Als Ravensburger E-Book erschienen 2015

Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH

© 2015 Ravensburger Verlag GmbH

Umschlaggestaltung: Maria Seidel unter Verwendung eines Fotos von istock/annedete

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-47669-5

www.ravensburger.de

Jungs sind
zum Abgewöhnen

„Dann hau doch ab!“, schrie Tori. „Ich wein dir jedenfalls keine Träne nach, da kannst du Gift drauf nehmen!“

Ihre Stimme gellte über den Hof der Sunshine Ranch und bis in den Stall, wo Juliana und Ayla ihre Pferde trocken rieben. Julianas Haflingerstute Nike schnaubte nervös, in der Nachbarbox hob Tibor den Kopf und wieherte, als wollte er Tori rufen. Der Wallach spürte schon seit Tagen, dass etwas nicht stimmte. Aber natürlich verstand er nicht, was mit Tori los war.

„Ruhig, Tibor.“ Juliana beugte sich über die Abtrennung und klopfte Tibors Hals. „Alles okay.“

Die Stalltür schwang auf und knallte gegen die Wand. In der Öffnung erschien Jonas, Toris Freund. Er riss seinen Rucksack vom Haken neben der Tür und verließ den Stall wieder, ohne Juliana und Ayla zu beachten.

„Wenn du jetzt gehst, ist es aus und vorbei mit uns!“, rief Tori ihm nach.

Ayla rannte zur Tür, um zu sehen, was auf dem Hof passierte. „Er haut tatsächlich ab“, raunte sie Juliana zu. „Das war’s dann wohl mit Toris Liebesgeschichte.“

Juliana zuckte unwillig mit den Schultern und antwortete nicht. Einer weniger, dachte sie. Umso besser.

Eigentlich hatte sie nichts gegen Jungs, Jonas fand sie sogar richtig nett. Aber auf der Sunshine Ranch sorgten sie nur für Probleme. Selbst die besten Freundinnen lagen sich plötzlich in den Haaren und kratzten sich die Augen aus, wenn ein Junge ins Spiel kam. Und die Liebe.

„Man sollte ihnen echt Hausverbot erteilen“, sagte Juliana.

„Wem?“, fragte Ayla entgeistert. „Tori und Jonas?“

„Sämtlichen Jungen“, entgegnete Juliana, „die machen doch nichts als Ärger.“

„Das stimmt doch überhaupt nicht. Wenn hier einer Ärger gemacht hat, dann war es Tori. An Jonas’ Stelle wär ich schon viel früher abgedampft.“

Tori hatte sich in den letzten Wochen pausenlos mit ihrem Freund gefetzt. Ihrer Meinung nach kümmerte sich Jonas nicht genug um sie und verbrachte zu viel Zeit mit seinen Freunden. Aber daraus konnte man ihm nun wirklich keinen Vorwurf machen, da war Juliana ganz Aylas Meinung. Denn wenn Tori und Jonas zusammen waren, dann kritisierte sie ihn in einer Tour. Seine Klamotten, seine Bemerkungen, seine Ansichten – alles fand sie blöd.

„Jonas ist okay“, gab Juliana zu. „Aber ohne Jungen ist es viel entspannter und friedlicher.“

„Aber auch langweiliger.“

„Findest du? Auf den ganzen Zoff und die Missverständnisse könnte ich gut verzichten.“

Juliana rieb mit einem Büschel Stroh über Nikes hellbraune Flanke. Wieder und wieder. Obwohl die Stute längst trocken war. Im Gegensatz zu den anderen Mädchen hatte sie noch nie einen Freund gehabt. Und wenn sie sich Tori und Jonas so anschaute, dann wollte sie auch keinen. Diese ständigen Auseinandersetzungen, dieser Kleinkrieg. Nein danke, darauf konnte sie gut verzichten.

„Also, ich find Jungs okay“, sagte Ayla. „Im Moment ist zwar keiner in Sicht, der mir gefällt, aber wenn mal der Richtige kommt …“

„Der Richtige?“, unterbrach Juliana sie spöttisch. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass es den gibt. Den Märchenprinzen, der mit seinem Ross auf die Ranch galoppiert und dich auf sein Schloss entführt.“

„Wieso denn nicht?“, fragte Ayla. „Ist doch eine grandiose Vorstellung. Ein Ritter in glänzender Rüstung. Oder auch ohne. Hauptsache, er kann reiten.“ Sie seufzte verzückt.

Juliana hatte inzwischen nach dem Gummistriegel gegriffen und strich in kreisförmigen Bewegungen über Nikes Fell. Danach bürstete sie den Staub ab.

„Wie spät ist es eigentlich?“, erkundigte sie sich.

„Gleich halb sieben.“

„Was? Mist, wir essen in einer halben Stunde!“ Hektisch ließ sie die Bürste fallen und schnappte sich die Kartätsche.

„Kein Stress. Du hast noch massig Zeit. Du bist doch in fünf Minuten zu Hause.“

„Du weißt doch, wie mein Vater ist. Ich muss mich vor dem Essen noch waschen und umziehen, sonst rastet er aus.“

Ayla verzog das Gesicht. Die Wutausbrüche von Julianas Vater waren berüchtigt. Wer einmal einen mitbekommen hatte, wollte keinen zweiten erleben.

Nikes Fell glänzte. Es war zwar noch nicht ganz perfekt, doch um die Stute noch länger zu striegeln, fehlte Juliana die Zeit. Sie tauschte die Kartätsche gegen den Hufkratzer.

„Komm, lass gut sein“, sagte Ayla. „Ich muss erst um acht zu Hause sein. Ich mach Nike für dich fertig.“

„Echt? Das wär total nett.“ Juliana drückte der Freundin den Hufkratzer in die Hand und rieb sich die Hände an der Reithose ab. „Dann bin ich weg. Vielen Dank.“

Sie schob sich an dem Pferd vorbei aus der Box. Nikes Sattel und das Zaumzeug hatte sie vor dem Putzen über die Trennwand gehängt. Sie hob beides herunter, um es in die Sattelkammer zu bringen.

Als sie aus dem Stall trat, prallte sie fast mit Sue zusammen. Die Ranchbesitzerin wollte gerade in den Stall. Neben ihr standen Tierarzt Dr. Knopfler und ein fremder Junge.

„Hoppla“, sagte Sue. „Du hast es aber eilig.“

„Sorry“, sagte Juliana und wollte weiter.

„Warte doch mal einen Moment“, sagte Sue. „Ich möchte dir Fabian Knopfler vorstellen. Er will künftig hier reiten. Fabian, das ist Juliana Melzer. Vielleicht hat sie ja Lust, dich hier herumzuführen und dir alles zu zeigen?“

„Fabian Knopfler?“ Juliana war verblüfft. „Bist du etwa …“

„Mein Sohn“, sagte Dr. Knopfler. „Ganz genau.“ Der Tierarzt betreute schon seit Jahren die Pferde und die übrigen Tiere der Sunshine Ranch, aber dass er einen Sohn hatte, davon hatte keines der Pferdemädchen etwas gewusst.

„Ich hab bisher bei meiner Mutter gewohnt“, sagte Fabian.

„Aha“, sagte Juliana. Na super. Kaum war Jonas weg, da tauchte auch schon der nächste Kerl auf. Da würde der Zickenterror sicher wieder von vorn losgehen.

„So what do you think?“, erkundigte sich Sue.

Die Ranchbesitzerin war Amerikanerin. In ihrem früheren Leben war sie Schauspielerin gewesen, hatte in Hollywood einen Film nach dem anderen gedreht und eine Menge verdient. Doch dann hatte sie ihre Karriere plötzlich an den Nagel gehängt und war mit ihrem damaligen Mann nach Deutschland gezogen. Hier hatte sie einen alten Pferdehof gekauft und ihn nach ihren Vorstellungen umgebaut. Bis auf das Wohnhaus waren alle ursprünglichen Gebäude abgerissen worden; Sue hatte einen hellen, luftigen Stall und neue Wirtschaftsgebäude bauen lassen und das Ganze „Sunshine Ranch“ getauft.

Inzwischen standen elf Pferde, ein Fohlen und ein Esel in den Boxen, außerdem lebten noch zwei Hängebauchschweine, eine Ziege und unzählige Gänse, Enten und Hühner auf der Ranch. Und natürlich die beiden Hunde. Heinrich war ein zotteliger Mischling und gehörte eigentlich Sues Freund Stefan. Den Neufundländer Washington hatte Sue gekauft, um einen Wachhund für die Ranch zu haben. Washington war zwar furchterregend groß, aber durch und durch harmlos und viel zu faul, um Verbrecher in die Flucht zu schlagen.

„Bitte was?“ Juliana sah Sue fragend an.

„Kannst du Fabian die Ranch zeigen?“

„Nein!“, stieß Juliana hervor. „Ich meine, nicht jetzt. Ich muss nach Hause.“

Fabian verzog unwillkürlich das Gesicht.

„Tut mir leid“, fügte Juliana hinzu. „Ein andermal gern.“

Als Juliana sich zum Gehen wandte, stellte sie fest, dass Fabian ziemlich groß war. Ein ganzes Stück größer als sie und das mochte was heißen. Juliana war in den letzten Monaten richtiggehend in die Höhe geschossen. Es gab nur drei Jungen in ihrer Klasse, die sie nicht überragte.

„What a pity.“ Sue verzog das Gesicht. „Na gut, dann will ich dich nicht länger aufhalten.“

„Tschüss!“ Juliana hastete in Richtung Sattelkammer davon und stolperte dabei über Washington, der eine besondere Begabung dafür hatte, plötzlich aus dem Nichts aufzutauchen und im Weg herumzuliegen. „Verdammt!“

„Washington, come here!“

Auf Sues Zuruf erhob sich der Hund und machte einen großen Schritt nach vorn, sodass er Juliana erneut aus dem Gleichgewicht brachte. Der Sattel rutschte ihr aus den Armen und fiel zu Boden.

Washington wedelte freundlich. Dann gähnte er und ließ sich wieder zu Boden plumpsen.

Zum Teufel mit dem Köter! Und zum Teufel mit diesem blöden Fabian, der jetzt auch noch unverschämt grinste. Juliana griff nach dem Sattel und verschwand damit in der Kammer. Sie wusste wirklich nicht, was es hier zu lachen gab.

Pizza Diavolo

Juliana kam zu spät zum Abendessen. Obwohl sie sich so beeilt hatte, dass sie im Fasanenweg fast mit dem Bus zusammengestoßen wäre, obwohl sie sich in der Einfahrt einen langen, blutigen Kratzer an der Weißdornhecke geholt hatte und obwohl sie ihr Bestes gegeben hatte, kam sie zu spät.

„Also wirklich“, sagte ihre Mutter vorwurfsvoll, als sie die Tür öffnete, und Juliana ins Haus schoss, ihre Reitstiefel von den Füßen kickte und im Bad verschwand, um sich vor dem Essen wenigstens noch die Hände zu waschen. „Du weißt doch, dass Papa es nicht ausstehen kann, wenn du unpünktlich bist.“

Lasst mich doch alle in Ruhe, dachte Juliana, während sie viel zu heißes Wasser über ihre Hände laufen ließ. Zum Abtrocknen war keine Zeit. Nur schnell ins Wohnzimmer.

Natürlich saßen schon alle am Tisch. Ihr Vater, ihre Mutter und ihr kleiner Bruder Johann. Sie hielten die Köpfe über die Teller gebeugt, von denen es in ihre Gesichter dampfte. Spaghetti Bolognese.

Julianas Magen knurrte. „Entschuldigung“, murmelte sie und ließ sich rasch neben Johann nieder. „Aber Sue wollte noch …“

Klirrend warf ihr Vater seine Gabel auf den Tisch. „Jetzt reicht’s mir aber!“, rief er. „Diese ständigen Ausreden. Es interessiert mich nicht, was deine Sue will oder eine deiner Freundinnen oder dein blöder Gaul. Wir essen um sieben, das ist jeden Abend so, und ich erwarte, dass du pünktlich bist. Ist das etwa zu viel verlangt?“ Seine Stimme war mit jedem Wort lauter geworden, den letzten Satz brüllte er.

Juliana senkte den Kopf noch tiefer über ihren Teller.

„Schau mich an, Juliana!“, brüllte ihr Vater. „Und antworte mir gefälligst. Ob das zu viel verlangt ist, will ich wissen!“

„Nein“, flüsterte Juliana. „Aber …“

„Nichts aber!“, donnerte ihr Vater. „Du bist rücksichtslos und egoistisch. Geh auf dein Zimmer, ich will dich hier nicht am Tisch sehen!“

Juliana stand auf. Ihr Magen knurrte noch lauter als vorhin, so laut, dass ihr Vater es hören musste. Sie hatte zu Mittag einen Becher Joghurt gegessen und seitdem nichts mehr. Sie war am Verhungern, aber das war ihr im Moment egal. Nur raus hier, nichts wie weg!

„Jürgen“, hörte Juliana ihre Mutter leise sagen, während sie zur Tür ging. Mehr sagte sie nicht, aber das war ihrem Vater schon zu viel.

„Willst du sie jetzt etwa noch verteidigen?“, zischte er seine Frau an. „Ach, macht doch, was ihr wollt! Mir ist der Appetit vergangen.“

Dann schmiss er seine Gabel zum zweiten Mal auf den Tisch und erhob sich ebenfalls. Juliana rannte die Treppe zu ihrem Zimmer hoch. Wenn ihr Vater einen seiner Wutausbrüche hatte, machte er ihr richtig Angst.

Früher war er der lustigste Mann der Welt gewesen. Er war mit Juliana und Johann herumgetobt und für jeden Blödsinn zu haben gewesen. Ab und zu war er sauer geworden und hatte herumgebrüllt, wie andere Väter auch. Aber dann hatte er angefangen, sich zu verändern. Zwar war er auch jetzt noch manchmal in bester Stimmung und ging mit ihnen in den Zirkus, Eis essen oder ins Wellenbad. Aber auf seine Laune war kein Verlass. Sie konnte jeden Moment kippen – und sei es nur, dass Juliana ihre Schwimmbrille vergessen hatte oder Johann im Restaurant seine Cola umschmiss. Von einer Sekunde auf die andere runzelte sich seine Stirn, zogen sich seine Augenbrauen zusammen, wanderten seine Mundwinkel nach unten.

Dann war er sauer.

Und fing an zu brüllen.

In der Öffentlichkeit hielt er sich meist zurück. Immerhin war er ein erfolgreicher Rechtsanwalt, Teilhaber einer großen Kanzlei in der Innenstadt. Da durfte er sich nicht einfach so gehen lassen. Jederzeit konnte ein Mandant oder ein Kollege in der Nähe sein und alles mitbekommen.

Aber zu Hause, da brüllte er und tobte und schrie. Zu Hause war Julianas Vater der Boss. Er bestimmte und seine Kinder hatten zu folgen.

Ihre Mutter litt darunter, das wusste Juliana. Diese explosionsartigen Wutausbrüche zehrten an ihren Nerven, aber wenn sie sich widersetzte, wenn sie ihren Mann zurechtwies, wurde alles nur noch schlimmer. Dann dauerte es manchmal Tage, bis er sich wieder beruhigt hatte.

„Manchmal würde ich am liebsten meine Sachen packen und abhauen“, hatte Frau Melzer kürzlich einer Freundin anvertraut. Juliana hatte zufällig mitgehört, obwohl es natürlich nicht für ihre Ohren bestimmt war.

Ich komme mit, hatte Juliana gedacht. Lieber heute als morgen. Ich halt das nicht mehr aus.

Julianas Magen knurrte. In ihrem Schreibtisch mussten doch noch die Kekse sein, die sie nach dem letzten Wutanfall ihres Vaters dort versteckt hatte. Aber als sie die oberste Schublade aufzog, fand sie nur eine leere Packung.

Richtig. Die Kekse hatte sie ja vor zwei Tagen zusammen mit Ayla vertilgt. Zu dumm.

Sie schaltete den Computer an. Aus Online-Spielen machte sie sich nicht viel, aber vor ein paar Tagen hatte sie sich in einem Reiterforum angemeldet. Beim Surfen war sie zufällig auf die Pferdewelt gestoßen – das Forum hatte ihr gleich gefallen, weil es so klein und übersichtlich war. Die meisten User waren in ihrem Alter, und in den Diskussionen ging es nicht um Pferdekauf und Auktionen, sondern ums Reiten.

Sie loggte sich ein. Sandy13, MischaX und Blabla waren online. Juliana hatte ihr Profil Nike getauft, nach ihrem Pflegepferd.

Sie las ein paar neue Posts, schrieb einen Kommentar zu einem Eintrag von Sandy13, die an einem Freestyle-Turnier teilnehmen wollte, und chattete ein paar Minuten mit Blabla über ein Freestyle-Turnier, an dem Blabla vor Kurzem teilgenommen hatte. Aber dann brach Juliana das Gespräch ab. Sie konnte sich einfach nicht auf die Computer-Plauderei konzentrieren. Sie war viel zu hungrig. Und sauer.

Fünf Minuten!

Sie war fünf Minuten zu spät gekommen und ihr Vater machte einen Aufstand, als ob man sie beim Drogendealen erwischt hätte. Geh auf dein Zimmer, ich will dich hier nicht am Tisch sehen!

Juliana schnaubte verächtlich und trat ans Fenster, nur um sofort wieder zurückzuschrecken. Ihr Zimmerfenster ging zum Nachbargarten und dort unten stand John.

John Schildock.

Die Schildocks waren vor vier Wochen ins Nachbarhaus eingezogen, sehr zum Missfallen von Julianas Vater. Pack nannte er die neuen Nachbarn nur. „Da können wir uns auf etwas gefasst machen“, hatte er geschimpft, als er Johns Eltern das erste Mal zu Gesicht bekommen hatte.

Er kannte Herrn Schildock von früher. Irgendetwas musste zwischen Julianas Vater und Herrn Schildock vorgefallen sein. Vielleicht waren sie sich beruflich vor Gericht begegnet und Schildock hatte den Prozess gewonnen. Was immer es war, Herr Melzer redete nicht darüber. „Das unterliegt der Schweigepflicht“, hatte er nur geknurrt, als Juliana ihn darauf angesprochen hatte.

Dabei wirkten die Schildocks ganz sympathisch. Na gut, Herr Schildock sah ein wenig seltsam aus mit seinem grauen Schnurrbart und einem dünnen, langen Zopf, obwohl er auf dem Kopf bereits kahl war. Aber wenn er Juliana oder ihre Mutter traf, grüßte er immer freundlich. Nur ihren Vater ignorierte er.

John und seine drei Schwestern schienen auf jeden Fall nett zu sein. Die drei Mädchen waren ein paar Jahre jünger als Juliana, John war älter als sie, sechzehn, vielleicht sogar schon siebzehn Jahre alt. Er hatte furchtbar viele Pickel – aber dafür konnte er ja nichts.

Sie linste durch die Vorhänge nach draußen. John saß in der rostigen Hollywoodschaukel, die der Vormieter im Garten zurückgelassen hatte, einen offenen Pizzakarton auf den Knien. Jetzt nahm er sich ein Stück heraus, der Käse zog sich in langen köstlichen Fäden. Juliana lief das Wasser im Mund zusammen. Hunger! Unwillkürlich trat sie näher an die Scheibe. Sie hatte das Gefühl, die Pizza riechen zu können. Dabei war das Fenster geschlossen. Plötzlich blickte John zu ihr hoch. Sie wollte sich schnell hinter dem Vorhang verstecken, aber es war zu spät. Er hatte sie bemerkt. Vielleicht hatte er sie ja vorhin schon entdeckt.

Sie hob zögernd die Hand, grüßte zu ihm hinunter.

Er lächelte und grüßte mit der Pizza in der Hand zurück.

Dann hob er die Schachtel ein Stück in die Höhe. Und lächelte noch breiter.

Er bot ihr ein Stück an. Pizza. Frische, leckere Pizza.

Sie zögerte.

Er winkte sie mit der Hand zu sich herunter. Worauf wartest du noch, hieß das.

Das geht nicht, dachte Juliana. Ihr Vater würde ausrasten, wenn er sie mit John Schildock Pizza essen sah, nachdem er sie auf ihr Zimmer geschickt hatte.

Aber ihr Vater hockte sicherlich in seinem Arbeitszimmer und starrte in den Computer oder in eine Akte. Er würde überhaupt nicht mitbekommen, dass sie sich mit dem Nachbarjungen unterhielt.

Und außerdem, dachte Juliana, was soll’s?

Sie schlich in den Hausflur und verließ auf Strümpfen das Haus, die Schuhe in der Hand. Erst in der Auffahrt zog sie sie an.

Die Fenster des Arbeitszimmers und des Wohnzimmers führten zum Glück nach hinten auf ihren eigenen Garten. So konnte keiner sehen, wie Juliana über die Straße rannte, die Gartenpforte der Schildocks öffnete und am Haus vorbei in den Garten eilte. In den Blumenbeeten wucherten Brennnesseln, Disteln und riesige Löwenzahnstauden. Von Gartenarbeit schienen die Schildocks nicht viel zu halten.

Was für ein Unterschied zu dem gepflegten Rosengarten von Julianas Eltern.

Der Rasen, der bei den Melzers dunkelgrün und unkrautfrei war, war bei den Schildocks verdorrt. Mitten auf der gelbbraunen Fläche stand die rostige Hollywoodschaukel. Und auf der Hollywoodschaukel saß John.

„Hi“, sagte er. „Super, dass du gekommen bist. Hätt ich nicht gedacht, dass du dich traust.“ Attraktiv ist er ja nicht gerade, dachte Juliana. Nicht nur wegen der furchtbaren Akne, auch seine Haare waren dünn und gehörten dringend geschnitten – oder zumindest gewaschen. Seine Nase war viel zu groß und seine Augen sahen wässrig aus.

„Wieso sollte ich mich denn nicht trauen?“, fragte sie.

Er grinste und antwortete nicht. Die Antwort lag ja auf der Hand: Ihre Eltern hassten sich. Zumindest ihre Väter. Das wusste er so gut wie sie.

„Komm, setz dich“, sagte John und rutschte ein Stück zur Seite.

Juliana zögerte. Sie kannte John doch überhaupt nicht. Plötzlich kam es ihr falsch vor, sich einfach so neben ihn zu setzen. Als wären sie Freunde. Aber stehen bleiben und von einem Fuß auf den anderen treten – das ging auch nicht.

Also setzte sie sich. Sie rutschte dabei ganz ans andere Ende der Schaukel und schlug die Beine übereinander.

„Ein Stück Pizza?“, fragte John. „Greif zu. Du siehst irgendwie hungrig aus.“

Sie zuckte mit den Schultern, aber im selben Moment knurrte ihr Magen wie ein wildes Tier.

„Hilfe!“ John rückte in gespieltem Entsetzen von ihr ab.

Juliana musste lachen. Sie schnappte sich ein Stück Pizza aus dem Karton. Dieser Duft! Köstlich. Sie schloss verzückt die Augen, nahm einen großen Biss und begann zu kauen. Aber dann explodierte die Pizza in ihrem Mund. Von einer Sekunde auf die andere stand alles in Flammen – ihre Zunge, ihr Gaumen, ihre Kehle.

„Aaah!“, japste sie. „Was ist das denn? Das ist ja höllenscharf!“ Leider fiel ihr erst jetzt auf, dass die Pizza nicht nur mit Tomaten, Käse und Salami, sondern auch mit roten Chilischoten belegt war.

„Pizza Diavolo“, erklärte John. „Das ist Tonis Spezialsorte, die macht er nur für mich. Ist meine absolute Lieblingspizza.“

Juliana fächelte sich kühle Luft zu. „Wasser“, keuchte sie. „Ich brauch dringend was zu trinken!“

„Wasser nützt da gar nichts. Milch ist besser.“ Er erhob sich und ging ins Haus. Kurz darauf kam er mit einer Milchflasche wieder zurück. „Bitte schön.“

Er hatte kein Glas mitgebracht, also trank sie direkt aus der Flasche. Und es wirkte: Die kühle Milch linderte das Brennen in ihrem Mund.

Während sie die Flasche zuschraubte, nahm John sich ebenfalls ein Pizzastück und biss genussvoll ab. „Mmmmh.“

„Kannst du das einfach so essen?“

„Lecker!“, erwiderte er mit vollem Mund. „Gibst du etwa schon auf?“

„Hm.“ Sie betrachtete den Pizzarest in ihrer Hand. „Stört es dich, wenn ich die Chilis runternehme?“

„Kein Problem.“

So war es besser. Immer noch scharf, aber erträglich.

„War gemein von mir, ich geb’s zu“, sagte John, als er sein Stück vertilgt hatte. „Ich hätte dich warnen sollen. Aber ich wollte mal sehen, was passiert.“

„Und? Was siehst du?“

Er wurde plötzlich ganz ernst, beugte sich zu ihr und betrachtete zuerst ihre linke Gesichtshälfte, dann die rechte. Juliana spürte, wie ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. Seine Haare waren fettig. Und diese Pickel! „Normalerweise rauchen die Leute aus den Ohren“, sagte John. „Aber bei dir ist nichts zu sehen. Herzlichen Glückwunsch.“

„Danke“, sagte Juliana und rückte unwillkürlich noch ein Stück zur Seite, sodass sie fast von der Schaukel gefallen wäre.

Sie winkte ab. „Lassen wir das.“

„Wie du meinst.“ Er lehnte sich zurück, streckte die langen Beine aus und brachte die Hollywoodschaukel zum Schwingen. Das Gestänge quietschte und ächzte beängstigend.

„Müsste mal wieder geölt werden“, meinte John mit einem skeptischen Blick nach oben. „Gut, dass du nicht dick bist.“

„Oder du“, sagte Juliana.

Dann geh ich mal wieder nach Hause, wollte sie noch hinzufügen, aber John war schneller.

„Schön“, meinte er.

„Was?“

„Dass du runtergekommen bist. Tja. Was Hunger so auslösen kann. Da vergisst man alles. Willst du noch ein Eis? Ganz ohne Peperoni?“

„Danke, das ist nett. Aber ich bin echt voll.“

„Hast du etwa daran gezweifelt?“

„Woran?“

„Dass ich nett bin.“

„Nie“, log Juliana. „Ich muss jetzt los. Muss noch Hausaufgaben machen.“

„Ist es nicht ein bisschen spät dafür?“

„Ja, ich weiß. Aber ich war den ganzen Tag auf der Ranch.“

„Du reitest?“, fragte John erstaunt. „Ich mag Pferde total gern und bin früher auch geritten. Wenn ich irgendwann mal einen guten Job habe, dann kauf ich mir einen schwarzen Hannoveraner, so viel steht fest.“

„Warum denn ausgerechnet einen schwarzen Hannoveraner?“

„Ich hatte mal einen. Baccara, das tollste Pferd der Welt.“

„Und was ist aus Baccara geworden?“

Er schüttelte den Kopf. „Das ist eine lange Geschichte. Ohne Happy End. Wo reitest du denn?“

„Auf der Sunshine Ranch“, sagte Juliana.

„Hast du ein eigenes Pferd?“

„Ein Pflegepferd, für das ich allein zuständig bin. Sie heißt Nike“, erklärte Juliana.

Denn sie und die anderen Pferdemädchen hatten eine Abmachung mit Sue. Jede von ihnen trug die Verantwortung für ein Pferd. Und im Gegenzug durften sie ausreiten, so oft und so lange sie wollten.

Nach den Hausaufgaben rannten Juliana, Ayla, Hannah, Myriam, Sina und Tori deshalb direkt zur Sunshine Ranch. Am Wochenende und in den Ferien kamen sie sogar gleich nach dem Frühstück und gingen erst zum Abendessen zurück nach Hause. Die meisten anderen Mädchen in ihrer Klasse hielten sie für vollkommen verrückt.

Ihr hängt die ganze Zeit in dem stinkenden Stall rum und habt überhaupt keine Freizeit, hatte Sandra neulich naserümpfend bemerkt.

Die Sunshine Ranch ist unser Leben, konterte Juliana in solchen Fällen immer. Und das sahen ihre Freundinnen ganz genauso.

„Wenn ich nicht so viel um die Ohren hätte, würd ich auch wieder mit dem Reiten anfangen“, meinte John. „Aber im Moment ist das leider nicht drin. Ich hab gerade erst eine Ausbildung begonnen.“

„Schade“, meinte Juliana, war aber insgeheim erleichtert. „Jetzt muss ich aber wirklich los.“

„Na dann. Man sieht sich. Die nächste Pizza geht auf dich.“

Juliana lächelte etwas gequält. „Die wird dann aber nicht so scharf.“