Der eiserne Wal
Ein historischer Kriminalroman
Geschrieben auf einem Jens-o-mat
Hamburg im Jahre 1862 – mehr als ein Jahr nach Öffnung der Stadttore. Mit Aufhebung der Torsperre setzt innerhalb weniger Jahre eine rasche Bebauung in den Gebieten jenseits des ehemaligen Wallrings ein. Neben den bereits erschlossenen Vororten, St. Pauli und St. Georg und Teilen des späteren Karolinenviertels, konzentriert sich die Stadterweiterung vor allem auf die Regionen rund um die Außenalster sowie die Gebiete des Hammerbrooks. Die nächstgelegenen Landgemeinden, etwa Eimsbüttel, Rotherbaum und Harvestehude sowie die Uhlenhorst, werden zunächst zu Vororten und später in Stadtteile umgewandelt.
Hamburg hat sich seit dem Großen Brand von 1842 und dem daraufhin einsetzenden Modernisierungsschub innerhalb von zwei Jahrzehnten zu einer modernen Metropole entwickelt. Viele Straßenzüge werden nachts bereits mit Gaslaternen beleuchtet, unterirdische Leitungen versorgen die neuen Häuser mit Frischwasser, und für die Abwässer gibt es ein stetig wachsendes Kanalisationsnetz. Einzig der Hafen – das Herz der Stadt – hat mit dem Tempo der Entwicklung nicht mitgehalten. Vor allem an Schiffsliegeplätzen mangelt es, denn immer mehr große Dampfschiffe laufen Hamburg an. Waren es in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts nur zwei Dampfschiffe im Jahr, die den Hamburger Hafen ansteuerten, so machten hier im Jahr 1831 bereits 77 Dampfer fest. 1837 stieg die Zahl auf 300, 1848 fuhren bereits elf Prozent und 1850 sogar schon 30 Prozent aller Schiffe unter Dampf. Die Reedereien machen politischen Druck, und auch die Hapag, die Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft, ist nicht allein auf Grund des Tiefgangs ihrer Dampfschiffe am raschen Ausbau des Hafens und an einer Vertiefung des Fahrwassers interessiert: Das Auswanderergeschäft verlangt eine zügige Abfertigung, und im Konkurrenzkampf mit dem Norddeutschen Lloyd in Bremerhaven zieht man sogar die Versorgung und Unterbringung der Auswanderer in firmeneigenen Unterkünften in Erwägung.
Hamburg 1862 – zwei Jahre nach In-Kraft-Treten der neuen Verfassung. Der Senat – bisher Rat genannt – und die Bürgerschaft teilen sich nach wie vor die oberste Gewalt in der Stadt, aber die städtische Verwaltung wird nun durch parlamentarische Elemente gestärkt. An der Spitze der einzelnen Verwaltungszweige stehen Deputationen, die sich aus Mitgliedern der Bürgerschaft zusammensetzen, oder Kommissionen, die der Senat einsetzt und deren personelle Zusammensetzung er bestimmt. Der Senat – von 28 auf 18 Senatoren reduziert, von denen sieben Kaufleute sein müssen – hat sein Selbstergänzungsrecht verloren und wird fortan unter Beteiligung der Bürgerschaft gewählt. Auch wenn die neue Bürgerschaft noch kein demokratisches Parlament im heutigen Sinne darstellt, so ist doch zumindest das Prinzip der Erbgesessenheit zugunsten des Repräsentationsprinzips aufgegeben. Die Bürgerschaft setzt sich aus 192 gewählten Abgeordneten zusammen. 84 von ihnen werden in allgemeinen Wahlen – also von männlichen Bürgern, die über 25 Jahre alt sind und Steuern zahlen – gewählt, 60 weitere werden von den Notabeln ernannt. Dazu zählen Bürger, die öffentliche Ämter bekleiden, Mitglieder des Senats, der Bürgerschaft, Richter sowie Mitglieder der Verwaltungsorgane. Die restlichen 48 Bürgerschaftsabgeordneten werden durch die Grundeigentümer der Stadt gewählt. Wer Grundeigentümer und zudem Mitglied einer Deputation oder eines anderen Verwaltungsorgans ist, kann mithin drei Stimmen abgeben.
Die neue Verfassung ändert nichts an der Tradition, dass Senatoren im Wesentlichen aus den reichsten und angesehensten Familien der Stadt stammen. So stellen etwa die Familien Amsinck, Sieveking, Merck und Gossler – um nur einige Namen zu nennen – bis ins 20. Jahrhundert kontinuierlich eine Vielzahl von Senatoren, Bürgermeistern oder Bürgerschaftsabgeordneten. Da ein Großteil dieser Familien – die zudem noch auf die unterschiedlichste Weise miteinander verwandt oder verschwägert sind – Handels- und Reedereigeschäfte besitzt, beispielsweise die Familien Sloman, Laeisz und Woermann, sind deren Mitglieder vor allem an einer Entwicklung des Handels und am Ausbau des Hafens interessiert. Dabei multipliziert sich der Machteinfluss einiger Familien innerhalb der Stadt, wenn mehrere Familienmitglieder gleichzeitig in allen wesentlichen politischen Gremien der Stadt vertreten sind. Dies trifft Mitte des 19. Jahrhunderts beispielsweise auf die Familie Godeffroy zu.
Der «Südseekönig» Cesar VI. Godeffroy (1813 – 1885), der 1842 die Firma seines Vaters übernommen hat, gilt mit zeitweise über 30 Schiffen als größter Privat- und Handelsreeder der Stadt. Neben dem Südseehandel befördert die Firma Joh. Cesar Godeffroy & Sohn auch Auswanderer nach Afrika und Australien, sie betreibt eine Kupferhütte an der Elbe und zeitweise ein Stahlwerk bei Osnabrück. Zusammen mit seinem Bruder, dem Bankherrn, Commerzdeputierten und Senator Gustav Godeffroy (1817 – 1893), sowie seinem Geschäftsfreund Ferdinand Beit als Teilhaber gehört Cesar Godeffroy auch die auf Eisenschiffbau spezialisierte Reiherstieg Schiffswerfte und Kesselschmiede, die 1863 auf ein größeres Werftgelände umzieht und mit mehr als 800 Arbeitern Hamburgs größtes Industrieunternehmen überhaupt darstellt. Cesar Godeffroy ist seit 1850 Altadjungierter der Commerzdeputation und damit Berater des Senats – 1860 wird er in die Bürgerschaft gewählt. Der dritte Bruder, Adolph Godeffroy (1814 – 1893), ist bereits seit 1847 als geschäftsführender Direktor bei der Hapag angestellt, die er 1854 erfolgreich in eine Dampferlinie hat umwandeln können. Politisch betätigt er sich im neuen Deutschen Nationalverein in Hamburg – einem politischen Zusammenschluss von Liberalen und Demokraten, dessen Vorsitz er innehat –, und 1860 wird er in den Bürgerausschuss zur Entlastung des Plenums der Bürgerschaft gewählt. Adolph Godeffroy ist außerdem Präses der Commerzdeputation und sitzt im Verwaltungsrat der Seefahrtsschule auf Steinwerder.
Hamburg 1862 – nach jahrelangen Verhandlungen und zähen Debatten verwirft man den Gedanken an Docks und Schleusen und beschließt, den Ausbau des Hafens in Form eines Tidehafens durchzuführen. Für den zügigen Warenumschlag an den Vorsetzen der Hafenbecken sollen Dampfkräne eingesetzt werden. Wasserbaudirektor Johannes Dalmann lässt sich Probemodelle unterschiedlicher Kranhersteller auf die Baustelle des zukünftigen Sandtorhafens liefern. Zwischen den Kisten entdeckt man einen Toten …
W arum hatte man gerade ihn mit dieser Aufgabe betraut? Johnsson und Wesley konnten die gleiche Erfahrung vorweisen, und beide wären sofort mit der Reise einverstanden gewesen; sie hatten es ihm selbst bestätigt. Doch nein, man bestand darauf, dass er fuhr. Nicht, dass er Wasser hasste, aber das Element meinte es nicht gut mit ihm. Es war idiotisch – die ganze Fahrt über würde er in der Kabine verbringen und sich quälen oder mit grünem Gesicht an der Reling hängen. Gott sei Dank stürmte es wenigstens nicht. Nur ein lauer Wind strich durch die Gassen an den Docks – aber das konnte sich innerhalb der nächsten Stunden noch ändern, und außerdem verschob es das Problem nur. Weniger Wind bedeutete eine geringere Geschwindigkeit und damit eine längere Zeit auf dem Wasser. Erst nach dem dritten Whisky hatte er sich besser gefühlt und sich vorgenommen, dem morgigen Tag gelassen entgegenzublicken. Natürlich war ihm bekannt, dass Alkohol sein Leiden nur noch verschlimmern würde, aber diese Sorgen waren momentan nebensächlich.
Er ärgerte sich, dass er das Zimmer nicht genommen hatte, aber die Absteige war zu schäbig gewesen und der Preis indiskutabel. Mit einem zweiten Blick vergewisserte er sich, ob es tatsächlich die Männer aus dem Blorey Pub waren, die ihm folgten, dann suchte er Schutz im Schatten eines Schuppens und beobachtete die Uferstraße. Kein Zweifel – die beiden hatten zwei Tische neben ihm ihr Ale getrunken. War es Zufall, dass sie ebenfalls den Weg hinunter zu den Docks gewählt hatten? Um diese Uhrzeit war es menschenleer am Hafen, und das Schiff sollte frühestens in vier Stunden anlegen. Für Straßenräuber waren die beiden zu vornehm gekleidet. Trotzdem atmete er erleichtert auf, als sie, ohne sich umzusehen, an seinem Versteck vorbeigingen. Er wartete einen Moment lang und folgte ihnen dann im sicheren Abstand auf der Landseite der Schuppen. Sie gingen zielstrebig in Richtung Luncan Dock. Kurze Zeit später überholten ihn zwei Fuhrwerke – anscheinend mit gleichem Ziel. Das Knallen einer Peitsche verriet, dass man es eilig hatte. Sobald er das schnell näher kommende Rattern der Wagenräder auf dem Straßenpflaster vernommen hatte, war er erneut zwischen den Schuppen in Deckung gegangen. In ihrem Schatten lief er weiter, bis die Masten des Seglers in Sichtweite kamen. Der Name, der in goldenen Buchstaben den Bug zierte, ließ keinen Zweifel aufkommen: sein Schiff hatte wider Erwarten bereits festgemacht. Eine düstere Ahnung stieg in ihm auf, und er blieb in seinem Versteck. Hier sollte offenbar Ware gelöscht werden, die das Licht scheute. Aber was er dann beobachtete, überstieg noch seine schlimmsten Erwartungen.
Was man da von Bord brachte und mit Hilfe von Stöcken in die wartenden Paket- und Kastenwagen trieb, waren Menschen. Er hatte an Schmuggelware gedacht, Whisky- und Rumfässer vielleicht – aber das hier waren Kinder. Einige der armseligen, teils in Decken gehüllten Kreaturen weinten hilflos, andere versuchten vergebens, sich zu wehren, als man sie in die Wagen schob, die sich kurze Zeit später in Bewegung setzten. Einige Männer, darunter die beiden, von denen er fälschlicherweise angenommen hatte, sie wären ihm gefolgt, standen sichtlich ungerührt an der Gangway und unterhielten sich. Mehrere Bündel Banknoten wechselten den Besitzer. Es stand außer Frage, was hier für ein widerliches, verachtenswertes Geschäft abgewickelt wurde.
Ein Walfisch? Du spinnst wohl!» Sören Bischop tippte sich demonstrativ mit dem Zeigefinger an die Schläfe. «In der Elbe gibt es keine Walfische!»
«Wenn ich’s doch sage. Der alte Bruhns hat’s heute Morgen an den Kajen erzählt. Mindestens zehn Meter lang! Und geschnaubt hat er, dass das Wasser nur so spritzte!» Martin Hellwege fuchtelte aufgeregt mit den Armen durch die Luft.
«So ein Humbug! Wo soll das denn gewesen sein?»
«Direkt vor Baakenwärder. Kurz vor Sonnenaufgang. Er wollte gerade die Reusen einholen. Plötzlich war der Wal da und hat eine Welle gemacht, dass Bruhns fast über Bord gegangen wäre. Dann ist der Wal Richtung Schumacher Wärder abgezogen.»
«Alles Döntjes», sagte Sören Bischop und machte eine abwinkende Handbewegung. «Bruhns hat sicher wieder mal zu tief in die Flasche geguckt. Kennt man ja. Was der alles vor Sonnenaufgang erlebt haben will. Glaubt doch eh keiner mehr.» Aber so sehr er sich auch Mühe gab, seinem Desinteresse einen überzeugenden Ausdruck zu verleihen, es wollte ihm nicht so recht gelingen, denn alle Kinder hörten sich die Schnurren, die der alte Bruhns auf Lager hatte, gerne an.
In Wirklichkeit war Sören nur enttäuscht, dass er gerade heute nicht mit dabei gewesen war, als sich die Kinder aus dem Wandrahmviertel, wie jeden Morgen vor der Schule, am Anleger Buten Kajen getroffen hatten. Aber Dr. Paetzold hatte ihn eine ganze Stunde vor Unterrichtsbeginn in seine Schreibstube bestellt. Und alles wegen dem doofen Adi. Der kleine Woermann hatte ihn bestimmt verpetzt, weil letzten Sonntag eine Scheibe im Kontor seines Alten zu Bruch gegangen war. Anders als befürchtet war es jedoch glimpflich ausgegangen; außer einer kräftigen Standpauke war nichts geschehen. Dabei hatte Sören Unangenehmeres erwartet. Sicherheitshalber hatte er sich nach dem Aufstehen sogar zwei Lagen Ölpapier und einen Teerstreifen in die Hose gelegt – das war wohl etwas zu viel des Guten gewesen. Als Dr. Paetzold ihn schließlich hinausschickte, hatte er ihm mit einem Augenzwinkern noch zugerufen, er möge doch vor Unterrichtsbeginn bitte den Lokus aufsuchen und seine Beinkleider reinigen. Die Hose war hinten völlig ölgetränkt, wie Sören erschrocken feststellte. Dr. Paetzold war schon in Ordnung – und die Sache mit Adi würde er ein andermal regeln. Adolph Woermann war zwar ein Jahr älter als er, aber er reichte Sören nur bis zum Kinn – das würde ausreichen.
«Komm, lass uns Dampfer zählen!», forderte Sören seinen Freund auf.
«Och nö. Das macht keinen Spaß. Inzwischen gibt’s so viele, da können wir auch gleich Segel zählen.»
«Schau mal der da. Ein Eisendampfer! Bestimmt einer mit Schraube.» Sören Bischop deutete auf eine rauchgekrönte Silhouette, die sich ungefähr auf Höhe des Steinwärder Fährhauses befand und sich ihnen langsam näherte.
Fast täglich trafen sich Sören und Martin nach der Schule auf dem kleinen Platz hinter der Abendroth’schen Dampfmühle. Hier hatten sie schon seit über einem Jahr ihr geheimes Quartier. Allerdings wurde das Quartier von Tag zu Tag weniger geheim. Seit einigen Wochen herrschte sogar ein außerordentlicher Betrieb. Entlang der oberen Uferkante des Sandthor-Beckens war man damit beschäftigt, eine Vorsetze zu bauen. Holzpfähle wurden gerammt, Pflöcke geschlagen, und im Becken selbst, nur wenige Meter von ihrem Standort entfernt, hatte seit gestern eine schwimmende Dampframme Stellung bezogen. Vorbei war es mit der Ruhe. Selbst das sonore Brummen und zeitweilige Zischen der Dampfmühle, das den Ort bis vor kurzem als einzige Geräuschquelle beherrscht hatte, ging im Lärm der jetzigen Bauarbeiten unter. Von den Arbeiten auf den jenseitig des Sandthor-Beckens gelegenen Schiffswerften vernahm man nichts mehr.
Noch vor wenigen Jahren hatte der Ort im Schatten des Hölzern Wambs gelegen, aber nachdem die ehemalige Bastion abgegraben worden war, hatte man von hier aus einen freien Blick auf den Elbstrom. Vor ihnen lagen die Dalbenreihen des Georgius- und Blockhaus-Hafens, und zwischen Ostergatt und Freigatt reihten sich die Masten der großen Segler bis zum neuen Landungsplatz hinter dem Jonas-Hafen. In der Ferne konnte man die Vorsetzen und Anlandungsstellen von St. Pauli erkennen, und auf der gegenüberliegenden Seite des Elbstroms fiel ihr Blick auf den Reiherstieg und die Betriebe auf Steinwärder.
«Lass uns lieber noch ein bisschen ditschen», schlug Martin Hellwege vor.
«Nee, ditschen ist blöd.»
«Gestern fandst du’s noch gut.»
Sören stülpte die Hosentaschen nach außen und zog daran. «Blank!»
«Ich leih dir was.»
«Nee, lass man.» Sören schüttelte den Kopf. Die letzten Tage hatte er schon genug an seinen Freund verloren – eine richtige Pechsträhne war das. Dabei hatte er eigentlich jedes Geldstück für das ersehnte Takelmesser sparen wollen und gut die Hälfte dafür in seiner Büchse schon zusammen gehabt.
«Wasserdippen?»
Sören zögerte einen Moment. «In Ordnung», meinte er schließlich. «Wer zuerst ’nen Achter schafft, gewinnt!»
Beide machten sich sofort mit Eifer daran, möglichst gut geformte, flache Kiesel zu suchen. Zum Georgius-Hafen hin war die Böschung auf dem Grasbrook noch seicht abfallend. Erfahrungsgemäß gab es an dieser Stelle die besten Steine – natürlich im Wasser. Trotz aller Vorsicht hatte Sören nach kurzer Zeit nasse Schuhe.
«Mist!», fluchte er. Erst die Sache mit der Hose, und nun das noch. Seine Mutter würde begeistert sein. Während er darüber nachdachte, ob die Schuhe wohl bis zum Abend trocknen würden, fiel sein Blick auf die grüne Flasche, die unweit vom Ufer entfernt vor sich hin dümpelte. Grüne Flaschen waren selten – die meisten waren braun. Und nass war er eh schon. Also ging er noch einige Schritte weiter ins Wasser und machte einen langen Arm, bis er sie greifen konnte. Der Korken steckte, und in der Flasche …
«Mensch, schau mal!», rief Sören seinem Freund zu und hielt das Fundstück triumphierend in die Höhe. «’ne Flaschenpost!»
Martin war natürlich sofort zur Stelle. «Toll! Zeig mal her. Mach auf …»
Sören legte die Flasche auf den Boden und zog sich erst mal die nassen Schuhe und Strümpfe aus. Eine echte Flaschenpost. Das war natürlich spannend.
«Vielleicht ’ne Schatzkarte!», mutmaßte Martin und drehte die Flasche im Sonnenlicht, dass sich der grüne Schatten wie eine Maske über sein Gesicht legte.
«Nicht kaputt machen! Die ist wertvoll!» Sören riss seinem Freund die Flasche aus der Hand. Teer und Korken waren schnell entfernt. Mit Hilfe eines kleinen Stöckchens bugsierte Sören vorsichtig das Papier aus dem engen Flaschenhals. Nachdem er den Brief entrollt hatte, drehte er das Blatt ein paar Mal hin und her und machte dann ein enttäuschtes Gesicht.
«Und?», fragte Martin erwartungsvoll.
«Weiß nicht! Ich kann’s nicht lesen.» Sören reichte Martin den Brief.
«Vielleicht so ’ne Art Geheimschrift?», munkelte Martin und studierte mit Kennermiene die Zeilen. «Einige Buchstaben sind verkehrt herum!»
«Hebräisch oder Griechisch ist das jedenfalls nicht!», stellte Sören fest.
«Und nach einer Schatzkarte sieht’s auch nicht aus», fügte Martin enttäuscht hinzu.
Sören wendete das Papier und betrachtete die im Sonnenlicht durchscheinenden Zeichen. Dr. Paetzold hatte vor wenigen Wochen im Unterricht von einem klugen Italiener erzählt, der, weil er Linkshänder war, auf dünnem Pergament spiegelverkehrt von rechts nach links geschrieben hatte, um mit der Schreibhand nicht ständig die Tinte zu verwischen. Wenn man das Pergament umdrehte, war alles wieder normal zu lesen. Sören probierte es und schüttelte den Kopf: «So ergibt’s auch keinen Sinn.»
«Und wie finden wir raus, was es bedeutet?», fragte Martin.
«Wir könnten’s morgen Dr. Paetzold …»
«Bist du verrückt!», fiel ihm Martin ins Wort. «Es muss unser Geheimnis bleiben, bis wir wissen, was drinsteht! Vielleicht geht es doch um einen Schatz, oder um Piraten … oder Schiffbrüchige auf einer einsamen Insel mit einer Kiste voll goldener Dukaten und Edelsteinen …»
«Und da willst du dann hinsegeln?» Sören legte die Stirn in Falten und schaute seinen Freund spöttisch an. «Martin Hellwege, der Seefahrer! Dass ich nicht lache! Mit deinen Kenntnissen kommst du nicht mal bis Helgoland!»
«Spielverderber», sagte Martin und zog einen Schmollmund.
«Jedenfalls müssen wir erst mal wissen, was das für eine Schrift ist. Ich werde einige Wörter abschreiben und sie Dr. Paetzold zeigen. Von der Flaschenpost sage ich nichts – versprochen!»
«Ganz schön spannend jedenfalls», erwiderte Martin. Dann fiel sein Blick auf den Kirchturm von St. Michaelis. «Und ich muss jetzt los», seufzte er. «Schon die zweite Stunde nach Mittag.»
«Mach’s gut – und das mit Helgoland war nicht so gemeint!», rief ihm Sören hinterher. Dann faltete er den Brief zweimal und steckte ihn in die Hosentasche. Schuhe und Strümpfe waren natürlich noch nicht trocken. Sören griff sich die Schuhe bei den Schnürsenkeln, packte mit der anderen Hand die Strümpfe und die Flasche und wollte gerade zum Kehrwieder schwenken, um den Heimweg anzutreten, als er vom Wasser her eine vertraute Stimme vernahm.
«Hallo Sören! Willst du mit rüber?!» Jonas Dinklage winkte ihm wenige Meter vom Ufer entfernt von seinem Ruderboot aus zu.
«Nee, das geht heute nicht!», rief Sören zurück. «Leider!»
Jonas Dinklage zuckte mit den Achseln und setzte seine Fahrt mit kurzen Ruderschlägen in Richtung Kleiner Grasbrook fort. Sehnsüchtig blickte ihm Sören hinterher. Nur zu gerne wäre er mit rüber zu den Holzhäfen gerudert. Jonas arbeitete auf einer der dort ansässigen Schiffswerften und hatte ihn schon häufiger mitgenommen. Sören mochte die Atmosphäre, liebte den Geruch von frisch gehobelten Schiffsplanken – und seit kurzem durfte er sogar hier und dort mit anpacken, was wohl daran lag, dass man ihm sein Alter nicht ansah. Für einen Vierzehnjährigen hatte er eine große und kräftige Statur.
Aber seine Eltern mochten es nicht, wenn er sich auf dem Kleinen Grasbrook herumtrieb. Auch der Besuch auf den diesseitigen Werften war ihnen eigentlich nicht recht. Da er sich jedoch magisch von Schiffen angezogen fühlte, duldete seine Mutter die kleinen Ausflüge stillschweigend, solange es keine Klagen aus der Schule gab, wie sie es ausdrückte. Lieber war es ihr aber, wenn er seine Zeit mit Martin Hellwege verbrachte. Martin war genauso alt wie Sören, und ihre Eltern waren schon seit langem miteinander befreundet. Hellweges wohnten ein paar Straßen weiter, in einem vornehmen Haus am Wandrahm – die Bischops seit einigen Jahren am Holländischen Brook. Vorher hatten sie bei Onkel Conrad in der Gertrudenstraße gewohnt. So gut sich Sören auch mit Martin verstand – dummerweise interessierte sich sein Freund nicht für Schiffe.
Natürlich gab es Ärger wegen der Hose und der nassen Schuhe. «Warst du wieder mit Jonas unterwegs?», fragte ihn seine Mutter vorwurfsvoll, nachdem sie ihm einen längeren Vortrag über die Schwierigkeiten beim Entfernen von Ölflecken gehalten hatte.
«Nein, Mutter. Ich habe mit Martin am Kehrwieder gespielt», entschuldigte sich Sören kleinlaut und kratzte sich verlegen am Arm.
«Hör zu! Ich möchte nicht mehr, dass du dich da am Sandthor-Becken herumtreibst!» Die Strenge in der Stimme seiner Mutter überraschte Sören. Für gewöhnlich hatte Clara Bischop ein sanftes Gemüt, sie war eine verständnisvolle Mutter und neigte nicht zu Zornesausbrüchen. Sollte Dr. Paetzold vielleicht mit ihr wegen des Vorfalls bei Woermanns gesprochen haben?
«Aber wir haben …»
«Schluss! Keine Widerworte! Wasch dir die Hände! Wir essen in der Küche!», schnitt Clara ihrem Sohn in scharfem Ton das Wort ab.
«Kommt Vater nicht zum Essen nach Hause?», fragte Sören verstört.
«Wenn du wirklich mit Martin am Sandthor-Becken warst, wirst du ja wohl wissen, was dort los ist, und dass Vater mit Sicherheit deswegen später kommt. Die ganze Stadt redet ja schon von dem Toten. Also spar dir die Kommentare! Ich will gar nicht wissen, wo du dich wieder rumgetrieben hast. Und wasch dir jetzt endlich die Hände! – Mein Gott, wie sieht die Hose aus!»
Nachdenklich tauchte Sören seine Hände in die Waschschüssel. Ein Toter? Nun gut – aber das war ja nun nichts Außergewöhnliches – schließlich war sein Vater bei der Polizei. Da kam es schon häufiger vor, dass man es mit Toten zu tun bekam. Nicht täglich – aber immerhin. Auf dem Grasbrook hatten sie außer den Bauarbeiten aber nichts Besonderes feststellen können. Weswegen machte seine Mutter ein solches Getöse? So kannte er sie gar nicht – Streit war wirklich selten in der Familie. Eigentlich waren Clara und Hendrik Bischop Eltern, wie man sie sich nur wünschen konnte – und um die Sören von allen seinen Freunden beneidet wurde; nicht nur wegen der Freiheiten, die man ihm gewährte. Auf die Idee, dass sich seine Mutter wegen der Vorkommnisse auf dem Grasbrook Sorgen um ihren Sohn gemacht hatte, kam er natürlich nicht. Geschwind verstaute Sören die Nachricht aus der Flaschenpost in der Schublade seines Nachttisches, zog sich schnell eine neue Hose an und trottete in die Küche.