Lesen was ich will! |
|
www.lesen-was-ich-will.de |
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Vanessa Lamatsch
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2014
ISBN 978-3-492-96768-6
© 2013 Jennifer Estep
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel
»Killer Frost« bei KTeen Books / Kensington Publishing Corp., New York.
Deutschsprachige Ausgabe:
© ivi, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2014
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: FinePic, München
Datenkonvertierung: psb, Berlin
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Wie immer: für meine Mom, meine Grandma und Andre, für all ihre Liebe, Hilfe, Unterstützung und Geduld mit meinen Büchern und allem anderen im Leben.
Und
für alle Fans der Mythos-Academy-Serie. Dieses Buch ist für euch.
Jede Autorin wird erklären, dass ihr Buch ohne die harte Arbeit vieler, vieler Leute nicht möglich gewesen wäre. Hier sind einige der Menschen, die dabei geholfen haben, Gwen Frost und die Mythos Academy zum Leben zu erwecken:
Ich danke meiner Agentin, Annelise Robey, für all ihre hilfreichen Ratschläge.
Ich danke meiner Lektorin Alicia Condon für ihren scharfen Blick und die durchdachten Vorschläge. Sie machen das Buch immer so viel besser.
Ich danke allen, die bei Kensington an dem Buch gearbeitet haben, besonders Alexandra Nicolajsen und Vida Engstrand für ihren Einsatz in Sachen Marketing. Und ein Dankeschön an Justine Willis.
Und schließlich möchte ich allen Lesern dort draußen danken. Ich schreibe Bücher, um euch zu unterhalten, und es ist mir immer eine besondere Ehre. Ich hoffe, ihr habt so viel Spaß beim Lesen von Gwens Abenteuern wie ich beim Schreiben.
Ich wünsche viel Vergnügen!
»Das ist unsinnig.«
Daphne Cruz, meine beste Freundin, lehnte sich vor, starrte in den Badezimmerspiegel und trug eine weitere Schicht Lipgloss auf. Magiefunken im selben Prinzessinnenrosa wie ihr Lippenstift schossen aus den Fingerspitzen der Walküre und verglühten im Waschbecken unter dem Spiegel.
»Unsinnig«, wiederholte ich. »Un. Sinnig.«
»Mmmm-hmmm.«
Daphne brummte abwesend, schloss ihren Lipgloss und ließ den Stift in die riesige Handtasche fallen, die an ihrem Arm hing. Dann griff sie in die Tiefen der Designertasche und zog eine Bürste hervor. Ohne mich zu beachten, glättete sie ihre goldenen Locken. Die natürlich bereits perfekt lagen. Daphne verließ niemals ihr Zimmer, ohne perfekt auszusehen.
»Komm schon«, sagte ich, weil ich einfach noch nicht bereit war, meine Tirade zu beenden. »Du weißt doch, dass ich recht habe. Dieser Tag wird auf jeden Fall in einer Katastrophe enden.«
Daphne beendete ihre Haarpflege und zog eine silberne Puderdose aus der Tasche. Sie trug ein wenig Make-up auf ihre grundsätzlich perfekte, dunkle Haut auf, dann musterte sie sich noch einmal kritisch im Spiegel und zupfte einen winzigen Fussel von ihrem rosafarbenen Kaschmirpullover.
Ich holte wieder Luft, um meine Schwarzmalerei fortzusetzen, doch Daphne schloss die Dose mit einem Klicken, bevor ich weiterreden konnte.
Sie sah mich im Spiegel an und suchte mit dem Blick ihrer schwarzen Augen meine violetten. »Himmel, Gwen. Entspann dich. Wir sind auf einem Date zu viert. Wir sollten … na ja … Spaß haben, statt uns ständig Sorgen zu machen, dass die Schnitter alles ruinieren könnten.«
Ich musterte meine Freundin finster. Sie mochte sich ja entspannen können, doch ich machte mir in letzter Zeit eigentlich rund um die Uhr Sorgen wegen der Schnitter.
Meine linke Hand glitt zu meinem rechten Handgelenk, dann schloss ich die Finger um das Armband, das dort hing. Das Armband selbst war einzigartig – mehrere Lorbeerblätter hingen von dünnen Strängen aus Mistelzweigen, die zu einer Kette verwoben worden waren. Alles bestand aus Silber. Ich packte eines der Blätter fester und wartete darauf, dass meine Psychometrie sich einschaltete. Doch das Einzige, was ich von dem Armband auffing, waren dieselben kühlen, ruhigen Schwingungen, die ich immer spürte, wenn ich mich auf das Silber konzentrierte.
Wenn man sich das Armband lediglich ansah, wirkte es einfach wie ein interessantes Schmuckstück. Doch es war der Schlüssel zum Sieg über Loki und seine Schnitter des Chaos. Zumindest behauptete das Nike, die griechische Göttin des Sieges. Ich diente als Nikes Champion und war damit das Mädchen, das die Wünsche der Göttin in der Welt der Sterblichen erfüllte – und die Göttin wollte Loki tot sehen. Dabei konnte mir das Armband angeblich helfen, auch wenn ich noch nicht ganz verstanden hatte, was ich wirklich damit anstellen sollte.
»Gwen?«, fragte Daphne ein wenig genervt. »Was grübelst du denn jetzt schon wieder?«
Ich spielte noch ein paar Sekunden an den Lorbeerblättern des Armbandes herum, dann schob ich das Ganze wieder unter den Ärmel meines purpurnen Kapuzenshirts.
»Ich frage mich, wie du den Schnittern so gleichgültig gegenüberstehen kannst«, sagte ich. »Hallo? Nur für den Fall, dass du es noch nicht mitbekommen hast, die Schnitter haben in den letzten Monaten so ungefähr alles auf Mythos ruiniert. Der große Schulball? Endete damit, dass ich in der Bibliothek gegen einen Schnitter gekämpft habe. Der Skiausflug zum Winterkarneval? Ein weiterer Kampf mit einem Schnitter im Hotel. Letzter Tag der Winterferien? Kampf gegen die Schnitter im Kreios-Kolosseum. Winterkonzert? Noch mehr Schnitter im Aoide-Auditorium. Ganz zu schweigen von den Vorfällen in den Eir-Ruinen.«
Ich zählte die Beispiele an meinen Fingern ab. Als ich fertig war, schenkte ich Daphne einen wissenden Blick. »Wieso sollte es heute anders sein?«
Daphne verdrehte die Augen und stemmte schwungvoll die Hände in die Hüften, sodass noch mehr pinkfarbene Funken aus ihren Fingerspitzen stoben.
»Weil es heute um uns gehen soll – um dich, mich, Carson und Logan – nicht um Schnitter«, erklärte Daphne. »Der Rest von uns hatte bis jetzt einen wirklich netten Nachmittag – obwohl du die ganze Zeit nur versucht hast, alles zu ruinieren, indem du hinter jeder Ecke nach Schnittern gesucht hast.«
»Die Walküre hat recht«, schaltete sich eine Stimme mit einem kühlen englischen Akzent ein. »Du warst heute ziemlich nervös.«
Ich griff nach unten, zog ein Schwert aus der schwarzen Lederscheide an meiner Hüfte und hielt es auf Augenhöhe. Anstelle einfacher Muster zeigte das silberne Heft ein halbes männliches Gesicht, komplett mit Hakennase, Mund, Ohr und einem purpurgrauen Auge, das im Moment auf mich gerichtet war. Vic, mein sprechendes Schwert. Die Waffe, die Nike selbst mir gegeben hatte.
»Ich dachte, du wärst ganz scharf darauf, heute ein paar Schnittern zu begegnen«, meinte ich. »Da du ja ständig nur darüber sprichst, dass du sie umbringen willst.«
Vic hatte keine Achseln, mit denen er zucken konnte, also verdrehte er stattdessen sein Auge. »Selbst ich brauche ab und zu mal ein wenig Freizeit, Gwen. Die Walküre hat recht. Du solltest die Ruhe genießen, solange sie anhält. Ich werde auf jeden Fall ein Nickerchen machen. Du kennst ja die Ansage.«
»Ja, ja«, murmelte ich. »Ich soll dich nur wecken, wenn es Schnitter zu töten gibt.«
»Genau.«
Damit schloss Vic sein Auge. Ich bedachte das Schwert mit einem schlecht gelaunten Blick, auch wenn Vic mich überhaupt nicht mehr beachtete. Mit einem Seufzen schob ich ihn zurück in die Scheide.
»Siehst du?«, meinte Daphne selbstgefällig. »Selbst Vic stimmt mir zu.«
Ich warf ihr einen bösen Blick zu, obwohl sie und Vic tatsächlich recht hatten. Ich war heute ein totaler Spielverderber. Doch es war fast zwei Wochen her, seit wir das letzte Mal etwas von Agrona Quinn, der Anführerin der Schnitter, gehört hatten, oder von Vivian Holler, dem Mädchen, das Lokis Champion und meine Erzfeindin war. Die zwei langen Wochen hatten den Schnittern zweifellos genügend Zeit gegeben, um sich neu zu ordnen – und einen weiteren schrecklichen Plan zu entwerfen, wie sie mich und jeden, der mir etwas bedeutete, verletzen konnten.
Schon allein der Gedanke daran, was die Schnitter vielleicht planten, sorgte dafür, dass mein Magen sich vor Furcht verkrampfte. Ich hatte bereits so viel an Agrona, Vivian und die anderen bösen Krieger verloren, und ich wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bevor die Schnitter wieder zuschlugen. Doch Daphne und Vic hatten recht. Es gab nichts, was ich heute gegen meine Widersacher unternehmen konnte, also sollte ich die Zeit mit meinem Freund und meinen Freunden genießen.
Weil mir vielleicht nicht mehr viel Zeit mit ihnen blieb, wenn Loki seinen Willen bekam.
»Okay, okay«, murmelte ich. »Ich werde mir für den Rest des Tages ein Lächeln ins Gesicht schrauben.«
Daphne bedachte mich mit einem scharfen Blick. »Versprochen?«
Ich zog ein X in die Luft vor meinem Herzen, genau über der Stelle, wo unter dem purpurnen Kapuzenshirt und dem grauen Pulli zwei Narben meine Haut verunstalteten. »Versprochen.«
»Gut. Dann lass uns gehen.« Daphne schnappte sich meinen Arm und setzte ihre Walkürenstärke ein, um mich zur Tür zu zerren. »Inzwischen sollte unsere Bestellung fertig sein, und ich brauche dringend eine Dosis Zucker.«
Ich seufzte wieder, bevor ich mich von ihr aus dem Raum zerren ließ.
Daphne und ich traten in den Hauptraum von Kaldis Kaffee.
In vielerlei Hinsicht war Kaldis ein typischer Coffeeshop. Ein langer Tresen an der hinteren Wand. Eine Vitrine voller sündhaft süßer Käsekuchen, Törtchen und jeder anderen Art von Dessert, die man sich vorstellen konnte. Jede Menge gepolsterter Stühle und Sofas. Schmiedeeiserne Tische. Espressomaschinen, die vor sich hin gurgelten und die Luft mit dem reichhaltigen, dunklen Aroma des Kaffees füllten, den sie aufbrühten.
Nicht so typisch war die Kundschaft im Café.
Walküren, Amazonen, Wikinger, Römer, Spartaner. Alles Jugendliche ungefähr in meinem Alter, alles Nachkommen mythologischer Krieger der Antike und alle bewaffnet. Schwerter, Dolche, Kampfstäbe, Speere. So gut wie jede Person im Raum hatte in einer Hand eine Tasse Kaffee und in der anderen etwas mit scharfer Klinge oder Spitze. Neben Morgan McDougall, einer meiner Walküren-Freundinnen, lag eine Armbrust so auf dem Tisch, dass sie auf die Tür zielte. Morgan hatte mir einmal erklärt, dass sie sich besser fühlte, wenn sie jederzeit eine Waffe griffbereit hatte. Jupp. Ich auch.
Mir blieb kaum die Zeit, Morgan zuzuwinken, bevor Daphne mich weiter zu zwei Sofas vor dem Kamin zerrte. Während wir uns durch das Café bewegten, fing hinter uns das Flüstern an. Oder vielmehr hinter mir.
»Hey, schau mal, Gwen Frost ist hier …«
»Anscheinend erholt sie sich mal von ihrem Kampf gegen die Schnitter …«
»Ich frage mich, wann sie gegen Loki kämpfen wird …«
Ich zog eine Grimasse und versuchte so zu tun, als könnte ich nicht hören, dass die anderen Schüler über mich redeten. Jeder auf der Mythos Academy wusste, dass ich Nikes Champion war und einen Weg finden sollte, uns alle vor Loki und den Schnittern zu retten. Es ging doch nichts über ein bisschen Druck, um dafür zu sorgen, dass ein Mädchen sich so richtig in seine Sorgen hineinsteigerte.
Ich seufzte. Daphne hatte recht. Ich war heute total paranoid, und ich wusste einfach nicht, wie ich das ändern sollte.
Meine Freundin ließ meinen Arm los und setzte sich neben einem Kerl mit schwarzer Brille auf die Couch, dessen Haare, Augen und Haut sandbraun waren. Carson Callahan, ihr Musik-Freak-Freund und ein echt netter Kerl.
Daphne lehnte sich vor und drückte Carson einen lauten, schmatzenden Kuss auf die Lippen, ohne sich darum zu kümmern, wer sie dabei beobachtete oder dass sie damit fast den gesamten Lipgloss von ihren Lippen auf seine übertrug. Carson bedachte sie mit einem bewundernden Blick und legte den Arm um ihre Schulter, um sie näher an sich zu ziehen. Daphne erwiderte die Umarmung mit ihrer Walkürenstärke, bis Carson das Gesicht verzog, dann ließ sie los.
»Ist das meine heiße Schokolade?«, fragte Daphne, während sie den Blick auf ein Tablett voller Tassen und gefüllter Teller zwischen den zwei Sofas richtete. »Endlich.«
So gut wie jeder Platz im Café war besetzt, also hatten wir es den Jungs überlassen, sich in die lange Schlange am Tresen einzureihen, während Daphne sich im Bad ein wenig frisch gemacht hatte.
Carson bedachte sie mit einem weiteren anbetungsvollen Blick. »Und ich habe dir ein Stück Schokoladen-Käsekuchen mitgebracht. Ich weiß doch, wie sehr du den magst.«
»Danke, Schatz.« Daphne küsste ihn noch einmal, bevor sie sich vorbeugte und nach ihrer riesigen Tasse griff.
Ich schlüpfte aus meiner Kapuzenjacke, dann setzte ich mich auf die andere Couch neben einen Kerl mit tiefschwarzem Haar und den unglaublichsten, eisblauen Augen, die ich je gesehen hatte. Er lächelte mich an, sodass ein warmes, prickelndes Gefühl in meinem Herzen explodierte.
Der verdammte Logan Quinn. Mein Freund. Der Kerl, den ich liebte.
»Wurde auch langsam Zeit, dass ihr zurückkommt«, sagte Logan neckend. »Ich habe mich schon gefragt, ob du dich aus der Hintertür geschlichen hast, um mich für einen anderen Kerl sitzen zu lassen.«
»Niemals«, antwortete ich. »Ist ja nicht mein Fehler, dass Daphne ewig braucht, um ihr Make-up zu richten.«
»Hmph.« Daphne schnaubte, war aber zu sehr damit beschäftigt, mit Carson zu schmusen und ihren Käsekuchen zu essen, um mir so richtig Saures zu geben.
Meine Freunde so verliebt zu sehen, brachte mich dazu, mich zu Logan umzudrehen. Ich lächelte ihn an und lehnte mich vor, um ihn zu küssen, doch er verzog das Gesicht. Es war nur ein winziges Zucken, nur eine fast unmerkliche Bewegung seines Mundes, aber das reichte aus, um mich aufzuhalten. Stattdessen wechselte ich die Richtung, streckte mich an ihm vorbei und schnappte mir meine eigene Tasse mit heißer Schokolade, als hätte ich von Anfang an nichts anderes vorgehabt. Als hätte ich seinen wachsamen Blick gar nicht bemerkt – und auch keinen Stich im Herzen gefühlt.
Mit meiner heißen Schokolade lehnte ich mich in die Kissen zurück. Logan zögerte, dann legte er einen Arm um mich. Doch er zog mich nicht an sich, wie Carson es bei Daphne getan hatte. Stattdessen saßen wir einfach so da. Wir berührten uns, doch zwischen uns lag immer noch ein gewisser Abstand – ein Abstand, von dem ich einfach nicht wusste, wie ich ihn überwinden sollte.
Vor nicht allzu langer Zeit hatte Logan mich angegriffen und fast getötet. Natürlich war er zu dieser Zeit mit Loki verbunden gewesen, und der böse nordische Gott hatte Logan gezwungen, mich zu verletzen. Mir war es gelungen, Lokis Halt über Logan zu brechen, aber nach diesem Vorfall hatte der Spartaner die Akademie verlassen. Letztendlich hatte ich ihn überzeugen können, zurückzukehren, aber Logan fürchtete immer noch, er könne mich erneut verletzen – obwohl ich genau wusste, dass er so etwas nie tun würde. Nicht aus freiem Willen.
An manchen Tagen verhielt sich Logan genauso locker, sorglos und charmant wie immer. Doch es gab andere Momente, in denen ich einen Blick von ihm auffing und genau wusste, dass er darüber nachdachte, ob er mit der Rückkehr an die Akademie wirklich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Ich hatte geglaubt, er hätte diese Selbstzweifel und Sorgen hinter sich gelassen, doch die Angriffe der Schnitter hatten Narben bei Logan hinterlassen, genau wie bei mir. Sie hatten uns alle gezeichnet, sowohl seelisch als auch körperlich.
All unsere Freunde ermahnten mich ständig, dass ich Logan Zeit lassen sollte. Ich wusste, dass sie recht hatten, doch das machte es nicht einfacher für mich, besonders wenn ich sah, wie rückhaltlos Daphne und Carson einander vertrauten und wie sehr sie sich liebten. Wie verdammt einfach es für sie war, eine Beziehung zu führen.
»Müsst ihr beide nicht irgendwann auch mal Luft holen?«, fragte ich.
Sicher, es war falsch, sie anzumeckern, aber ich konnte nur eine gewisse Zeit damit verbringen, die beiden bei der Mund-zu-Mund-Beatmung zu beobachten.
»Sorry, Gwen«, sagte Carson, nachdem er den Kuss gebrochen hatte. Seine Brille saß ein wenig schief.
»Ignorier sie einfach«, sagte Daphne und drückte ihrem Freund noch einen Kuss auf die Wange, bevor sie sich endlich ein Stück zurückzog. »Sie ist nur grummelig, weil sie heute noch nicht genügend Zucker hatte.«
»Ich könnte dich mit Kuchen füttern, wenn du willst«, schlug Logan mit einem hinterhältigen Zwinkern vor.
Ich schnaubte. »Bitte. Ich bin absolut fähig, selbstständig zu essen. Außerdem muss ich dann nicht teilen.«
Ich schnappte mir den Teller mit dem riesigen Kekssandwich, das Logan mir mitgebracht hatte, hob es hoch und vergrub meine Zähne in der süßen Versuchung. Leckere Butterkekse gefüllt mit gegrillten Marshmallows, zwei dicken Stücken halb geschmolzener dunkler Schokolade und gerösteten Mandelsplittern, die das Ganze knusprig machten. Es war eine perfekte Kombination aus süß und salzig, und ich genoss jeden einzelnen Bissen. Hmmm. So lecker.
Logan biss in den großen Blaubeer-Muffin, den er sich geholt hatte, während Carson an einem Erdbeerhörnchen knabberte.
Ein paar Minuten später kam ein Wikinger zu unserem Tisch, der in der Schulband spielte, um sich mit Carson und Daphne zu unterhalten. Die drei begannen ein Gespräch, sodass Logan und ich uns selbst überlassen blieben.
»Ich bin froh, dass wir heute diesen Ausflug gemacht haben«, sagte Logan leise. »Ab und zu ist es wirklich nett, aus der Akademie rauszukommen.«
Es war Samstag, also hatten wir den Nachmittag damit verbracht, die Läden von Cypress Mountain zu erkunden, dem Vorort, in dem die Akademie lag. Na ja, eigentlich hatte Daphne uns von einem Laden zum nächsten geschleppt. Aber Logan hatte recht. Es war schön gewesen, all die Probleme mal ein paar Stunden hinter uns zu lassen. Selbst wenn ich insgeheim damit gerechnet hatte, dass Vivian und Agrona mit einer Gruppe Schnitter auftauchen und uns irgendwo zwischen dem Buchladen an einem Ende der Einkaufsstraße und dem Juwelier am anderen angreifen würden.
»Ja«, antwortete ich. »Ich auch.«
Ich schloss die Augen, damit ich nicht wieder sehen musste, wie Logan das Gesicht verzog, und ließ den Kopf gegen die Lehne der Couch sinken. Die Bewegung sorgte dafür, dass die Metallfäden um meine Kehle sich spannten. Es waren sechs dünne silberne Ketten, die sich um meinen Hals zogen und vorne eine mit Diamanten besetzte Schneeflocke formten. Ich trug die Kette immer, denn Logan hatte sie mir geschenkt.
Die Kette erinnerte mich wieder an alles, was wir durchgemacht hatten, daher rutschte ich näher an Logan heran, bis ich seine Körperwärme fühlen konnte. Er seufzte leise, doch ich konnte nicht sagen, welchem Gefühl das Geräusch entsprang. Vielleicht Glück, vielleicht aber auch wieder Skepsis. Doch dieses Mal schlang Logan beide Arme um mich und zog mich an sich.
Obwohl ich fast nicht mehr daran geglaubt hatte, entspannte ich mich letztendlich und genoss die Zeit mit Logan und meinen anderen Freunden. Wir schaufelten Kuchen in uns hinein, tranken unsere Getränke und verbrachten die nächsten zwei Stunden mit gut gelaunter Unterhaltung. Schließlich allerdings entschieden wir, in die Akademie zurückzukehren. Alle stellten ihre dreckigen Tassen und Teller auf ein riesiges Tablett, das ich mir dann schnappte und zu einem der Geschirrwagen trug. Ich hatte gerade die letzte Serviette weggeworfen, als mir auffiel, dass die Leute schon wieder über mich flüsterten … diesmal waren es drei Römer, die ich aus meinem nachmittäglichen Sportunterricht kannte.
»… du glaubst wirklich, das Gypsymädchen wird verhindern, dass etwas passiert?«
»Nee … die Schnitter werden zuschlagen, egal was sie tut …«
»Das hoffe ich, wenn ich bedenke, wie viel Geld ich gesetzt habe …«
Geld? Was für Geld? Ich runzelte die Stirn und musterte die drei Kerle über die Schulter, doch sie konzentrierten sich bereits wieder auf ihre Laptops. Sie sahen nicht mal auf, als ich an ihnen vorbeiging. Ich versuchte einen Blick auf ihre Bildschirme zu erhaschen, doch sie surften einfach nur im Internet oder spielten dämliche Spiele. Es sah nicht so aus, als hätten sie etwas Verdächtiges vor. Trotzdem, ich wusste inzwischen, dass jeder ein Schnitter sein konnte – egal wie nett und harmlos die Person wirkte.
»Was ist los?«, fragte Logan, als ich mich wieder neben ihn setzte. »Du wirkst aufgebracht.«
Ich deutete mit dem Kinn in Richtung der drei Kerle. »Es geht um die da. Aus irgendeinem Grund haben sie über mich und Schnitter und Geld geredet. Ziemlich seltsam.«
Logan wechselte einen wissenden, schuldbewussten Blick mit Daphne und Carson.
»Was?«, fragte ich, während sich mein Magen wieder einmal vor Angst verkrampfte. »Was ist los? Was haben diese Kerle vor?«
»Es läuft eine Wette, dass die Schnitter den Valentinsball angreifen werden«, erklärte Logan. »Die Leute wetten darauf, was die Schnitter planen und welchen Schaden sie diesmal anrichten werden.«
Der Valentinsball sollte am Freitagabend stattfinden. Laut Daphne stellte er eines der größten Ereignisse im sozialen Kalender der Akademie dar, ungefähr so wichtig wie der Abschlussball an anderen Schulen. Tatsächlich war der Ball eine so große Sache, dass Daphne mich letzte Woche mit auf einen Einkauf geschleppt hatte, damit sie das perfekte Kleid aussuchen konnte. Und sie hatte mich ebenfalls gezwungen, mir ein neues Kleid zu kaufen. Logan hatte mich bereits gebeten, mit ihm auf den Ball zu gehen, aber ich hatte nicht groß darüber nachgedacht. So wie mein Leben in letzter Zeit verlief, war ich zu sehr damit beschäftigt gewesen, einen Tag nach dem anderen hinter mich zu bringen, ohne von Schnittern angegriffen zu werden.
»Sie wetten darauf, ob Schnitter den Ball sprengen? Ihr macht doch Witze«, meinte ich. »Wieso sollten sie so was tun?«
Logan zuckte nur mit den Achseln.
Meine gute Laune verpuffte. Denn die drei Römer hatten recht. Die Schnitter würden am Tanzabend wahrscheinlich angreifen und ihn total ruinieren, wie sie es mit jeder anderen Akademieveranstaltung in letzter Zeit getan hatten. Vielleicht war der Ball auch genau das, worauf sie warteten, und wir hatten deswegen seit der Schlacht in den Eir-Ruinen in Colorado nichts von Vivian und Agrona gehört.
Ich stand auf. »Kommt«, blaffte ich. »Lasst uns hier verschwinden.«
Logan stellte sich neben mich und schob seine Finger in meine. Ich drückte seine Hand und versuchte meine plötzliche Wut – und Sorge – zu verdrängen.
Wir verließen Kaldis Kaffee. Daphne und Carson folgten uns. Wir sprachen nicht viel, als wir Richtung Schulgelände wanderten. Heute war einer der seltenen Tage des Winters, an denen es nicht schneite. Stattdessen stand die Sonne hoch am Himmel, obwohl es selbst für Februar bitterkalt war. Oder vielleicht lag das auch nur an der eisigen Angst, die sich bei dem Gedanken, was die Schnitter beim Valentinsball anrichten konnten – und wie viele Leute sie diesmal töten würden – in meinem Körper ausbreitete.
Ich war so in meine finsteren Gedanken versunken, dass ich nicht einmal merkte, wie Logan seine Schritte erst verlangsamte, um dann ganz anzuhalten. Schließlich sah ich auf, weil ich davon ausging, dass wir den Zebrastreifen erreicht hatten. Doch dann entdeckte ich drei schwarze SUVs, die vor dem Haupttor zur Mythos Academy standen.
Ich verspannte mich, löste meine Hand aus Logans und senkte sie auf Vics Heft, jederzeit bereit, das Schwert zu ziehen, falls Vivian, Agrona oder andere Schnitter aus den Wagen stürzen sollten, um uns anzugreifen.
Doch der Mann, der die Fahrertür des vorderen SUVs öffnete und ausstieg, war kein Schnitter – sondern ein großer, dünner Mann mit blondem Haar und blauen Augen. Über seiner Winterkleidung trug er eine graue Robe, in deren Kragen das Symbol einer Hand eingestickt war, die eine Waage hielt. Ich erkannte ihn sofort.
Linus Quinn. Logans Dad. Und, viel wichtiger, der Leiter des Protektorats, der Polizeitruppe der mythologischen Welt.
Das Grauen, das mich den ganzen Tag begleitet hatte, verstärkte sich, und mein Magen verkrampfte sich schmerzhaft. Denn ich bezweifelte stark, dass Linus nur hier war, um seinen Sohn zu besuchen. Nein, irgendwas stimmte nicht, und mir drängte sich das Gefühl auf, dass die trügerische Ruhe der letzten zwei Wochen nun ein Ende finden würde.
Trotzdem konnte ich es mir nicht verkneifen, Daphne einen Blick voller morbider Selbstgefälligkeit zu schenken. »Was habe ich dir gesagt? Unser erstes Viererdate? Absolut ruiniert.«