Tara Brach
Mit dem Herzen eines Buddha
Heilende Wege zu Selbstakzeptanz und Lebensfreude
Aus dem Amerikanischen von Susanne Kahn-Ackermann
Knaur e-books
Tara Brach ist eine der führenden westlichen Lehrerinnen in buddhistischer Meditation, emotionaler Heilung und spirituellem Erwachen. Sie praktiziert und lehrt Meditation seit über 35 Jahren mit dem Schwerpunkt Vipassana. Die klinische Psychologin ist Gründerin der Insight Meditation Community of Washington und Autorin von True Refuge .
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel
»Radical Acceptance: Embracing your life with the heart of a Buddha«
bei Bantam Books, New York.
© 2018 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
© 2003 Tara Brach
© 2005 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: FinePic®, München
ISBN 978-3-426-45225-7
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Engl.: The Beloved, hier mit »Die Geliebte« übersetzt. Dazu eine Anmerkung der Autorin: »Wenn ich von The Beloved spreche, beziehe ich mich auf die unermessliche grenzenlose Präsenz, das liebende Gewahrsein oder Bewusstsein, das die Quelle allen Seins ist. Dieses reine Gewahrsein ist nicht durch ein Geschlecht gekennzeichnet, wenngleich es durch Wesen oder Wesenheiten, denen ein Geschlecht zugeordnet wird (wie z. B. Kuan Yin), Ausdruck findet.«
Für meine Eltern,
die mit ihren großzügigen, liebevollen Herzen
mein Leben segneten.
Sie halten eine wunderbare Einladung in den Händen. Eine Einladung, sich darauf zu besinnen, dass Sie Ihr Leben mit dem weisen und zärtlichen Herzen eines Buddha leben können. Tara Brach bietet Ihnen in ihrem Buch Mit dem Herzen eines Buddha heilende Worte und ein transformatives Verständnis an, die Früchte ihres langjährigen Wirkens als geschätzte Meditationslehrerin und Psychotherapeutin. Weil sie sich der jeden Tag aufs Neue zu leistenden Arbeit verschrieben hat, mit tief empfundenem Mitgefühl und inniger Versöhnlichkeit die menschliche Würde wieder einzufordern und herzustellen, sind ihre Belehrungen unmittelbar und fassbarer Natur; sie bringen die Barrieren zum Schmelzen, die uns am vollkommenen Lebendigsein hindern.
In unserer von Stress und Konkurrenz geprägten Gesellschaft, die in so vielen von uns ein sehr geringes Selbstwertgefühl, die Selbstverurteilung und den Verlust des Heiligen herangezüchtet hat, sind die hier beschriebenen Prinzipien Radikaler Akzeptanz für ein freudvolles und befreites Leben unabdingbar. Dieses Buch weist uns mit seinen Geschichten und Berichten von Schülerinnen und Klienten, der Schilderung von Taras eigener, ganz persönlicher Reise und den systematisch aufgebauten Praxisübungen kluge Mittel und Wege, sich selbst innerlich zu nähren, Kummer und Leid zu transformieren und wieder zur Ganzheit zu gelangen. Und das Wichtigste: Mit dem Herzen eines Buddha erweckt in uns die Buddha-Natur, das grundlegende Glücklichsein und die Freiheit, die das Geburtsrecht eines jeden menschlichen Wesens ist. Lesen Sie diese Seiten mit Bedacht. Nehmen Sie sich die Worte und Übungen zu Herzen. Lassen Sie sich von ihnen führen und Ihren Pfad von ihnen segnen.
Jack Kornfield
Während meiner Collegezeit fuhr ich einmal mit einer älteren und klügeren Freundin von zweiundzwanzig Jahren übers Wochenende zum Wandern in die Berge. Nachdem wir unser Zelt aufgestellt hatten, saßen wir am Bach, schauten zu, wie das Wasser ums Felsgestein wirbelte, und sprachen über unser Leben. Irgendwann schilderte meine Freundin, wie sie gelernt hatte, »ihre eigene beste Freundin« zu sein. Da stürzte eine gewaltige Woge der Traurigkeit über mich herein, und ich brach schluchzend zusammen. Ich war extrem weit davon entfernt, meine eigene beste Freundin zu sein. Ständig wurde ich von einer inneren Richterin schikaniert, einer erbarmungslosen, unnachgiebigen, nörgelnden, mich permanent antreibenden, oft unsichtbaren, doch immer aktiven Richterin. Ich wusste, dass ich eine Freundin nie so behandeln würde, wie ich mit mir selbst umging, so ohne jede Gnade oder Freundlichkeit.
Ich war davon überzeugt, dass »mit mir irgendetwas Grundlegendes nicht stimmte«, und mühte mich ab, etwas unter Kontrolle zu halten und zu reparieren, was meinem Gefühl nach ein unzulängliches, mit Mängeln behaftetes Ich war. Ich trieb mich im Studium voran, war eine glühende politische Aktivistin und widmete mich einem sehr ausgefüllten Gesellschaftsleben. Den Schmerz floh ich (und erzeugte ihn umso mehr) durch Esssucht und unbedingtes Leistungsstreben. Meine Freizeitvergnügungen waren zuweilen durchaus gesund – Aufenthalte in der Natur mit Freunden –, beinhalteten aber auch eine gewisse zwanghafte Jagd nach Nervenkitzel durch weiche Drogen, Sex und andere Abenteuer. In den Augen der Welt funktionierte ich außerordentlich gut. Innerlich empfand ich Angst, fühlte ich mich getrieben und oft deprimiert. Ich lebte mit keinem Teil meines Daseins im Frieden.
Das Gefühl, nicht okay zu sein, verband sich mit einer tiefen Einsamkeit. In meinen frühen Teenagerjahren hatte ich manchmal die Vorstellung, in einer durchsichtigen Blase zu leben, die mich von den Leuten und dem Leben um mich herum getrennt hielt. Fühlte ich mich mit mir selbst und mit anderen wohl, wurde ihre Haut immer dünner, bis sie nur noch eine Art unsichtbare Gashülle war. War mir mit mir selbst unwohl, wurden ihre Wände so dick, dass ich meinte, die anderen müssten sie sehen können. Darin eingekerkert fühlte ich mich hohl und qualvoll allein. Als ich älter wurde, verblasste diese Vorstellung ein wenig, aber ich lebte ständig in der Angst, jemanden zu enttäuschen oder von irgendjemandem abgelehnt zu werden.
Bei meiner Freundin war das anders – zu ihr hatte ich genügend Vertrauen, um ihr gegenüber völlig offen sein zu können. Im Verlauf der nächsten zwei Tage, in denen wir auf hohen Bergkämmen dahinwanderten und uns mal unterhielten, mal schwiegen, begann mir allmählich klarzuwerden, dass hinter all meinen Stimmungsschwankungen, meiner Depression, meiner Einsamkeit und meinem Suchtverhalten das Gefühl einer tiefen, persönlichen Mangelhaftigkeit und Unzulänglichkeit lauerte. Ich bekam meinen ersten klaren Einblick in den Kern des Leidens, zu dem ich in meinem Leben immer und immer wieder vordringen sollte. Ich fühlte mich ausgeliefert und wund, wusste aber intuitiv, dass ich mich, wenn ich mich diesem Schmerz stellte, auf einen Weg der Heilung begab.
Als wir Sonntagabend von den Bergen zurückfuhren, war mir leichter ums Herz, aber es schmerzte noch immer. Ich sehnte mich danach, zu mir selbst freundlich sein zu können. Ich wünschte, mit meiner inneren Erfahrungswelt Freundschaft schließen und gegenüber den Menschen in meinem Leben mehr Nähe und Zwanglosigkeit empfinden zu können.
Als mich diese Sehnsüchte einige Jahre später zum buddhistischen Pfad hinzogen, fand ich dort die Lehren und Praxisübungen, die es mir möglich machten, mich meinen Gefühlen von Unwürdigkeit und Unsicherheit direkt zu stellen. Sie gaben mir ein Mittel an die Hand, das, was ich erlebte und durchmachte, klar zu sehen, und zeigten mir, wie ich mich in Mitgefühl auf mein Leben beziehen konnte. Auch halfen mir die Lehren des Buddha, mich von der schmerzlichen und irrigen Vorstellung zu verabschieden, dass ich in meinem Leiden allein, dass es ein ganz persönliches Problem und irgendwie meine Schuld sei.
Im Verlauf der letzten zwanzig Jahre habe ich als Psychologin und buddhistische Lehrerin mit Tausenden von männlichen und weiblichen Klienten und Schülern gearbeitet, die mir offenbarten, was für eine schmerzliche Bürde dieses Gefühl, nicht gut genug zu sein, für sie ist. Ob unsere Unterhaltung inmitten eines zehntägigen Meditationsretreats oder während einer regulären wöchentlichen Therapiesitzung stattfand: Das Leiden – die Angst, mit Mängeln behaftet und nichts wert zu sein – ist im Grunde immer das gleiche.
Bei vielen von uns lauern diese Gefühle von Unzulänglichkeit und Minderwertigkeit gleich um die Ecke. Es braucht nicht viel, um in uns das Gefühl auszulösen, nicht okay zu sein: Wir hören etwas über die Leistungen eines anderen, werden kritisiert, geraten in Streit, machen einen Fehler bei der Arbeit.
Wie eine Freundin es formulierte: »Das Gefühl, dass mit mir irgendetwas nicht stimmt, ist das unsichtbare und giftige Gas, das ich ständig atme.« Nehmen wir unser Leben durch diese Linse der persönlichen Unzulänglichkeit wahr, sind wir in dem gefangen, was ich die »Trance des geringen Selbstwertgefühls« nenne. Und sitzen wir in dieser Falle, sind wir unfähig, die ganze Wahrheit von dem zu erkennen, wer wir wirklich sind.
Eine Meditationsschülerin berichtete mir während eines Retreats von einer Erfahrung, die ihr die Tragödie eines Lebens in Trance klar zu Bewusstsein brachte. Marilyn hatte viele Stunden am Bett ihrer sterbenden Mutter gesessen – hatte ihr vorgelesen, hatte spät in der Nacht neben ihr meditiert, hatte ihre Hand gehalten und ihr immer und immer wieder gesagt, dass sie sie liebt. Ihre Mutter blieb die meiste Zeit über bewusstlos, atmete schwer und unregelmäßig. Dann öffnete sie eines Tages kurz vor der Morgendämmerung unvermittelt die Augen und sah ihre Tochter mit klarem, eindringlichem Blick an. »Weißt du«, flüsterte sie leise, »ich habe mein ganzes Leben lang gedacht, dass mit mir irgendetwas nicht stimmt.« Sie schüttelte fast unmerklich den Kopf, als wollte sie sagen: »Was für eine Vergeudung«, dann schloss sie die Augen und glitt wieder ins Koma. Einige Stunden später verschied sie.
Wir müssen nicht warten, bis wir auf dem Totenbett liegen, um uns klarzumachen, welche Vergeudung unseres kostbaren Lebens es bedeutet, wenn wir die Überzeugung mit uns herumschleppen, dass mit uns irgendetwas nicht stimmt. Aber weil die Gewohnheit unseres Unzulänglichkeitsgefühls so stark ist, erfordert das Erwachen aus dieser Trance nicht nur innere Entschlusskraft, sondern auch die aktive Schulung von Herz und Geist. Mit Hilfe buddhistischer Achtsamkeitsübungen befreien wir uns vom Leiden der Trance, indem wir erkennen lernen, was im gegenwärtigen Augenblick wahr ist, und mit offenem und liebevollem Herzen annehmen, was immer wir sehen. Dieses Kultivieren von Achtsamkeit und Mitgefühl nenne ich »Radikale Akzeptanz«.
Radikale Akzeptanz kehrt unsere Gewohnheit um, mit unvertrauten, erschreckenden oder intensiven Erfahrungen im Kriegszustand zu leben. Sie ist das Gegenmittel zu all den Jahren der Selbstvernachlässigung, der Selbstverurteilung und des harten Umgangs mit sich selbst, zu den Jahren, in denen wir die Erfahrung des Augenblicks abgelehnt und zurückgewiesen haben. Sie ist die Bereitschaft, sich selbst und das eigene Leben so wahrzunehmen und zu erfahren, wie es ist. Ein Augenblick Radikaler Akzeptanz ist ein Augenblick echter Freiheit.
Sri Nisargatta, ein indischer Meditationsmeister des 20. Jahrhunderts, ermuntert uns dazu, aus ganzem Herzen in diesen Pfad der Freiheit einzutreten: »… ich bitte euch nur um dies: Macht die Liebe zu eurem Selbst zu etwas Vollkommenem.« Was meine Schülerin Marilyn anging, so war sie durch die letzten Worte ihrer sterbenden Mutter für diese Möglichkeit erweckt worden. »Es war ihr Abschiedsgeschenk«, sagte sie. »Mir wurde klar, dass ich mein Leben nicht auf die gleiche Art verlieren muss. Aus Liebe – zu meiner Mutter, zum Leben – entschloss ich mich, mir selbst mit mehr Akzeptanz und Freundlichkeit verbunden zu sein.« Wir alle können die gleiche Wahl treffen.
Wenn wir Radikale Akzeptanz üben, fangen wir bei den Ängsten und Wunden unseres eigenen Lebens an und entdecken, dass unser mitfühlendes Herz unendlich weit wird. Indem wir uns in Mitgefühl selbst umarmen und halten, werden wir frei, diese lebendige Welt zu lieben. Das ist der Segen der Radikalen Akzeptanz: In dem Maße, wie wir uns vom Leiden befreien, »dass mit mir irgendetwas nicht stimmt«, vertrauen wir auf die ganze Fülle von dem, wer wir wirklich sind, und lassen sie zum Ausdruck kommen.
Ich bete darum, dass die in diesem Buch angebotenen Belehrungen uns auf unserem gemeinsamen Weg des Erwachens dienlich sein mögen. Mögen wir alle das reine Gewahrsein und die Liebe entdecken, die unsere tiefste Wesensnatur sind. Möge unser liebendes Gewahrsein alle Wesen allerorts in die Arme schließen und liebevoll annehmen.
1
Eines Nachts gehst du spazieren …
Dir wird plötzlich klar,
dass du am Entfliehen warst
und dass du schuldig bist:
Du hast die Anweisungen falsch verstanden,
du bist kein Mitglied, du hast deine Karte verloren oder nie eine gehabt …
Wendell Berry
Jahrelang hatte ich einen immer wiederkehrenden Traum, in dem ich mich vergeblich abmühe, irgendwohin zu gelangen: Manchmal renne ich einen Hügel hinauf, oder ich klettere über Felsbrocken oder schwimme gegen eine Strömung an. Oft steckt eine geliebte Person in Schwierigkeiten, oder es wird gleich etwas Schlimmes passieren. Mein Verstand rast, doch mein Körper fühlt sich schwer und erschöpft an; es ist, als wate ich in Sirup. Ich weiß, ich sollte imstande sein, das Problem zu lösen, aber ganz gleich, wie sehr ich mich bemühe, ich kann nicht dahin gelangen, wo ich hinmuss. Mutterseelenallein und voll Angst, zu versagen, bin ich in meinem Dilemma gefangen. Es existiert nichts anderes mehr auf der Welt.
Dieser Traum erfasst die Trance des geringen Selbstwertgefühls im Kern. Oft scheinen wir in unseren Träumen die Protagonisten eines vorgezeichneten Dramas zu sein, dazu verdammt, auf bestimmte Weise auf unsere Umstände zu reagieren. Es scheint uns nicht bewusst zu sein, dass es auch andere Wahlmöglichkeiten geben könnte. Wenn wir in der Trance und in unseren Geschichten und Ängsten über all die Möglichkeiten unseres Versagens und Scheiterns gefangen sind, befinden wir uns in einem ziemlich ähnlichen Zustand. Wir leben in einem Wachtraum, der die Erfahrungen unseres Lebens vollständig definiert und einschränkt. Der Rest der Welt bildet nur noch den Hintergrund, während wir uns abmühen, irgendwohin zu gelangen, ein besserer Mensch zu sein, etwas zu erreichen, Fehler zu vermeiden. Wie im Traum halten wir unsere Geschichten für die Wahrheit – eine zwingende Realität –, und sie beanspruchen den Großteil unserer Aufmerksamkeit. Unsere Gedanken drehen sich ständig um unsere Sorgen und Pläne, beim Mittagessen, auf der Heimfahrt nach der Arbeit, beim Gespräch mit unseren Partnern oder wenn wir den Kindern vor dem Einschlafen etwas vorlesen. Dieser Trance wohnt die Überzeugung inne, dass wir unser Ziel, ganz gleich, wie sehr wir uns anstrengen, immer irgendwie nicht erreichen werden.
Dieses geringe Selbstwert- oder Minderwertigkeitsgefühl geht mit dem Empfinden einher, von anderen getrennt, vom Leben abgetrennt zu sein. Wie sollen wir denn dazugehören können, wenn wir mit Makeln und Fehlern behaftet sind? Es ist ein Teufelskreis: Je unzulänglicher wir uns vorkommen, desto isolierter und verletzlicher fühlen wir uns. Hinter unserer Angst, nicht zu genügen, lauert eine urtümlichere Angst, dass mit dem Leben etwas nicht in Ordnung ist, dass etwas Schlimmes passieren wird. Auf diese Angst reagieren wir mit Schuldzuweisungen, sogar mit Hass, gegenüber dem, was wir als Quelle des Problems erachten: wir selbst, andere, das Leben an sich. Aber tief im Innern fühlen wir uns nach wie vor verletzlich, auch wenn wir unsere Aversionen nach außen richten.
Unsere Minderwertigkeits- und Entfremdungsgefühle lassen die verschiedensten Formen von Leiden entstehen, deren augenfälligste die Sucht ist. Dabei kann es sich um Alkohol, Essen oder Drogen handeln; andere haben eine Beziehungssucht, fühlen sich von einer bestimmten Person oder bestimmten Leuten abhängig, um sich als ganz empfinden und das Leben lebenswert finden zu können. Manche versuchen, sich durch lange, aufreibende Arbeitsstunden wichtig zu fühlen – eine Sucht, die in unserer Gesellschaft oft Beifall findet. Manche schaffen sich äußere Feinde und befinden sich im permanenten Kriegszustand mit der Welt. Der Glaube, dass wir unzulänglich und nichts wert sind, macht uns das Vertrauen darauf, wirklich geliebt zu werden, schwer. Viele von uns leben mit einer unterschwelligen Depression oder ohne jede Hoffnung, sich anderen Menschen jemals nahe fühlen zu können. Wir haben Angst, abgelehnt zu werden, wenn die anderen merken, wie langweilig oder dumm, egoistisch oder unsicher wir sind. Wenn wir nicht attraktiv genug sind, werden wir vielleicht nie auf intime, romantische Weise geliebt werden. Wir sehnen uns danach, dazuzugehören, möchten uns bei uns selbst und anderen daheim, unbeschwert und vollkommen akzeptiert fühlen. Aber die Trance des geringen Selbstwertgefühls hält das süße Erleben des Zugehörigkeitsgefühls außer Reichweite.
Und die Trance intensiviert sich, wenn unser Leben schmerzlich wird und außer Kontrolle geraten zu sein scheint. Wir glauben vielleicht, dass unsere physische Krankheit oder Depression unsere eigene Schuld ist – die Folge unserer schlechten Gene oder unseres Mangels an Disziplin oder Willenskraft. Wir meinen vielleicht, dass der Verlust unseres Arbeitsplatzes oder eine schmerzliche Scheidung unseren persönlichen Makel widerspiegelt. Wären wir nur besser gewesen, wären wir nur irgendwie anders gewesen, dann wären die Dinge nicht schiefgegangen. Es mag zwar sein, dass wir die Schuld jemand anderem anlasten, aber im Stillen sprechen wir uns doch schuldig dafür, überhaupt in diese Situation geraten zu sein.
Und auch wenn es nicht um uns selbst geht, sondern eine uns nahestehende Person – der Partner, die Partnerin oder ein Kind – leidet oder Schmerzen hat, nehmen wir das als weiteren Beweis für unsere Unzulänglichkeit. Beim dreizehnjährigen Sohn einer meiner psychotherapeutischen Klientinnen wurde ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom diagnostiziert. Sie hat alles in ihrer Macht Stehende getan, ihm zu helfen – Ärzte, Ernährung, Akupunktur, Medikamente, Liebe. Doch er leidet noch immer unter schulischen Rückschlägen und fühlt sich gesellschaftlich isoliert. Er ist davon überzeugt, ein »Verlierer« zu sein, und schlägt oft aus lauter Schmerz und Frustration um sich. All ihrer liebevollen Bemühungen und Anstrengungen ungeachtet quält sie das Gefühl, dass sie ihren Sohn im Stich lässt und mehr tun sollte.
Die Trance des geringen Selbstwertgefühls zeigt sich nicht immer so offenkundig als Empfinden von Scham und Unzulänglichkeit. Als ich einer guten Freundin berichtete, dass ich über das geringe Selbstwertgefühl und seine allgemeine Verbreitung schreibe, reagierte sie mit dem Einwand: »Mein Hauptproblem sind nicht die Schamgefühle, sondern es ist der Stolz.« Sie, eine erfolgreiche Schriftstellerin und Lehrerin, erzählte mir, wie leicht sie sich im Überlegenheitsgefühl anderen gegenüber verfängt. Sie findet viele Leute geistig etwas lahm und langweilig. Und weil so viele Menschen sie bewundern, reitet sie oft auf den Wogen des Gefühls, etwas Besonderes und wichtig zu sein. »Es ist mir peinlich, es zuzugeben«, sagte sie, »und vielleicht passt hier das Schamgefühl hinein. Aber ich mag es, wenn die Leute zu mir aufsehen … dann fühle ich mich gut und wohl mit mir selbst.« Hier agiert sie die andere Seite der Trance aus. Dann gab sie zu, in Dürrezeiten, wenn sie sich nicht produktiv oder nützlich oder bewundert fühlt, in Minderwertigkeitsgefühle abzusacken. Statt einfach ihre Talente anzuerkennen und ihre Stärken zu genießen, braucht sie die Bestätigung des Gefühls, etwas Besonderes oder anderen überlegen zu sein.
Davon überzeugt, nie gut genug zu sein, können wir uns nie entspannen. Immer sind wir auf der Hut und überprüfen uns auf Schwächen und Mängel. Wenn wir sie dann unvermeidlich entdecken, fühlen wir uns noch unsicherer und minderwertiger. Wir müssen uns noch mehr anstrengen. Und die Ironie bei allem ist … wo glauben wir denn überhaupt hinzugehen? Ein Meditationsschüler berichtete mir, dass er das Gefühl habe, ständig unter Dampf zu stehen, getrieben vom Gefühl, noch mehr tun zu müssen. Und mit Wehmut in der Stimme setzte er hinzu: »Ich streife über das Leben hinweg und rase auf die Ziellinie zu – den Tod.« Wenn ich in meinem Meditationsunterricht über das Leiden des geringen Selbstwertgefühls spreche, sehe ich Schülerinnen und Schüler häufig mit dem Kopf nicken, und manchen kommen die Tränen. Vielleicht wird ihnen zum ersten Mal klar, dass ihre Schamgefühle nicht ihre eigene, ganz persönliche Bürde sind, sondern dass viele Menschen diese Empfindungen haben. Hinterher bleiben einige noch da, um zu reden. Sie gestehen, dass ihr mangelndes Selbstwertgefühl es ihnen unmöglich macht, um Hilfe zu bitten oder sich von der Liebe eines anderen Menschen umfangen und gehalten zu fühlen. Manche erkennen, dass ihre Minderwertigkeits- und Unsicherheitsgefühle sie daran hindern, ihre Träume zu verwirklichen. Oft erzählen mir Schüler, dass ihr chronisches Minderwertigkeitsgefühl sie fortwährend daran zweifeln lässt, dass sie richtig meditieren und sich auf spiritueller Ebene weiterentwickeln.
Eine ganze Reihe von ihnen berichtete mir, zu Beginn ihres spirituellen Pfades angenommen zu haben, dass ihre Unzulänglichkeitsgefühle durch eine hingebungsvolle Meditationspraxis transzendiert werden würden. Doch sie mussten feststellen, dass ihnen die Meditation zwar auf wichtige Art und Weise geholfen hat, aber die tiefen Nester des Scham- und Unsicherheitsgefühls überdauern hartnäckig – manchmal trotz jahrzehntelanger Praxis. Mag sein, dass sie einen Meditationsstil kultiviert haben, der für ihr persönliches emotionales Naturell nicht gut geeignet ist. Vielleicht brauchen sie auch zusätzliche psychotherapeutische Hilfe, um tiefe Wunden aufdecken und heilen zu können. Wie auch immer, wenn es uns nicht gelingt, uns durch die spirituelle Praxis von diesem Leiden zu befreien, kann das in uns grundsätzliche Zweifel daran aufkommen lassen, dass wir jemals wirklich glücklich und frei sein können.
In den Kommentaren meiner Schüler und Schülerinnen höre ich den Widerhall meiner eigenen Geschichte. Nach meinem Collegeabschluss zog ich in einen Ashram, eine spirituelle Gemeinschaft, und gab mich voller Enthusiasmus fast zwölf Jahre lang dieser Lebensweise hin. Ich hatte das Gefühl, einen Weg gefunden zu haben, durch den ich mich reinigen und läutern und die Unvollkommenheiten meines Egos – das Ich und seine Strategien – transzendieren konnte. Wir mussten jeden Tag um halb vier Uhr morgens aufstehen, uns kalt duschen und anschließend von vier bis sechs Uhr dreißig eine Sadhana (spirituelle Yoga-Übung), Meditation, Rezitation und Gebet praktizieren. Wenn dann Frühstückszeit war, hatte ich oft das Gefühl, in einem lichten, liebevollen, seligen Zustand zu schweben. Ich war eins mit einem liebenden Bewusstsein, das ich Die Geliebte nenne und als meine eigene tiefste Essenz erfahre. Ich fühlte mich weder schlecht noch gut im Hinblick auf mich, ich fühlte mich einfach gut.
Nach dem Frühstück und im Verlauf des Tages schlichen sich allmählich wieder meine gewohnheitsmäßigen Gedanken und Verhaltensweisen ein. Wie schon im College fühlte ich mich unsicher und selbstsüchtig, und meine Gefühle sagten mir, dass ich es nicht schaffte. Wenn ich keine Zeit für noch mehr Yoga und Meditation finden konnte, empfand ich mich oft wieder als mein altvertrautes kleinmütiges Ich, das nicht okay war. Dann ging ich zu Bett, wachte auf und fing wieder von vorne an.
Während ich echten inneren Frieden und ein weit offenes Herz spürte, fuhr meine innere Kritikerin fort, mein Reinheitslevel einzuschätzen. Ich misstraute mir selbst dafür, dass ich so tat, als sei ich positiv gestimmt, während ich mich im Grunde einsam oder verängstigt fühlte. Ich liebte die Yoga- und Meditationspraktiken, schämte mich aber für mein Bedürfnis, andere mit der Stärke meiner Praxis zu beeindrucken. Ich wollte, dass andere mich als tief Meditierende und hingebungsvolle Yogini ansahen, als eine Person, die mit Achtsamkeit, Fürsorge und Großzügigkeit ihrer Welt diente. Unterdessen verurteilte ich andere Menschen für ihre nachlässige Disziplin und mich selbst dafür, dass ich über andere Urteile fällte. Auch inmitten der Gemeinschaft fühlte ich mich oft einsam und allein.
Nach meiner Vorstellung würde es, wenn ich mich wirklich anstrengte, acht bis zehn Jahre dauern, bis ich mich von meiner ganzen Selbstanhaftung gelöst haben und frei und weise sein würde. In regelmäßigen Abständen konsultierte ich von mir bewunderte Lehrer und Lehrerinnen verschiedener anderer Traditionen: »Wie komme ich voran? Was kann ich noch tun?« Sie antworteten stets: »Entspann dich einfach.« Ich war mir nicht ganz sicher, was genau sie damit meinten, dachte aber auf keinen Fall, es könnte tatsächlich »entspann dich einfach« bedeuten. Wie konnten sie es wohl meinen? Ich war noch nicht »da«.
Der tibetisch-buddhistische Lehrer Chögyam Trungpa schrieb: »Das Problem ist, dass das Ego alles für seine eigenen Zwecke umfunktionieren kann, auch die Spiritualität.« Ich hatte all mein Bedürfnis, bewundert zu werden, all meine Unsicherheiten, nicht gut genug zu sein, all meine Neigungen, über meine innere und äußere Welt zu urteilen und zu richten, in meinen spirituellen Weg eingebracht. Dieses Spielfeld war größer als das meiner früheren Bestrebungen, aber das Spiel war noch immer das gleiche: Das Streben und Ringen darum, ein anderer und besserer Mensch zu sein.
Rückblickend überrascht es nicht, dass meine Selbstzweifel unbeschadet in mein spirituelles Leben getragen wurden. Wer vom Gefühl, nicht gut genug zu sein, geplagt ist, wird oft von idealistischen Weltanschauungen angezogen, die die Möglichkeit der Läuterung und Transzendierung einer mit Mängeln und Fehlern behafteten Wesensnatur anbieten. Diese Suche nach Vollkommenheit gründet sich auf der Annahme, dass wir uns ändern müssen, um dazuzugehören. So mögen wir sehnsuchtsvoll der Botschaft lauschen, dass Ganzheit und Gutsein schon immer unsere Essenz waren, fühlen uns aber immer noch wie Außenseiter, wie uneingeladene Gäste an der Festtafel des Lebens.
Vor ein paar Jahren lud eine kleine Gruppe buddhistischer Lehrer und Psychologen, die aus den Vereinigten Staaten und Europa zusammengekommen waren, den Dalai Lama zur Teilnahme an einem Gespräch über Gefühle und Gesundheit ein. Bei einer der Sitzungen bat ihn ein amerikanischer Vipassana-Lehrer, etwas über das Leiden des Selbsthasses zu sagen. Auf dem Gesicht des Dalai Lama zeigte sich Verwunderung. »Was ist Selbsthass?«, fragte er. Und der Ausdruck der Verblüffung verstärkte sich noch, als die anwesenden Therapeuten und Lehrer es ihm zu erklären versuchten. »Ist dieser Geisteszustand ein Nervenleiden?«, fragte er. Als ihm die Versammelten versicherten, dass es sich hier keineswegs um ein ungewöhnliches, sondern ein bei ihren Schülern und Klienten ziemlich verbreitetes Phänomen handelte, war der Dalai Lama überrascht. Wie war es möglich, so über sich zu denken und zu fühlen, fragte er, wo doch »jedermann eine Buddha-Natur hat«.
Während alle Menschen sich ihrer Schwächen schämen und Angst vor Ablehnung haben, ist doch unsere westliche Gesellschaft eine Brutstätte für eine Art von Scham und Selbsthass, die der Dalai Lama nicht verstehen konnte. Da so viele von uns ohne das nährende Gefühl von Familie und Zusammenhalt, von Nachbarschaft, Gemeinschaft oder »Stamm« aufwuchsen, überrascht es nicht, wenn wir uns wie Außenseiter fühlen, auf uns allein gestellt und abgeschnitten. Wir lernen schon früh im Leben, dass jedwede Zugehörigkeit und Angliederung – zur Familie und zum Freundeskreis, in der Schule oder am Arbeitsplatz – es erfordern, dass wir uns ihrer würdig erweisen. Wir stehen unter dem Druck, miteinander zu konkurrieren, voranzukommen und uns als intelligent, attraktiv, fähig, machtvoll, reich hervorzutun. Irgendeiner zählt immer den Punktestand.
Nachdem sie ihr Leben lang mit Armen und Kranken gearbeitet hatte, äußerte Mutter Teresa die überraschende Erkenntnis: »Heutzutage ist die am weitesten verbreitete Krankheit nicht Lepra oder Tuberkulose, sondern das Gefühl, nicht dazuzugehören.« In unserer Gesellschaft hat diese Krankheit epidemische Ausmaße angenommen. Wir sehnen uns danach, dazuzugehören, und haben das Gefühl, es nicht zu verdienen.
Für eine solche kulturelle Weltsicht stellt der Buddhismus eine fundamentale Herausforderung dar. Der Buddha lehrte, dass die menschliche Geburt ein kostbares Geschenk ist, weil sie uns die Gelegenheit zur Verwirklichung von Liebe, Gewahrsein und Bewusstheit gibt, die unsere wahre Natur sind. Wir alle haben eine Buddha-Natur, wie der Dalai Lama so bewegend darlegte. Das spirituelle Erwachen ist der Prozess, der uns zur Erkenntnis unseres essenziellen Gutseins, unserer natürlichen Weisheit und unseres natürlichen Mitgefühls gelangen lässt.
Dieses Vertrauen auf den uns innewohnenden Wert steht im krassen Gegensatz zum Leitmythos unserer Kultur: die Geschichte von Adams und Evas Vertreibung aus dem Paradies. Wir vergessen vielleicht die Kraft dieser Geschichte, weil sie uns schon so abgenutzt und bekannt vorkommt, aber sie formt und reflektiert die Psyche des Westens auf tiefer Ebene. Die Botschaft der »Erbsünde« ist unmissverständlich: Wegen unserer grundlegend fehlerhaften und schwachen Natur verdienen wir es nicht, glücklich zu sein, von anderen geliebt zu werden und mit dem Leben locker zurechtzukommen. Wir sind Ausgestoßene, und wenn wir das Paradies wieder betreten wollen, müssen wir unser sündiges Ich erlösen. Wir müssen unsere Fehler und Schwächen überwinden, indem wir unseren Körper, unsere Gefühle, unsere Umwelt und andere Menschen beherrschen und unter Kontrolle halten. Und wir müssen – arbeitend, erwerbend, konsumierend, Ziele erreichend, e-mailend, mehr als hundertprozentige Leistung bringend und hastend – uns unermüdlich anstrengen im Bemühen, uns ein für alle Mal zu beweisen.
Jack Kornfield und Christina Feldman erzählen in ihrem Buch Geschichten, die der Seele gut tun folgende Geschichte: Eine Familie ging zum Abendessen in ein Restaurant. Als die Kellnerin an den Tisch trat, gaben die Eltern ihre Bestellung auf. Sogleich meldete die fünfjährige Tochter mit piepsiger Stimme ihre eigenen Wünsche an: »Ich nehme einen Hotdog, Pommes frites und eine Cola.« – »O nein, das tust du nicht«, ging der Vater dazwischen und sagte an die Kellnerin gewandt: »Sie bekommt Hackbraten, Kartoffelbrei und Milch.« Die Kellnerin sah mit einem Lächeln das Kind an und fragte: »Also Schätzchen, was soll auf dem Hotdog drauf sein?« Nachdem sie wieder gegangen war, saß die Familie einen Moment verdutzt und schweigend da. Dann sagte das kleine Mädchen mit leuchtenden Augen: »Sie glaubt, ich bin echt.«
Meine Mutter war bei mir zu Besuch und mitgekommen, als ich diese Geschichte in meiner allwöchentlichen Meditationsgruppe in Washington, D. C., erzählte. Später auf der Heimfahrt sagte sie den Tränen nahe: »Das kleine Mädchen im Restaurant – das war ich.« Sie hatte sich unter dem Blick ihrer Eltern nie echt, nie wirklich existent gefühlt, berichtete sie. Sie war ein Einzelkind und hatte das Gefühl, der Zweck ihres Daseins auf diesem Planeten sei allein der, die Person zu sein, die sie nach dem Wunsch ihrer Eltern sein sollte. Ihr Wert bemaß sich einzig daran, wie gut sie ihre Eltern repräsentierte, ob sie auf sie stolz sein konnten oder nicht. Sie war das Objekt ihrer Eltern, das diese handhaben und kontrollieren, vorzeigen und zurechtweisen konnten. Ihre eigenen Ansichten und Gefühle spielten keine Rolle, weil sie sie nicht als »eigenständige Person« ansahen. Ihre Identität beruhte darauf, dass sie tat, was andere wollten, und auf der Angst, nicht gemocht zu werden, wenn sie es nicht tat. So, wie sie sich erlebte, war sie keine wirkliche, keine echte Person, die Respekt verdiente und liebenswert war ohne zusätzliches Brimborium und Bemühung darum.
Die meisten Klientinnen und Klienten, die mich aufsuchen, sind sich sehr bewusst, welche Eigenschaften eine ideale Mutter oder ein idealer Vater haben sollte. Sie wissen, dass wirklich präsente und liebevolle Eltern ihrem Kind ein Spiegel für sein eigenes Gutsein sind. Durch dieses klare Spiegeln entwickelt das Kind schon früh im Leben ein Gefühl von Sicherheit, Grundvertrauen und die Fähigkeit, im Umgang mit anderen Spontaneität zu entfalten und Nähe zuzulassen. Wenn meine Klientinnen und Klienten ihre Wunden untersuchen, erkennen sie, wie sie als Kinder nicht die Liebe und das Verständnis erhielten, wonach sie sich sehnten. Und sie können auch sehen, auf welche Art sie in der Beziehung zu ihren eigenen Kindern dem Elternideal nicht entsprechen – wenn sie unaufmerksam, wertend, wütend und egozentrisch sind.
Auch unsere unvollkommenen Eltern hatten unvollkommene Eltern. Ängste, Unsicherheiten und Wünsche werden über Generationen weitergegeben. Eltern wollen erleben, dass ihre Nachkommen es auf eine Weise schaffen, die ihnen selbst wichtig ist. Oder sie wollen, dass ihre Kinder etwas Besonderes sind, was in unserer Wettbewerbsgesellschaft heißt, intelligenter, fähiger und attraktiver als andere Leute zu sein. Sie sehen ihre Kinder durch den Filter der Angst (sie kommen vielleicht auf kein gutes College und werden nicht erfolgreich) und durch den Filter des Wunsches (werden sie uns gut dastehen lassen?).
Als Botschafter unserer Gesellschaftskultur übermitteln Eltern ihren Kindern oft, dass Wut und Angst etwas Schlechtes sind, dass ihre natürliche Art, ihren Bedürfnissen und Frustrationen Ausdruck zu geben, unakzeptabel ist. In Fällen von Misshandlung und Missbrauch lautet die Botschaft: »Du bist schlecht, du bist im Weg, du bist nichts wert.« Aber auch in weniger extremen Situationen lernen die meisten von uns, dass unsere Wünsche, Ängste und Ansichten nicht viel Gewicht haben und dass wir anders und besser sein müssen, wenn wir dazugehören wollen. Jeff, einer meiner Schüler, erzählte mir bei einem Meditationsretreat von einer Erinnerung, die bei seiner letzten Sitzung plötzlich in ihm aufgestiegen war. Als er ungefähr sieben Jahre alt war, tat er sich beim Spielen mit seinem älteren Bruder weh. Weinend rannte er zu seiner Mutter, die in der Küche beschäftigt war. Er trippelte hinter ihr her und drängte sie, seinen Bruder zurechtzuweisen. Plötzlich blieb sie stehen, drehte sich um, die Hände in die Hüften gestemmt, und sah ihn ausgesprochen verärgert und verächtlich an. Jeff konnte sich nicht mehr erinnern, was sie konkret sagte, aber ihr Gesichtsausdruck hatte ihm zu verstehen gegeben: »Sei nicht so bedürftig!«
Erst viele Jahre später begriff Jeff, dass man seiner Mutter, die in einer großen, chaotischen Familie aufgewachsen war, beigebracht hatte, dass Kinder sich selbst zur Wehr setzen müssen. Wenn Jeff jammerte oder klammerte, ärgerte sie sich über seine »Schwäche«. Als er erwachsen wurde, hatte unsere Gesellschaft, die so viel Wert auf Eigenständigkeit und Unabhängigkeit legt – und diese Eigenschaften gerade bei Männern für besonders wichtig hält –, diese Botschaft noch verstärkt. Und obwohl er das alles verstand, hatte Jeff auch als Erwachsener nach wie vor das Gefühl, dass ihn die Tatsache, dass er Bedürfnisse hatte, zu einem unattraktiven, unerwünschten, ja sogar schlechten Menschen machte. Wie bei so vielen von uns erweckte schon jedes Gefühl von Bedürfnis in ihm Scham. Er zuckte schon zusammen, wenn er das Wort bedürftig nur hörte.
Indem sie uns beibringen, dass mit uns irgendetwas Grundlegendes nicht stimmt, transportieren unsere Eltern und unsere Gesellschaftskultur die in der Geschichte von Adam und Eva enthaltene Botschaft immer weiter. Und durch das Verinnerlichen dieser Auffassung von unserer Wesensnatur verfangen wir uns in der Trance des geringen Selbstwertgefühls. Wir können Jahre und Jahrzehnte unseres Lebens auf den Versuch verwenden, zu sein, wer wir dem Wunsch unserer Eltern nach sein sollen, können versuchen, gut genug zu sein, um wieder ins Paradies eintreten zu können.
Wir tun alles uns Mögliche, um den brutalen Schmerz des Gefühls, nichts wert und unwürdig zu sein, zu vermeiden. Jedes Mal, wenn unsere Mängel und Schwächen – vor uns selbst oder anderen – bloßgelegt werden, reagieren wir wie Adam und Eva nach dem Sündenfall und versuchen ängstlich, unsere Nacktheit, unsere Blöße zu bedecken. Im Lauf der Jahre entwickeln wir spezielle Strategien, die unsere Fehler und Schwächen verdecken und das kompensieren sollen, was unserer Überzeugung nach mit uns nicht in Ordnung ist.
Wir lassen uns auf ein Selbstverbesserungsprojekt nach dem anderen ein. Wir bemühen uns, den von den Medien bestimmten Normen eines perfekten Körpers und Aussehens gerecht zu werden, indem wir alles Graue mit Farbe übertünchen, uns liften lassen, ständig auf Diät sind. Wir treiben uns an, um am Arbeitsplatz in eine bessere Position zu gelangen. Wir machen Fitnesstraining, belegen Weiterbildungsseminare, meditieren, stellen Listen auf, übernehmen freiwillig Arbeiten, nehmen an Workshops teil. Jede dieser Aktivitäten kann auf gesunde Art und Weise unternommen werden, doch nur allzu oft betreiben wir sie mit dem ängstlichen Unterton von »nicht gut genug«. Statt uns zu entspannen und uns an unserem Sein und Tun zu erfreuen, vergleichen wir uns mit einem Ideal und versuchen, den Unterschied auszugleichen.
Wir halten uns zurück und gehen auf Nummer sicher, statt einen Fehlschlag zu riskieren. Mein Sohn Narayan machte mit etwa zehn eine Phase durch, in der er nur äußerst widerwillig neue Dinge ausprobierte. Er wollte in allem sofort gut sein, und wenn er merkte, dass irgendetwas Übung erforderte, war er eingeschüchtert. Ich versuchte mit ihm darüber zu reden, dass die wundervollsten Bereiche des Lebens immer ein gewisses Risiko beinhalten und Fehler unvermeidlich sind. Meine Vorschläge, seinen Horizont durch Tennisstunden oder einen Konzertbesuch zu erweitern, stießen stets auf Widerstand. Auf einen meiner vergeblichen Versuche, ihn dazu zu bringen, sich auf etwas Neues einzulassen, reagierte Narayan mit einem Zitat Homers (gemeint ist Homer Simpson): »Der Versuch ist der erste Schritt zum Scheitern.«
Auf Nummer sicher zu gehen erfordert das Vermeiden riskanter Situationen – was so ziemlich alles im Leben abdeckt. Das kann heißen, dass wir bei der Arbeit keine Führung oder Verantwortung übernehmen, keine Beziehung von wirklicher Nähe und Intimität mit anderen riskieren, uns zurücknehmen und unserer Kreativität keinen Ausdruck verleihen, nicht sagen, was wir wirklich meinen, uns nie spielerisch oder zärtlich oder liebebedürftig zeigen.
Wir ziehen uns vom Erfahren und Erleben des gegenwärtigen Moments zurück. Wir streben weg vom nackten Gefühl der Angst und Scham, indem wir uns unaufhörlich Geschichten über das Geschehen in unserem Leben erzählen. Bestimmte Schlüsselthemen sind ständig präsent: Was wir tun müssen, was nicht funktioniert hat, welche Probleme auf uns warten könnten, wie andere uns sehen, wie andere unsere Bedürfnisse erfüllen (oder nicht erfüllen), wie andere sich einmischen oder uns im Stich lassen. Es gibt einen alten Witz über eine jüdische Mutter, die ihrem Sohn ein Telegramm schickt: »Fang schon an, dir Sorgen zu machen, Einzelheiten folgen.« Da wir in einem frei schwebenden Besorgniszustand leben, brauchen wir noch nicht einmal ein Problem, um einen ganzen Schwall an Katastrophenszenarien in Gang zu setzen. Das Leben in der Zukunft schafft die Illusion, dass wir unser Dasein im Griff haben und gegen persönliche Fehlschläge gewappnet sind.
Wir halten uns beschäftigt.