Ray Bradbury
S is for Space
Meisterhafte Storys
Aus dem Amerikanischen von Oliver Plaschka
Knaur e-books
Ray Bradbury wurde 1920 in Waukegan im US-Bundesstaat Illinois als Sohn eines Amerikaners und einer Schwedin geboren. Aus einer Verlagsfamilie stammend, begann er bereits in seiner Kindheit mit dem Schreiben. Nach dem Umzug der Familie nach Los Angeles trat Ray Bradbury 1937 der „Los Angeles Science Fiction League" sowie dem „Los Angeles Poetry Club" bei, noch ehe er im darauffolgenden Jahr seinen Schulabschluss erreichte. Noch im Laufe seines Abschlussjahres veröffentlichte Ray Bradbury in der Zeitschrift „Imagination!" seine erste Kurzgeschichte und arbeitete daraufhin als freischaffender Schriftsteller. Der Durchbruch gelang ihm 1948 mit seinem Romandebüt „Die Mars-Chroniken". Es folgten weitere Romane, u.a. im Jahr 1953 sein berühmtestes Werk „Fahrenheit 451". Unter verschiedenen Pseudonymen war Ray Bradbury auch an verschiedenen Serien- und Spielfilmproduktionen beteiligt, wie z.B. als Drehbuchautor von "Moby Dick" oder "Twilight Zone". Im Laufe seines Lebens wurde Ray Bradbury mit unzähligen Preisen geehrt, u.a. erhielt er acht Mal den Locus-Award, zwei Mal den O’Henry Memorial Award sowie den Benjamin Franklin Award und den begehrten Grand Master Award from the Science Fiction Writers of America. Für sein filmisches Schaffen erhielt er neben einer Oscar-Nominierung zwei Mal einen Emmy sowie einen Stern auf dem Hollywood Walk Of Fame. Im Jahr 2007 wurde er im Rahmen der Pulitzer-Preis-Verleihung für sein Lebenswerk geehrt. 2012 verstarb Bradbury in Los Angeles.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 1966 unter dem Titel »S is for Space« bei Doubleday & Company, New York.
© 2017 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
© 1966 Ray Bradbury
© 2017 Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
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Redaktion: Hanka Jobke
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ISBN 978-3-426-44286-9
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Für Charles Beaumont,
der die meiste Zeit meines Lebens
in dem kleinen Haus
die Straße hinauf wohnte.
Und für Bill Nolan
und Bill Idelson, Freund von Rush Gook,
und für Paul Condylis …
Weil …
Jules Verne war mein Vater.
H. G. Wells war mein weiser Onkel.
Edgar Allan Poe war der schwarz geflügelte Cousin, den wir im hintersten Winkel des Dachbodens versteckten.
Flash Gordon und Buck Rogers waren meine Brüder und Freunde.
So viel zu meiner Abstammung.
Bliebe noch zu erwähnen, dass Mary Wollstonecraft Shelley, Autorin von Frankenstein, aller Wahrscheinlichkeit nach meine Mutter war.
Was hätte aus mir mit einer Familie wie dieser auch anderes werden können als das, was ich bin: ein Verfasser von Fantasy- und sonderbaren Science-Fiction-Geschichten.
Gemeinsam mit meinem Helden Edgar Rice Burroughs verbrachte ich ein Gutteil meines Lebens bei Tarzan oben auf den Bäumen. Als ich mich mit zwölf aus dem Laubwerk herabschwang, wünschte ich mir eine Spielzeugschreibmaschine zu Weihnachten. Auf dieser klapprigen Kiste schrieb ich meine ersten ausgedachten Fortsetzungen zu John Carter, Der Kriegsherr des Mars und brachte aus dem Gedächtnis komplette Episoden von Chandu, der Magier zu Papier.
Ich sandte Sammelmarken ein und trat jedem geheimen Amateurfunkklub bei, den es gab. Ich hortete Comicstrips, von denen die meisten noch immer in großen Kartons in meinem Keller in Kalifornien lagern. Ich besuchte Kinomatineen. Ich verschlang die Werke von H. Rider Haggard und Robert Louis Stevenson. Inmitten meiner jungen Sommer sprang ich hoch und tauchte tief in den weiten Ozean des Alls ein, lange, lange bevor das Weltraumzeitalter mehr als ein Stück Fliegendreck auf dem 200-Zoll-Teleskop des Palomar-Observatoriums war.
Mit anderen Worten, ich liebte alles, was ich tat. Mein Herz schlug nicht bloß dafür, es explodierte. Es erwärmte sich nicht für ein Thema, es kochte über. Bei einer Reihe großartiger und magischer Dinge, ohne die ich einfach nicht leben konnte, war ich immer schnell auf den Beinen und mit dem Mund.
Ich war ein bartloser Zaubererjunge, der bange Kaninchen aus Pappmaschee-Hüten zog. Ich wurde ein bärtiger Zauberermann, der Raketen aus seiner Schreibmaschine und einer Sternenwildnis zog, die sich so weit erstreckte, wie das Auge sah und die Vorstellungskraft reichte.
Mein Enthusiasmus kam mir über die Jahre stets zugute, und ich wurde der Raketen und der Sterne niemals überdrüssig. Und ich verliere nie den Spaß daran, mir selbst eine Heidenangst mit meinen seltsameren, dunkleren Erzählungen einzujagen.
In dieser neuen Sammlung von Kurzgeschichten wird sich daher nicht nur zeigen, dass A für das All steht. Eine Reihe von Untertiteln könnte ebenso gut lauten: D für das Dunkle, F für die Furcht oder W für das Wunder. Sie werden hier so ziemlich jede Seite meiner Natur und meines Lebens finden, die Sie entdecken möchten: meine Gabe, lauthals über die bloße Erkenntnis zu lachen, dass ich in einer so merkwürdigen, wilden, erfrischenden Welt lebe; meine ebenso große Freude an einer ordentlichen Gänsehaut, wenn ich um Mitternacht rieche, wie sonderbare Pilze in meinem Keller wachsen, oder wenn eine Spinne kurz vor Morgengrauen in meinem Schrank an ihrem Gobelin bastelt.
Sie, der Sie lesen, und ich, der ich schreibe, sind uns sehr ähnlich. Der in mir weggesperrte Junge hat sich vorgewagt, um diese Geschichten zu Ihrem Vergnügen zu schreiben. Wir treten einander im Grenzland eines grenzenlosen Zeitalters gegenüber und teilen unsere Geschenke des Lichts und des Dunkels, guter und schlechter Träume, leichter Freude und nicht ganz so leichter Trauer.
Der Zaubererjunge spricht aus einem anderen Jahr. Ich trete beiseite und lasse ihn sagen, was er unbedingt loswerden will, und lausche ihm mit Vergnügen.
Sie hoffentlich ebenso.
RAY BRADBURY
Los Angeles, Kalifornien
1. Dezember 1965
Ach, welch ein Spaß ihnen bevorstand! Was für ein Spiel! So gefreut hatten sich die Kinder seit Jahren nicht mehr. Wie von Katapulten geschossen, purzelten sie über den grünen Rasen, johlten und lachten, hielten sich an den Händen, flogen im Kreis und erklommen die Bäume. Über ihnen zogen Schiffe über den Himmel, und auf der Straße huschten glänzende Autos vorüber, doch die Kinder ließen sich nicht stören. Sie bebten vor Entzücken und schrien aus ganzem Herzen. Solch ein Glück, solch ein Taumel!
Bedeckt von Schmutz und Schweiß, lief Mink ins Haus. Für ihre sieben Jahre war sie laut und stark und selbstbestimmt. Ihre Mutter, Mrs Morris, bekam zunächst kaum mit, wie Mink Schubladen aufriss und Pfannen und klapperndes Werkzeug in einen großen Sack warf.
»Lieber Himmel, Mink, was ist denn los?«
»Das spannendste Spiel aller Zeiten!«, brachte Mink mit rotem Kopf hervor.
»Jetzt hol doch erst mal Luft«, sagte ihre Mutter.
»Mir geht’s gut«, keuchte Mink. »Ist’s okay, wenn ich die Sachen mitnehme, Mom?«
»Mach sie aber nicht kaputt«, mahnte Mrs Morris.
»Danke, danke!«, rief Mink, und bumm!, schoss sie wieder los wie eine Rakete.
Mrs Morris’ Augen folgten dem Kind. »Wie heißt denn das Spiel?«
»Invasion!«, rief Mink noch, dann schlug die Tür zu.
Vor jedem Haus der Straße trugen Kinder Messer, Gabeln, Schürhaken, alte Ofenrohre und Dosenöffner zusammen.
Interessanterweise hatte diese hektische Betriebsamkeit nur die jüngeren Kinder gepackt. Die größeren, die schon zehn oder älter waren, rümpften die Nase darüber und stolzierten verächtlich davon, gingen auf Erkundungstour oder spielten würdevollere Versionen von Verstecken.
Währenddessen fuhren die Eltern in ihren chromschimmernden Autos herbei und davon. Handwerker kamen, einen Vakuumaufzug oder Fernseher zu reparieren oder auf störrische Nahrungsverteiler einzuhämmern. Die Zivilisation der Erwachsenen zog ohne Unterlass an ihrem geschäftigen Nachwuchs vorbei, neidete den wilden Kleinen ihre unerschöpfliche Energie oder amüsierte sich rücksichtsvoll über ihre Auswüchse, sehnte sich danach, dazuzugehören.
»Das und das und das«, wies Mink die anderen Kinder mit ihren Löffeln und Schraubenschlüsseln an. »Mach du das und bring das da drüben her. Nein! Hierher, du Dummkopf! Genau. Jetzt geh aus dem Weg und lass mich mal machen.« Zunge zwischen den Zähnen, Stirn konzentriert in Falten gelegt. »Genau so. Seht ihr?«
»Hurraaa!«, riefen die Kinder.
Da kam der zwölf Jahre alte Joseph Connors angerannt.
»Geh weg«, sagte Mink ihm geradewegs ins Gesicht.
»Ich will mitspielen«, sagte Joseph.
»Geht nicht«, sagte Mink.
»Wieso nicht?«
»Du würdest dich nur über uns lustig machen.«
»Mach ich nicht, ehrlich!«
»Doch. Wir kennen dich. Geh weg, oder es gibt Tritte.«
Ein anderer Zwölfjähriger glitt auf seinen elektrischen Rollschuhen heran. »Hey, Joe! Komm, lass die Babys spielen!«
Joseph zögerte und zeigte eine gewisse Wehmut. »Ich will aber mitspielen.«
»Du bist zu alt«, sagte Mink entschieden.
»So alt nun auch wieder nicht«, versuchte es Joseph.
»Du würdest bloß lachen und die Invasion verderben.«
Der Junge auf den elektrischen Rollschuhen schnalzte verächtlich. »Komm schon, Joe! Die und ihre Feen! Die sind doch dumm!«
Joseph zog langsam davon. Den ganzen Weg die Straße hinab blickte er immer wieder zurück.
Mink war schon wieder damit beschäftigt, aus der zusammengetragenen Ausrüstung eine Art Apparat zu bauen. Ein anderes kleines Mädchen mit einem Stift und einem Block machte auf ihre Anweisung hin mühevoll krakelige Notizen. Stimmen erhoben und senkten sich im warmen Sonnenschein.
Die Stadt ringsum summte vor Leben. Die Straßen waren von gepflegten Gärten und idyllischen Bäumen gesäumt. Einzig der Wind brachte Unruhe über die Stadt, das Land, den Kontinent. Bäume, Kinder und breite Straßen wie diese fanden sich in tausend Städten, und dort wie hier sprachen Geschäftsleute in leisen Büros ihre Nachrichten auf Band, und Leute saßen vor den Televisoren, und Raumschiffe fuhren wie Stopfnadeln durch den blauen Himmel. Es herrschte der weltumspannende, sorglose Hochmut friedensverwöhnter Menschen, die davon ausgingen, dass es niemals mehr auch nur den kleinsten Ärger gab. Überall auf der Welt standen die Menschen Arm in Arm, und alle Nationen wachten in wechselseitigem Vertrauen über dieselben makellosen Waffen. Man hatte ein unvergleichlich schönes Kräftegleichgewicht erreicht. Weder gab es Verräter noch Unglückliche oder Unzufriedene, von daher stand die Welt auf stabilem Fundament. Die Sonne beschien den halben Globus, und die Bäume schlummerten in einer Flut warmer Luft.
Minks Mutter sah aus dem Fenster im Obergeschoss.
Kinder, dachte sie und schüttelte den Kopf. Nun, sie bekamen gut zu essen, genug Schlaf und würden Montag wieder in der Schule sitzen, ihren starken kleinen Körpern sei Dank. Sie spitzte die Ohren.
Mink redete mit ernster Stimme mit jemandem am Rosenstock – bloß dass dort niemand war.
Merkwürdig, diese Kinder. Und das kleine Mädchen, wie hieß es doch gleich? Anna? Anna machte sich Notizen auf einem Block. Erst stellte Mink dem Rosenstock eine Frage, dann diktierte sie Anna die Antwort.
»Triangel«, sagte Mink.
»Was ist ein Tri…« Anna hatte Schwierigkeiten mit dem Wort. »… Angel?«
»Nicht so wichtig«, sagte Mink.
»Wie schreibt sich das?«, fragte Anna.
»T-r-i«, buchstabierte Mink langsam. »Ach, buchstabier es doch selbst!«, fuhr sie das Mädchen dann an.
»Strahl«, sagte sie danach.
»Ich hab die Tri–«, sagte Anna, »–angel noch nicht!«
»Dann beeil dich eben!«
Minks Mutter beugte sich aus dem Fenster. »A-n-g-e-l«, buchstabierte sie für Anna.
»Oh, danke, Mrs Morris!«, rief Anna.
»Gern geschehen!« Lachend zog sich Minks Mutter zurück, um den Flur mit einem elektrischen Abstaubmagneten zu putzen.
Die Stimmen tanzten auf der schimmernden Luft.
»Strahl«, sagte Anna, nun weiter entfernt.
»Vier-neun-sieben-A-und-B-und-X«, sagte Mink konzentriert in der Ferne. »Und eine Gabel, eine Schnur, und zwar … Hex-hex-Agonie … hexagonal!«
Zum Mittagessen stürzte Mink die Milch in einem Zug hinunter und stürmte zur Tür. Ihre Mutter schlug auf den Tisch.
»Du setzt dich augenblicklich wieder hin!«, befahl Mrs Morris. »In einer Minute gibt es heiße Suppe.« Sie drückte einen roten Knopf auf dem Küchendiener, und zehn Sekunden später fiel etwas mit dumpfem Klang in das gummierte Fach. Mrs Morris öffnete es und entnahm ihm eine Dose mit zwei Aluminiumgriffen. Im Handumdrehen hatte sie die Dose geöffnet und goss die heiße Suppe in eine Schüssel.
Während all der Zeit zappelte Mink auf ihrem Stuhl herum. »Schneller, Mom! Es geht um Leben und Tod! Ohh …«
»Ich war in deinem Alter genauso. Immer Leben und Tod, ich weiß schon.«
Hastig löffelte Mink ihre Suppe.
»Mach langsam«, mahnte ihre Mutter.
»Geht nicht«, sagte Mink. »Drill wartet auf mich.«
»Wer ist denn Drill? Ist ja ein komischer Name.«
»Du kennst ihn nicht.«
»Ein neuer Junge in der Nachbarschaft?«
»Neu ist er, stimmt.« Mink begann mit ihrer zweiten Schüssel.
»Wo genau wohnt er denn?«
»Ganz in der Nähe«, wich Mink aus. »Du willst dich nur lustig machen. So wie alle. Mist, heiß …«
»Ist Drill etwa schüchtern?«
»Ja. Nein. Irgendwie schon. Ach Mom, wenn wir die Invasion wollen, muss ich los!«
»Wer will denn eine Invasion und wo?«
»Die Marsianer, auf der Erde. Na ja, eigentlich sind es keine richtigen Marsianer. Sie kommen … ich weiß auch nicht. Von da oben.« Sie deutete mit ihrem Löffel zur Decke.
»Und von da drinnen«, sagte Minks Mutter und berührte ihre Tochter an der heißen Stirn.
Mink setzte sich zur Wehr. »Du lachst, dabei würdest du Drill und alle umbringen!«
»Tut mir leid. Drill ist also ein Marsianer?«
»Nein. Er kommt – na ja – vielleicht vom Jupiter oder Saturn oder von der Venus. Auf jeden Fall hatte er es schwer.«
»Kann ich mir vorstellen.« Mrs Morris verbarg den Mund hinter ihrer Hand.
»Sie wussten erst gar nicht, wie sie die Erde angreifen sollen.«
»Wir sind eben unbezwingbar«, erklärte Minks Mutter in gespieltem Ernst.
»Das ist genau das Wort, das Drill benutzt hat! Unbez… das war das Wort, Mom.«
»Ich muss schon sagen, dieser Drill ist ja ein schlaues Kerlchen, wenn er solche Wörter gebraucht.«
»Sie wussten jedenfalls nicht, wie sie die Erde angreifen sollen. Drill sagt … er sagt, wenn man eine gute Schlacht schlagen will, muss man was Neues versuchen. Damit die Leute überrascht sind. Auf die Art gewinnt man. Und er sagt, man braucht auch Hilfe von seinen Feinden.«
»Eine Fünfte Kolonne«, sagte Minks Mutter.
»Ja, genau. Das hat Drill auch gesagt. Und sie kamen erst nicht drauf, wie sie uns überraschen oder Hilfe von uns kriegen sollen.«
»Kein Wunder. Wir sind ganz schön stark.« Lachend räumte Mrs Morris das Geschirr ab.
Mink saß da und starrte den Tisch an, doch vor ihren Augen lief das ab, wovon sie gerade erzählte.
»Bis sie eines Tages auf die Idee kamen«, flüsterte sie melodramatisch. »Kinder!«
»Na, wenn das keine gute Idee ist!«, rief Mrs Morris fröhlich.
»Weil Erwachsene ja ständig so beschäftigt sind, dass sie nie unter Rosenstöcken oder im Rasen nachschauen!«
»Nur, wenn wir nach Schnecken oder Pilzen suchen.«
»Und dann war da noch irgendwas mit Dim… Dims.«
»Dim-Dims?«
»Dimens…johnen.«
»Dimensionen?«
»Vier davon! Und was mit Kindern unter neun und ihrer Fantasie. Es macht echt Spaß, Drill zuzuhören.«
Mrs Morris wurde allmählich schläfrig. »Das muss ja alles einen Riesenspaß machen. Also, lass Drill nicht länger warten. Der Tag ist bald rum, und wenn du deine Invasion vor dem Abendbad haben willst, springst du besser los.«
»Muss ich wirklich ein Bad nehmen?«, brummte Mink.
»Ja, musst du. Wieso bloß hassen alle Kinder das Wasser? Egal zu welcher Zeit, Kinder haben Wasser hinter den Ohren immer gehasst.«
»Drill sagt, ich brauche nicht mehr zu baden.«
»Ach, sagt er das?«
»Das hat er allen Kindern gesagt. Keine Bäder mehr. Und wir dürfen bis zehn Uhr abends aufbleiben und samstags zwei Televisor-Shows sehen statt nur einer!«
»Nun, vielleicht überlegt sich Herr Drill noch mal, was er da erzählt, sobald ich mit seiner Mutter geredet habe …«
Mink ging zur Tür. »Pete Britz, Dale Jerrick und ein paar andere stören uns dauernd. Die sind schon zu groß und lachen uns aus. Die sind noch schlimmer als Eltern. Sie glauben einfach nicht an Drill und sind total eingebildet, weil sie so erwachsen sind. Dabei sollten sie’s besser wissen, vor ein paar Jahren waren sie selbst noch klein. Die hasse ich am allermeisten! Die bringen wir als Erstes um.«
»Und deinen Vater und mich dann zum Schluss?«
»Drill sagt, dass ihr gefährlich seid. Weißt du, warum? Weil ihr nicht an Marsianer glaubt! Sie werden uns die Welt regieren lassen. Na ja, nicht bloß uns, sondern auch die Kinder aus der Straße gegenüber. Vielleicht werde ich Königin.« Sie machte die Tür auf. »Mom?«
»Ja?«
»Was genau ist eigentlich Loh…gick?«
»Logik? Also, Liebes, Logik sagt einem, was echt ist und was nicht.«
»Richtig, das hat er erwähnt. Und im…press…jonabel?« Das Wort bereitete ihr Mühe.
»Also das …« Ihre Mutter senkte den Blick und schmunzelte. »Das heißt, dass man ein Kind ist, Liebes.«
»Danke fürs Essen!« Mink rannte hinaus, dann streckte sie noch einmal den Kopf durch die Tür. »Mom, sie tun dir bestimmt nicht sehr schlimm weh, wirklich!«
»Na, danke«, sagte ihre Mutter.
Bamm!, schlug die Tür zu.
Gegen vier summte das Bildtelefon. Mrs Morris nahm den Anruf entgegen.
»Hallo, Helen!«, begrüßte sie ihre Freundin.
»Hallo, Mary. Wie läuft es in New York?«
»Gut so weit. Und in Scranton? Du wirkst müde.«
»Du aber auch. Die Kinder! Bin total fertig.«
Mrs Morris seufzte. »Meine Mink ist genauso. Die Superinvasion.«
Helen lachte. »Deine Kinder spielen das auch?«
»Gott, ja. Morgen ist es analytisches Astragaloi, oder sie motorisieren Himmel und Hölle. Waren wir als Kinder auch so anstrengend?«
»Viel schlimmer. Räuber und Gendarm. Keine Ahnung, wie meine Eltern es mit mir ausgehalten haben. Ich war der reinste Wildfang.«
»Eltern lernen, wegzuhören.«
Schweigen in der Leitung.
Mrs Morris hatte die Augen halb geschlossen; langsam, gedankenvoll befeuchtete sie ihre Lippe.
»Was stimmt denn nicht, Mary?«, fragte Helen.
»Hm?« Mrs Morris zuckte zusammen. »Ach, nichts. Hab nur kurz darüber nachgedacht, dass man weghört, nicht mehr zuhört und so weiter. Ganz egal. Wo waren wir?«
»Mein Tim ist ganz vernarrt in so einen Kerl namens … Drill heißt er, glaube ich.«
»Muss so eine Art Losung sein. Mink ist auch ganz verrückt nach ihm.«
»Wusste nicht, dass dieses Spiel sich schon bis New York rumgesprochen hat. Ich sag dir, das sieht hier aus wie eine Altmetallsammlung! Josephine sagt, dass ihre Kinder – in Boston – auch Feuer und Flamme dafür sind. Es breitet sich im ganzen Land aus.«
In diesem Moment trabte Mink in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen.
Mrs Morris drehte sich um. »Wie geht’s voran?«
»Fast fertig!«, sagte Mink.
»Prima«, sagte Mrs Morris. »Was hast du denn da?«
»Ein Jo-Jo«, sagte Mink. »Guck!«
Sie ließ das Jo-Jo an seiner Schnur abrollen. Es erreichte das Ende und …
Das Jo-Jo verschwand.
»Hast du gesehen?«, rief Mink. »Und hopp!« Mit einem Ruck ihres Fingers ließ sie das Jo-Jo wieder erscheinen und die Schnur hinaufklettern.
»Mach das noch mal«, bat ihre Mutter.
»Kann nicht. Um fünf ist Stunde null! Tschüss!« Mink lief hinaus und spielte mit ihrem Jo-Jo.
Auf dem Bildschirm lachte Helen. »Mein Tim hat heute früh auch so ein Jo-Jo gehabt, und als ich neugierig wurde, wollte er es mir erst nicht zeigen. Aber als ich es dann schließlich selbst versuchte, hat es nicht geklappt.«
»Du bist eben nicht impressionabel«, sagte Mrs Morris.
»Was?«
»Vergiss es. Fiel mir nur gerade ein. Kann ich dir sonst noch helfen, Helen?«
»Ich wollte dieses Marmorkuchenrezept von dir …«
Die Stunden vergingen schläfrig, und der Tag neigte sich dem Ende zu. Am friedlich blauen Himmel senkte sich die Sonne, die Schatten auf dem grünen Rasen wurden länger, das Gelächter und die Vorfreude hielten an. Ein Mädchen aber rannte weinend davon.
Mrs Morris trat zur Vordertür hinaus. »Mink, war das da eben Peggy Ann, die so weinte?«
Mink saß geduckt in der Nähe des Rosenstocks. »Ja. Sie ist ein Angsthase. Wir lassen sie jetzt nicht mehr mitspielen. Sie wird zu alt dafür. Muss wohl plötzlich erwachsen geworden sein.«
»Hat sie deshalb geweint? Das ist doch Unfug. Gib mir eine klare Antwort, junge Dame, sonst geht’s wieder rein mit dir!«
Mit einem Ausdruck der Bestürzung und des Ärgers fuhr Mink herum. »Ich kann jetzt nicht rein! Es ist fast so weit! Ich bin auch ganz brav, tut mir leid.«
»Hast du Peggy Ann geschlagen?«
»Nein, ehrlich nicht. Frag sie ruhig! Es war was mit … sie hat einfach die Hosen voll.«
Der Kreis der Kinder zog sich enger um Mink zusammen, die sich wieder konzentriert ihrem Werk widmete. Dieses schien vor allem aus Löffeln und einem quadratischen Konstrukt aus Hämmern und Rohren zu bestehen.
»Da und da«, murmelte sie.
»Was ist denn los?«, fragte Mrs Morris.
»Drill steckt fest. Auf halbem Weg. Sobald wir ihn ganz durchgekriegt haben, wird es leichter. Dann können alle anderen hinterher.«
»Kann ich irgendwie behilflich sein?«
»Nein danke. Ich reparier das schon.«
»Na gut. In einer halben Stunde ruf ich dich zum Baden. Ich hab keine Lust, ständig ein Auge auf euch zu haben.«
Mrs Morris ging wieder hinein, ließ sich in den elektrischen Liegesessel sinken und nippte an einem halb leeren Glas Bier, während der Sessel ihr den Rücken massierte. Kinder, Kinder. Kinder und Liebe und Hass, Hand in Hand. Manchmal liebten einen die Kleinen, manchmal hassten sie einen – und beides innerhalb einer Sekunde. Es war schon komisch mit ihnen. Ob sie all die Strafen und die strengen Worte je vergaßen? Ob sie einem je die vielen Verbote verziehen? Sie war sich nicht sicher. Konnte man überhaupt jemals denen verzeihen, die größer und mächtiger waren als man selbst? Diesen dummen, hochgewachsenen Diktatoren?
Die Zeit verging. Eine eigenartige, erwartungsvolle Stille legte sich über die Straße und sank immer tiefer.
Fünf Uhr. Irgendwo im Haus sang eine Uhr mit sanfter Stimme ihre leise Melodie: »Fünf Uhr – fünf Uhr. Die Zeit verfliegt. Fünf Uhr.« Dann verebbte sie. Stille.
Stunde null.
Mrs Morris gluckste. Stunde null!
Ein Wagen bog surrend in die Auffahrt ein. Mr Morris. Mrs Morris lächelte. Mr Morris stieg aus, schloss ab und rief Mink ein Hallo zu. Mink, wohl noch bei der Arbeit, ignorierte ihn. Lachend schaute er den Kindern eine Weile zu, dann nahm er die Stufen zum Eingang hinauf.
»Hallo, Liebling.«
»Hallo, Henry.«
Sie beugte sich im Sessel vor und lauschte. Die Kinder waren so leise. Zu leise.
Er klopfte seine Pfeife aus und stopfte sich eine neue. »Toller Tag. Macht einen richtig froh, am Leben zu sein.«
Ein Summen erklang.
»Was war das denn?«, fragte Henry.
»Ich weiß es nicht.« Mit einem Ruck stand sie auf, die Augen schreckgeweitet. Sie wollte etwas sagen, überlegte es sich aber anders. Lächerlich, ihre Nerven spielten ihr einen Streich. »Die Kinder haben doch nichts Gefährliches da draußen, oder?«, fragte sie.
»Nur ein paar Rohre und Hämmer. Wieso?«
»Nichts Elektrisches?«
»Nein, wirklich nicht«, sagte Henry. »Ich hab’s doch gesehen.«
Sie ging in die Küche. Das Summen hielt an. »Wie auch immer, sag ihnen lieber, sie sollen damit aufhören. Es ist schon nach fünf. Sag ihnen …« Ihre Augen verengten sich. »Sag ihnen, sie sollen ihre Invasion auf morgen verschieben.« Sie lachte nervös.
Das Summen wurde lauter.
»Was treiben die da nur? Ich gehe wohl besser mal nachsehen.«
Eine Explosion!
Ein dumpfer Laut erschütterte das Haus, und sofort ertönten aus anderen Gärten der Nachbarschaft weitere Explosionen.
Unwillkürlich schrie Mrs Morris auf. »Nach oben!«, rief sie erschrocken, ohne Sinn und Verstand. Vielleicht sah sie etwas aus den Augenwinkeln; vielleicht roch sie einen neuen Geruch oder hörte ein neues Geräusch. Sie hatte keine Zeit, mit Henry zu diskutieren und ihn zu überzeugen. Sollte er ruhig glauben, dass sie verrückt war. Ja, verrückt! Mit einem spitzen Schrei lief sie nach oben. Er rannte ihr nach, wollte wissen, was eigentlich los sei. »Auf dem Speicher!«, rief sie. »Von da kommt es!« Es war eine schwache Ausrede, um ihn rechtzeitig auf den Dachboden zu kriegen. Oh Gott – bitte noch rechtzeitig!
Draußen ertönte eine weitere Explosion. Die Kinder stießen Freudenschreie wie bei einem großen Feuerwerk aus.
»Es kommt nicht vom Dachboden!«, rief Henry. »Es ist da draußen!«
»Nein, nein!« Keuchend, außer Atem, machte sie sich an der Tür zum Speicher zu schaffen. »Ich zeige es dir. Schnell! Ich zeige es dir!«
Sie taumelten auf den Dachboden. Sie schlug die Tür hinter ihnen zu, drehte den Schlüssel, zog ihn ab und warf ihn in eine entlegene, vollgestellte Ecke.
Dabei redete sie wie wild. Es sprudelte nur so aus ihrem Mund. All die unterschwelligen Bedenken und Ängste, die sich den Nachmittag über heimlich angestaut und wie ein Wein in ihr gegoren hatten. All die kleinen Enthüllungen und Wissenshäppchen, die sie den ganzen Tag lang gequält hatten und die sie nach allen Regeln der Logik, der Sorgfalt und Vernunft verworfen hatte. Dies alles platzte nun in ihr und aus ihr heraus.
»Alles wird gut«, schluchzte sie, an den Türrahmen gestützt. »Für den Moment sind wir sicher. Vielleicht können wir uns heute Nacht hinausschleichen. Vielleicht können wir noch fliehen!«
Nun fuhr Henry gleichfalls aus der Haut, jedoch aus anderen Gründen. »Bist du verrückt geworden? Wieso hast du den Schlüssel weggeworfen? Verdammt noch mal!«
»Ja, klar, ich bin verrückt, wenn dir das hilft, aber bleib hier bei mir!«
»Ich weiß ja gar nicht, wie ich hier wieder rauskommen soll!«
»Leise! Sonst hören sie uns! Oh Gott, früher oder später werden sie uns finden …«
Von unten hörten sie Minks Stimme. Ihr Ehemann verstummte. Dann erklang ein großes, allgegenwärtiges Summen und Knistern, Schreien und Kichern. Im Erdgeschoss rief ohne Unterlass das Bildtelefon, bedrohlich, furchterregend in seiner Beharrlichkeit. Ob das Helen ist?, fragte sich Mrs Morris. Und ob sie aus dem Grund anruft, den ich befürchte?
Schritte betraten das Haus. Schwere Schritte.
»Wer kommt da einfach in mein Haus?«, brauste Henry auf. »Wer trampelt da unten herum?«
Schwere Füße. Zwanzig, dreißig, vierzig, fünfzig verschiedene. Fünfzig Personen, die sich in ihr Haus drängten. Das Summen. Das Kichern von Kindern.
»Hier entlang!«, rief Mink im Flur.
»Wer ist da unten?«, brüllte Henry. »Ich will wissen, wer da ist!«
»Leise, oh neinneinneinneinnein!«, bat seine Frau tonlos und hielt sich an ihm fest. »Bitte sei still! Vielleicht gehen sie ja wieder weg.«
»Mom?«, rief Mink. »Dad?«
Stille.
»Wo steckt ihr?«
Schwere Schritte, schwere, schwere, sehr schwere Schritte kamen die Treppe hoch. Geführt von Mink.
»Mom?« Ein Zögern. »Dad?«
Warten, Stille.
Summen. Schritte, die sich der Dachbodentür näherten. Minks zuerst.
Sie zitterten gemeinsam in der Stille des Speichers, Mrs und Mr Morris. Obgleich er den Grund dafür nicht kannte, machten das elektrische Summen, das merkwürdig kalte Licht, das plötzlich unter der Tür durchfiel, der fremdartige Geruch und zu guter Letzt der nie gehörte, erwartungsvolle Klang in Minks Stimme auch Henry Morris zu schaffen. Schaudernd stand er in der dunklen Ruhe, seine Frau an seiner Seite.
»Mom! Dad!«
Schritte. Ein leises Summen. Das Türschloss zerschmolz. Die Tür ging auf. Herein spähte Mink, große blaue Schatten hinter ihr.
»Kuckuck!«, sagte Mink.
Captain Hart stand in der Schleuse des Schiffes. »Wieso kommt denn niemand?«, fragte er.
»Keine Ahnung«, erwiderte Martin, sein Lieutenant. »Woher sollte ich das wissen, Captain?«
»Was ist das überhaupt für ein Ort?« Der Captain zündete sich eine Zigarre an und schnippte das Streichholz in die schimmernde Wiese. Das Gras begann zu brennen.
Martin wollte das Feuer mit dem Stiefel austreten.
»Nein«, befahl Captain Hart. »Lassen Sie’s brennen. Vielleicht kommt dann ja jemand nachschauen, was hier los ist. Diese ignoranten Narren!«
Martin zuckte mit den Schultern und zog seinen Schuh von den sich ausbreitenden Flammen zurück.
Captain Hart warf einen kritischen Blick auf seine Uhr. »Vor einer Stunde sind wir hier gelandet. Und ist das Begrüßungskomitee mit einer Blaskapelle ausgerückt, um uns die Hand zu schütteln? Von wegen! Da fliegen wir Millionen von Meilen durch das All, und die feinen Herrschaften in dieser dummen Stadt auf ihrem unbekannten Planeten ignorieren uns einfach!« Er schnaubte und tippte auf seine Uhr. »Ich gebe ihnen noch fünf Minuten, dann …«
»Dann was?«, fragte Martin so höflich wie möglich, während die Wangen des Captains bebten.
»Fliegen wir noch mal über ihre verdammte Stadt und flößen ihnen verdammt noch eins etwas Respekt ein!« Er senkte die Stimmte. »Martin, meinen Sie, man hat uns vielleicht gar nicht landen sehen?«
»Doch, das hat man. Die Leute haben nach oben geschaut, als wir über sie hinweggeflogen sind.«
»Wieso kommen sie dann nicht angerannt? Verstecken sie sich vor uns? Sind sie feige?«
Martin schüttelte den Kopf. »Nein. Nehmen Sie das Fernglas, Sir. Überzeugen Sie sich selbst: Die Straßen sind voller Leute. Die haben keine Angst. Wir scheinen ihnen … na ja, einfach egal zu sein.«
Captain Hart setzte das Fernglas vor seine müden Augen. Martin hatte Zeit, die Falten und Furchen der Verärgerung, der Müdigkeit und Nervosität in seinem Gesicht zu studieren. Hart wirkte eine Million Jahre alt; er schlief nie, er aß nur wenig und trieb sich selbst erbarmungslos an. Unter dem Fernglas bewegte sich sein Mund, gealtert, trostlos, aber scharf.
»Ernsthaft, Martin, ich weiß nicht, weshalb wir uns diese Mühe geben. Wir bauen Raumschiffe, wir nehmen diese endlosen Flüge auf uns und suchen nach ihnen, und das ist der Dank. Man ignoriert uns! Schau sich einer diese Idioten an, wie sie da rumspazieren. Kapieren die denn nicht, wie wichtig das hier ist? Die ersten Besucher von den Sternen, die einen Fuß in ihre Provinz setzen. Wie oft kommt das schon vor? Sind sie derart blasiert?«
Martin hatte keine Antwort auf die Fragen.
Captain Hart reichte ihm erschöpft das Fernglas zurück. »Wieso machen wir das, Martin? Das mit den Raumflügen, meine ich. Immer unterwegs. Immer auf der Suche. Immer unter Strom, niemals Ruhe.«
»Vielleicht suchen wir ja nach etwas Frieden. Auf der Erde gibt es den sicher nicht«, sagte Martin.
»Nein, da haben Sie recht«, sagte Captain Hart nachdenklich. Das Feuer erlosch langsam. »Nicht mehr seit den Tagen Darwins, was? Nicht mehr, seit alles, woran wir glaubten, über Bord ging, richtig? Göttliche Vorsehung und all das. Dann meinen Sie also, dass wir vielleicht deswegen zu den Sternen fliegen, Martin? Um nach unseren verlorenen Seelen zu suchen? Ist es das? Wollen wir von unserem finsteren Planeten zu einem besseren entkommen?«
»Vielleicht, Sir. Ganz bestimmt sind wir auf der Suche nach etwas.«
Captain Hart räusperte sich und nahm wieder seine strenge Haltung an. »Im Moment suchen wir nach dem Bürgermeister dieser Stadt da drüben. Also laufen Sie rüber, und sagen Sie denen, wer wir sind: die erste Raumexpedition zu Planet dreiundvierzig in Sternensystem drei. Captain Hart entbietet seine Grüße und wünscht ein Treffen mit dem Bürgermeister. Im Laufschritt!«
»Jawohl, Sir.« Martin spazierte gemächlich über die Wiese.
»Beeilung!«, rief der Captain ungeduldig.
»Jawohl, Sir!« Martin trabte davon. Dann, mit einem Lächeln, verlangsamte er seine Schritte wieder.
Der Captain hatte zwei Zigarren geraucht, bis sein Lieutenant zurückkam.
Vor dem Schiff blieb Martin stehen und schaute zur Schleuse auf. Er schwankte und war offensichtlich nicht in der Lage, seinen Blick auf irgendetwas zu fokussieren.
»Und?«, fuhr Hart ihn an. »Was ist passiert? Kommen die jetzt Guten Tag sagen?«
»Nein.« Martin musste sich benommen an der Schiffswand abstützen.
»Und wieso nicht?«
»Ist nicht wichtig«, sagte Martin. »Geben Sie mir bitte eine Zigarette, Captain.« Er griff blindlings nach der hingehaltenen Schachtel, die Augen blinzelnd auf die goldene Stadt gerichtet. Dann zündete er sich eine Zigarette an und rauchte eine Weile schweigend.
»Jetzt sagen Sie doch was!«, rief der Captain. »Interessieren die Leute sich denn gar nicht für unser Schiff?«
»Was? Ach, das Schiff?« Martin betrachtete die Zigarette zwischen seinen Fingern. »Nein, das interessiert sie nicht. Scheint, als sind wir zu einem ungünstigen Zeitpunkt gekommen.«
»Einem ungünstigen Zeitpunkt!«
»Captain«, sagte Martin geduldig. »Bitte hören Sie zu. Gestern ist etwas sehr Wichtiges in dieser Stadt passiert. Es ist so groß, so bedeutsam, dass wir leider nur die zweite Geige spielen. Ich muss mich setzen.« Er verlor das Gleichgewicht und ließ sich keuchend zu Boden sacken.
»Was war denn?«, fragte der Captain wütend und kaute auf seiner Zigarre.
Martin hob den Kopf. Der Rauch der Zigarette wurde vom Wind aus seinen Fingern geweht. »Sir, gestern ist in dieser Stadt ein bemerkenswerter Mann erschienen – gütig, verständnisvoll, mitfühlend, und unendlich weise!«
Der Captain schaute seinen Lieutenant finster an. »Und was hat das mit uns zu tun?«
»Das ist schwer zu erklären. Aber er war jemand, auf den diese Leute sehr lange gewartet haben – eine Million Jahre vielleicht. Und gestern ist er in ihre Stadt gekommen. Deshalb, Sir, bedeutet ihnen die Landung unseres Schiffes heute nichts.«
Der Captain setzte sich schwerfällig neben ihn. »Wer war der Kerl? Doch nicht etwa Ashley? Ist er uns mit seinem Schiff zuvorgekommen und hat mich um meinen Ruhm gebracht?« Er ergriff Martins Arm. Bestürzung stand in seinem blassen Gesicht.
»Nicht Ashley, Sir.«
»Dann war es Burton! Ich wusste es. Burton hat sich vorgedrängelt und uns die Landung vermasselt! Man kann heute wirklich niemandem mehr trauen.«
»Es war auch nicht Burton«, sagte Martin leise.
Der Captain schaute ungläubig drein. »Es gab aber nur drei Schiffe, und wir hatten einen Vorsprung. Dieser Mann, der vor uns hier ankam – wie lautet sein Name?«
»Er hat keinen Namen. Den braucht er auch nicht. Man würde ihn auf jedem Planeten anders nennen, Sir.«
Der Captain bedachte seinen Lieutenant mit einem kalten, zynischen Blick. »Was hat er denn so Wundervolles getan, dass niemand sich unser Schiff auch nur anschauen will?«
Martin ließ sich nicht beirren. »Zum einen heilte er die Kranken und tröstete die Armen. Er bekämpfte Heuchelei und schmutzige Politik und setzte sich zu den einfachen Leuten, sprach mit ihnen den ganzen Tag lang.«
»Und das ist so wundervoll?«
»Ja, Captain.«
»Das kapier ich nicht.« Der Captain musterte Martin aus nächster Nähe, sein Gesicht, seine Augen. »Haben Sie vielleicht was getrunken, hm?« Misstrauisch ging er wieder auf Abstand. »Ich verstehe es nicht.«
Martin schaute zur Stadt. »Captain, wenn Sie das nicht verstehen, kann ich es Ihnen unmöglich erklären.«
Der Captain folgte seinem Blick. Es war eine schöne und einladende Stadt, und eine friedliche Stimmung lag über ihr. Der Captain stand auf, nahm die Zigarre aus dem Mund und warf erst Martin, dann den goldenen Türmen einen skeptischen Blick zu.
»Sie meinen doch nicht etwa – Sie können doch nicht – der Mann, von dem Sie da reden, kann aber nicht …«
Martin nickte. »Genau das meine ich, Sir.«
Der Captain verharrte einen Augenblick und schwieg. Dann nahm er eine stolze Haltung an.
»Das glaube ich nicht«, erklärte er schließlich.
Zur Mittagsstunde marschierte Captain Hart entschlossenen Schrittes in die Stadt, begleitet von Lieutenant Martin und einem Assistenten mit technischer Ausrüstung. Immer wieder lachte der Captain lauthals auf, stemmte die Fäuste in die Hüften und schüttelte den Kopf.
Der Bürgermeister der Stadt kam ihm entgegen. Martin stellte ein Stativ auf, schraubte eine Box darauf und schaltete die Energieversorgung an.
»Sind Sie der Bürgermeister?«, fragte der Captain.
»Das bin ich«, bestätigte der Bürgermeister.
Zwischen ihnen machten sich Martin und der Assistent an dem empfindlichen Apparat zu schaffen. Die Box sorgte für die Übersetzungen jeglicher Sprachen in Echtzeit. Die Worte klangen kristallklar in der milden Stadtluft.
»Wegen dieses Vorfalls gestern«, sagte der Captain. »Er hat sich wirklich ereignet?«
»Allerdings.«
»Haben Sie Zeugen?«
»Die haben wir.«
»Dürften wir mit ihnen reden?«
»Reden Sie, mit wem Sie möchten«, sagte der Bürgermeister. »Wir alle sind Zeugen.«
»Massenhalluzination«, raunte der Captain Martin verstohlen zu. Zum Bürgermeister sagte er: »Wie sah dieser Mann – dieser Fremde – denn aus?«
»Das ist schwierig zu beschreiben.« Der Bürgermeister lächelte schwach.
»Und weshalb?«
»Die Meinungen könnten etwas auseinandergehen.«
»Ich würde trotzdem gerne Ihre Meinung hören«, sagte der Captain. »Nehmen Sie das auf!«, befahl er Martin über die Schulter.
Der Lieutenant zückte einen Camcorder und startete die Aufnahme.
»Also«, sagte der Bürgermeister der Stadt, »er war ein sehr sanfter und gütiger Mann. Er verfügte über großes und umfassendes Wissen.«
»Jaja, ich weiß, ich weiß.« Der Captain winkte ab. »Allgemeinplätze. Ich hätte gerne etwas Konkretes. Wie sah er denn aus?«
»Ich glaube nicht, dass das wichtig ist«, sagte der Bürgermeister.
»Doch, das ist es, sehr sogar«, beharrte der Captain. »Ich möchte eine Beschreibung von diesem Burschen. Wenn ich sie nicht von Ihnen kriege, dann vielleicht von jemand anderem.« An Martin gewandt, fügte er hinzu: »Ich bin mir sicher, dass es Burton war. Er und seine dummen Streiche!«
Martin schaute ihn nicht an, bedachte ihn mit eisigem Schweigen.
Der Captain schnippte mit den Fingern. »Da waren doch noch andere Vorfälle – eine Heilung?«
»Mehrere sogar«, versicherte der Bürgermeister.
»Kann ich eine sehen?«
»Aber gerne«, sagte der Bürgermeister. »Meinen Sohn.« Er nickte einem kleinen Jungen zu, der nun vortrat. »Er litt unter einem verwachsenen Arm. Jetzt sehen Sie ihn sich nur an.«
Der Captain lachte nachsichtig. »Ja, natürlich. Wissen Sie, das ist nicht mal ein Indizienbeweis – ich habe den verwachsenen Arm des Jungen ja nicht gesehen; ich kenne nur seinen gesunden Arm. Das beweist gar nichts. Was für einen Beweis haben Sie, dass der Arm dieses Jungen gestern noch verwachsen war?«
»Mein Wort ist mein Beweis«, sagte der Bürgermeister.
»Mein guter Mann!«, rief der Captain. »Sie glauben doch nicht, dass ich mich auf Hörensagen verlasse, oder? Oh nein!«
»Das tut mir leid.« Im Blick des Bürgermeisters schienen sich Neugierde und Mitleid zu mischen.
»Haben Sie nicht irgendwelche Bilder des Jungen von früher?«
Kurz darauf wurde ein großes Ölgemälde herangeschafft, das den Sohn mit einem verwachsenen Arm zeigte.
»Mein Bester!«, wehrte der Captain ab. »So ein Bild kann jeder malen. Gemälde lügen. Ich würde gerne ein Foto des Jungen sehen.«
Es gab kein Foto. Fotografie war eine unbekannte Kunst in ihrer Gesellschaft.
»Na schön«, sagte der Captain mit einem Zucken im Gesicht. »Lassen Sie mich mit ein paar anderen Bürgern reden, denn so kommen wir nicht weiter.« Er deutete auf eine Frau. »Sie da.« Die Frau zögerte. »Ja, genau Sie; kommen Sie mal her. Erzählen Sie mir von diesem wunderbaren Mann, der gestern hier ankam.«
Die Frau hielt dem Blick des Captains stand. »Er wandelte in unserer Mitte und vollbrachte viel Gutes.«
»Was für eine Farbe hatten seine Augen?«