Karen Rose

Der Rache süßer Klang

Thriller

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Karen Rose

Karen Rose studierte an der Universität von Maryland. Ihre hochspannenden Thriller sind preisgekrönte internationale Topseller, die in zahlreiche Sprachen übersetzt worden sind. Auch in Deutschland feierte die Autorin große Erfolge. Ihr Thriller »Todesstoß« war Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Karen Rose lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern in Florida.

Mehr Informationen über die Autorin unter: www.karenrosebooks.com

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel »Nothing to Fear« bei Warner Books, New York.

eBook-Ausgabe 2011

Knaur eBook

Copyright © 2005 by Karen Rose Hafer

Copyright © 2007 für die deutschsprachige Ausgabe bei Knaur Taschenbuch. Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –
nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Antje Nissen

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: Mauritius Images

ISBN 978-3-426-41393-7

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.


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Für Martin.

Ich liebe dich.

Prolog

Western Florida

5. Juni, 14.30 Uhr

Es war eine traditionelle Beerdigung gewesen. Ein paar Trauergäste trugen grüne Golfhosen aus Polyester, aber die meisten hatten sich trotz der feuchten Hitze Floridas schwarz gekleidet.

Von ihrem Beobachtungsposten aus fünf Grabsteinen Entfernung konnte Sue Conway den Geistlichen das übliche »Asche zu Asche, Staub zu Staub« intonieren hören. Sie blickte auf die Blumen herab, die sie auf das ihr unbekannte Grab gelegt hatte, und zog die Brauen zusammen. Die verdammte Beerdigung war beinahe vorüber, ohne dass die eine Person aufgetaucht war, die sie zu sehen gehofft hatte.

Der Geistliche trat zurück, damit die Trauernden Abschied nehmen konnten. Die Leute waren noch immer wie betäubt, wie man dem ungläubigen Gemurmel entnehmen konnte, das Sue durch das kleine Knopfmikro in ihrem Ohr vernahm.

»Und ich habe mich hier einmal sicher gefühlt«, sagte jemand.

»Unsere Gegend wird nie wieder dieselbe sein«, sagte ein anderer.

»Ich habe früher meine Tür nie verriegelt. Ihr könnt sicher sein, dass ich das jetzt tue.«

Es war das erste Mal, dass jemand aus ihrem Kreis ermordet worden war. Und dass es so grausam geschehen war, ging über das Begreifen hinaus.

Dieser Mord war nicht ihr erster gewesen, aber er hatte ihr mehr Vergnügen bereitet als jeder andere. Das Stöhnen, das Knirschen der Knochen unter ihren Händen. Das sprudelnde Blut, wenn sie schnitt, immer nur ein wenig. Sie hatte noch lange danach davon geträumt, von jedem Aufschrei, jedem Schnitt in Fleisch und Knochen, von jedem Blutstropfen. Es war ein reines, unverdorbenes Vergnügen gewesen. Etwas, an das sie sich klammern konnte, während sie ihre Suche fortsetzte.

Denn selbst unter der Folter hatte ihr Opfer ihr nicht das gegeben, wonach sie verlangt hatte. Sie musste also weitersuchen, und wenn sie gefunden hatte, was sie wirklich haben wollte … dann würde dieser Mord in der Rückschau wie ein Spaziergang wirken. Sie hatte viele Jahre aufzuholen, so viele Fantasien aufgestaut, hatte so unfassbar viel zurückzuzahlen. Aber sie konnte das Stück nicht beginnen, bevor nicht alle Teilnehmer auf der Bühne standen. Denn wenn sie erst einmal angefangen hatte, gab es kein Zurück.

Sie kniete nieder und tat, als ob sie betete, während der Gottesdienst endete und die Leute sich zerstreuten. Einige Minuten verstrichen, dann hörte sie die heisere Stimme des Friedhofdirektors.

»Lasst ihn runter, Jungs.«

Sue zog rasch das Mikro aus dem Ohr, bevor das Rumpeln des Sargs, der in die Erde hinabgelassen wurde, ihr Trommelfell beschädigte. Sie seufzte. Die Show war vorbei, und der Ehrengast war nicht erschienen. Sie stand auf, klopfte sich die Erde vom Rock und machte sich auf den Weg zu ihrem Wagen, als sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung bemerkte, die sie innehalten ließ.

Sie trat hinter eine große Grabanlage und beobachtete, wie ein kleiner Wagen mit Avis-Aufkleber auf die Zufahrt zu diesem Teil des Friedhofs bog. Der Wagen hielt, und die Person, die gefahren war, stieg aus.

Sues Herz begann zu hämmern. Hundert verschiedene Gedanken rasten durch ihren Kopf. Endlich war das Wort, das alle anderen schließlich überlagerte. Nur mit Mühe gelang es ihr, einen triumphierenden Schrei zu unterdrücken.

Der Ehrengast war also endlich gekommen. Nun konnte das Spiel der Vergeltung beginnen. Aber sie musste behutsam vorgehen und sich an ihren Plan halten, denn es war wichtig, dass alle Puzzleteile am richtigen Platz lagen.

Nun hielt sie die Karten in der Hand. Nun hatte sie die Macht.

Fürchte dich. Ich komme.

1

Wight’s Landing, Isle of Wight Bay, Maryland

Mittwoch, 28. Juli, 2.00 Uhr

Autsch. Das tut weh.Das war sein erster Gedanke, als sich die Finger in seine Schulter gruben und ihn schüttelten. Fest. Es tat wirklich weh. Hör auf.

Wieder wurde er geschüttelt, aber er schlug die Augen nicht auf. Es konnte noch nicht Morgen sein. Er holte Luft und roch ihr Parfum. Das war nicht fair. Sie hatte versprochen, dass er die ganze Woche frei haben würde. Keine Lektionen. Keine Lernkarten. Keine blöden Wortspiele, keine Sprachtherapie. Nur Sonne, Strand und Spaß. Angeln, Krebse fangen. Auf den Wellen reiten. Den ganzen Abend Videospiele. Schlafen, solange er wollte. Aber nun rüttelte sie ihn einfach wach.

Sie würde ihr Versprechen brechen. Das taten sie früher oder später alle. Also würde er die Sache eben einfach aussitzen, wie er es bei den anderen Sprachtherapeuten auch gemacht hat. Sie würde aufgeben und verschwinden, wie alle anderen auch. Cheryl hatte allerdings länger bei ihm ausgehalten als die meisten anderen. Das musste er ihr lassen.

Er schlug nach ihrer Hand und versuchte, sich auf die Seite zu rollen, aber sie packte ihn und zog ihn am T-Shirt hoch. Ihre Hand verschloss seinen Mund, als er endlich die Augen aufriss. Und in ihr Gesicht blickte, das im Mondlicht geisterhaft weiß aussah. Ihre dunklen Augen waren riesig und ängstlich. Nein, nicht einfach ängstlich. Cheryl war in Panik, und augenblicklich packte auch ihn die Furcht. Er hörte auf, sich zu wehren.

»Kein Wort«, formulierte sie lautlos mit den Lippen. Er nickte. Sie nahm die Hand von seinem Mund, zog ihn vom Bett und drückte ihm den Signalprozessor in die Hand. Normalerweise mochte er das Hörgerät für vollständig Taube nicht anlegen, wehrte sich dagegen, solange er konnte, aber nicht jetzt. Nun schob er ihn ohne Protest hinters Ohr.

Und fuhr zusammen, als das Dröhnen einsetzte. Als der Prozessor »seine Ohren einschaltete«, wie Cheryl sagen würde. Mit einem Schlag war die ruhige, stille Welt seiner Taubheit zu einer lauten, schmerzhaften Kakophonie geworden. Er konzentrierte sich. Um zu hören, was in diesem Getöse für ihn bedeutend war. Aber sie sagte nichts, sondern zog ihn nur durch das Zimmer zum Schrank.

Sie schob ihn hinein und drückte ihn zu Boden. Hockte sich hin, um ihm in die Augen zu sehen.

»Da unten ist jemand.« Sie flüsterte und machte gleichzeitig die Zeichen, und er sah, dass ihre Hand zitterte. Ihr ganzer Körper zitterte. »Paul sieht nach. Komm nicht raus, bevor ich dich hole.« Sie packte sein Kinn. »Hast du verstanden? Bleib hier. Und keinen Mucks.«

Er nickte, und sie richtete sich hastig auf und riss den Stapel Schwimmwesten, den sein Vater hier verstaut hatte, aus dem Regalfach. Muffiger Geruch hüllte ihn ein, als sie ihn damit bedeckte. Und dann schloss sich die Tür, und er war allein in der Dunkelheit.

Er versteckte sich. Wie ein Feigling.

Wut keimte in ihm auf und mischte sich mit der Angst. Er war kein Feigling. Er würde bald dreizehn sein, um Himmels willen. Und sie hatte ihn wie ein Kleinkind in den Schrank gesteckt. Hatte ihn unter einem Haufen Schwimmwesten vergraben, während Paul nachsah. Behutsam schob er die Westen zur Seite, bis er etwas sehen konnte, und starrte auf die Schranktür. Was sollte er tun? Ganz gewiss nicht hier ausharren, während irgendein Kerl ins Haus einbrach. Ganz gewiss nicht zulassen, dass Paul nachher für seinen ach so mutigen Einsatz gelobt wurde.

Ein Lichtschein drang durch den Türspalt, und sein Mut löste sich in nichts auf. Da war jemand ins Zimmer gekommen. Er rutschte zurück in die Schrankecke und spürte sein Herz hämmern. Seine Nackenhaare richteten sich auf, und er schauderte unwillkürlich. Nein. Ich muss etwas tun!

Durch den tosenden Lärm drang plötzlich ein Schrei. Cheryl! Ich muss ihr helfen!

Aber sein Körper war erstarrt. Erstarrt zu einem nutzlosen Gewicht unter einem Haufen Schwimmwesten. Er konzentrierte sich, lauschte. Sperrte das Dröhnen aus, wie Cheryl es ihm beigebracht hatte. Und lauschte.

Nichts. Nichts war zu hören. Sie waren fort. Er sollte aufstehen. Sollte er.

Dann ein Krachen, so laut, dass es ihm wehtat. Sein Kopf fuhr zurück, knallte gegen die Schrankwand, und ein heftiger Schmerz durchfuhr ihn.

Eine Waffe! Sie hatten eine Waffe. Jemand hatte geschossen. Cheryl! Sie hatten sie erschossen.

Und sie würden auch ihn erschießen. Oder Schlimmeres machen. Tu was. Tu endlich was!

Was?

Er wusste es nicht. Er wusste nicht, was er tun sollte. Dad! Was würde sein Vater tun?

Er spürte einen scharfen Schmerz in der Brust. Er war zu alt, um nach seinen Eltern zu weinen, aber er wünschte sich so sehr, dass sie hier wären. Wünschte, sie wären nicht ausgerechnet heute nach Annapolis gefahren. Sie hatten Hochzeitstag. Wollten tanzen gehen. Sie würden nach Hause kommen und seine Leiche finden. Mom würde weinen.

Er blinzelte und bemerkte, dass sein Gesicht nass war. Er versteckte sich im Schrank und heulte, während sie Cheryl umbrachten. Und er konnte sich nicht regen!

Er fuhr zusammen, als der zweite Schuss ertönte, gedämpfter diesmal. Und Schreie.

Sie schrie. Dann lebte sie noch. Schreien. Der Lärm drang ihm wie Messer ins Hirn. Er konnte es hören, spüren. Millionen Messer, die zustachen. Mit hämmerndem Herzen und bebenden Fingern riss er den Prozessor vom Ohr.

Und es war still. Minuten verstrichen in atemloser Stille. Dann öffnete sich die Schranktür.

Er drängte sich in den hintersten Winkel, kniff die Augen zusammen, presste die Lippen aufeinander. Versuchte, kein Geräusch zu machen. Eine Schwimmweste wurde fortgezogen. Dann noch eine. Und noch eine. Der muffige Geruch war weg, und er spürte frische Luft auf dem Gesicht.

Er zwang sich, die Augen zu öffnen. Ein Wimmern steckte in seinem Hals, als er aufblickte.

Sie war groß, größer als Cheryl. Massiger. Ihre Haare eine wilde Mähne.

Ihre Augen verrückt. Weiß. Sie hat weiße Augen.

Ihre Lippen waren zu einem Lächeln verzogen, einem grausamen Lächeln, und er wollte schreien.

Aber er tat es nicht. Denn ihr T-Shirt war voller Blut, und die Pistole in der Hand war auf ihn gerichtet.

Eastern West Virginia

Donnerstag, 29. Juli, 3.30 Uhr

Das schrille Klingeln ihres Handys ließ sie augenblicklich erwachen. Sie hatte einen leichten Schlaf. Das war nicht immer so gewesen, aber das Gefängnis veränderte einen nachhaltig. Und obwohl sie schon sechs Monate draußen war, war dies eine lästige Angewohnheit, die geblieben war. Obwohl sie schon sechs Monate draußen war, dachte sie beim Aufwachen noch immer als Erstes ans Gefängnis.

Und allein dafür musste jemand bezahlen.

Nur ihr Bruder Bryce kannte ihre Handynummer, und doch blieb sie misstrauisch. »Ja?«

»Ich bin’s.«

Sie setzte sich auf und verfluchte ihren steifen Nacken. Die Rückbank eines Kleinwagens war nicht gerade komfortabel, aber sie hatte schon in schlechteren Betten geschlafen. »Sind sie zu Hause?« Ihr Herzschlag beschleunigte sich, ihre Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln. Die Vaughns waren zurück. Hatten das Chaos in ihrem Haus entdeckt. Das leere Bett. Den Zettel auf dem Kopfkissen. Das Geschenk im Schuppen. Sie würden sich entsetzlich fürchten. Sie würden weinen. Sie würden machtlos sein.

Machtlos. Das war nicht annähernd genug, aber es war ein verdammt guter Anfang.

»Ich b-bin n-nicht s-sicher«, stotterte Bryce furchtsam.

Ihr Triumph löste sich rasch auf. »Was soll das heißen?«, fragte sie mit beherrschter Stimme. Wenn er die Sache verdorben hatte, würde er weit mehr Grund haben, sich zu fürchten. »Wo bist du?«

»Im Gefängnis.« Sie schloss die Augen. Rief sich in Erinnerung, dass das Prepaid-Handy, das sie in Maryland gekauft hatte, nicht zurückzuverfolgen war. Dennoch brachte sie der Gedanke, dass er sie aus dem Gefängnis anrief, zum Kochen. »Die haben mich verhaftet, weil ich einen Laden ausgeraubt habe. Du musst mich hier rausholen.«

Ihr Lachen war kalt. Sie standen kurz davor, Millionen zu verdienen, und er raubte einen gottverdammten Laden aus. »Du willst, dass ich dich raushole? Du machst Witze.«

»Verdammt noch mal«, zischte er. »Ich hab dich angerufen, weil … du weißt schon. Ich hätte auch Earl anrufen k-können.«

Er hatte sie angerufen, weil er nicht länger auf seinem Posten war. Weil er nicht länger das Haus der Vaughns beobachtete, um ihr Bericht zu erstatten. Weil er ihr nicht mehr sagen konnte, ob sie nach Hause gekommen waren und ob sie die verdammten Bullen gerufen hatten.

»Du bist erst siebzehn. Die hauen dir auf die Finger und stecken dich in die Jugend.«

»Nein!« Bryces Flüstern war voller Angst. »Sie haben gesagt, die wollen mich wie einen Erwachsenen behandeln. Ich komme in den Knast. B-bitte«, flehte er. »Hol mich doch hier raus.«

Dass sie und Bryce dasselbe Erbgut hatten, kam ihr unmöglich vor. Und selbst die Tatsache, dass dem so war, würde sie nicht dazu bringen, jetzt den Kopf für ihn hinzuhalten. Aber sie musste ihn aus dem Gefängnis herausholen, bevor irgendein windiger Anwalt ihn dazu veranlasste, alles auszuspucken. Dass Bryce seine stotternde Klappe halten würde, war nicht zu hoffen; er würde auch unter überaus zivilisierten Verhörmethoden plappern wie eine alte Klatschtante. Bei Onkel Earl aufzuwachsen hatte sein Hirn zersetzt. Bei Tante Lucy aufzuwachsen hatte seinen Willen zersetzt. Es war eine Schande, dass sie sich nicht selbst um seine Erziehung hatte kümmern können, aber sie war … indisponiert gewesen. Inhaftiert. Und nun war auch Bryce auf dem Weg dorthin. Ihr Vater musste im Grab rotieren wie ein Hähnchen am Spieß.

»Ich rufe Earl an«, sagte sie barsch. »Ich behaupte, ich sei eine Angestellte im Gefängnis.« Dass ihr Onkel ihre Stimme erkennen würde, war unwahrscheinlich, da sie seit Jahren nicht miteinander gesprochen hatten. »Wo bist du?«

»O-Ocean City.«

Wenigstens war er schlau genug gewesen, es nicht in diesem elenden Kaff namens Wight’s Landing zu tun. Ocean City war eine Stunde Fahrt entfernt. Niemand würde die zwei Ereignisse miteinander in Verbindung bringen, selbst wenn die Vaughns die Bullen riefen. »Ich melde mich bei Earl. Du hältst den Mund und die Augen offen.« Sie grinste. »Und wenn jemand die Seife fallen lässt, bück dich nicht, um sie aufzuheben.«

»D-das ist nicht l-lustig, Sue.«

Als sie ihn ihren Namen nennen hörte, schwand das Grinsen augenblicklich. »Nein, ist es nicht. Und dass du mich aus dem Knast anrufst, auch nicht.« Sie brach die Verbindung ab und starrte aus dem Rückfenster in den dunklen Wald, in dem sie geparkt hatte, um ein wenig zu schlafen. Sie war weit weg von allen größeren Straßen, und das schon, seit sie am Morgen zuvor die Ostküste Marylands verlassen hatte.

Sie war nur langsam vorangekommen, weil sie alle paar Stunden anhalten musste, um dem Kind im Kofferraum zu trinken zu geben, damit es nicht dehydrierte, aber es war besser, die großen Straßen zu meiden. Sie war nicht sicher, wann die Vaughns wieder zu Hause eintreffen würden, und obwohl sie sie gewarnt hatte, nicht die Polizei zu informieren, konnten sie es dennoch tun. Aber sie würden sie nicht kriegen. Zu viel stand auf dem Spiel. Der Preis, der auf sie wartete, war zu wertvoll.

Sie stieg aus dem Wagen und machte den Kofferraum auf. Betrachtete die zwei Gestalten darin, die sich wie Föten zusammengerollt hatten. Sie waren noch da, sie waren noch gefesselt.

Ihr Preis. Ihre Rache.

Alexander Quentin Vaughn. Ein großer Name für ein so schmächtiges Kind. Er war zwölf, sah aber nicht älter als zehn aus. Bryce hatte es hübsch treffend ausgedrückt, als sie den Bengel, der sich im Schrank des Strandhauses versteckt hatte, gesehen hatten. »Sieht nicht aus, als ob er ’ne Million wert ist.« Aber wörtlich genommen hatte er Recht. Der Junge war fünfmal so viel wert.

Aber Geld war nicht alles.

Manchmal war die Rache bedeutender.

Und wenn man beides gleichzeitig bekommen konnte … war das ausgleichende Gerechtigkeit.

Alexander Quentin Vaughn und seine Sprachtherapeutin, die sich gewehrt hatte wie eine Löwin. Cheryl Rickman hätte in Zukunft ein Leibwächter-Gehalt verdienen können, falls sie denn eine Zukunft gehabt hätte, was natürlich nicht der Fall war. Und der entsetzte Ausdruck ihrer Augen belegte, dass sie das auch wusste. Sue hatte Rickman nur deshalb bisher am Leben gelassen, weil sie mit dem Jungen kommunizieren konnte.

Der Junge versuchte gerade, seine Tränen zurückzudrängen. Versuchte zurückzuweichen, bis sein magerer Körper gegen Rickmans stieß. Ihn zu fesseln war wahrscheinlich unnötig gewesen. Triefend nass konnte er nicht mehr als achtzig Pfund wiegen, und er kämpfte wie eine Gummipuppe. Der Knebel war wahrscheinlich auch überflüssig, aber Sue war sich nicht sicher, ob er nicht schreien konnte. Taubstumm zu sein bedeutete nicht, keine Laute ausstoßen zu können.

Seine Behinderung hatte Sue anfangs ein wenig durcheinandergebracht. Sie hatte eindeutig eine gute und eine schlechte Seite. Er konnte den Leuten, die sie auf dem Weg trafen, zwar nichts verraten, aber er konnte auch seine Eltern nicht herzerweichend anflehen, das Lösegeld zu bezahlen. Sehr schade. Sie hatte sich auf dieses Flehen so gefreut. Aber so musste man eben umdisponieren.

Annehmen, anpassen, verbessern. Ein guter Leitsatz. Witzigerweise der ihres alten Herrn. Wenn sie nicht die Stimme des Kindes verwenden konnte, würde sie eben sein Gesicht nehmen. Ein Foto sagte mehr als tausend Worte.

Sie blickte hinab auf ihre Geisel, auf ihren Gewinn, und spürte, wie sie die Kontrolle zurückerlangte. Bryces Verhaftung hatte im Grunde nur wenig geändert. Solange sie ihn da herausholte, bevor er einem übereifrigen Rechtsverdreher irgendetwas erzählen konnte, hatte sie nur einen Beobachtungsposten eingebüßt. Und es wäre zwar schön gewesen, von Bryce zu hören, wie entsetzt die Vaughns gewesen waren, aber letztendlich spielte es keine Rolle. Sicher hätte es ihr genützt zu wissen, ob Streifenwagen vor dem Strandhaus standen, aber auch die Bullen würden sie nicht kriegen. Sie würde schon weit, weit weg sein und sich in Earls Haus verstecken. Das musste sich nicht ändern. Es war sogar noch einfacher, wenn Earl und Lucy unterwegs waren, um Bryce aus dem Knast zu holen. So würde Sue das Haus noch ein paar Tage für sich haben.

Und wenn sie aus Maryland zurückkehrten, würden Earl und Lucy und sie Wiedersehen feiern. Ein Wiedersehen, das sie mit Begeisterung geplant hatte. Sie nahm ihr Telefon und wählte Earls Nummer. Er würde noch schlafen und benebelt abnehmen. Keine Chance, dass er ihre Stimme erkannte.

Beim ersten Klingeln wurde abgehoben. »Ja?«, erklang eine tiefe Stimme.

Sue erstarrte, jeder Muskel bis zum äußersten angespannt. Die Stimme war nicht schläfrig oder benebelt. Die Stimme war auch nicht Earls. Sie sagte nichts, brachte kein Wort heraus. Der Mann am anderen Ende der Leitung lachte leise.

»Bist du’s, Bryce?« James. Sue gefror das Blut in den Adern. Unmöglich. James war tot. Sie selbst hatte ihm die Kehle aufgeschlitzt. Aber offensichtlich nicht gründlich genug.

»Nicht Bryce?«, sagte er freundlich. »Dann musst du Sue sein. Sue, wie geht’s dir denn so?« Seine Stimme verhärtete sich. »Ein Rat von mir und ganz umsonst. Wenn du jemanden umbringen willst, dann vergewissere dich, dass er wirklich tot ist. Und? Willst du mit deinem Onkel Earl reden?« Ein Stöhnen drang durch das Telefon. »Tja, leider kann er gerade nicht rangehen.«

Sue knirschte mit den Zähnen. »Du Dreckschwein. Finger weg von ihnen.«

»Na, na, liebe Sue, du als brave kleine Nichte. Ich bin wirklich schockiert.« So klang er nun wirklich. Schockiert. »Du willst Onkel und Tante, die du verabscheust, beschützen?«

»Nicht beschützen, du Arschloch«, zischte sie. Finger weg, weil sie mir gehören. Um sie zu töten. Um sie weinen und schluchzen und stöhnen zu hören. Sie hatte Pläne mit ihnen. Dieser Mistkerl.

James unterdrückte ein Lachen. »Du wolltest Onkel und Tante umbringen, so wie du die Frau in Florida umgebracht hast. Aber diesmal bin ich dir zuvorgekommen. Ach, Sue, du bist köstlich.«

Er wusste von dem Mord in Florida. James Lorenzano wusste zu viel. Sie hätte sich tatsächlich vergewissern müssen, dass er tot war, aber jemand war gekommen, und sie hatte rasch verschwinden müssen. Und jetzt war er gewarnt. Verdammt! Sie musste ihm aus dem Weg gehen. »Danke.«

»Gern geschehen. Und vergiss nie, dass ich viel mehr über dich weiß als du über mich. Ich finde dich, Sue. Du weißt es. Und wenn es so weit ist, bist du tot.«

Ein kalter Schauder schüttelte sie. Ja, er konnte sie finden. James wusste, wie man Leute aufstöberte. Deshalb hatte sie ihn ja engagiert. Dann richtete sie sich entschlossen auf. »Nein, du wirst mich nicht finden.«

Sie unterbrach die Verbindung und atmete ein paar Mal tief durch, um sich zu beruhigen. James lebte. Das war nicht leicht zu verdauen. Und er war bei Earl und Lucy. Was bedeutete, dass sie nicht nur darauf verzichten musste, die beiden sich vor Schmerzen winden zu sehen. Sie brauchte jetzt auch einen neuen Unterschlupf.

Annehmen, anpassen, verbessern. Sie würde ihr Ziel nicht ändern. Es musste Chicago sein. Keine andere Stadt konnte diese ersetzen. Kein anderer Ort bedeutete Rache.

Also musste sie sich dort ein Versteck suchen. Nur lange genug, bis sie ihr Geld und ihre Rache hatte. Mit dem Geld konnte sie das Land verlassen und James entkommen.

Die Rache … nun, die war unerlässlich. Ohne sie gab es wenig Grund, am Leben zu bleiben.

Sie musste sich irgendwo verstecken, wo James sie niemals suchen würde. In einer Hinsicht hatte er nur allzu Recht. Er wusste mehr von ihr als sie von ihm. Er würde all ihre ehemaligen Bekannten aufsuchen, von denen die meisten ihre eigene Mutter für ein paar lächerliche Kröten verkaufen würden, also konnte sie niemanden anrufen. Noch nicht jedenfalls. Sie musste den Jungen verstecken, denn ohne ihn würde der ganze Plan in sich zusammenfallen. Sie blickte auf ihre Geisel herab und zwang ihren Verstand zu arbeiten. Und wie immer formierte sich in ihren Gedanken ein neuer Plan.

Zum Glück wusste James nicht alles.

Im schwachen Licht des Kofferraums sah sie auf die Uhr. Sie hatte einiges zu tun. Mit beiden Händen packte sie Rickmans Hemd und zerrte sie ohne Probleme aus dem Wagen. Die steinharten Muskeln waren ungefähr das einzig Gute, was sie aus dem Hillsboro Frauengefängnis mitgebracht hatte. Nun, das stimmte so auch nicht ganz. Wäre sie nicht in Hillsboro gewesen, hätte sie niemals Tammy kennen gelernt, von der James eindeutig nichts wissen konnte.

Sie schleifte Rickman vom Weg und in den Wald hinein, während sie an ihre Zellengenossin dachte. Fünfundzwanzig Jahre hatte man Tammy dafür aufgebrummt, dass sie ihren brutalen Ehemann umgebracht hatte, und in den fünf Jahren, die sie beide eine Zelle geteilt hatten, hatte Sue jede Nacht ihrem Geheule lauschen müssen. Aber um fair zu bleiben, musste sie zugeben, dass sie ohne Tammy nichts von dem Zufluchtsort wissen würde, in dem sie sich die nächsten Wochen würde verstecken können. Ein geheimes Haus in Chicago, dessen Tür stets für Frauen in Not offen war. Sue grinste. Ich bin eine Frau. Und dass sie in Not war, stand außer Frage.

Annehmen, anpassen, verbessern. Ein gutes Motto. Ein Plan war nur effektiv, wenn er flexibel war. Sue zog ihre Pistole aus dem hinteren Hosenbund und jagte eine Kugel in Rickmans Hinterkopf. Die Frau sackte sofort in sich zusammen. Mit wenigen Schritten war Sue zurück am Kofferraum, aus dem sie die entsetzten Augen des Kindes anstarrten. Sie legte ihm den Lauf der Pistole einen kurzen Moment an die Wange und nickte, als sie einen gedämpften Laut hörte. Er konnte also schreien. Gut zu wissen. Ein roter Brandfleck erschien auf seiner Haut, die Markierung des heißen Metalls. »Komm, Junge«, sagte sie, zog ihn aus dem Wagen und schleifte ihn zu Rickman, deren Blut nun den Waldboden tränkte. Tränen rollten ihm über die Wangen, und sie wusste, er hatte begriffen, was Tod bedeutete. Mit zwölf war es auch höchste Zeit dazu. Sie jedenfalls hatte in diesem Alter Bescheid gewusst.

Chicago

Donnerstag, 29. Juli, 4.30 Uhr

Es war schon spät. Oder früh, dachte Dana Dupinsky, als sie durch die Hintertür in die Küche vom Hanover House schlüpfte. Jedenfalls schien es keinen Sinn zu haben, wieder ins Bett zu gehen. Die Bewohnerinnen des Hauses würden in spätestens zwei Stunden aufwachen, und der Lärm ihrer morgendlichen Aktivitäten und der Duft frisch gebrühten Kaffees würden es ihr unmöglich machen, weiter zu schlafen.

Sie schob die drei Riegel vor, die ihnen ein gewisses Maß an Schutz geben sollten – zum Teil vor der Gegend, in der sie sich befanden, aber noch mehr vor den Männern, die ins Hanover House eindringen könnten, um ihre Frauen zu suchen. Die Frauen, die Dana zu beschützen geschworen hatte. Sie zuckte zusammen, als der dritte Riegel quietschte. Er musste geölt werden. Sie würde das erledigen, sobald sie Zeit hatte.

»Und – wo sind sie?«

Mit einem erstickten Schrei wirbelte Dana herum und presste sich die Hand aufs Herz. Ihr Schrecken verflüchtigte sich jedoch sofort, als sie die junge Frau sah, die am Küchentisch saß und von dem bläulichen Licht des Laptopbildschirms beleuchtet wurde. »Mach das nicht noch mal«, zischte Dana.

Evie Wilson wirkte nicht besonders zerknirscht. »Tut mir leid. Ich dachte, du hättest mich gesehen. Aber psst.« Ihr Blick fiel auf ihren Schoß. »Er schläft.«

Dana kam um den Tisch herum und war nicht überrascht, als sie das Baby in Evies Arm sah. Es war Rubys Sohn, das Kind ihrer jüngsten Mitbewohnerin. Gerade achtzehn Jahre alt und unverheiratet, hatte Ruby sowohl vor dem Vater des Babys als auch vor sich selbst Angst. Als sie angekommen war, hatte sie überall blauschwarze Flecken auf dem Körper gehabt und war ein verschrecktes Bündel Mensch gewesen. Doch nach ein paar Wochen in der Sicherheit von Hanover House war das Mädchen nun bereit, einen neuen Anfang zu wagen. Und das war es, was die Frauen hier bekamen. Einen neuen Anfang. Und manche, dachte Dana, bekamen einen neueren Anfang als andere.

»Er ist aufgewacht, und Ruby war so müde, da habe ich ihr gesagt, sie solle liegen bleiben. Schon okay.« Evie deutete auf den Computerschirm. »Ich musste sowieso noch lernen.«

Dana verkniff sich einen finsteren Blick. Evies Internet-College war ein Thema, bei dem sie beide nicht konform gingen. »Ich dachte, du wolltest dich zum Sommersemester am Carrington einschreiben.«

Evie schaute auf, dann wieder zum Bildschirm. »Das wollte ich ja auch, aber … dann habe ich meine Meinung geändert.«

Danas Schultern sanken herab. »Evie.«

Evie schüttelte den Kopf. »Bitte nicht, Dana. Bitte … mach das nicht. Ich bin ja hingefahren, wirklich. Ich bin sogar ausgestiegen und zum Büro gegangen, aber …« Sie ließ den Satz unbeendet.

Danas Herz wurde schwer, als sie sich zwang, auszusprechen, was gesagt werden musste. »Du kannst dich nicht ewig hier verstecken, Liebes.«

Die eine Hälfte von Evies Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, während die andere reglos wie in Stein gemeißelt blieb, was das Vermächtnis eines Wahnsinnigen war, der Evie vor zwei Jahren überfallen hatte. »Ich weiß.« Sie blickte mit blitzenden Augen auf. »Willst du mich rauswerfen?« Ein Hauch Trotz hatte sich in ihre Stimme geschlichen.

»Natürlich nicht.« Dana sank auf einen der Küchenstühle. Sie war so erschöpft. »Meine Güte, Evie.« Dass sie das überhaupt gefragt hatte. Verdammt.

Eine ganze Weile herrschte Schweigen, dann ergriff Evie wieder das Wort. »Um noch einmal auf meine ursprüngliche Frage zurückzukommen – wo sind sie?«

»Nicht aufgetaucht. Ich habe gut drei Stunden gewartet, aber aus keinem der Busse ist jemand gestiegen, auf den ihre Beschreibung passte.« Dana rieb sich müde den Nacken. Sie fragte nie, wie die Frauen vom Hanover House erfuhren. Sie wusste, dass Informationen im Umlauf waren. Krankenschwestern, Polizisten, ehemalige Opfer machte sie publik. Manchmal riefen Frauen von außerhalb an, und dann wartete Dana an der Busstation auf sie, aber die Hälfte der Anruferinnen erschien nicht. Wie in dieser Nacht. »Aber es war keine totale Zeitverschwendung.« Sie zog einen Mundwinkel hoch. »Ich habe einen unsittlichen Antrag erhalten. Ein Typ hat mir fünfzig Dollar angeboten.«

»Damit hätten wir die Telefonrechnung bezahlen können«, sagte Evie unbekümmert und erhob sich. »Wenn du Dylan nimmst, mache ich dir Kaffee. Du siehst aus, als könntest du welchen gebrauchen.«

»Danke.« Sie legte sich das Baby an die Schulter und sah zu, wie Evie mit einer Hand mit den Kaffeefiltern hantierte. Der brutale Überfall hatte nicht nur dafür gesorgt, dass Evie nicht mehr lachen konnte und ihr Gesicht voller Narben war, sondern hatte auch die Nerven in ihrer rechten Hand schwer beschädigt. Nach drei Operationen waren die Narben zwar nicht mehr so stark sichtbar, aber ihre Hand würde niemals wieder voll einsetzbar sein. Dennoch bat Evie nie um Hilfe. Und nahm auch keine an, wenn man ihr sie anbot.

Evie löffelte Kaffeepulver aus der Dose. »Ich dachte, Caroline hätte heute Busdienst.«

Caroline war Danas beste Freundin. Ihre hochschwangere, beste Freundin. Und sie war eine Erfolgsgeschichte des Hanover House, denn es war ihr gelungen, sich mit ihrem Sohn Tom ein wundervolles Leben einzurichten. Sie war inzwischen seit zwei Jahren verheiratet und würde in sechs Wochen das Baby ihres liebevollen Mannes Max bekommen. Es gab nicht viele solcher Geschichten in diesem Umfeld.

»Nein, nicht mehr. Mutterschutz.«

»Und was sagt sie dazu?«, fragte Evie mit ironischem Unterton.

»Das Übliche. Dass eine Schwangerschaft keine Krankheit und sie so gesund wie ein Pferd sei. Ich habe ihr gesagt, sie soll es einfach aufgeben. Max hat gedroht, sie ans Bett zu ketten.«

»Was wahrscheinlich die Methode war, wie sie das Kind gemacht haben«, witzelte Evie, und Dana grinste.

»Wahrscheinlich. Jedenfalls bin ich diejenige, die für die nächsten sechs Monate oder länger Busdienst hat.« Dass Evie es tat, war leider unmöglich. Sie hatte es einmal versucht, und es war für keinen der Beteiligten eine angenehme Erfahrung gewesen. Das Kind der Frau, die sie abholen wollte, hatte Evie gesehen und war in Tränen ausgebrochen. Die Frau weigerte sich, mit Evie zu gehen, also hatte Dana selbst zur Haltestelle fahren müssen. Seitdem ging Evie niemals ohne eine dicke Schicht Make-up im Gesicht vor die Tür, und obwohl Dana fand, dass es die ganze Sache noch schlimmer machte, wusste sie doch, dass die Schminke Evie eine gewisse Sicherheit gab. Und daher sagte sie nichts.

Evie schien sich ebenfalls an das eine Mal am Busbahnhof zu erinnern, denn sie starrte blicklos auf den tröpfelnden Kaffee.

Dana beschloss, das Thema zu wechseln, und deutete mit dem Kopf auf den Laptop. »Was willst du machen?«

»Kinderpsychologie und Statistik. Letzteres brauche ich für einen Abschluss.«

Dana riss die Augen auf. »Du willst Psychologie als Hauptfach machen?« Der Gedanke daran, dass Evie in ihre Fußstapfen trat, erfüllte sie einerseits mit Stolz, andererseits mit banger Furcht.

»Ich hab’s überlegt. Ich würde gern mit Kindern arbeiten. Und ja«, setzte sie säuerlich hinzu, »ich weiß sehr gut, dass ich mich nicht ewig hier verstecken kann. Die Kinder werden kaum zu mir kommen.« Evie rupfte die halb gefüllte Kanne aus der noch tropfenden Maschine und schenkte Dana eine Tasse ein. »Ich arbeite dran.«

Dana tauschte das Baby mit einem Seufzen gegen den Becher ein. »Ich weiß, Liebes.« Sie hätte Evie sagen können, dass die Narben nicht mehr so schlimm waren, und sie war im Grunde auch davon überzeugt, dass das der Wahrheit entsprach, aber Evie nicht, und das war das Problem. Es war ganz normal, aber entsetzlich falsch. Es war falsch für eine Zwanzigjährige, sich in einem Frauenhaus zu verstecken, weil sie der Welt nicht gegenübertreten wollte.

Evie setzte sich nicht, sondern wiegte das Baby sanft in ihrem Arm. Es war kein Geheimnis, dass Evie Babys am meisten liebte, und es konnte auch niemanden wundern. Babys starrten einen nicht an, urteilten nicht, zuckten nicht zusammen. Sie schmiegten sich nur an und schenkten einem ihre bedingungslose Liebe. Ein großartiger Handel.

Evie küsste das Kind auf die Stirn. »Bald bist du weg«, murmelte sie.

Dana beobachtete sie über den Rand ihres Bechers. »Du hast dich in ihn verliebt.«

Evie schaute mit undefinierbarem Ausdruck auf. »Wenn du glaubst, dass ich ihn hier behalten will, irrst du dich. Kein Kind sollte in so einer Umgebung aufwachsen.«

Ihre Stimme klang so hart, dass Dana sich fragte, ob Evie von dem Kind oder von sich selbst sprach. Evie war im Alter von fünfzehn durch eine befreundete Polizistin ins Frauenhaus gebracht worden. Das freche, intelligente Mädchen hatte Danas Herz im Sturm erobert, und Dana war ihr Vormund geworden, obwohl sie sie eher als jüngere Schwester betrachtete. »Nein, da hast du Recht.«

Evie wiegte das Baby weiter. »Er wird das Haus verlassen, und wir werden nie wissen, ob es ihm gut geht oder nicht. Ob Ruby sich von dem Vater fernhält oder wieder zu ihm zurückkehrt.« Eine Pause. »Das sind die Dinge, die mich nicht schlafen lassen, Dana. Geht dir das auch so?«

»Ach was. Nur jede Nacht«, antwortete Dana und sah, wie sich Evies einer Mundwinkel hob. »Ich wünschte immer, ich könnte sie alle hier behalten, aber das geht nicht. Also tue ich, was ich kann, und hoffe, dass es reicht.«

»Wenn Ruby Chicago verlassen würde, wäre sie sicherer.«

Dana nickte. »Wahrscheinlich. Aber sie will nicht, das weißt du.«

»Vielleicht hätte sie ja gesagt, wenn sie gewusst hätte, dass sie neue Papiere kriegen könnte.«

Neue Papiere. Oh ja, manche Bewohnerinnen bekamen einen neueren Anfang als andere. Ein paar wenige verließen das Haus mit einer neuen Identität. Neuer Geburtsurkunde, neuer Sozialversicherungskarte, neuem Führerschein. Alles dank Dana Dupinsky, Vollzeit-Therapeutin und Gelegenheitsfälscherin. Und sie war in beiden Fächern verdammt gut. Ihre Dokumente hielten seit über zehn Jahren auch den schärfsten Kontrollen stand.

Dana wusste genau, worauf dieses Gespräch hinauslief. Dennoch blieb ihre Stimme ruhig. »Du kennst die Regel, Evie. Eine Klientin muss erst ihre Heimatstadt verlassen wollen, bevor wir die Möglichkeit von neuen Papieren ansprechen.«

Evies Kiefer spannten sich an. Auf der einen Seite. »Deine Regel.«

Dana trank einen weiteren Schluck Kaffee. Sie war verärgert, aber sie würde es nicht zeigen. »Mein Risiko. Meine Regel.« Was sie tat, war illegal. Sie verschaffte Frauen gefälschte Papiere. Fälschte offizielle staatliche Papiere. Sie tat es aus ehrenhaften Gründen, aber sie bezweifelte, dass irgendein Richter für sie Partei ergreifen würde. Es war unbedingt wichtig, dass die Frauen, denen sie auf diese Weise half, diskret waren, denn sobald sie ihr neues Leben begannen, war das Geheimnis in der Welt. Wenn eine der Frauen redete … dann sitze ich im Knast. Nicht Evie. Ich.

Evie wurde wütend. »Deine Regel könnte unsere Klientinnen in Gefahr bringen.« Das Baby wimmerte, und Evie setzte die wiegende Bewegung fort. »Was ist mit all den Frauen hier in Chicago, die keine Ahnung haben, dass wir ihr Leben verändern könnten?«, flüsterte sie rau. »Kannst du noch mit dir leben, wenn einer etwas passiert?«

Dana sog scharf die Luft ein. Es war nicht so, dass sie nicht auch schon oft daran gedacht hätte. Mein Gott, jeden verdammten Tag. »Evie, ich sage das jetzt nur noch einmal. Du wirst die Regel nicht brechen. Du wirst keiner Bewohnerin irgendetwas von neuen Papieren erzählen. Haben wir uns verstanden?«

Evies Blick hätte Stahl durchschneiden können. »Ja, Ma’am, wir haben uns bestens verstanden.« Und damit wandte sie sich so abrupt um, dass Dylan erwachte und laut zu weinen begann. Dana warf einen Blick zur Wanduhr, als auch schon Stimmen aus den oberen Zimmern drangen. Nein, es hatte ganz sicher keinen Sinn, noch einmal ins Bett zu gehen. Der Tag hatte offiziell begonnen.

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