Vorwort

Sehen heißt schon gesehen haben.

Fernando Pessoa

Der Blick der Portugiesen geht bisweilen melancholisch hinaus auf den Atlantik. Mit dem Aufbruch über das Wasser nahm ihre große Zeit den Anfang, die Epoche der Entdeckungen und Eroberungen durch den legendären Seefahrer Vasco da Gama. Doch das ist lange vorbei. Noch heute erzählen die zahlreichen Kolonialspuren Portugals eine Geschichte von Glanz und Größe, von Gold und Gewürzen, von der Pracht im Zeichen des christlichen Glaubens. Ob in Diu und Goa in Indien, Macau in China, Moambique oder Angola – die verfallenen Spuren der einstigen Weltmacht sind überall aufzuspüren.

Und von dort, von See her, aus Marokko soll er auch wiederkommen, der sagenhafte Dom Sebastião, mit dem Portugal noch einmal imperiale Größe zu erreichen hoffte. Doch er starb in der Hitze einer afrikanischen Schlacht als portugiesischer Don Quijote, um von da an als mythischer Held der Unabhängigkeit verehrt zu werden. Als derjenige, der einst wiederkommen wird, um die Portugiesen aus der vermeintlichen Bedeutungslosigkeit zu erlösen, in die sie nach dem Verlust ihrer Weltmacht versanken. So nimmt es nicht Wunder, daß bis heute die wichtigsten architektonischen Monumente im Angesicht der Meeres errichtet wurden – von der archaischen Steinfestung der Fortaleza de Beliche in Sagres bis zum modernistischen Tempel, den der portugiesische Stararchitekt Alvaro Siza Vieira 1963 nördlich von Porto errichtet hat: die Casa de Cha da Boa Nova, eine in die Klippen gehauene Hymne aus Glas, Beton und rotem afrikanischem Afizelia-Holz, von der aus man nachts in mit Scheinwerfern angestrahlte atlantische Brecher starrt und bei einem Dão, vielleicht dem legendären Porta dos Cavaleiros Colheita Riserva 1966, die Wiederkehr Dom Sebastiãos herbeimeditieren kann.

Dieses Phänomen der Rückwärtsgewandtheit, die Sehnsucht nach einer besseren Zeit, nennt man frei nach ihrem Helden sebastianismo. Und etwas davon spielt auch heute in alle unglücklichen Schicksalsschläge hinein, ob es die Fußballmannschaft ist, die das Finale der Europameisterschaft wieder nicht erreicht hat, oder einfach nur ein Mittagsrestaurant in Lissabon, das in der Qualität nachgelassen hat. Diese sprichwörtliche Traurigkeit, in die sich Sehnsucht mischt, die unübersetzbare saudade, ist es, die das Nationalbewußtsein der Portugiesen prägt.

Eine Nation, deren Randexistenz im äußersten Südwesten Europas wie kein zweites Land in Europa eine träumerische Qualität besitzt. Der portugiesische Großautor der Moderne, Fernando Pessoa, schuf sich mehrere Heteronyme, um die ganze Bandbreite der Dichtung ausloten zu können. Sein berühmtestes Werk, das »Buch der Unruhe«, besteht ausschließlich aus Aufzeichnungen eines Hilfsbuchhalters mit autobiographischen Zügen, der mitten in Lissabon sitzt und doch die ganze Welt im Kopf spazierenführt. So wird er zu einem Vasco da Gama der Phantasie, und Lissabon ist plötzlich noch einmal Nabel der Welt, der Mittelpunkt des Schicksals der Menschheit. Nur daß die großen Entdeckungsreisen allein im Terrain der Imagination unternommen werden.

Das letzte Jahrhundert stand in Portugal ganz im Zeichen der Militärdiktatur durch den faschistischen General Salazar, die erst 1974 kraft der friedfertigen Nelkenrevolution gestürzt werden sollte. Sie wurde 1976 durch eine demokratisch gewählte Regierung ersetzt. Seit den achtziger Jahren hat Portugal dann in Europa stark aufgeholt. Das Land wuchs wirtschaftlich, trat 1986 der EG bei, und die Weltausstellung in Lissabon führte zu einem wahren Modernisierungswahn. Nachdem Lissabon 1994 Kulturhauptstadt wurde, wähnte man sich bereits in Europas Olymp, aber die Finanzkrise der Nuller Jahre setzte auch Portugal enorm zu. Direkt nach dem Heimatland des Olymps, Griechenland, ging auch Irland und Portugal fast gleichzeitig das Geld aus. Ausgerechnet ein geschäftsführender Ministerpräsident namens »Sócrates« mußte 2011 bei der EU um die Aufnahme seines hochverschuldeten Landes unter den sogenannten internationalen »Rettungsschirm« bitten. Die Tageszeitung Diário de Noticias kommentierte neulich beißend, daß die besten jungen Finanzkräfte Portugals inzwischen ihr Glück in der ehemaligen Kolonie Angola suchen, wo ein enormes Wirtschaftswachstum das Land aufblühen läßt. Aber für Müßiggänger gibt es immer noch, auch gerade wegen des verlangsamten Börsentempos vor Ort, auf dem Kontinent keine spannendere und lebendigere Stadt als Lissabon. Bereits im 19. Jahrhundert schwärmte Charles Baudelaire von der legendären Stadt aus Stein. Und wer durch die elegante Baixa mit dem hellen Pflastersteinboden flaniert, wird nichts Gegenteiliges behaupten können.

Warum also eine Gebrauchsanweisung für Portugal? Weil es kein Land gibt, das zugleich so wundervoll und unverständlich ist wie Portugal. Die direkte Lage am Atlantik bedingt eine vergleichsweise üppige Vegetation, die einen in den Bergen fast an die Schweiz denken läßt. Aber wer in Portugal etwas auf sich hält, fährt nach Italien in Urlaub, weil das als schick gilt. Das Nationalgericht ist getrockneter Stockfisch. Aber es gibt genauso viele Sorten der Zubereitung wie Tage im Jahr, eine interessanter als die andere. Es gab einen Nobelpreisträger für Literatur, José Saramago, der aber zeitlebens Angebote zur Verfilmung seiner Werke durch Fellini und Spielberg großzügig abgelehnt hat und nach dessen Tod im Jahre 2010 das Land zwei Tage Staatstrauer ausgerufen hat. Sein Begräbnis wurde zur Wallfahrt, über 20 000 Portugiesen kamen aus dem ganzen Land angereist, um traurig und stolz von ihrem Lieblingsdichter Abschied zu nehmen.

Was ist das für ein Märchenland, in dem es eine Gegend gibt, die ungelogen »Hinter den Bergen« heißt? In dem ein deutscher Schuhfabrikant den Arbeitern das Zigfache der Löhne versprach, wenn sie nur ihre Produktion erhöhen würden. Diese aber lehnten dankend ab, mit Verweis auf die Verringerung der Lebensqualität durch Mehrarbeit. Wo es ein Sprichwort gibt, das scheinbar die gesamte Geographie des Landes in ein paar Zeilen entschlüsselt: Braga betet, Porto arbeitet, Coimbra singt, und Lissabon feiert. Portugal ist, einfach ausgedrückt, anders. Ein stilles, elegantes Volk, das dennoch gegen religiösen Eifer nicht gefeit ist. So wurde erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts die letzte Botschaft, das dritte Geheimnis von Fátima, dem legendären Wallfahrtsort, vom Vatikan entschlüsselt: Der weiß gekleidete Bischof, der zu Boden sinkt, sei niemand anderes als Papst Johannes Paul II. selbst gewesen, auf den am Jahrestag der Fátima-Erscheinung ein Attentat verübt wurde.

Kurzum, wer wissen will, warum Lord Byron in Sintra bei Lissabon den idealen romantischen Garten fand, warum die modernen Portugiesen den schlichtesten Neubau jeder Altbauwohnung in einem Prunkpalast des 19. Jahrhunderts vorziehen oder welche Wirkung in Coimbra der Fado hat, diese traurige Volksmusik, die von Männern angestimmt wird, braucht dringend eine Gebrauchsanweisung. Und er verläßt dieses moderne Landeskundeseminar in Form eines Buchs mit Auszeichnung.

Aufbrechen

Mein Herz spürt die Erleichterung eines Märchens mit wirklichen Feen und beginnt die Sicherheit zu kennen, sich nicht mehr zu fühlen.

Fernando Pessoa

Der Besuch eines Märchenlandes ist für den normalen Menschen mit einigen Hindernissen verbunden. Die aufkommenden Fragen lauten wie folgt: Wo liegt das Land? Wie komme ich dorthin? Und, nicht zuletzt, was erwartet mich dort? Im Fall des modernen Märchenlandes Portugal lassen sich die Fragen eins und zwei leicht beantworten. Im äußersten Südwesten Europas liegend, kann man es von Spanien aus eigentlich kaum verfehlen. Und auch die direkten Flugverbindungen, die Lufthansa und TAP Air Portugal anbieten, lassen uns das Land in weniger als drei Stunden fliegend erreichen. Indes: großwüchsige Teutonen mögen mit den etwas eng wirkenden Sitzreihen der für die schmalen und eleganten Portugiesen gestalteten TAP ihre Probleme haben. Schwieriger wird es erst bei Frage drei. Wer die handelsüblichen Reiseführer erwirbt, kann sich zwar lesend ein erstes Bild von den dort zu erwartenden Menschen, Landschaften und Speisen machen, scheitert aber an einer wesentlichen und unausweichlichen Crux des Märchenlandes: Es ist immer anders, als man denkt.

Daher ist Vorsicht angeraten. Denn was macht ein Märchenland noch? Es gibt Rätsel auf. Und was Portugal anbelangt, hat es im wesentlichen mit dem Wasser zu tun. Sei es der Atlantische Ozean, über den die großen Entdeckungsfahrten der portugiesischen Seefahrer ihren Anfang nahmen. Sei es der Regen, der den iberischen Küstenstreifen so fruchtbar und grün im Gegensatz zu seinem großen trockenen Nachbarstaat Spanien hält. Oder die sagenhaften Heilquellen des Landes, zu denen sparsame Einwohner Hunderte von Kilometern fahren, um das geweihte Naß in unzähligen Plastikkanistern auf den Rücksitzen ihrer Autos nach Hause zu transportieren, um so von den legendenumwobenen Kräften des Getränks profitieren zu können.

Prinzipiell müßte man also nach Art des Märchens das Land auf dem Wasserweg erreichen. Aber der weniger beschwerliche Luftweg, so man die portugiesische Nationalfluglinie TAP wählt, zeigt ebenfalls, wie tief die Wurzeln des Landes noch immer in der Geschichte liegen, und vor allem in der Geschichte seiner Entdeckungen auf den Weltmeeren. Wählte man nämlich bis vor kurzem die teure Buchungsklasse, fand man sich unversehens in der »Navigator Class« wieder und war augenblicklich Teil eines Lebensprogramms, das sich aus der historischen Vergangenheit speist. Leider glaubt man wohl auch in der Marketingabteilung der TAP an die Macht der Globalisierung und es heißt nun, langweilig wie überall, »Business Class«. Alles, was davon übrig blieb, ist ein Vielfliegerblog namens navigatorclass. So zeitigt der große Navigator und Weltsüchtige wenigstens als Schwundstufe noch Folgen: Heinrich der Seefahrer nahm bereits an der ersten aller maritimen Eroberungen teil, in das 1415 anvisierte Ceuta, direkt gegenüber von Gibraltar an der nordafrikanischen Küste. Heinrich, selbst Sohn des Königs Johann I., markiert verbrieftermaßen den Beginn jenes Reise- und Eroberungswahns im Zeichen des Glaubens.

Seine Vorleistungen waren es, die später Vasco da Gama zum Nationalhelden machten, von dessen Ruhm das große Epos »Os Lusadas« von Lus Vaz de Camões erzählt. Was den Griechen Homers Odyssee, den Römern die Aeneis des Vergil, das sind für die Portugiesen die Lusiaden. Camões, der fast exakt im Todesjahr Vasco da Gamas geboren wurde, wäre als Augenzeuge der Seereisen, die er später beschreiben sollte, in Asien fast ums Leben gekommen. Nach seiner nicht ganz so weiten Fahrt zog sich Heinrich nämlich zurück, um den Ruhm von Portugal aus zu mehren: Als Ausbilder von Seeleuten und Navigationsforschern errichtete er das Zentrum seines Wirkens am südwestlichsten Ende Europas, auf den steilen Küstenklippen von Sagres, in der Nähe des Cabo de São Vicente. Die führenden Köpfe seiner Zeit, darunter Mathematiker, Astrologen und Kartographen, versammelte er, um dort, das anbrandende Meer vor Augen, vor der Welt den Beweis anzutreten, daß die Erde keine Scheibe ist, indem er sie umsegeln ließ. Noch heute trägt das Kap im Volksmund einen Namen, den es damals vor den Seefahrten innehatte: o fim do mundo, das Ende der Welt.

Wie stark diese Traditionen auch im zeitgenössischen Portugal verankert sind, zeigt ein ehrgeiziges Projekt des Instituto Hidrográfico in Lissabon. Untergebracht im alten Nonnenstift Das Trinas, von wo aus bereits neben anderen Vasco da Gama aufgebrochen war, wird in den alten Räumlichkeiten an einer neuen Eroberung der Welt geforscht. Freilich virtuell, wie es sich heute gehört. Die Meereskarte der Erde für die globale Nutzung, an der die Ozeanographen basteln, soll künftig unter anderem dazu dienen, Schiffe mit Hilfe des Satellitensystems GPS (Global Positioning System) rechtzeitig vor Untiefen und Hindernissen zu warnen. Die neuen Vermesser der Weltmeere sehen sich denn auch als Nachfahren des ersten großen Kartographen, Heinrich des Seefahrers. Euphorische Stimmen sprechen schon jetzt von der Wiedergeburt des Entdeckergeistes der Portugiesen in den Untiefen des WorldWideWeb. Vorgestern Seefahrer, übermorgen Internet Explorer. Aber dies ist Zukunftsmusik, und lange waren die Portugiesen vor allem vernarrt in die Vergangenheit. Ein weiteres Merkmal, das sie mit dem Märchen verbindet, das bekanntlich mit den immer gleichen drei magischen Worten beginnt: Es war einmal.

Dieser Satz war lange Zeit wie kein anderer geeignet, die Grundstimmung der Portugiesen zu charakterisieren. Denn die große Zeit des Landes, sie dauerte nicht lange, und seither schaut man im wesentlichen zurück. Die Helden der Märchen sind Abenteurer, sie suchen die Weite, um Prüfungen zu bestehen, die ihnen auferlegt werden. Auch die Eroberung Amerikas durch Christoph Kolumbus verbuchen manche Portugiesen als Leistung ihres Landes, da man dem Seefahrer hochmütig die Unterstützung seiner Reise nach Indien verwehrte und dieser sich, so behaupten sie, daher verirrte. Nach vollendeter Atlantik-Überquerung wähnte er sich bereits am Ziel seiner Wünsche. Indes, es war der falsche Kontinent.

Auch Portugal selbst war dem Reisenden lange Zeit ein solcher unentdeckter Kontinent. Durch das faschistische Salazar-Regime im Europa des 20. Jahrhunderts zusehends isoliert, war es nur den wenigsten mehr als vom Hörensagen bekannt. Für Mittelmeer-Urlaube lag es zu weit ab, klassische Bildungsreisende vermißten dort mangels besseren Wissens einen Hintergrund wie in Griechenland oder Italien. Und der Polittourist fand das Land erst spannend, seit die sozialistische Nelkenrevolution den Militärs eine Nachprüfung in Flower Power auferlegte. Wer seinerzeit dorthin aufbrach, wurde Zeuge, wie ein Land aus dem vielzitierten Dornröschenschlaf erwachte. Das autoritäre Regime hatte eine Art Glasglocke über die Kultur gestülpt, die nach dem Lüften sichtlich aufblühte. Was aber dabei zum Vorschein kam, war ein Land, das nicht nur eine der ältesten Universitäten auf europäischem Boden beherbergte, nämlich die elegante erste Königsresidenz Coimbra. Es wurde vielmehr offenbar, welche Schätze das einstmals reichste Land Europas aus den Zeiten der Herrschaft auf den Weltmeeren noch immer barg. Freilich im Zustand des fortgeschrittenen Verfalls, der von da an zum Inbegriff des Portugiesischen wurde: Melancholie, verstaubte Pracht, vergangene Größe und die tränenreiche Volksmusik des Fado.

Hier kam man her, um zu träumen und einem Europa hinterherzutrauern, wie es sonst nur noch im Kakanien Robert Musils überliefert war. Ein Land als musealer Zustand, zum Auftanken gegen die verhaßte Moderne im übrigen Europa. Nur hier, so war der Gedanke, schien er noch möglich, der Müßiggang als Tagewerk, das in Wien oder Salzburg erlernte Festhalten an der Tasse Kaffee über mehrere Stunden hinweg. Doch auch dieses sagenhafte Portugal, wie man es noch in Wim Wenders’ Filmeloge »Lisbon-Story« porträtiert findet, ist nicht mehr überall vorherrschend. Vielmehr fügen sich neue Facetten hinzu und lassen im Portugal des 21. EU