Wagnisse

Cover

Impressum

Die niederländische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel «Waagstukken» bei De Arbeiderspers, Amsterdam.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2021

Copyright © 2021 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Waagstukken» Copyright © 2019 by Charlotte Van den Broeck

Dieses Buch wurde mit Unterstützung der Flanders Literature herausgegeben (flandersliterature.be).

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung José Garrido

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00854-0

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00854-0

Ingeborg Bachmann – Malina

 

 

Architektur ist eine gefährliche Mischung von Macht und Ohnmacht.

Rem Koolhaas & Bruce Mau – S, M, L, XL

 

 

Aber Selbstmörder haben eine besondere Sprache.

Wie Zimmerleute fragen sie nur: Welches Werkzeug,

niemals jedoch: Warum bauen.

Anne Sexton – ‹Sterben wollen›

Architekt, anonym

Zum Glück landete sie auf dem Rücken, als es passierte, und konnte den Mund über Wasser halten: Zwei Wochen vor ihrem sechzehnten Geburtstag verfängt sich Nathalie C. aus Retie mit ihrem langen Pferdeschwanz in der Filteranlage des Kinderbeckens. Der Vorfall ereignet sich an einem Sonntagnachmittag, das Schwimmbad ist gut besucht, und es ist zu viel los, um im Sportbecken Bahnen zu ziehen. Nathalie ist mit ihrem Onkel aus einem nahegelegenen Dorf nach Turnhout gefahren. Bis eine Fünfundzwanzig-Meter-Bahn frei wird, spielt sie mit ihrem Onkel und ihrem kleinen Neffen im flachen Kinderbecken. Sie lehnt mit dem Rücken am Beckenrand, als sie von irgendetwas ruckartig nach unten gezogen wird. Heftig knallt ihr Hinterkopf gegen die Fliesenumrandung. Zunächst versucht Nathalie, sich aufzurichten, aber ein schmerzendes Ziehen hält sie fest. Sie greift nach ihrem Pferdeschwanz – instinktiv schützen wir schmerzende Körperteile mit den Händen –, doch dort, wo der eigentlich sein sollte, spürt sie nur ihren Hinterkopf und unmittelbar dahinter die Beckenwand.

Obwohl sie zwischen dem Moment, in dem sich der Pferdeschwanz in der Filteranlage verfängt, und dem ihrer Befreiung nicht unmittelbar zu ertrinken droht, ist Nathalie während dieser bangen Minuten zu einer äußerst unbequemen Haltung verurteilt.

Als Schwimmbadaufseher ist Bert P. daran gewöhnt, in Notsituationen zu handeln. Statt den Schrei richtig zu deuten, beschließt er, den Pferdeschwanz gnadenlos abzuschneiden. Der Onkel und einige besorgte Umstehende kümmern sich um Nathalie. Man wickelt ihr ein Handtuch um den Kopf. Mit der Schere in der einen und dem abgeschnittenen Pferdeschwanz in der anderen Hand erkennt Bert P., was passiert sein muss: Genau da, wo Nathalies Kopf gegen den Beckenrand gedrückt wurde, besitzt der Chlordosierer einen Ansaugpunkt. Dieser wird von einer vier Millimeter dicken Platte abgeschirmt. Wie sich herausstellt, war diese Platte nicht richtig festgeschraubt, sodass Nathalies Pferdeschwanz in den Saugkreislauf dahinter geraten konnte.

Kaum dass er das erkannt hat, ergreift Bert P. weitere Maßnahmen. Er lässt das Wasser im Kinderbecken ab. Anschließend befestigt er die Platte erneut. Diesmal stellt er sicher, dass die Schrauben bombenfest sitzen. Und damit ist das Problem behoben.

Nathalie behält von dem Vorfall keine schlimmeren Verletzungen zurück, fühlt sich aber danach überhaupt nicht wohl. «Es tut nicht wirklich weh, aber ich hab mich schon erschreckt», erzählt sie in einem Interview mit dem lokalen Fernsehsender.

 

Seit der Eröffnung im Oktober 2005 ist das Stadspark-Schwimmbad nie länger als drei Monate hintereinander geöffnet gewesen. Alle möglichen merkwürdigen Pannen führten immer wieder zur vorübergehenden Schließung – angefangen von Systemstörungen und einer Bodensenkung bis hin zu biblischen Szenen, bei denen sich das Wasser urplötzlich in Milch verwandelte.

Der sündhaft teure, schlecht funktionierende Schwimmbadneubau wurde in der Gegend schnell zum Skandal. Zehn Millionen Euro hatte er gekostet und war so gut wie nie geöffnet. Vor allem Stammschwimmer hatten jede Menge Fragen, insbesondere die, ob man ihnen ihr Abo erstatten würde.

Die ganze Aufregung und die damit verbundene dubiose Gemeindepolitik gingen damals größtenteils an mir vorbei. Als 2009, gut vier Jahre später, wegen ständiger Stromausfälle und Lecks schmerzhaft deutlich wurde, dass das Schwimmbad endgültig schließen würde, studierte ich bereits in Gent und hatte anderes im Kopf – die Weltliteratur zum Beispiel und meinen Abnabelungsprozess von zu Hause. Zum Schwimmen ging ich einmal die Woche ins wunderschöne Jugendstilschwimmbad am Baudelokaai. Der heimatliche Sumpf und alles, was mich dort festhielt, ließen langsam los, während das Schwimmbad von Turnhout gerade dabei war, im wahrsten Sinne des Wortes darin zu versinken.

Der Technikraum, der unter anderem die Heizanlage des Schwimmbads enthielt, befand sich im Keller. Langsam, aber sicher versank der Keller kaum merklich im Morast. Die

Natürlich kursierten unter den Schwimmbadbesuchern und übrigen Steuerzahlern alle möglichen Theorien und Spekulationen in Bezug auf die Schließung, aber mit einer geschickten Medienpolitik gelang es dem Gemeinderat, den im Morast versinkenden Keller zu verheimlichen. Viele vage und wechselnde Ursachen wurden genannt.

Im Oktober 2009 wurde über dem Schwimmbadeingang folgendes Transparent angebracht:

WEGEN REPARATURARBEITEN

VORLÄUFIG ENDGÜLTIG GESCHLOSSEN

So als wollte man mit dieser trotzigen Mitteilung bereits im Vorfeld Fakten schaffen.

Bald darauf führte man noch alle möglichen Untersuchungen durch, wie sich das Stromnetz verbessern ließe. Haufenweise Spezialistinnen und Spezialisten wurden hinzugezogen. Sogar ein Professor schaute vorbei. Kostenvoranschläge wurden erstellt und unzählige Abendtermine wahrgenommen. All das in der Hoffnung auf ein neues Eröffnungsdatum. Das gab es auch: Im Januar 2011 wurde das Schwimmbad nach anderthalb Jahren Schließung wiedereröffnet.

WEGEN REPARATURARBEITEN

VORLÄUFIGENDGÜLTIG GESCHLOSSEN

Wie oft bin ich in dem Schwimmbad gewesen? Nicht oft genug, um die Bedeutung, die ich diesem lieu de piscine mittlerweile zuschreibe, zu rechtfertigen. Aber zu meiner Verteidigung: Oft weiß man erst im Nachhinein, was man sich hätte einprägen sollen, und dann ist es für das, was man lieber vergessen hätte, schon zu spät – beziehungsweise wie in diesem Fall genau umgekehrt. Trotzdem habe ich meinen ersten Besuch des neuen Schwimmbads noch überdeutlich in Erinnerung. Es dürfte ungefähr im Juli 2006, ein halbes Jahr nach der Eröffnung, gewesen sein. Ich bin gerade vierzehn geworden, herrenloses Gut, zum ersten Mal ohne meine Eltern unterwegs. Ich trage ein rotes Höschen, unter dem sich meine breiter werdenden Hüften abzeichnen. Das Oberteil ist ein orangefarbenes Polyesterdreieck, dessen Spitze auf meinen entblößten Bauchnabel zeigt. Mein Haar fällt in einem langen Zopf auf meinen Rücken, der mir bis zum Po reicht. Auf der Innenseite meines Handgelenks klebt ein Tribal-Tattoo aus der Chipstüte. Ich hätte gern einen neuen Bikini, am liebsten einen mit einer hochgeschnittenen Hose und Platz für meinen nicht existierenden Busen, so wie Eef, die ein Stück weiter mit ihrem Nachbarsjungen Max im Wasser tobt – sie hat Körbchengröße B und einen Bikini mit Cups. Max ist zehn und mollig, er hat ein niedliches, sommersprossiges Gesicht und eine große Klappe. Wenn ihm langweilig ist, versucht er, uns an Stellen zu berühren, die ihn eigentlich nicht interessieren, aber von

Eigentlich ist es zu kalt, um draußen zu schwimmen, aber das Hallenbad ist geschlossen – irgendeine technische Störung. Eef und Max sind im Außenbecken. Ich liege in einiger Entfernung auf meinem Handtuch auf der Liegewiese. Gänsehaut, käsebleich und flach wie ein Bügelbrett, verfügt der erbarmungslose Blick, mit dem sich vierzehnjährige Mädchen betrachten. Außerdem finde ich, dass mein Bauch zu weit vorsteht. Ich stütze mich rücklings auf die Ellenbogen, um die eingebildete Wölbung zum Verschwinden zu bringen. Niemand schaut nach mir, ich bin mehr oder weniger unsichtbar, trotzdem brennen die Blicke sämtlicher Freibadbesucher auf meiner Haut. Ich presse meine flache Brust nach oben, sollte doch jemand ein Auge auf mich werfen wollen.

«Max, nicht, hör auf damit!», höre ich Eef rufen. Vom Rand der Liegewiese neben dem Außenbecken kann ich die einsame Trauerweide auf dem angrenzenden Feld sehen. Im Juli steht das Getreide auf der alten Wiese kniehoch. Aus meinem Blickwinkel scheinen die Halme die Unterseite der herabhängenden Weidenzweige zu berühren, so als würde das Bild dort, wo sie aufeinandertreffen, wie mit einem Reißverschluss zugezogen und verlöre an Tiefe – die Skizze eines Schülers, der mit der Perspektive kämpft.

Ich lese eine zeitgenössische Bearbeitung von Abélard und Héloise, die in New York spielt – in dieser Version von der Geschichte heißen sie Arthur und Lois. Im Lateinunterricht haben wir gerade Ovids Hero und Leander übersetzt. Ich finde, dass aussichtslose Liebesgeschichten gut zu Trauerweiden passen. Diese Kombination lässt die Sparflamme in meinem noch nicht erblühten Herzen ein wenig höher lodern.

Ich löse die Ellbogen und lege mich flach auf den Rücken,

Der Nachmittag scheint kein Ende zu nehmen. Die Farben werden greller. Niemand muss arbeiten. Peter Getting Out of Nick’s Pool (1966). Kalifornische Sonne auf nackten Männerhintern. Die Bilder von David Hockney feiern den Pool im Garten hinterm Haus als Kultort der Entspannung, des Luxus und der sexuellen Offenheit.

Es ist August 2017. Ich stehe in der Sonderausstellung des Centre Pompidou. Ich bin spontan nach Paris gefahren. In den Wochen davor habe ich manisch an einer Reihe von Gedichten, mit denen ich beauftragt worden bin, gearbeitet. Dem ging ein stressiges Jahr voraus, und das Jahr davor war auch schon stressig. An die Zeit vor dem Stress kann ich mich kaum noch erinnern. Ich bin jemand, der Stress hat. Vermutlich bin ich erschöpft, gestehe mir das aber nicht ein. Stattdessen rege ich mich die ganze Zeit über Kleinigkeiten auf. Ich suche nach einem Trostpflaster. Kunst gucken. Mit Hilfe der rosafarbenen, blauen und gelben Farbflächen Hockneys versuche ich aufzutanken. A Bigger Splash (1967): schlichte Formen, ein spielerischer Spritzer, eine fröhliche Farbpalette. Die Sonne trifft außerhalb der Leinwand auf, muss aber sengend heiß sein, nur so sind die vor Hitze triefenden Farben zu erklären. Es scheint in unerreichbarer Ferne zu liegen, ein einfaches Leben mit Schwimmbad.

Auf dem Bild Portrait of an Artist – Pool with Two Figures (1972) steht ein Mann, vermutlich Hockney selbst, am Rand eines Schwimmbeckens. Der Garten geht auf eine malerische Landschaft hinaus, hügelig, grün, luftig. Doch der Mann am

Ich laufe durch die Ausstellung, vorbei an Szenen und Farben, Collagen und Bleistiftzeichnungen, Pop-Art-Einflüssen und das Aufbegehren dagegen, an Darstellungen von Hockneys Männern – immer diese vorwitzigen Hintern, die wiederkehrenden Pools, die Jahreszahlen. Ein Leben in Bildern. Sechzig Jahre Pinselstriche, auch damit kann man seine Zeit zubringen.

Im letzten Saal steht Hockneys Videoinstallation The Four Seasons. Vier zueinanderzeigende Wände bilden einen abgeschirmten Raum. Ich schlüpfe zwischen zwei Paneelen hinein. Jede der Wände besteht aus neun einzelnen Bildschirmen, die ein großes, bewegtes Gesamtbild zeigen. Ich setze mich auf die Bank vor der Wand mit «Winter».

Woldgate Woods, Winter, 2010 – Das Bild bewegt sich über einen verschneiten Waldweg vorwärts, mit der Geschwindigkeit eines vorsichtigen Fahrers. Ein Vorgänger hat bereits Reifenspuren auf dem schneeweißen Teppich hinterlassen. Am Wegesrand stehen kahle, von Raureif und Schnee bedeckte Bäume. Ich schaue, und die Bewegung zieht mich ins Bild, in die Landschaft hinein, in das Weiß, und ich werde das Sehen, ich werde der Fahrer und gleichzeitig die träge Kamera, die dem Weg in den Wald folgt. Trotzdem scheine ich nicht vorwärtszukommen, weil sich die Landschaft, je tiefer ich darin versinke, nicht verändert, so wirkt es zumindest, denn plötzlich liegt der verschneite Weg, ehe ich mich versehe, nicht nur auf dem

 

Nicht lange nach der endgültigen Schließung des Schwimmbads im Jahr 2011 machten in den Kneipen von Turnhout Gerüchte die Runde. Freunde von früher brachten Geschichten mit nach Gent. Vielleicht war es auch ganz anders, und ich hörte sie selbst am Tresen des Café Ranonkel, wenn ich mal wieder im Kempenland war. Ob ich schon das mit dem Schwimmbadarchitekten gehört hätte? Der soll nach dem x-ten Fehler Selbstmord begangen haben. Je nachdem, wer oder der wievielte das erzählte, tat der Architekt das, indem er sich in dem im Sumpf versinkenden Keller erhängte, direkt am Ort seines Scheiterns. Ganz schön makaber.

Ob der bemitleidenswerte Architekt tatsächlich auf diese Weise starb, trat, weil die Geschichte so stimmig war, schnell in den Hintergrund. Jemand, der sich ein öffentliches Scheitern in der Größenordnung des Schwimmbads von Turnhout einbrockt, ja der sich auf seinem Gebiet als dermaßen unfähig erweist und dermaßen dreist mit den Leuten und ihrem Geld umgeht, der muss doch wohl den höchsten Preis dafür zahlen? Man glaubte oder wollte die Menschen offensichtlich glauben lassen, dass der Konstruktionsfehler den Architekten in den Selbstmord getrieben hatte, und dieser Glaube war wahrhaftig

Dass das eine grausame Argumentation ist, die dieser Selbstmordgeschichte vorausgeht, fiel mir ehrlich gesagt erst Jahre später auf. Ich glaube, dass ich die Anekdote zunächst gar nicht hinterfragt habe. So lief das hier eben manchmal. Als ich die Geschichte später selbst einmal zum Besten gab, reicherte ich den Vorfall genüsslich mit einem sicheren Instinkt für eine schwarzromantische Tragödie an: der Architekt als gescheiterter Künstler, das Scheitern seines Werks als Scheitern seiner selbst.

Bei sentimentaleren Versionen der Geschichte wurde der Architekt psychologisiert, nicht als tragischer Künstler, sondern als verkannter Sohn eines Architekten der Turnhouter Schule – man wisse schon, von wem. Über den Vater sei er an den Auftrag für das prestigeträchtige Schwimmbad gekommen. Eine Riesenchance und die Gelegenheit, sich unabhängig von seinem Nachnamen auf seinem Gebiet zu beweisen. Nicht nur das eigene Scheitern, sondern auch das Scheitern im Vergleich zu seinem Vater und Lehrmeister habe ihn in tiefste Verzweiflung gestürzt. Wir gehen nicht gerade zimperlich mit Menschen um, denen angeblich alles in den Schoß fällt.

Kneipentratsch. Kleinstadtklatsch. Eine Abrechnung. Die Empörung war jedenfalls groß, was das Schwimmbad betraf, und Wut braucht ein Ventil. Nur allzu gern wurde mit dem Finger auf den Architekten gezeigt. Er hatte das Schwimmbad

 

Immer wenn ich die Leiter eines Schwimmbads hinuntersteige, muss ich an zwei vagen Erinnerungen vorbei. Er und ich, für immer sechzehn. An einem Sonntagnachmittag lehnen wir ineinander verschlungen am Beckenrand des Turnhouter Schwimmbads. Im Wasser bin ich schwerelos, ich habe ihm die Beine um die Taille geschlungen, und seine Hände liegen auf meinem Hintern. Von dort aus erkunden seine Finger mein Bikinihöschen. Zwischen den Beinen spüre ich, wie er steif wird in seinem orangefarbenen Badehosenzelt. Unter Wasser ist die Reibung weniger spürbar, trotzdem drängt er sich so fest an mich, dass ich Angst habe, er könnte einen blauen Fleck hinterlassen. Wir küssen uns ohne Unterlass wie Waschmaschinen, mit großen kreisenden Zungenbewegungen. Zwischendurch sagt er, dass ich «sexy» bin, aber sicher sein kann ich mir nicht, weil er die Augen dabei geschlossen hat. Ich möchte, dass er mich ansieht. Ich selbst wage es nicht, ihn anzusehen. Ängstlich kneife ich die Augen zu und denke an das, was ich neulich in einer Zeitschrift gelesen habe, die Schilderung eines Mädchens, das mit seinem Freund Sex unter Wasser hatte. Sein Penis hatte ein Vakuum erzeugt und blieb in ihr stecken. Es

Erst als wir Menschen schreien hören, bekommen wir die Umgebung wieder mit, und ich stoße ihn fort. Am anderen Ende des Beckens umringen mehrere Menschen den Bademeister, der zusammengekrümmt auf dem Boden liegt. Blut auf dem Antirutschboden. Zwei junge Männer verschwinden im Gang mit den Umkleiden. Kurz darauf wird der Bademeister in einen Krankenwagen geschoben. Alle müssen das Schwimmbad verlassen. Weil der Gang mit den Umkleiden Teil des Tatorts ist, müssen wir uns hinter der Absperrung umziehen. Fast hundert Besucher stehen tropfnass im Foyer. Die Polizei befragt sämtliche Augenzeugen.

Der Bademeister soll einen zwölfjährigen Rowdy aus dem Wasser geholt haben, woraufhin der Junge seinen Bruder – Typ Muskelprotz – herbeitrommelte, der den Bademeister daraufhin vermöbelte. Andere behaupten, der Bademeister hätte den Jungen nicht unter Kontrolle bekommen und an der Kehle gepackt, um ihn zum Schweigen zu bringen, woraufhin der große Bruder die Verteidigung übernahm. Auf den Bildern der Überwachungskamera ist nur zu sehen, wie der Retter mit dem Rücken zur Kamera vor dem Jungen steht und dann von hinten angegriffen wird.

Nach anderthalb Stunden Warten erzählen wir dem

Der Bademeister behält von diesem Vorfall einen gebrochenen Wangenknochen und einen gebrochenen Fuß zurück. Die beiden jungen Männer können nicht identifiziert werden. Das Schwimmbad bleibt für mehrere Tage geschlossen.

 

Der Architekt des Schwimmbads hat keinen Namen. Zumindest kann ich seinen Namen in der Berichterstattung nirgendwo finden. Irgendwie ist es gelungen, seine Identität aus den Medien herauszuhalten. Dieser Verschwindetrick befeuert die Geschichte von seinem Selbstmord erst recht. Dann und wann behauptet jemand, trotzdem zu wissen, wer er ist. Wissen ist Macht, auch in der Kneipenszene. Wer eine gute Geschichte zu erzählen hat, bekommt vielleicht ein Getränk ausgegeben oder kann so wenigstens dafür sorgen, dass jemand auf dem Barhocker nebenan Platz nimmt und ihm Gesellschaft leistet. Laut Rob V., Stammgast im Café Ranonkel, ist der Architekt nicht der Sohn eines bekannten Architekten, sondern der Neffe eines Beigeordneten aus der Opposition der damaligen Stadtverwaltung. Renée M. behauptet, der Architekt stamme nicht mal aus Turnhout und habe mitnichten Selbstmord begangen. Der Bauunternehmer wiederum sei nach der Schließung spurlos verschwunden. Stan W. hingegen schwört Stein und Bein, dass es in Wahrheit der Bauunternehmer war, der sich aufgrund von ungerechtfertigten Vorwürfen das Leben nahm.

Inzwischen zieht sich das Gerichtsverfahren schon fast sieben Jahre hin. Die Stadt hat Schadenersatz in beträchtlicher Höhe gefordert, die Prozessbeteiligten haben einen Vergleich geschlossen. Informationen über den Fall dürfen unter keinen Umständen rausgegeben werden.

Von einem früheren Beigeordneten erfahre ich, dass der

Auch der Bürgermeister hält sich strikt an das Embargo, konkrete Informationen herauszugeben. Als ich ihn frage, was der genaue Grund für die endgültige Schließung des Schwimmbads gewesen sei, weicht er mir rhetorisch geschickt aus: «Aufgrund von technischen Störungen wegen der Problematik.»

Der Geschichte über den Architekten schenkt er keinen Glauben, darf aber wegen des laufenden Verfahrens nichts weiter dazu sagen. Stattdessen zeigt mir der Bürgermeister ein paar Fotos von der neuen Wasserrutsche.

 

Danny aus der Driekuilenstraat, einer Einbahnstraße parallel zu der, in der meine Eltern wohnen: Immer wenn ich ein Duvel bestelle, denke ich an ihn. Tag für Tag kam er um die Mittagszeit zum Trinken in die Schwimmbad-Cafeteria. Die zwei Kilometer bis zum Stadtpark legte er in einem motorisierten Rollstuhl zurück. Über das Öffentliche Sozialhilfezentrum hatte er den umsonst bekommen, weil er an Übergewicht und an einer Fettleber leidet. Seine Erkrankung und seinen Sozialhilfeanspruch erhält er dadurch aufrecht, dass er jeden Tag zwischen zwölf und vierzehn Duvels trinkt. Mein Vater glaubt, dass es sich um einen Kasten Bier am Tag handelt, aber manchmal klingen Tatsachen unglaubwürdiger als etwas, das man sich ausgedacht hat.

Beim Trinken sitzt er jedenfalls immer im Cafeteria-Bereich mit Blick auf das Becken. Von dort aus sieht er den Badegästen zu, ohne jeden Hintergedanken. Vom Trinken wird er weder

Wenn er dann um fünf in seinem Rollstuhl nach Hause fährt, wartet seine Frau mit einem Backhuhn auf ihn, das er mitsamt der Haut aufisst. Anschließend legt er sich schlafen. Am nächsten Tag steht er erst gegen Mittag auf, und alles beginnt von vorn. Dass seine Frau auch mal rauskommt, dafür reicht das Geld nicht. Seine Sozialhilfe und ihre Rente genügen gerade, um die Rechnungen und Biere zu bezahlen. Für unvorhergesehene Ausgaben geht sie schwarz putzen. Sonntags sitzt Danny normalerweise länger in der Cafeteria, wegen des Wettkampfs: Kraulen, das schaut er sich gern an.

An bewusstem Sonntag bricht der Schiedsrichter den Wettkampf auf Anweisung des Trainers hin ab. Obwohl Danny fast bei seinem vierzehnten Bier angelangt ist, schreckt er deswegen trotzdem aus seinem Rausch hoch. Durch die Scheibe sieht er, wie die Mitglieder des Schwimmvereins vom Schwimmbadaufseher Bert P. zusammengestaucht werden. Was Danny in der Cafeteria nicht mitbekommt, ist, dass die Schwimmer ihre Handtücher und Sporttaschen achtlos neben dem Beckenrand fallen gelassen haben. Dadurch wurde ein Großteil der Luftzufuhrgitter verdeckt (der Verein zählt dreihundert Mitglieder). Wegen der von Sporttaschen und Handtüchern gestörten Frischluftzufuhr ist die Luftfeuchtigkeit innerhalb von einer halben Stunde auf achtzig Prozent gestiegen, wodurch das Atmen im Schwimmbad mühsam wurde, die Luft dünn, die Gedanken wirr.

Trainer und Schiedsrichter ermahnen die Mitglieder des

Bert P. gibt ihm Nachhinein zu, dass er zu impulsiv reagiert hat, und möchte konstruktiv über eine Lösung für die Zukunft nachdenken: Vielleicht kann eine Vollzeitkraft an der Treppe stehen und kontrollieren, dass keine Sporttaschen oder Handtücher mit reingenommen werden?

Nach der Räumung sinkt die Luftfeuchtigkeit rasch wieder auf fünfzig Prozent, zur Sicherheit bleibt das Schwimmbad jedoch für den Rest des Abends geschlossen.

Als das Personal am nächsten Tag eintrifft, um die Morgenschwimmer reinzulassen, entdeckt es vor dem Eingang zur Cafeteria, weit vor der regulären Öffnungszeit, den motorisierten Rollstuhl. Später wird Dannys Frau bestätigen, dass er am Vorabend tatsächlich nicht nach Hause gekommen ist. Sie hatte gewartet, bis das Huhn kalt war, und nur gedacht: Du kannst mich mal …

 

Auf dem Blog Turnhout – van Toen («Turnhout, wie es früher einmal war») sehnt man sich nach der Vergangenheit zurück. Unter einem sepiafarbenen Foto vom Freibad im Stadtpark (drei Schwimmbecken und ein kleines Sprudelbecken) lese ich folgende Reaktion:

Ich denke immer noch sehnsüchtig an das Freibad im Stadtpark zurück. Ich kann immer noch nicht fassen, dass es dieses Schwimmbad nicht mehr gibt. Es bricht mir jedes Mal das Herz, wenn ich im Stadtpark bin und

Antwort:

Lieber W. P., es ging einfach nicht anders. Sämtliche Becken waren an ein Stromnetz angeschlossen. Die Probleme im Hallenbad hatten auch Auswirkungen auf das Freibad. Wäre das Freibad geöffnet geblieben, hätte es höchstwahrscheinlich weitere Pannen gegeben. Ich bin froh, dass wenigstens das verhindert werden konnte. (D.V. – 17/07/2012–8u34).

Antwort:

Was für ein Schwachsinn! Der größte Fehler der Gemeinde war, dass sie sich eingebildet hat, ein Hallenbad mit allen Schikanen haben zu wollen, während ein einfaches, großes Freibad nie in Erwägung gezogen wurde. Kein Einwohner von Turnhout braucht beheiztes Wasser! (M.V. – 02/04/2017–22u32).

Viertel nach sieben, kaltes Wasser, Kurzschluss. Bin schon seit vier Stunden wach. Noch nie so früh in einem öffentlichen Schwimmbad gewesen. Heute Nacht hat mich mein Freund verlassen, das sind die ersten, ratlosen Stunden, und die nächsten anderthalb Stunden schwimme ich. Arme und Beine, leer und schwer. Brust, Atemnot. Bauch, Seitenstechen. Haut, in Chlorwasser eingeweicht. Mund, nicht ertrunken. Lippen, knapp über der Wasseroberfläche. Am Beckenrand klebt kein Liebespaar.

Im Bus nach Hause schlafe ich ein und verpasse die Haltestelle, an der ich aussteigen muss. Trotzdem wache ich zu

«SCHWIMMEN IN MILCH», lautete die Zeitungsschlagzeile wenige Tage später, am Donnerstag, dem 11. Juni 2009. Am Mittwochnachmittag nahm das Wasser im großen Becken des Stadspark-Schwimmbads in Turnhout eine milchweiße Farbe an. Der für die Wartung der Anlagen zuständige Peter R. machte sich deswegen zunächst keine Sorgen: «Wenn es voll ist, können Stoffe ins Wasser gelangen, die zu Verfärbungen führen. Im Sommer passiert das schon mal», wiegelt er ab.

Dennoch gerieten die Schwimmer in Panik. Ein Kind, das mit seinem Vater im Vorderbereich des großen Beckens spielte, schluckte etwas von dem Milchwasser und musste sich anschließend wiederholt übergeben. Mehrere Schwimmer gaben an, das Wasser habe einen verdächtigen, chemischen Geruch

Als eine halbe Stunde später die letzten Schwimmer sicherheitshalber doch noch das Bad verließen, legte ein Stromausfall das System zum Scannen der Eintrittsarmbänder lahm. Daraufhin wurde beschlossen, das Bad sofort zu räumen.

Auch am nächsten Morgen blieb das Wasser weißlich trüb. Man befürchtete schon, es könnte Recyclingwasser ins Becken gelangt sein – Wasser, das normalerweise zum Putzen der Duschen und für die WC-Spülung verwendet wird. Daraufhin Peter R.: «Nun, an und für sich ist das sauberes Wasser, aber eben nicht sauber genug, um darin zu schwimmen.»

Am Tag danach sollte das Referat für Gesundheit und Umwelt kommen, um Proben zu entnehmen. Es dauert mindestens achtundvierzig Stunden, bis die Testergebnisse da sind. Nach heutigem Stand bleibt das Schwimmbad bestimmt noch bis Montag geschlossen. In der Zwischenzeit besteht die einzige Lösung darin, das weiße Wasser zu verdünnen, zu verdünnen, zu verdünnen.

 

Gute Nachrichten: Der maßangefertigte Filter, der bestimmte Grundprobleme im Schwimmbad lösen soll, soll früher als gedacht in Turnhout ankommen.

Sobald der Filter geliefert ist, wird man für ein paar Tage in den Probebetrieb gehen. Das beinhaltet, das Becken so zu befeuchten, als hätten tausend Personen darin geschwommen. Je nach Ergebnis besteht die Chance, dass das Schwimmbad noch vor den Weihnachtsferien wieder aufmacht.

Aber in den Weihnachtsferien 2009 macht das

«Ihr sagt, dass der Beton Wasser durchlässt, wir sagen, dass es Wasserlecks gibt. Auch Ritzen, Löcher, Öffnungen können für die Kellerlecks verantwortlich sein, denkt auch an diese Möglichkeit und seht nicht nur das, was ihr sehen wollt, hier werden verdammt noch mal Tatsachen verkündet, bevor sie überhaupt passiert sind!», so die Presseabteilung.

 

In Band zehn der Gesammelten Werke von Charles Darwin lese ich eine Passage über den «Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren». Der Autor spricht darin von den sogenannten «grief muscles» oder «Gram-Muskeln». Diese Muskeln befinden sich im Gesicht und werden bei Tod, Gram, also Kummer, und Misserfolg aktiviert. Passend zum rationalistischen Eifer des 19. Jahrhunderts, betrachtet Darwin das Anspannen dieser Muskeln weniger als äußerliches Anzeichen für innere Regungen, sondern vielmehr als körperliche Reaktion. Die Gram-Muskeln sind miteinander verbunden. Das Zusammenziehen der Brauen lässt die Mundwinkel sinken und wirkt sich außerdem auf die Durchblutung des Gesichts aus. Dadurch wird der Teint blass, die Muskeln erschlaffen, die Lider hängen, und der Kopf fällt auf die Brust. Aufgrund ihres geballten Gewichts vollführen Lippen, Wangen und Unterkiefer eine Abwärtsbewegung. Deshalb, so Darwin, sagt man auf Englisch, dass das Gesicht eines Menschen bei schlechten Nachrichten oder beim Erleiden eines Misserfolgs «fällt». Darüber hinaus kann ein Misserfolg dazu führen, dass wir in den Augen anderer einen «Gesichtsverlust» erleiden. Das Gesicht

Das sind alles nur Metaphern. Ich muss das nicht so schwernehmen.

 

In Ermangelung eines eigenen Schwimmbads sahen sich die Schulen in Turnhout in den neunziger Jahren und zu Beginn des Jahres 2000 gezwungen, den Schwimmunterricht zwei Dörfer weiter anzubieten. Im Schwimmbad von Arendonk wäre ich einmal fast ertrunken, aber das hat niemand ernst genommen.

In der letzten Schwimmstunde vor den Ferien hatten wir immer Spaßbad. Knallbuntes Spielzeug aus Schaumstoff oder zum Aufblasen wartete schon im Wasser auf uns: Schwimmnudeln, Schwimmflöße, Bälle, Schwimmbretter und, über die gesamte Länge des Übungsbeckens, die Wasserrutsche. Ich saß mit dem dicksten Jungen meiner Klasse auf einem roten Schwimmfloß und wartete, bis ich bei der Wasserrutsche an der Reihe war, als er sagte, dass er verliebt in mich sei, um mich dann, ganz erschrocken von seinem Geständnis, plötzlich vom Floß zu stoßen. Damit hatte ich nicht gerechnet. Durch das Gewicht des Jungen fiel der Stoß kräftiger aus als beabsichtigt, wodurch ich einen Salto rückwärts machte und unter dem Floß landete. Instinktiv versuchte ich, das Floß nach oben zu drücken, dorthin, wo Luft war, doch weil der dicke Junge immer noch draufsaß, gelang es mir nicht, es anzuheben. Sofort geriet ich in Panik. Wieder versuchte ich, gegen das Floß zu drücken. Vergeblich, und als mir das dämmerte, spürte ich, wie in meinem Kopf ein dünner Faden entstand, anders kann ich das nicht beschreiben, ich spürte, wie sich ein dünner Faden um meinen Schädel spannte. Als würde die Luft, die langsam zur Neige ging, zu diesem Faden zusammengepresst, ja, als müsste ich mich an diesen Atemfaden in meinem Kopf klammern.

Durch die um uns herumtobenden Kinder im wildwogenden Wasser muss das Floß weitergetrieben sein. Erst als ich merkte, dass es sich horizontal bewegen ließ, begriff ich, dass ich mitnichten gefangen war, sondern einfach nur unter dem Floß hervorzutauchen brauchte, um wieder frei zu sein.

Nach Luft schnappen beim Auftauchen. Ich zog mich zur Leiter, und kaum war ich aus dem Becken geklettert, brüllte ich das ganze Schwimmbad zusammen. Der Bademeister, der mehrere Funktionen erfüllte und auch mein Sportlehrer sowie Hort-Betreuer war, kam, um mich zu trösten. Als ich ihm erzählte, dass ich beinahe unter dem roten Floß ertrunken sei, sagte er: «Das glaube ich kaum.»

 

Am 18. April 2011 wird das Schwimmbad nach vierhundertdreiundvierzig Tagen Schließung wieder eröffnet. Um sieben Uhr morgens steht eine beachtliche Anzahl von Frühschwimmern vor der Tür.

Alle, die bei der Schließung im Jahr 2009 ein Abo hatten, bekommen heute zur Entschädigung eine Gratis-Verlängerung um die Schließungsdauer. Ungefähr hundert Leute stellen sich an der Kasse an, um sich die verpassten Schwimmtage nachtragen zu lassen.

Um Viertel nach zwölf bildet sich vor dem elektronischen System, das die Eintrittsbänder kontrolliert, eine Schlange aus ungefähr vierzig Schwimmern. Das System ist zusammengebrochen.

Nach zwanzig Minuten Warten wird eine defekte Sicherung gefunden – sie ist vermutlich wegen des überlasteten

Zehn Minuten später haben sich die Ersten umgezogen. Im Gang mit den Umkleiden, der zum Schwimmbad führt, werden sie aufgehalten. Der Chlorgehalt des Wassers liegt im oberen Bereich. Ein Teil der Besucher ist zu Recht wütend und verlässt das Bad.

Nach einer kurzen Kontrolle dürfen die Schwimmer doch noch ins Wasser springen. Die einen fühlen sich auf den Arm genommen, die anderen sind in erster Linie erleichtert, dass noch geschwommen werden darf. Kurz nach den ersten Platschern fällt die Beleuchtung aus. Stromausfall. Auch die Schließfächer funktionieren elektronisch. Die Schwimmer müssen im Dunkeln in ihren Badesachen warten. Inzwischen stehen auch achtzig ungeduldige Schüler in der Halle.

Dann wird die Ursache für den Stromausfall gefunden. Es wird nicht verraten, was schiefgelaufen ist, aber der Fehler wird behoben. Nach dem Umziehen springen die achtzig Schulkinder abwechselnd von den Sprungbrettern der drei für sie reservierten Schwimmbahnen und beginnen mit fünfhundert Metern Kraulen.

Als die Kinder das Wasser verlassen haben, schließt die Cafeteria, und an der Kasse wird eine Entscheidung getroffen: lieber bis zum Wettkampf am Sonntag vorläufig schließen, wegen der Problematik.

Am Sonntag wird der Wettkampf abgesagt. Das Schwimmbad bleibt geschlossen.

 

Rückschläge lassen sich überwinden. Aus der endgültigen Schließung wurde vor kurzem nach einigen Jahren wieder eine vorläufige. Mit einer Sturheit, die ich sonst nirgendwo erlebt habe, plante man ein ganz neues Schwimmbad genau am

Die einstige Wildwasserrutsche wird abgerissen.

Dort, wo sich vorher der problematische Keller befand, entsteht jetzt auf einer Erhöhung ein neuer Technikraum. Darüber kommen drei Kinderbecken, die direkt an die Cafeteria grenzen.

Das Fünfundzwanzig-Meter-Becken bleibt bestehen.

Das Wellenbad kommt weg. Stattdessen gibt es ein Lehrschwimmbecken mit Hubboden und ein Auffangbecken für die neue Rutsche.

Die neue Rutsche soll sechzig Meter lang werden, auf halber Strecke wird es eine Kamera geben, die Fotos von den hinabrutschenden Schwimmern macht – als Vorbild dient die Wildwasserrutsche im Freizeitpark Bobbejaanland. Das Foto kann man anschließend in Form eines Schlüsselanhängers erwerben oder als Abzug mit einem von drei Mottos: Natur, Piraten oder Delfine.

Die Sauna und der Whirlpool bleiben, bekommen aber ein neues Gewand.

Die Stadtverwaltung beschließt, ein neues Schwimmbad zu

 

Es dauert dann bis Februar 2017, bis das neue Schwimmbad eröffnet wird. Keinen Monat später muss es wieder vorübergehend schließen: Während des Schulschwimmens wurden giftige Chlordämpfe freigesetzt. Drei Monate später steht eine Gruppe erschütterter Abendschwimmer vor der verschlossenen Tür, weil es «finanziell nicht mehr vertretbar ist, das Schwimmbad nach 18 Uhr geöffnet zu haben».

Trieb die Schwimmbad-Fehlplanung den Architekten wirklich dazu, ein Seil um eine Oberleitung an der Kellerdecke zu knoten und den Hocker unter seinen Füßen wegzutreten? Wann ist ein Versagen groß genug, um dafür zu sterben? Eigentlich lautet meine Frage: Wann wird ein Scheitern größer als das Leben oder so allumfassend, dass das Leben selbst als gescheitert gelten muss? Wo verläuft die Grenze zwischen Schöpfer und Werk?

Eine Spur hat in Turnhout ihren Anfang genommen, in der Heimat, wo die meisten Geschichten beginnen, und führt zu dreizehn Bauwerken, die für ihren jeweiligen Architekten zum Verhängnis werden sollten. Innerhalb von drei Jahren habe ich diese «Orte des Scheiterns» aufgesucht. Um die Architekten zu rehabilitieren, ihre «gefallenen» Gesichter aufzuheben und etwas gegen die Sinnlosigkeit ihrer Verzweiflung, die Endgültigkeit ihrer Tat zu unternehmen. In Momenten von Größenwahnsinn habe ich mir vielleicht sogar eingebildet, diese Taten im Nachhinein noch verhindern zu können. Zumindest habe ich mir so was anfangs noch eingeredet.

Jean Porc (†1611)

Ob auch ich das Glück habe, in der Nähe einer verdrehten Turmspitze zu leben? Ich versuche, ihre Frage mit angemessener Enttäuschung zu beantworten. Madame Maquin ist schließlich niemand Geringeres als die stolze Präsidentin der Association les Clochers Tors d’Europe. Als der frühere Präsident des europäischen Vereins für verdrehte Turmspitzen vor vier Jahren sein Amt niederlegte, schlug er sie als geeignete Nachfolgerin vor. Völlig überraschend. Die Präsidentschaft ist ein siebenjähriges Mandat, nichts, was man auf die leichte Schulter nimmt, in erster Linie jedoch eine Ehre.

«Außerdem ist sie die erste Präsidentin», mischt sich ihr Mann, Monsieur Maquin, ein. Das Ehepaar, beide um die sechzig, hat eine zweieinhalbstündige Autofahrt hinter sich, um mich an der Kirche von Verchin, einem Dorf in Pas-de-Calais, zu treffen. Es versteckt sich zwischen Landstraßen, zwei Kilometer von der Quelle der Leie entfernt, und hat rund zweihundert Einwohner.

Der verdrehte Turm von Saint-Omer hat mich vorhin, von der Straße aus, an einen der kahlen Novemberzweige der Rosskastanien am Rand des Dorfes erinnert. Erst als ich näher an die Kirche herankam und die Perspektive korrigiert wurde, schien der krumme Ast nicht mehr einem Baum zu entsprießen, sondern als schiefer Zaubererhut auf einem Kirchturm zu sitzen.

Was macht der Verein genau? Vor allem Kontakte zu den Medien knüpfen, den gegenseitigen Austausch befördern und natürlich: Forschung betreiben. Es müssen so viele Erkenntnisse wie möglich über die verdrehten Turmspitzen gesammelt und verbreitet werden. Europa zählt zweiundachtzig clochers tors. Ungefähr die Hälfte wurde bereits im ersten Band des auf zwei Bände angelegten Kompendiums beschrieben, das der Verein herausgegeben hat. M. Maquin holt das Buch aus dem Kofferraum seines Wagens. Die beiden haben noch nicht alle beschriebenen Türme persönlich in Augenschein nehmen können, aber das ist sicherlich ihr Traum. Bei jedem Turm, den sie besuchen, kommt ein Stempel in das Buch, ein Pilgerausweis ihrer Wallfahrt.

M. Maquin hat vorläufig auch schon ein Lieblingsexemplar: die verdrehte Turmspitze von Chesterfield, ganz aus Blei und sehr robust. Mme. Maquin bleibt in ihrer Eigenschaft als Präsidentin lieber neutral, aber den Turm von Verchin findet sie schon sehr besonders. «Als wollte er jeden, der vorbeikommt, mit einer Verbeugung begrüßen», schwärmt sie.