Neuigkeiten
Mai 1924
»Unverschämter, frecher Affe!«
Jella starrte auf ihre leere Hand, in der sie eben noch ein Butterbrot gehalten hatte. Tatenlos, wenn auch insgeheim amüsiert, musste sie mit ansehen, wie sich der Pavian mit ihrem Essen davonmachte. Sobald er sich in sicherer Entfernung wusste, setzte er sich auf seinen blanken Hintern und bleckte triumphierend die gelben Zähne in ihre Richtung. Es sah aus, als lachte er sie aus. Jella hob drohend den Zeigefinger.
Ihr vierjähriger Neffe Benjamin stand neben ihr und gluckste vor Lachen.
»Sieh nur, Tante Jella, jetzt macht Jacko dich auch noch nach!«
Das Butterbrot im Maul sprang der Affe auf und ab und äffte ihre Drohgebärde nach. Ihre anfängliche Empörung löste sich angesichts der theatralischen Vorstellung des Affen in schallendes Gelächter auf.
»Wir hätten nie erlauben dürfen, dass dieser unverschämte Pavian auf Owitambe bleibt!«, prustete sie los. »Irgendwann übernimmt er hier das Regiment. Das dürfen wir nicht zulassen!«
»Aber Jacko muss jetzt nicht weggehen, oder?«, fragte Benjamin und sah sie aus seinen hellblauen Augen groß an. Jella strich dem kleinen Jungen beruhigend über den krausblonden Wuschelkopf.
»Keine Angst, niemand wird Jacko von hier vertreiben, aber es wird Zeit, dass dein Großvater ihm endlich seine schlechten Manieren abgewöhnt! Er muss lernen, dass er sich nicht einfach nehmen kann, was er gerade will. Erst neulich hat er Großmutter Imeldas neuen Sommerhut ruiniert. Wenn ich nur daran denke, wie er die Kunstblumen genüsslich zerkaut hat …«
Jella unterbrach ihre Schimpftirade auf den Affen, als sie in der Ferne eine Staubwolke auf die Farm zukommen sah.
»Siehst du, wer da kommt?«, fragte sie ihren kleinen Neffen. Sie kniff die Augen zusammen und blinzelte. Ihre Sehkraft hatte in letzter Zeit etwas nachgelassen, aber sie war noch zu eitel, als dass sie sich mit einer Brille abgefunden hätte.
»Das ist der Bakkie von Onkel Fritz. Hoffentlich hat er mir die Zwille aus Okahandja mitgebracht!« Benjamin hüpfte aufgeregt auf und ab. »Ich bin nämlich längst alt genug, um schießen zu lernen!«
Die Staubwolke näherte sich rasch, und bald konnte auch Jella den motorisierten Pritschenwagen erkennen. Nach all den langen Jahren klopfte ihr Herz immer noch vor Freude, wenn sie ihren Mann nach längerer Zeit der Trennung wiedersah. Eilig fuhr sie sich mit ihren großen Händen durch das kurz geschnittene, rote Haar, das von feinen Silberfäden durchzogen war, und ging mit Benjamin zum Haus. Der Bakkie rollte auf den Hof und kam zum Stehen. Noch bevor Fritz richtig ausgestiegen war, wurde er von dem kleinen Jungen stürmisch umarmt. Fritz hob seinen Neffen etwas unbeholfen mit seinem Armstumpf auf seinen gesunden Arm und wirbelte ihn durch die Luft. Als er ihn schließlich absetzte, forderte er ihn auf, rasch seine Mutter zu holen. Als sie endlich allein waren, zwinkerte er Jella gut gelaunt zu.
»Ich habe gehört, dass die Menschen dieser Farm einige wichtige Waren benötigen. Wenn Sie bereit sind, meine Preise zu zahlen, dann kann ich Ihnen mit Mehl, Zucker, Kaffee, neuem Stoff … oder einem Kuss aushelfen.«
»Ich weiß gar nicht mehr, was das ist!« Jella ging auf sein Spiel ein und gab die Beleidigte. »Ich hatte mich gerade an den Gedanken gewöhnt, alleine zu leben! Du kannst also gleich wieder gehen!« Ihre strahlenden Augen straften ihre Worte Lügen. Als Fritz sie in den Arm nahm, gab sie ihren Widerstand sofort auf und erwiderte seinen zärtlichen Begrüßungskuss.
»Hast du die Medikamente und den Narkotisierapparat bekommen?«, fragte sie schließlich.
»Alles hinten auf der Ladefläche.«
»Wieso kommst du so spät? Wir hatten dich alle früher hier erwartet! Du hättest uns wenigstens anfunken können!«
»Das habe ich ja versucht«, stöhnte Fritz und verdrehte genervt die Augen, »aber ich bin nicht durchgekommen. Ich fürchte, dass unser Empfänger mal wieder den Geist aufgegeben hat. Der neue Narkotisierapparat ist erst gestern in Windhuk eingetroffen. Das war der Grund für meine Verspätung.«
»Wie war es in Etosha?«, erkundigte sich Jella. »Habt ihr die Wilderer stellen können?«
»Leider nicht!« Fritz verzog ärgerlich sein Gesicht und rieb sich seinen Armstumpf. »Irgendjemand muss die Schurken gewarnt haben. Wir waren ganz sicher, dass wir sie dieses Mal erwischen würden, aber dann sind sie doch nicht erschienen. Ich werde den dringenden Verdacht nicht los, dass einer unserer eigenen Männer ein Verräter ist.«
»Das ist eine ungeheuerliche Anschuldigung, findest du nicht auch? Ich dachte immer, du könntest deinen Männern blind vertrauen.«
Fritz zuckte mit den Schultern. Plötzlich wirkte er ziemlich müde und abgespannt. »Das habe ich auch immer gedacht. Aber unsere Wildhüter werden von der Verwaltung viel zu schlecht bezahlt. Man kann es ihnen nicht einmal übel nehmen, wenn sie sich noch etwas Geld durch das Ausplaudern von Informationen dazuverdienen. Unser Informant von der Walfischbay war sich ganz sicher, dass die Wilderer eine neue Lieferung aus dem geheimen Elfenbeinversteck holen würden. Seitdem wir das Lager kürzlich entdeckt hatten, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis wir die Männer schnappen. Niemand außer uns sechs wusste davon. Es muss eine undichte Stelle geben!«
»Das tut mir leid! Du hast so viel Energie in diese Aktion gesteckt. Nun komm erst mal mit ins Haus!« Jella strich Fritz zärtlich über den Arm. »Teresa hat Apfelkuchen gebacken. Das wird deine Stimmung sicherlich rasch wieder heben.«
»Einen Moment noch! Ich habe noch etwas Wichtiges vergessen.« Er zog aus dem Führerhaus des Bakkie einen Brief und wedelte vielsagend damit herum.
»Von Raffael?«, rief Jella. »Endlich! Sonja wartet schon so lange auf eine Nachricht von ihm. Wir müssen dafür sorgen, dass sie ihn sofort bekommt!«
»Deshalb habe ich Benni ja auch losgeschickt.«
Wenige Augenblicke später trat Sonja aus der Tür des kleinen Hauses, das sie gemeinsam mit ihrem Sohn bewohnte. Sie war eine hübsche junge Frau mit weizengelben Haaren und sanft dreinblickenden graublauen Augen.
Derzeit lebten drei Generationen auf Owitambe. Großvater Johannes mit seiner Himbafrau Sarah, seine Tochter Jella mit ihrem Mann Fritz und eben Sonja, die Frau von Johannes’ Sohn Raffael, mit ihrem Sohn Benjamin.
Fritz überreichte Benjamins Mutter den Brief, worauf ihr fein geschnittenes Gesicht zu strahlen begann.
»Vielen Dank!« Sonja errötete leicht, als sie den Umschlag ungeöffnet in ihre Schürzentasche steckte.
»Willst du ihn nicht gleich aufmachen?«, drängelte Jella. Geduld war noch nie ihre Stärke gewesen.
»Lass sie doch«, tadelte Fritz. »Sonja möchte den Brief sicherlich in Ruhe lesen.«
»Ich will ja nur wissen, wie es meinem Bruder im fernen England ergeht! Schließlich ist er schon lange genug fort, und seit Monaten haben wir überhaupt nichts von ihm gehört.«
»Ich werde euch bald berichten«, versprach Sonja hastig. »Es ist nur …« Sie schluckte. »Ich habe Angst, dass er seine Rückkehr erneut um ein halbes Jahr verschiebt.«
»Oh!«
Jella wurde erst jetzt die Tragweite ihrer Taktlosigkeit bewusst. »Ich wusste ja nicht … ähm … Selbstverständlich lassen wir dich nun in Ruhe. Du kannst ja später zu uns stoßen. Ach, Benni, willst du nicht mit uns kommen und schon mal ein Stück Apfelkuchen essen? Nun komm schon, Fritz!«
Fritz lachte. Er liebte Jella gerade wegen ihrer Direktheit. Obwohl seine Frau die vierzig schon längst überschritten hatte, war sie immer noch so impulsiv und undiplomatisch wie in ihrer Jugend. Er hakte ihren Arm bei sich ein und steuerte mit ihr und Benni zu der Veranda, auf die mittlerweile auch Jellas Vater getreten war.
*
»Wann kommt Ricky uns denn endlich wieder einmal besuchen?«, fragte Johannes, während er sich die letzten Kuchenkrümel von seinem unrasierten Kinn wischte. Der Duft von Kaffee und frisch gebackenem Kuchen hing noch in der Luft. Der alte Mann vermisste seine älteste Enkelin von allen Familienmitgliedern am meisten. »Ist sie glücklich in Windhuk? In ihrem letzten Brief wirkte sie recht einsilbig.«
»Das kommt dir nur so vor«, beschwichtigte ihn Jella und schenkte ihrem Vater noch eine Tasse frisch aufgebrühten Kaffee ein. »Ricky macht eine Ausbildung zur Gesangs- und Musiklehrerin. Das entspricht genau ihren Neigungen.«
»Wen soll sie denn hier in Südwestafrika schon unterrichten?«, knurrte Johannes. »Alles wird darauf hinauslaufen, dass sie den Gören hier das Alphabet nahebringt. Seit es kaum noch Deutsche in Südwestafrika gibt, macht doch keiner mehr Musik. Die Buren sind doch allesamt unmusikalisch.« Er steigerte sich weiter in seinen Unmut hinein. »Das Kind ist für diese Provinz viel zu talentiert. Sie gehört auf die großen Bühnen dieser Welt. Sie bewegt sich anmutig wie ein Schwan und singt wie eine Nachtigall. Ihr Problem ist nur, dass niemand von euch das sehen will!«
»Ach Vater, hör doch damit auf!«, protestierte Jella ungehalten. »Du hast unserer Tochter schon viel zu viele Flausen in den Kopf gesetzt. Am Ende glaubt sie den Unsinn noch selber. Überhaupt! Wie stellst du dir das denn vor? Sie ist noch ein Kind, noch nicht einmal mündig. Sollen wir sie etwa allein nach Europa schicken? Ich weiß, wie gefährlich es dort für ein junges Mädchen sein kann. Ganz abgesehen davon, dass wir uns das gar nicht leisten können. Ich finde es schon sehr fahrlässig von uns, dass wir sie so viel Musik nebenbei studieren lassen, obwohl das eine nahezu brotlose Arbeit ist. Sie hätte das Zeug zu ganz anderen Dingen gehabt.«
»Ja, ja, ich weiß«, konterte Johannes übellaunig. »Du wolltest immer, dass sie Medizin studiert und eine richtige Ärztin wird. Aber dafür eignet sich unsere Ricky nicht.«
Die Stimmung an der Kaffeetafel drohte plötzlich zu kippen. Jellas und Raffaels Vater wurde in den letzten Jahren immer eigenwilliger und schwieriger. Er nörgelte an allem herum, entzog sich immer öfter der Gemeinschaft und brauste leicht auf. Nur seine beiden Enkel Ricky und Benjamin genossen seine ungeteilte Zuneigung.
Zum Glück gesellte sich Sonja nun zu ihnen. Sie hatte sich ein frisches Kleid übergezogen und strahlte von innen heraus.
»Stellt euch nur vor«, meinte sie voller Stolz. »Raffael hat sein Examen als Barrister bestanden. Er ist sogar als Jahrgangsbester ausgezeichnet worden.«
Alle bei Tisch freuten sich und gratulierten Sonja.
»Respekt! Das schaffen nicht viele«, meinte Fritz anerkennend. »Ich empfand es schon als eine außerordentliche Leistung, als er damals in London an der juristischen Fakultät ›Inner Temple‹ überhaupt aufgenommen wurde. Ein Abschluss an dieser Universität, noch dazu ein hervorragender, wird ihm alle Türen und Tore öffnen! Wird er euch nach London nachholen?«
Sonja zuckte mit den Schultern. »Davon schreibt er nichts«, gab sie etwas kleinlaut zu, »aber er wird mit dem nächsten Schiff zurück nach Owitambe kommen. Der Brief war lange unterwegs. Wer weiß, vielleicht kommt er schon in den nächsten Tagen!«
»Endlich mal eine gute Nachricht!«, gab sich nun sogar Johannes wieder versöhnlich. Er hatte immer noch Schwierigkeiten zu akzeptieren, dass sein Sohn sich nicht für die Farm, sondern für ein Jurastudium entschieden hatte. Obwohl Jella und Fritz, nachdem sie vor einigen Jahren wieder aus Indien zurückgekehrt waren, mit viel Energie Owitambe aus seinem Dornröschenschlaf geweckt und daraus eine ertragreiche Farm gemacht hatten, hatte er sich nur mürrisch damit abgefunden.
»Aber das ist ja wunderbar. Wir müssen unbedingt Telegramme nach Windhuk und Okakarara schicken und Ricky und Imelda und Rajiv benachrichtigen«, schlug Jella begeistert vor. »Sie müssen einfach alle kommen. Es wird herrlich werden! Endlich ist mal wieder etwas los auf Owitambe!«
*
Raffaels bevorstehende Ankunft brachte Leben auf die Farm. Alle stürzten sich voller Eifer in die Vorbereitungen zu dem Willkommensfest, bei dem sich nach langer Zeit wieder einmal alle Familienmitglieder treffen würden. Fritz und sein Vorarbeiter Matteus beschlossen, ein Schwein zu schlachten, das die Frauen zerlegen und daraus Blut- und Leberwürste, Schinken und Bratfleisch machen sollten. Fritz’ Mutter Imelda und ihr zweiter Ehemann Rajiv bestanden darauf, aus ihrem Kolonialwarenladen ein Fass Bier beizusteuern. Teresa musste Brot und Kuchen backen, und Sarah brachte frisches Gemüse und Salat aus ihrem Garten. Jellas Halbbruder Raffael war vor beinahe vier Jahren allein nach London aufgebrochen, um dort ein Jurastudium zu beginnen. Die Aufnahme in die Eliteuniversität »Inner Temple« war für ihn als Mischling eine besondere Ehre gewesen. Mit seinem nun erworbenen Examen als Barrister hatte er eine Zulassung an allen englischen Obergerichten erworben und somit auch eine Anwaltszulassung in Südafrika und seiner unter südafrikanischem Mandat stehenden Heimat Südwestafrika. Das war auch der Grund gewesen, weshalb er nicht in Berlin, der Heimat seines Vaters Johannes, studiert hatte. Ein deutsches Examen wäre hier in Afrika niemals anerkannt worden.
Fritz hatte inzwischen das Funkgerät wieder repariert und herausgefunden, dass das Dampfschiff aus Europa schon am übernächsten Tag in der Walfischbay ankommen würde. Raffael hatte sich kurz darauf ebenfalls per Telegramm gemeldet und ihnen mitgeteilt, dass er noch einen kurzen Zwischenstopp in Windhuk einlegen werde, bevor er nach Hause käme. Kurz entschlossen hatte Fritz Sonja und ihrem Sohn angeboten, sie im Bakkie nach Windhuk zu bringen, um Raffael am Bahnhof zu überraschen. Gleichzeitig wollten sie Ricky abholen und mit auf die Farm bringen. Jella war das nur recht. Auf diese Weise gewann sie etwas Zeit, um sich um das Einräumen der mitgebrachten Medikamente zu kümmern und den neuen Äthernarkoseapparat näher in Augenschein zu nehmen. Auf diese neue Errungenschaft freute sie sich ganz besonders. Immer wieder war es erforderlich, kleinere und manchmal auch schwierigere Operationen in ihrem kleinen Lazarett durchzuführen. Oft reichte die Zeit nicht, um die Patienten in ein richtiges Krankenhaus zu bringen. Sie hatte immer ein ungutes Gefühl dabei gehabt, nicht weil sie sich vor den Eingriffen selbst fürchtete, sondern weil sie vor den Folgen der Narkose äußersten Respekt hatte. Ohne eine richtige Dosierungsmöglichkeit des Äthers lief sie Gefahr, dass der Patient zu wenig oder zu stark betäubt wurde. Hinzu kam, dass manchen Patienten während der Narkose die Zunge nach hinten klappte und sie keine Luft mehr bekamen. Vor noch gar nicht langer Zeit wäre ihr um ein Haar ein Patient auf dem Operationstisch erstickt, wenn es ihr nicht mit dem Ende eines Löffels gelungen wäre, die Zunge beiseitezuschieben, um die Atemwege wieder freizubekommen. Fritz hatte ihr danach dringend geraten, sich einen der neumodischen Äthernarkotisierapparate sowie einige andere Hilfsgeräte für die Anästhesie zu beschaffen. Der bewährte Ombredanne-Inhalator war sowohl handlich als auch äußerst leicht einzusetzen. Er bestand aus einer etwa zwanzig Zentimeter großen Metallkugel, die mit Gaze gefüllt war. Daran war auf der einen Seite ein Luftbehälter aus einer Schweinsblase befestigt, während sich auf der anderen Seite der Kugel eine Gesichtsmaske mit einer Gummidichtung befand. Die Kugel selbst wurde mit Äther befüllt. Eine Kontrollröhre mit einem Zeiger gab genau an, wie viel von dem Narkosemittel der Patient über die Gesichtsmaske inhalierte. Um das Zurückfallen der Zunge zu verhindern, hatte Jella sich eine praktische Zungenzange bestellt. Eine andere Zange, die »Rose’sche Mundsperre«, sollte verhindern, dass der Patient seine Zähne während des Wegdämmerns zu fest zusammenpresste. Die geschlossenen Enden der Zange liefen in einem Keil aus, den man zwischen die Zahnreihen schieben konnte. Durch das Zusammendrücken des Handgriffs wurden die Keile auseinandergespreizt und öffneten so den Mund. Das war bei längeren Operationen wichtig, wenn es nötig war, den Kranken zu intubieren. Dafür hatte Jella sich mehrere Tuben kommen lassen sowie ein u-förmiges Laryngoskop, um die Luftschläuche behutsam in die Luftröhre bugsieren zu können. Das war die sicherste Methode, um die oberen und tieferen Atemwege frei zu halten.
Jella sah sich zufrieden in ihrem kleinen Reich um. Im Laufe der Jahre hatte sich aus der Arztpraxis eine richtige kleine Klinik entwickelt. Neben einem Behandlungsraum gab es noch ein kleines Labor, einen eigenen Operationsraum mit einer hellen, verstellbaren Deckenlampe sowie zwei Krankenzimmer, in denen sie schwerkranke Patienten unterbringen konnte. Ohne die Unterstützung von Fritz und ihrer zukünftigen Schwägerin Sonja wäre das alles nicht entstanden. Sorgfältig begann sie nun mit dem Einräumen der neu eingetroffenen Medikamente. Neben den Schmerzmitteln Aspirin und Pantopan hatte sie auch Morphin geordert, das sie sofort in dem verschließbaren Schrank unterbrachte, ebenso wie die Schlafmittel Allonal, das Herzmedikament Digalen und Ephedrin, von dem sie sich Linderung für den Buschmann Bô erhoffte, der unter asthmaartigen Hustenanfällen litt.
»Ich sollte mal wieder nach Nakeshi sehen«, schoss es ihr sogleich durch den Kopf. Mit der Buschmannfrau verband sie seit vielen Jahren eine kaum zu erklärende Seelenverwandtschaft. Nakeshi nannte sie »Sternenschwester«, und tatsächlich war die aus einem so ganz anderen Kulturkreis kommende Buschmannfrau ihr in vielen Dingen näher als jede hellhäutige Freundin. Wie es ihr wohl gehen mochte? Ihre Gruppe war schon lange nicht mehr in der Gegend gewesen. Hoffentlich waren sie alle wohlauf. In den letzten Jahren hatte sich vieles geändert. Seitdem die Buren und Südafrikaner in Südwestafrika das Sagen hatten, hatten sich die Rassenunterschiede im Land noch wesentlich verschärft – und am Ende der unmenschlichen Werteskala standen die Buschmänner, die sowohl den weißen Farmern als auch den Ovambo, Herero und Damarra ein Dorn im Auge waren, weil sie sich nicht an die neu geschaffenen Grenzen hielten. Seit Tausenden von Jahren zogen die Buschmänner durch die Savanne und jagten und sammelten das, was sie notwendigerweise zum Leben brauchten. Sie kannten kein Eigentum und hatten deshalb auch gar keine Vorstellung davon, was es für die Farmer bedeutete, wenn sie hin und wieder ihr Vieh jagten oder sich für einige Zeit auf ihrem Land niederließen. Für manche Farmer waren die Buschmänner deshalb wie Freiwild. Wenn sie nicht schnell genug von ihrem Land verschwanden, zögerten sie nicht, sie selbst mit Waffengewalt zu verjagen. Andere missbrauchten die gutgläubigen Buschmänner als billige Zwangsarbeiter. Sie köderten sie erst mit einem angenehmen Leben und schenkten ihnen Alkohol. Sobald sie davon abhängig waren, zwangen sie sie, für einen Hungerlohn bei ihnen zu arbeiten.
Wo das noch hinführen sollte! Jella seufzte. Sie verschloss den Medikamentenschrank und steckte den Schlüssel in ihre Hosentasche. Seit einiger Zeit hatte sie sich angewöhnt, Hosen zu tragen. Sie waren praktischer und bequemer als die langen Röcke.
Ob es sich wohl lohnte, die wichtigsten Krankenakten noch einmal durchzusehen? Viel Lust hatte sie dazu nicht, denn es gab noch genügend für die vielen Gäste vorzubereiten. Allerdings ging das Wohl ihrer Patienten vor.
Auf dem Weg zu ihrem Schreibtisch fiel ihr Blick durch das kleine Fenster neben der Tür. Dort entdeckte sie eine unbekannte Schwarze. Sie schien aus keinem der umliegenden Dörfer zu stammen. Die Frau wirkte ratlos und traute sich augenscheinlich nicht, ins Haus zu treten. Jella beschloss, die Krankenakten liegen zu lassen und nachzusehen. Die Fremde erschrak, als sie Jella so unvermittelt aus der Tür treten sah. Einen kleinen Augenblick lang dachte sie, dass sie vor ihr davonlaufen wollte. Sie war keine Herero, sondern schien aus einem Ovambodorf von weiter her zu sein.
»Owe uya po! – Willkommen«, begrüßte Jella sie auf oshivambo.
»Ou li tutu nawa? – Wie geht’s?«
»Wa aluka – Hallo«, antwortete die Frau zögernd. Sie wagte offensichtlich nicht, ihr in die Augen zu sehen. Jella hatte das schon oft erlebt. Viele ihrer Patienten, vor allem, wenn sie von abgelegenen Orten kamen, sahen in ihr eine mächtige Medizinfrau, die durch ihren Blick heilen, aber auch verfluchen konnte. Die anfänglichen Versuche, den Menschen zu erklären, dass sie über keinerlei Zauber verfügte, hatte sie längst aufgegeben. Für die Afrikaner bedeutete eine Heilung, dass der Arzt die Geister der Ahnen beschwichtigen und so das Leid von den Kranken nehmen konnte. Was sollte sie gegen diesen Aberglauben auch ankämpfen? Oft unterstützte ihr Glaube sogar den Heilungsprozess.
»Kann ich dir helfen?«, drang Jella behutsam vor. Die Ovambofrau war vielleicht dreißig Jahre alt. Ihr fehlte ein Schneidezahn, und sie hatte offensichtlich vor noch gar nicht langer Zeit ein Baby entbunden, denn ihre Brüste waren prall gefüllt und voller Milch. Da sie das Kleine nicht bei sich trug, vermutete Jella, dass das Kind einige Tage nach der Geburt gestorben war.
»Schmerzen deine Brüste?«, fragte sie mitfühlend. »Wenn du willst, kann ich dir eine Salbe geben. Davon geht auch der Milchfluss zurück.«
Die Frau bedeckte angstvoll ihre nackten Brüste.
»Nein! Ich will keine Medizin! Ich brauche die Milch noch!«
»Dann lebt dein Baby?«
Jella sah sich suchend um. Offensichtlich war die Frau aber allein gekommen. Normalerweise trugen afrikanische Mütter ihre Kinder immer bei sich. Die Augen der Ovambo flackerten vor Angst, bevor sie zaghaft antwortete.
»Ich habe es versteckt!«, flüsterte sie.
»Aber warum, um Gottes willen? Hast du Angst, dass deinem Kind etwas geschieht? Hol es! Hier ist es in Sicherheit!«
Jella drängte die Frau. Schließlich lebte sie lange genug in der Wildnis, um zu wissen, dass selbst nahe am Haus immer wieder Schakale oder sogar größere Wildtiere ihr Unwesen trieben und ein so wehrloses Geschöpf als willkommene Beute betrachten würden.
»Mein Kind ist verflucht!«
Die Frau sah sich mehrfach um, so als würde sie verfolgt.
»Niemand hier wird deinem Kind etwas antun!«, versprach Jella nochmals. »Es steht unter meinem Schutz!«
Sie richtete sich zu ihrer ganzen Größe auf und versuchte ein ernst zu nehmendes Gesicht zu machen. Das mochte zwar etwas großspurig wirken, aber sie hoffte, dass ihr Gebaren die Frau beruhigen würde. Unter dem Schutz einer Medizinfrau zu stehen bedeutete diesen Menschen viel. Vermutlich war mit dem Kind etwas nicht in Ordnung. Vielleicht war es behindert. In vielen Stämmen bedeutete eine Behinderung einen Fluch.
»Wenn dein Kind krank ist, dann bist du hier genau richtig. Ich sehe es mir gerne an. Vielleicht kann ich ihm helfen.«
Die Frau schüttelte betrübt den Kopf. »Mein Sohn ist gesund«, versicherte sie, »er braucht keine Medizin.«
»Ich kann den Fluch von ihm nehmen«, behauptete Jella.
Die Frau wich ängstlich zurück. »Das sagt der Sangoma in meinem Dorf auch. Er sagt, dass wir Nuru zu den Ahnen geben müssen, sonst wird eine schreckliche Krankheit über das ganze Dorf kommen.«
Jella raufte sich innerlich die Haare. Immer wieder wurde sie vor die Situation gestellt, sich gegen die barbarischen Sitten der Medizinmänner behaupten zu müssen. Dabei war es nicht so, dass sie die Heilkundigen der Stämme nicht achtete. Im Gegenteil. Einige von ihnen waren wirklich erstaunliche Heiler und verfügten über ein enormes pflanzenkundliches und psychologisches Wissen, um das sie sie beneidete. Allerdings gab es, wie unter Ärzten auch, Scharlatane, die ihre Stellung missbrauchten und für ihre eigenen Machtinteressen nutzten. Sie wusste, dass sie nun behutsam, aber auch entschieden vorgehen musste.
»Bring mir deinen Sohn, dann kann ich sehen, ob der Medizinmann in deinem Dorf recht hat!«, befahl sie mit strenger Miene.
»Der fremde Sangoma ist sehr mächtig«, sagte die Frau mit angstvoller Stimme. »Er hat schon einige von meinem Stamm verflucht. Sangoma sagt, wenn wir ihm unseren Sohn nicht geben, wird er großes Unglück über den ganzen Stamm bringen. Aber ich will nicht. Nuru ist mein einziges lebendes Kind. Er ist meine Zukunft! Du musst mir helfen, Madam!« Sie sah sie aus tränenglänzenden Augen an. Ihre Verzweiflung war fast greifbar.
»Bring den kleinen Nuru zu mir«, wiederholte Jella mit sanfter, eindringlicher Stimme. »Ich werde ihn mir ansehen, und dann überlegen wir, was wir tun können. Weiß dein Mann, dass du hier bist?«
Die Ovambo schüttelte verbittert den Kopf.
»Er denkt wie Sangoma. Nuru muss sterben, sagt er. Alle in meinem Dorf sind gegen mich!«
Ihre Verzweiflung brach sich nun endgültig ihren Weg, und sie begann leise zu weinen. Jella legte tröstend den Arm um sie und versuchte die Frau zu beruhigen. Und dennoch musste sie noch lange auf sie einreden, bevor sie endlich bereit war, das Baby zu holen. Als sie schließlich aus einem kleinen Waldstück trat, hatte sie ihr Kind der Tradition gemäß auf den Rücken gebunden. Allerdings war es unter dem großen Tuch nicht zu sehen.
»Darf ich?« Jella schob vorsichtig das Tuch beiseite und entblößte das Gesicht des etwa drei Monate alten Jungen. Der Kleine schlief und schien auf den ersten Blick gesund zu sein. Außergewöhnlich war allerdings seine äußerst helle Haut. Selbst seine gekräuselten Haare waren von einem hellen Blond. Als er unvermittelt aufwachte und sie mit roten Augen verwundert ansah, wusste Jella, weshalb sich alle vor dem kleinen Kerl fürchteten.
Nuru war ein Albino!
Das Phänomen war ihr wohlbekannt. Albinos kamen immer wieder vor. Sie waren eine Laune der Natur, wenn auch eine relativ seltene. In der Wildnis hatten Lebewesen, die Störungen in der Bildung von Farbstoffen aufwiesen, meist keine Überlebenschance, weil sie durch ihr helles Aussehen zu sehr aus ihrer Umgebung hervorstachen und deshalb leicht Opfer anderer Tiere wurden. Bei Menschen hingegen hätte man meinen sollen, dass die Toleranz größer gewesen wäre. Mit Verstand und Einsicht gesegnet hätten sie fähig sein müssen, sich über derartige Launen hinwegzusetzen und die Andersartigkeit zu akzeptieren. Doch genau in dieser Hinsicht versagten viele ihrer Spezies kläglich. Jella musste an ihre Jugend in Berlin denken, wo es üblich gewesen war, auf den Jahrmärkten allerlei kuriose, lebendige Missgestalten auszustellen. Kleinwüchsige, Riesen, Krüppel, Hautkranke oder Menschen exotischer Völker wurden wie Tiere gehalten und zur Schau gestellt. Ein Albino hätte dort sicherlich auch seinen Platz gefunden. Warum sollte das in Afrika anders sein? Allerdings entsetzte sie der Gedanke, was der Medizinmann mit dem Albino anstellen wollte. So mancher Einheimische hatte ihr schon erzählt, dass man aus den Organen von frisch getöteten Albinos mächtige Medizin herstellen konnte. Allein die Vorstellung ließ Jella schaudern. Vermutlich ging es dem Sangoma hauptsächlich um seinen Einfluss auf das Dorf. Wenn es ihm gelang, eine Mutter dazu zu bewegen, ihr eigenes Kind herzugeben, stärkte das seine Macht. Dieses perfide Spiel durfte sie unter keinen Umständen zulassen. Sie würde mit all der ihr zur Verfügung stehenden Kraft gegen solche Barbarei ankämpfen. Dieses Kind und seine Mutter mussten vor der Willkür dieses Medizinmanns geschützt werden!
»Du hast einen hübschen Sohn«, meinte sie entschlossen zu der Ovambo. »Er wird einmal zu einem kräftigen jungen Mann heranwachsen und eine Freude für seine Mutter sein.«
Auf dem Gesicht der Frau erstrahlte zum ersten Mal ein stolzes Lächeln.
»Ihr zwei könnt erst einmal hierbleiben. Setz dich auf die Bank vor der Klinik, und warte auf mich. Ich sage Teresa Bescheid, damit sie sich um euch kümmert. Wenn du uns hier auf der Farm etwas zur Hand gehst, kannst du vorläufig bleiben. Sobald ich Zeit habe, werde ich in dein Dorf gehen und mit dem Sangoma und deinem Mann reden.«
Die Ovambofrau nahm Jellas Hände und drückte sie an ihr Herz.
»Saburi wird dir immer dankbar sein«, versicherte sie aufrichtig. Rein zufällig entdeckte Jella, dass die Frau ein eitriges Ekzem am Unterarm hatte.
»Darf ich mal sehen?«
Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern drehte den Arm vorsichtig in ihre Richtung. Saburi verzog dabei vor Schmerz das Gesicht. Jella sog Luft ein. Das Ekzem war etwa taubeneigroß und an den Rändern unnatürlich gerötet. Auf seiner Wölbung war es aufgeplatzt und schmutzig gelber Eiter drang daraus hervor. Bei genauem Hinsehen erkannte Jella kleine, weiße Maden, die aus der Wunde krochen.
»Du musst sofort mit mir in mein Behandlungszimmer kommen!«, befahl sie und schob Saburi in Richtung Tür. »Ich muss die Wunde unbedingt behandeln.«
Saburis Augen weiteten sich erneut vor Angst. Jella beruhigte sie.
»Es wird nicht lange wehtun. Ich werde ganz vorsichtig die Wunde mit meinem Messer öffnen und den Eiter entfernen. Hast du dich irgendwo verletzt?«
Saburi sah Jella entsetzt an und schüttelte dann vehement den Kopf. »Ich habe mich nicht verletzt. Das muss der Fluch des Sangoma sein! Er wird mich töten, wenn ich ihm Nuru nicht zurückbringe.«
Sie wollte sich von ihr lösen, doch Jella hielt sie fest.
»Wenn ich nicht sofort schneide, wird dein ganzer Arm krank, und dann wirst du sterben.«
»Das ist der Fluch des Sangoma«, wiederholte Saburi nochmals leise.
»Unsinn«, widersprach Jella energisch. »Wahrscheinlich hat dich ein Moskito gestochen, und der Stich hat sich entzündet. So etwas geschieht immer wieder. Nun komm schon!«
Nur widerwillig ließ sich Saburi in das Innere des Gebäudes führen. Jella drückte sie auf einen Hocker und legte den Arm auf den Behandlungstisch. Dann rührte sie ein leichtes Schmerzmittel an und befahl der Frau, es zu trinken. Sie achtete darauf, dass es nur leicht wirkte, um Nuru zu schützen, der ja schließlich ihre Milch trank. Dann reinigte sie sorgfältig die Umgebung der Wunde mit Karbolsäure, bevor sie den Arm durch einen selbst entwickelten Sichtschutz vor den Augen ihrer Patientin verbarg. Saburi sollte nicht mit ansehen, wie sie ihr Skalpell zückte, um das Ekzem zu entfernen.
»Erzähl mir von deinem Dorf und deinem Leben«, forderte sie die Ovambofrau auf. Um unvorhergesehene Bewegungen zu verhindern, musste sie versuchen, sie von dem Eingriff abzulenken. Normalerweise hielt Sonja bei solch kleinen Eingriffen die Patienten fest, aber die war ja gerade nicht da. Während Saburi stockend von ihrem Dorf erzählte, das über zwei Tagesreisen von Owitambe entfernt lag, verrichtete Jella in Ruhe ihr Werk. Sie musste fast bis zum Knochen schneiden, um das eitrige Gewebe zu entfernen. Sorgfältig achtete sie darauf, dass sie nichts übersah. Danach reinigte sie die Wunde nochmals mit Karbolsäure und nähte sie zu. Eine halbe Stunde später war der Arm ordentlich versorgt und verbunden. Vorsorglich gab sie Saburi noch etwas von dem Schmerzmittel und brachte sie in das Patientenzimmer.
»Teresa wird dir gleich etwas zu essen bringen«, versprach sie der Ovambo. »Du kannst dich so lange mit deinem Sohn auf eines der Betten legen.«