihrem Restaurant noch nicht gegeben habe und sie es darum erst mit dem Manager besprechen müsse. »Aber das kriegen wir schon hin«, fügt sie beruhigend hinzu.

Sie notiert sich meine Telefonnummer und sagt, in ein, zwei Tagen werde sie mich wissen lassen, ob es bei ihnen stattfinden kann oder nicht. Nachdem die Mitarbeiterin weg ist, ergreift Mariëlle meine Hand und ruft: »Ich finde es ja auch total toll, dass du das machen willst!«

»Na ja, gar so großartig ist es nun auch wieder nicht.«

»Mag sein, aber den Mut dazu muss man erst mal haben!«

»Wenn schon, dann muss ich es jetzt tun.«

»Wieso?«

»In ein paar Jahren, wenn ich so um die dreißig bin …«

Sie stößt einen Seufzer aus. »Ach, fängst du wieder mit der Leier an!«

Mariëlle weiß von meiner Überzeugung, dass mir mit etwa dreißig irgendetwas zustoßen wird, das mein Leben komplett umkrempelt. Das habe ich ihr einmal gestanden. Zwei Dinge sind mir vollkommen klar: dass ich nicht sterben und dass ich fürchterliche Schmerzen erleiden werde. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich zu dieser Auffassung gekommen bin.

»Na, dann hast du noch … ungefähr drei bis vier Jahre, denke ich?«

Ich nicke. »Fast vier.«

Stille breitet sich aus.

»Mal im Ernst, Viktor: Du glaubst das wirklich, wie?«, fragt Mariëlle dann.

Ich zucke mit den Schultern und schaue auf die Serviette, die zerknüllt vor mir auf dem Tisch liegt.

»Das muss schwierig für dich sein und auch irgendwie ungut«, mutmaßt sie.

Ich weiß nicht, ob ich das selbst auch so empfinde. Für mich ist das irgendwie eine feststehende Tatsache, eine Gewissheit. Es scheint kein Entrinnen davor zu geben.

Ein paar Wochen später geht bei besagtem Striptease-Abend alles gut. Selbst auf dem Hinweg in der Straßenbahn geschieht nichts. Es ist eine der wenigen Fahrten, die ich überstehe, ohne dass mir heiß wird oder ich Beklemmungen kriege. Ich fühle mich gut und freue mich auf das Kommende. Ich bin stolz auf mich und darauf, dass ich den Striptease-Auftritt nicht nur organisiert habe, sondern sogar selbst mitwirken werde. Bestimmt ist es genau dieses starke, gute Gefühl, das die Straßenbahnfahrt zum Restaurant zu einem Moment werden lässt, an dem ich ausnahmsweise mal keine Anfälle habe.

 

Exhibitionismus ist offenbar eine der wenigen effektiven Waffen, mit denen ich die Angstattacken bekämpfen kann. Applaus brauche ich, stehende Ovationen, durchschlagende Erfolge. Nur dann scheint mein Selbstwertgefühl aus den dunkelsten Tiefen zum Sonnenlicht an die Oberfläche emporzusteigen, und ich fühle mich gut genug, um beispielsweise auf einem Frisörstuhl ausharren zu können oder in der Straßenbahn nicht vor Schweiß triefend dazusitzen. Es ist bizarr.

Das tief in mir verwurzelte, äußerst negative Selbstbild, das ich wahrscheinlich unbewusst habe, gibt dem unsichtbaren Feind die Kraft, mich zu attackieren. Dieses geringe Selbstwertgefühl scheine ich nur durch extreme Aktionen kurzfristig überwinden zu können.

Ich habe schon immer eine leicht exhibitionistische Neigung gehabt. Schon als Knirps in einer der ersten Grundschulklassen habe ich erkennen lassen, dass ich einmal Schauspieler oder Sänger werden wollte. Oder gleich ein singender Schauspieler. Ich wollte im Scheinwerferlicht stehen. In der Zeit, bevor sich meine Depressionen erstmals manifestierten – das geschah so etwa mit zwölf –, beteiligte ich mich in der Schule begeistert an Vorträgen und Theaterstücken. Ich war angstfrei, stotterte noch nicht und fühlte mich »normal«, wie eine Psychiaterin später sagen würde.

 

Das Abschiedsessen für meinen geliebten Kollegen Marc ist einer der kostbaren Momente, die beispielhaft für meinen Hang stehen, dem nachzugeben, was ich als kreativen Exhibitionismus bezeichne. Natürlich ziehe ich mich nicht vor jedem Kollegen aus, aber das hier ist eine besondere Gelegenheit. Die Jahre, die Marc und ich in dem Büro an der Weteringschans zusammengearbeitet haben, mitten in der Stadt und direkt gegenüber dem Rijksmuseum, betrachte ich als die besten meines Lebens, und das ist einen Striptease wert. In genau diesem Moment nehme ich den Kampf gegen die Angst auf. Er mag vergeblich sein, aber für mich zählt jetzt nur, dass ich noch kämpfe und nicht aufgebe.

Unser Auftritt geht so glatt und reibungslos über die Bühne, dass es aussieht, als hätten wir ihn vorher geprobt. Ich weiß in diesem Moment nicht, ob ich einfach ein Naturtalent bin oder nicht doch von dem Drang getrieben werde, mich selbst zu übertreffen. Mich davon zu überzeugen, dass ich über mich selbst hinauswachsen kann. Für mich stand von Anfang an fest, dass ich den Auftritt übernehmen würde, und über den Ausgang des Ganzen machte ich mir keine Gedanken. Nicht einmal in der Straßenbahn auf dem Weg dorthin.

Kicks

Sommer 1993, sechs Jahre vor dem Sprung

Mit einem Hamburger in der Hand schlendere ich an einem sonnigen Freitagmittag mit Marc durch die Leidsestraat. Es ist unsere gemeinsame Mittagspause. Ich wohne und arbeite zu diesem Zeitpunkt schon wieder eine Weile in der Innenstadt und fühle mich hier richtig heimisch. Wir sitzen auf einer flachen Mauer am Rand des Kleine-Gartmanplantsoen. Ich habe die Hemdsärmel hochgekrempelt und bin entspannt. Es gibt momentan wenig Arbeitsstress. Ich nehme einen Bissen von dem Burger, und der Geschmack von Mayonnaise, Tomate, Salat und gegrilltem Hamburger vermischt sich auf wunderbare Weise. In diesem Augenblick wird mir klar, dass mein Leben wahrscheinlich nicht mehr viel besser werden wird, als es jetzt ist.

Mir ist bewusst, was ich alles hatte überwinden müssen seit der Grundschule in dem kleinen Dorf irgendwo im Süden des Landes, als ich bei einem Theaterstück mitmachte, bis hin zu diesem sonnigen Freitagmittag am Leidseplein, und ich bin stolz auf das, was ich erreicht habe.

»Du siehst gut aus!«, sagt Marc zwischen zwei Bissen.

Ich zucke mit den Schultern und lache. »Ach, das Wetter ist schön, es ist Freitag, was will man mehr?«

Ich komme mir vor wie in einer Filmszene. Ich bin nicht Teil der Welt um mich her. Stattdessen spiele ich eine Rolle, mit der Umgebung als Filmset. Schon früh habe ich eine Vorliebe für das Medium Film entwickelt, was sogar meinem Vater auffiel, als ich mit elf Jahren ein paarmal mit ihm im Kino gewesen war. Einige Zeit nachdem wir In tödlicher Mission gesehen hatten, hörte ich ihn zu meiner Mutter sagen: »Viktor ist eigentlich nie mehr aus dem Kino rausgekommen.« Damals hielt ich das für ein Kompliment und sah darin nichts Bedrohliches. Schließlich war es wirklich so, wie mein Vater sagte: Ich wollte auch gar nicht mehr aus dieser Scheinwirklichkeit des Kinos heraus.

Eine Rolle zu spielen gibt mir ein gutes Gefühl. Es hilft mir, mich von meiner Identität zu lösen. Beispielsweise in Situationen, bei denen ich Menschen begegne, denn soziale Kontakte sind ein Trigger für meine Angstattacken. Wenn ich tue, als wäre ich ein anderer, bleibt die Angst zumindest eine Weile länger weg. Ich wirke dann wie dieser sympathische Kollege, der leicht gestörte Freund oder Bekannte mit einem Hang zu Abenteuern, wie der verlässliche Verbündete. Einzig zu Hause, wo es kein Publikum gibt, bin ich wirklich ich selbst. Dann brauche ich nicht darüber nachzudenken, wie ich mich bewege, welche Worte ich wähle und was ich tue. Trotzdem kann ich mich plötzlich ganz elend fühlen, dem Anschein nach ohne jeden Anlass.

Um mich her höre ich immer mehr über Depressionen und depressive Menschen, aber wenn ich lese, was die Symptome sind, erkenne ich mich darin nicht wieder. Ich gebe nämlich nicht auf, bleibe nicht tagelang im Bett liegen, vernachlässige mich nicht, lasse mich nicht volllaufen und nehme keine Drogen, selbst rauchen tue nicht.

Manchmal überschreite ich eine Grenze und suche das Abenteuer: Etwas Extremes zu tun gibt mir einen Kick. Das scheint es öfter bei Menschen mit Borderline zu geben, habe ich in einem Buch aus der Bücherei gelesen, da steht auch etwas von einem niedrigen Selbstwertgefühl, der Erfahrung einer inneren Leere und der Vorstellung, in Beziehungen gehe es entweder um alles oder nichts. Und dass Dinge plötzlich umkippen könnten. Darunter kann ich mir etwas vorstellen, aber ich sehe nichts Schlechtes darin. Denn entweder man lässt sich hundertprozentig auf etwas ein oder nicht.

Muss ich mir Sorgen machen? Interessant ist es schon, finde ich. Es macht mich zu etwas Besonderem. Außerdem: Ohne die Kicks und Thrills ist das Leben so öde! Und für die Nachteile finde ich schon eine Lösung. Es kommt der Tag, da bin ich mir sicher, an dem alles gut wird.

An diesem Freitag mit Marc im Kleine-Gartmanplantsoen bin ich wieder in einer Filmszene gelandet, mit dem Platz als Kulisse hinter mir. Die Passanten sind die Statisten, die Sonne hoch über uns ist die Beleuchtung, und neben mir sitzt scherzend und lachend mein Gegenpart. Action.

 

»Die Idee scheint dich zu beflügeln«, lautet Marcs Eröffnungssatz. »Nichts kann dich jetzt noch zurückhalten, glaube ich.«

Ich lächele. Ich habe Marc heute von einem neuen Date erzählt. Einem Date, das vollkommen anders werden wird als alle meine bisherigen. Wir werden nämlich auswärts essen, und zwar nicht irgendwo, sondern in Barcelona. Marc findet das übertrieben.

»Ich glaube nicht, dass ich dich noch davon abbringen kann«, seufzt er.

»Aber du hältst es doch auch für eine gute Idee?«, entgegne ich gespielt naiv.

Marc schüttelt bedächtig den Kopf. Er ist nur wenige Jahre älter als ich. Von Kollegen sind wir immer mehr zu Freunden geworden. Das bedeutet, dass es kaum eine Mittagspause gibt, die wir nicht miteinander verbringen. Wir gehen durch die Stadt und reden über alles, was uns beschäftigt: neue Filme, Musik, Beziehungen, Arbeit, unsere Pläne für das nächste Wochenende.

Marc hat natürlich recht, es ist übertrieben. Meinem Date bin ich vor einer Woche begegnet, und wir haben vielleicht eine halbe Stunde lang miteinander gesprochen, spätabends in einem Klub mit viel zu lauter House-Musik. Jetzt braucht er lediglich mit seinem Pass und seiner Zahnbürste am Flughafen Schiphol zu erscheinen, für alles andere sorge ich. Nächste Woche Freitag fliegen wir hin, und Sonntag kommen wir zurück, damit ich am Montagmorgen wieder rechtzeitig im Büro bin. Als Angestellter der Fluggesellschaft kann ich das. Für ein paar Zehner fliege ich quer durch die ganze Welt, mit Standby-Tickets, die immer dann gültig sind, wenn es noch freie Plätze gibt.

Ich weiß natürlich genau, warum ich mich nicht einfach in einem Restaurant in der Nähe verabreden kann, aber darüber möchte ich nicht reden. Nicht mit Marc, mit niemandem. Mehr noch, ich will gar nicht erst darüber nachdenken. Erstens aus Scham: Ich betrachte es als ein Zeichen der Schwäche, zugeben zu müssen, dass schon ein einfacher Restaurantbesuch Angstattacken in mir auslöst. Zweitens raubt mir der Gedanke daran meine ganze Vorfreude. Er macht meine abenteuerliche Idee von einem Wochenende in Barcelona zum Symptom irgendeiner Krankheit oder Anomalie, derentwegen ich vielleicht behandelt werden müsste. Jetzt dagegen fällt alles noch unter den Nenner »nett und originell«.

Ich habe die Hoffnung, dass ich mit dieser Aktion womöglich die richtige Waffe in meinem Kampf gefunden habe. Ich nehme ein Date mit nach Barcelona! Wie cool ist das?! Denn wenn ich das hinbekomme, brauche ich vor nichts mehr Angst zu haben.

Mein Plan für Barcelona ist eine Folge der Ereignisse des vorigen Wochenendes. Da hatte ich eine andere Verabredung. Wie viele in meinem Alter bin ich dringend auf der Suche nach einer festen Beziehung, oder besser gesagt: auf der Suche nach dem Richtigen. Und da ich den noch nicht gefunden habe, setze ich meine Suche jedes Wochenende intensiv fort, zu später Stunde im großstädtischen Nachtleben.

An diesem Abend hatte ich mich in einem Lokal zum Essen verabredet. Auf dem Weg dorthin, in der Straßenbahn, ging es wieder schief. Bei der nächstgelegenen Haltestelle musste ich aussteigen, und die kühle Außenluft hatte sofort eine lindernde Wirkung, aber ganz verhindern konnte ich den Anfall nicht. Ich hatte gerade erst die nächste Bahn genommen, da stieg die Angst wieder in mir hoch. Ich schaffte es kaum bis zum Lokal. Und als ich endlich dort war, fing alles von vorn an. Ich brauchte meine ganze Willenskraft, um nicht aufgeben und nach Hause gehen zu müssen. Ich entschuldigte mich mehrere Male, um mir in der Toilette das Gesicht mit kaltem Wasser abzutupfen.

Der Kampf erschien sinnlos. Wir gingen noch in ein anderes Lokal, aber auch dort musste ich direkt nach unserer Ankunft auf die Toilette flüchten. Als ich vor dem Spiegel stand und das kalte Wasser laufen ließ, sah ich, dass meine Unterarme klatschnass waren. Es war, als würde die Flüssigkeit buchstäblich aus meinen Poren herausgepresst. An der Innenseite meiner Arme, von der Hand bis in meine Ellenbeuge, tropfte mir der Schweiß nur so von der Haut. Ich fühlte mich elend. Ich schlug die Hände vors Gesicht und sank an der Wand neben dem Waschbecken zu Boden. Das hier musste aufhören, egal wie.

Die Toilettenfrau, eine echte Amsterdamerin mittleren Alters mit hochgesteckter Blondhaarfrisur, saß hinter ihrem Tisch mit einer Zeitschrift und der obligatorischen Untertasse mit Kleingeld. Ihre Stimme schallte durch den leeren Raum: »Na Süßer, wohl zu viel eingeworfen?« Sie klang eher besorgt als unfreundlich. War es jetzt schon so weit, dass die Leute dachten, ich hätte eine Überdosis an Drogen intus? Dabei war ich so nüchtern, wie man nur sein konnte! Die wenigen Sekunden, die ich spontan lachen musste, empfand ich deutlich wie eine Erlösung von der Angst.

 

Mir fällt ein, wie ich als Grundschüler zum ersten Mal etwas über Ängste erfahren habe. Woran ich mich nämlich erinnere, ist die Frage meiner Lehrerin an meine Mutter.

»Viktor lacht nicht«, sagte sie an einem Elternabend. »Kann er überhaupt lachen?«

Ich muss acht oder neun Jahre alt gewesen sein.

Meine Mutter wiederholte die Frage am nächsten Morgen beim Frühstück. Mir war sie damals merkwürdig vorgekommen. Niemand – ich als kleiner Junge natürlich erst recht nicht – hatte damals auch nur vermutet, diese Unfähigkeit zu lachen könnte eine tiefere Ursache haben.

 

Das mit meiner abendlichen Verabredung habe ich nicht mehr auf die Reihe bekommen. Diese Runde war verloren, aber aufgegeben hatte ich noch nicht. Ich nahm die Straßenbahn nach Hause, und zu meinem großen Erstaunen hatte ich während der Fahrt keinerlei Probleme mehr.

Wieder daheim, bin ich im Anschluss erst einmal eine Runde gelaufen, was mir über das Fiasko hinweghalf. Ich fühlte mich schon während des Laufens etwas besser, und nachdem ich geduscht und saubere Sachen angezogen hatte, zog ich gegen Mitternacht nochmals los. Die physische Anstrengung hatte mich dermaßen erschöpft, dass mir für eine Angstattacke keine Energie mehr blieb, so jedenfalls dachte ich es mir. In dem Club bestellte ich eine Flasche Bier. Alkohol hat eine leicht dämpfende Wirkung auf Angstgefühle, aber mehr als zwei Bier können auf mich auch den gegenteiligen Effekt haben. Manchmal wird mir davon sogar besonders heiß. Ich hatte den Sport als ein vertrautes Mittel benutzt, die noch frische Erinnerung an den gescheiterten Abend zu zweit möglichst tief in mir zu vergraben oder sogar ganz aus meinem Gedächtnis zu löschen. Allerdings plagten mich Schuldgefühle, die Überzeugung, es nicht geschafft zu haben.

Getrieben von einer Mischung aus leichter Panik, eisernem Willen und der Entschlossenheit, mit meinem unsichtbaren Feind kurzen Prozess zu machen, hatte ich mich auf die Suche nach einer anderen Waffe begeben, von deren Beschaffenheit ich eine vage Vorstellung hatte, und zwar dachte ich an eine feste Beziehung, die mir die Stabilität geben könnte, die ich brauchte, um der Angst Herr zu werden. In dieser Nacht wollte ich mir zeigen und beweisen, dass ich nicht unterzukriegen war. Genau da traf ich auf die beiden Studenten, von denen ich einen zu einem Barcelona-Wochenende einladen sollte. Mir blieb faktisch keine andere Wahl.

 

»Wir müssen!«, sagt Marc. Er stupst mich leicht mit dem Ellbogen an und springt von der Mauer. Als wir zum Büro zurückgehen, wünscht er mir ganz viel Erfolg und Spaß in Barcelona, verbunden mit der Hoffnung, dass ich noch Jahre später lächelnd und mit guten Erinnerungen an dieses Date zurückdenken werde.

»Und wenn ihr in zehn Jahren immer noch zusammen seid, dann ist es natürlich schon furchtbar witzig, wenn es ausgerechnet damit angefangen hat«, stellt er fest.

In der Tat. Wenn diese Beziehung mit einem Wochenende in Barcelona beginnt, dann ist das für immer eine nette, wertvolle und einzigartige Erinnerung. Gleichzeitig lieferte er mir die passende Ausrede, den wirklichen Grund des Wochenendtrips zu vernachlässigen. Oder zu ignorieren.

Psychiaterin

Wie haben Sie das noch ausgedrückt? Dass Sie der Junge sind, der nicht lacht?« Die junge Psychiaterin, die mir gegenübersitzt, klingt sachlich. Sie schaut mich mit einer undurchdringlichen Miene an. Ihr langes, dunkelbraunes Haar hat sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und sie trägt eine kleine, schwarze Brille.

»Stimmt, das ist etwas aus meiner Jugend«, beantworte ich ihre Frage.

»Aus Ihrer Jugend?«

Beim ersten Mal, als mich die Psychiaterin des Krankenhauses besuchte, lag ich noch im Bett und war, von Schmerzmitteln betäubt, kaum imstande gewesen, ein Wort herauszubringen. Sie hatte meinen Namen gerufen und mich aus tiefem Schlaf gerissen. Anfangs glaubte ich, sie sei nur wieder eine Ärztin, die mir irgendein Medikament geben wollte. Als sie sich mir als Psychiaterin vorstellte, war meine erste Reaktion, dass ich jetzt wirklich nicht in der Lage sei, mit welchem Psychiater auch immer über meinen Selbstmordversuch und was dazugehörte, zu reden.

Sie nickte verständnisvoll und schlug vor, eine Woche später nochmals vorbeizukommen. Ich antwortete, das sei in Ordnung, obwohl ich mir keineswegs sicher sei, dann auch wirklich mit ihr reden zu wollen. Selbst dafür zeigte sie Verständnis.

Als sie dann vor einer halben Stunde wieder auftauchte, hatte ich keine Einwände gegen ein Gespräch.

Wären wir uns ein oder zwei Wochen vor meinem Sprung begegnet, dann hätte sie ein komplett anderes Bild von mir erhalten, dessen bin ich mir sicher. Auf sie hätte ich nämlich bestimmt den gleichen Eindruck zu machen gewusst wie auf so viele aus meinem Umkreis: freundlich, zuvorkommend, gepflegt, sportlich, abenteuerlustig und nicht dumm. Jetzt gibt es nichts mehr, was ich tun kann, um all das wiederherzustellen, was ich meiner Meinung nach einmal ausgestrahlt habe: Ich habe verloren, alle Hoffnung ist dahin. Ich komme mir ausgeliefert vor, nur weiß ich nach mehr als drei Wochen Krankenhausaufenthalt immer noch nicht, wem oder was ich ausgeliefert bin.

Wir sitzen in einer Art Lagerraum irgendwo auf dem Flur. Wir sind hierher ausgewichen, weil ich nicht länger allein in einem Zimmer liege. Ein Sprechzimmer für uns gibt es nicht und auch keinen anderen Platz in dieser Abteilung. An der Wand stehen Regale mit Toilettenpapierrollen, Spülmittelpaketen sowie ganzen Stapeln von Bettpfannen, Urinflaschen und leeren Infusionsbeuteln. Nicht gerade eine angenehme Umgebung, um sich über das Wie und Warum eines Selbstmordversuchs auszutauschen.

Das Neonlicht hat Mühe, sich einen Weg zwischen den vollen Vorratsregalen hindurch zu bahnen, und es ist, als hockten wir in einem Versteck. Wir sitzen uns direkt gegenüber, sie auf einem niedrigen Hocker und ich in meinem zu breiten Krankenhausrollstuhl mit den zu weichen Reifen. Mein rechter Arm ist noch eingegipst, was meine Bewegungsfreiheit deutlich einschränkt. Selbst auf der Toilette muss ich um Hilfe läuten, sobald ich »fertig« bin. Mittlerweile habe ich ihr die gesamte Geschichte von der Verabredung in Barcelona erzählt, aber offenbar ist meine Kindheit interessanter.

»Tja, meine Jugend …«, sage ich. »Ist das nicht ein Klischee?« Ich möchte ihr vermitteln, dass ich nicht daran glaube, man könne das, was geschehen ist, einzig aus dem Verlauf meiner Kindheit und Jugend erklären.

Die Psychiaterin schaut mich an, sagt jedoch nichts.

»Ich weiß es natürlich auch nicht, aber was meine Grundschullehrerin über mich gesagt hat, hängt vielleicht irgendwie damit zusammen.«

Ich erzähle die Geschichte von meiner Unfähigkeit zu lachen.

Die Psychiaterin macht eine Notiz. Als sie mit Schreiben fertig ist, schaut sie mich an und fragt: »Warum konnten Sie nicht lachen?«

»Keine Ahnung«, meine ich achselzuckend.

»Aber was die Lehrerin sagte, stimmt?«

»Ich denke schon, obwohl ich es selbst nie so wahrgenommen habe. Ich habe mir diese Frage nie gestellt. Mir ist nie bewusst gewesen, dass ich nicht lachen konnte.«

Ich versuche mir zu überlegen, weshalb die Lehrerin das gesagt haben könnte. Ich erzähle der Psychiaterin von einem Gefühl, das ich damals empfand und an das ich jetzt erstmals seit Jahren wieder denke. Dennoch kostet es mich keine Mühe, es ihr zu erklären: Sehr oft habe ich versucht, meinem Leben einen bunteren Anstrich zu geben. Die Jahre in der Grund- und Mittelschule und auch meine Zeit an der Universität verliefen nämlich in Schwarzweiß. Das bedeutete, dass draußen, da, wo das echte Leben war, sich alles in Farbe abspielte.

Es war an einem ganz normalen Schultag, ich muss etwa elf oder zwölf gewesen sein, da blickte ich durchs Klassenfenster auf die Straße, die an der Schule entlangführte und auf der Autos, Radfahrer und Fußgänger vorbeikamen. In dem Moment wurde mir bewusst, dass da draußen alles in Farbe war, während hier drin bei mir alles in Schwarzweiß war. Dieser Schwarzweißfilter verließ mich auch auf dem Nachhauseweg von der Schule nicht. Der Schritt hinüber in die farbige Welt war nicht zu machen. Aber irgendwie konnte ich damit leben. An dem Tag, an dem die Schule endgültig zu Ende wäre, würde das Leben in Farbe beginnen.

»Ich denke, dass es vielleicht damit zusammenhängt. Spaß in der Schule zu haben erschien mir ebenso unmöglich wie Schnee im Sommer, wobei ich durchaus neidisch auf die Schulkameraden war, die offenbar sehr wohl ihren Spaß haben konnten«, sage ich. »Ich redete mir ein, die Freude am Leben würde schon noch kommen. Ich musste einfach auf bessere Zeiten warten.«

Um meine Gedanken zu ordnen, schaue ich hoch zu dem harten, weißen Licht der Neonröhre über mir. Ich spreche selten über derlei Dinge, aber jetzt und unter diesen Umständen, nach allem, was passiert ist, scheint es mir, als berichtete ich bloß etwas nach dem Hörensagen – wie bei einem Verhör oder einer Zeugenaussage. Das ist auch der einzige Grund, weshalb ich es ihr überhaupt erzähle. Es geht ausschließlich um das Erteilen einer Auskunft, denn ich vermag mir nicht vorzustellen, dass dieses Gespräch mir Linderung verschaffen könnte.

Ich erzähle, wie sich die Dinge veränderten, als ich zwölf, dreizehn Jahre alt war. Wie sich etwas in mir veränderte. Ich war depressiv geworden. Ich kannte das Wort zwar noch nicht, aber ich muss damals die ersten Symptome gehabt haben. Ich verlor nach und nach die Freude an alltäglichen Dingen, die mir bis dahin noch Spaß gemacht hatten, etwa zur Schule oder zu Geburtstagsfeiern zu gehen. Das alles war mir plötzlich zu viel und zu schwer. Es war, als würde ich in einem tiefen, dunklen Loch versinken. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, wollte ich manchmal einfach nur noch am oberen Ende der Treppe sitzen, die Beine angewinkelt, den Kopf auf den Knien, die ich mit beiden Armen umfasst hielt. Ich brauchte dann nicht einmal mehr die Augen zu schließen, denn alles um mich herum war ohnehin schon dunkel. Ich dachte auch manchmal an Selbstmord. Aber das ginge auch noch, wenn ich nach meinem Schulabschluss noch keine Lösung für meine Probleme gefunden hätte. Ich betrachtete das als einen beruhigenden Ausweg.