Ransom Riggs
Die Legenden der besonderen Kinder
Aus dem Englischen von Silvia Kinkel
Knaur e-books
Ransom Riggs wuchs in einem kleinen Fischerdorf im südlichen Florida auf, einer Region, in der sich viele Amerikaner zur Ruhe setzen. Um nicht vor Langeweile zu sterben, begann er, in Musikbands zu spielen und mit seinen Freunden Filme zu drehen. Später studierte er in Ohio und Los Angeles Literatur und Filmproduktion.
Ransom Riggs dreht heute Werbefilme für Firmen wie Absolut Vodka und Nissan und arbeitet als Drehbuchautor, Journalist und Fotograf.
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Tales Of the Peculiar« bei Dutton Books
© 2018 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: lüra – Klemt & Mues GbR
Illustrationen: Ganzseitige Illustrationen im Innenteil von Andrew Davidson
Illustrative Elemente und Initialen von Shutterstock.com
Covergestaltung: Guter Punkt, München nach Originaldesign von Andrew Davidson
Coverabbildung: Andrew Davidson
ISBN 978-3-426-45124-3
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Eine historische Exilzone, von der man annimmt, dass sie irgendwo im heutigen Cornwall liegt.
Es gab eine Zeit – eine lange zurückliegende friedvolle Ära –, als Besondere ohne Angst vor Verfolgung zusammenleben konnten und sich nicht in Zeitschleifen verstecken mussten. Damals taten sich die Besonderen oft entsprechend ihrer besonderen Gabe als Gruppen zusammen, eine heute verpönte Praxis, da sie Tribalismus und Feindseligkeiten fördert.
Woher der Reichtum der Kannibalen stammte? Aus der Herstellung von Bonbons und Kinderspielzeug.
Die Landesnamen in dieser Geschichte sind fiktiv, obwohl sie in einigen regionalen Versionen durch reale Orte ersetzt sind. In einigen Überlieferungen ist Frankenbourg Spanien, in einer anderen ist Galatia Persien. Die Geschichte selbst bleibt jedoch unverändert.
Es gab eine starke Säure, die man auf dem Schwarzmarkt der Besonderen kaufen konnte. Die Flaschen waren in Schlangenhaut gehüllt, und die enthaltene Flüssigkeit konnte sich durch Metall fressen. Sie trug den Namen Prinzessinnenspeichel – zweifellos zu Ehren dieser Geschichte. Nach einer Reihe unglücklicher Unfälle aufgrund von Missbrauch stellten die Behörden der Besonderen die Herstellung ein. Heutzutage sind Flaschen mit Prinzessinnenspeichel seltene Sammlerstücke.
Der Rat Wichtiger Besonderer bestand ausschließlich aus Männern und war der Vorläufer des Rates der Ymbrynen. Er setzte sich aus einem Dutzend geselliger Ratsherren zusammen, die sich zweimal jährlich trafen, um all jene Gesetze zu erlassen und nachzubessern, denen die Besonderen unterworfen waren. Diese betrafen hauptsächlich Konfliktlösungen (Duelle waren erlaubt), die Umstände, unter denen es Besonderen gestattet war, im Beisein von Normalen ihre Fähigkeiten einzusetzen (wann immer es ihnen gefiel), und die unzähligen Strafen für das Brechen von Regeln (von Standpauken bis zu Verbannung).
Obwohl sie in dieser Geschichte nicht erwähnt werden, vermutlich weil ihre Zahl einfach zu groß ist, wurden zu jener Zeit viele bemerkenswerte Entdeckungen im Hinblick auf das Verhalten und die Funktion von Zeitschleifen gemacht. Dazu gehörte das Prinzip des angehaltenen Alterungsprozesses, der beschränkte Zugang für Nicht-Besondere, die duale Existenz einer Zeitschleife in der Gegenwart und Vergangenheit und vielleicht sogar die Grundlagen der Zeitstrom-Theorie und die Probleme von Parallelströmen. All das macht Ymeene nicht nur zu Großbritanniens erster Ymbryne, sondern auch zu einer wahren Pionierin der Zeitschleifenkunde. Auch die Beiträge ihres Freundes Englebert sollten keinesfalls übersehen werden: In dem abnehmbaren Kopf wohnte ein scharfsinniger, wissenschaftlicher Verstand, und ohne seine ausführlichen Aufzeichnungen wären viele von Ymeenes bahnbrechenden Erkenntnissen verloren gegangen.
Diese kleine, sehr bekannte Rebellion war der Beginn der matriarchalischen Herrschaft der Ymbrynen in der Welt der Besonderen. Aber es war kein klarer Schnitt. Der Rat und seine Kumpanen beharrten auf ihren Machtansprüchen, und in den darauffolgenden Jahren veranstalteten sie eine Reihe erfolgloser Putschversuche. Aber das ist eine andere Geschichte.
Viele Jahre war Ymeenes Baum das Ziel von Pilgerreisen Besonderer, aber schon seit geraumer Zeit kennt niemand mehr seinen Standort. Eine ihrer schwarzbraunen Schwanzfedern konnte jedoch gerettet werden, ein uraltes Relikt, das immer noch in der Ruhmeshalle der Berühmtheiten angeschaut werden kann, sicher hinter Glas aufbewahrt.
Das trifft auch auf Grimbären zu, es sei denn, man hat eine besondere Verbindung mit ihnen.
An der Tanzwut starben Millionen, aber die daran Erkrankten erfanden den Foxtrott, den Charleston und den Cowboy Cha Cha. Eine bunte Mischung also.
Es scheint, dass sich die Kunde von den britischen Ymbrynen auf der ganzen Welt verbreitete und sogar unter Nicht-Besonderen zum Stoff von Legenden wurde.
Lebende Inseln sind heutzutage in der Welt der Besonderen praktisch unbekannt. Sollten noch welche existieren, dann halten sie sich gut versteckt. Niemand kann ihnen diese Schüchternheit vorwerfen, da das Blut dieser Inseln in früheren Zeiten »»abgezapft« wurde. Ein Verfahren, das in jeder Hinsicht so grotesk und schmerzhaft ist, wie es klingt.
Im Grunde war das nicht einmal gelogen, da Cocobolo der Körper seines Vaters war.
Heute bekannt unter dem Namen Eel Pie Island (Aalpasteten-Insel), war dies schon lange Zeit ein Treffpunkt von Besonderen. King Henry VIII ging dort gern zur Jagd, und im 20. Jahrhundert strömten Scharen von Hippies, Anarchisten und Rockmusikern dorthin.
In einigen Berichten über das Feuer heißt es, dass die Tauben mit Flügelschlagen die Flammen vorangetrieben hätten. Ein wahrhaft beschämender Moment in der Geschichte der Besonderen.
In der Vergangenheit der Besonderen gab es viele Traummanipulatoren, aber nur ein Einziger teilte Lavinias Gabe, den immateriellen Stoff der Träume real werden zu lassen. Sein Name lautete Cyrus, und er war ein Dieb schöner Träume: Er brauchte sie zum Überleben und erlangte Berühmtheit, weil er das Glück ganzer Städte raubte, indem er Nacht für Nacht jeweils ein Haus plünderte.
In diesen Absatz wurde schon viel hineininterpretiert. Einige deuten ihn gar als Beweis, dass Lavinias Albtraumball ursprünglich dämonisch und sie eine Exorzistin gewesen sei. Ich persönlich halte das für albern und glaube, dass einige der sogenannten Wissenschaftler in ihrer Freizeit zu viele Horrorfilme sehen. Der Ball hat lediglich ein paar unangenehme Angewohnheiten.
Woher Erick durch einfaches Handauflegen wusste, dass der Junge besonders war, ist nicht klar; möglicherweise war er selbst ein Besonderer, und seine Fähigkeit bestand darin, andere Besondere zu erkennen, auch wenn deren Fähigkeiten noch unentwickelt oder verborgen waren.
Besonders heftige Heuschreckenplagen suchten den amerikanischen Westen im 18. und 19. Jahrhundert heim. Die größte dokumentierte gab es 1875, als ein Schwarm von mehr als zwölf Billionen Heuschrecken, die eine Fläche größer als Kalifornien verdeckten, die Ebenen verwüstete.
Sehr wahrscheinlich handelte es sich dabei um Vitaligis Peculiaris, ein medizinisches Fachbuch, das vor langer Zeit von einem Quacksalber zur Hälfte in Küchenlatein geschrieben wurde. Einige seiner Ratschläge sind ganz vernünftig, aber das meiste ist Unfug; der Trick besteht darin, den Unterschied zu erkennen.
Es gibt zahlreiche Berichte von Schurken, die mit falschen Lichtzeichen Schiffe absichtlich irritierten und kentern ließen. Aber dies ist die einzige Erwähnung, sei es in historischen Aufzeichnungen wie auch Volkserzählungen, dass die Fähigkeit eines Besonderen für diese Zwecke eingesetzt wird.
Bei der Hannah handelt es sich keineswegs um eine Erfindung. Es gab sie wirklich, und sie setzte unter dem Kommando eines unerfahrenen Kapitäns namens Curry Shaw am 3. April 1849 im irischen Hafen Newry die Segel. Der damals Dreiundzwanzigjährige hatte sich bereits einen Ruf als skrupelloser Mann erworben und war schon vor den schrecklichen Ereignissen, die seinem Schiff widerfahren sollten, weithin verachtet.
Auch das ist historisch belegt: Am späten Abend des 27. April kollidierte die Hannah mit einem Eisberg, und Shaw floh mit seiner Mannschaft im einzigen Rettungsboot.
Das soll nicht heißen, dass Riesen gänzlich verschwunden sind, sie wandeln lediglich nicht mehr auf dem Festland. Lesen Sie die Geschichte von Cocobolo, um zu erfahren, was aus ihnen geworden ist.
Sie erreichten die Bergspitze mithilfe eines primitiven Aufzugs an einer Seilwinde, den Miss Wren selbst erfunden hatte.
Die Legenden der besonderen Kinder
Herausgegeben und kommentiert von Millard Nullings
Illustriert von Andrew Davidson
Copyright © 2016 Syndrigast Publications
Gedruckt in einem Nomadenzelt in der Wüste Lop Nor im östlichen Teil des Tarimbeckens, das sich am Fuße des Kuruk-Tagh-Gebirges im Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang erstreckt. Eine nahezu perfekte Ebene.
In einer Buchbinderei tief unter der Erde mit einem kostbaren Einband versehen. Den Eingang zu dieser Werkstatt, der sich in London zwischen Fish Street Hill und Pudding Lane befindet, sollten Sie zu Ihrer eigenen Sicherheit gar nicht erst suchen.
Akribisch korrekturgelesen von den zwei Köpfen und fünf Augen der Patricia Panopticot.
»Caesar nom supra grammatico.«
Dieses Buch bitte nicht vervielfältigen, stehlen oder mit Eselsohren versehen. Bitte verwenden Sie das Buch nicht als Untersetzer oder Türstopper. Bitte lesen Sie die dritte Geschichte nicht rückwärts laut vor.
Der Verleger kann nicht zur Verantwortung gezogen werden für alles, was dann passiert.
Für Alma LeFaye Peregrine, die mir beigebracht hat, Geschichten zu lieben.
– MN
Homo sum: humani nil a me alienum puto.
– Terence
Liebe Leserin, lieber Leser,
dieses Buch, das Sie gerade in Händen halten, ist nur für die Augen von Besonderen bestimmt. Sollten Sie nicht zu diesem Kreis zählen – anders ausgedrückt, sollten Sie nicht nachts aufwachen und über dem Bett schweben, weil Sie vergessen haben, sich an der Matratze festzubinden, sollten aus Ihren Handflächen keine Flammen lodern und in Ihrem Körper keine Bienen leben –, dann legen Sie dieses Buch bitte sofort wieder dorthin zurück, wo Sie es gefunden haben, und vergessen Sie es. Keine Sorge, Ihnen entgeht nichts. Sie würden dieses Buch nämlich seltsam, erschütternd oder gar nicht nach Ihrem Geschmack finden. Und im Übrigen gehen die darin enthaltenen Geschichten Sie auch nichts an.
Mit besonderer Hochachtung
Ihr Verleger
Falls Sie zum Kreis der Besonderen zählen – und da Sie bis hierher gelesen haben, hoffe ich das aufrichtig –, benötigen Sie vermutlich keine Einleitung zu diesem Buch. Die enthaltenen Erzählungen waren prägender Bestandteil unserer Erziehung, die Sie in Ihrer Kindheit so oft gelesen oder gehört haben, dass Sie Ihre Lieblingsgeschichten Wort für Wort auswendig kennen. Für jene Unglücklichen, die ihre Besonderheit erst kürzlich entdeckt haben, oder die unter Umständen aufwuchsen, in denen keine Besonderenliteratur zugänglich war, biete ich diese kurze Einführung.
Unser geliebtes altes Volkstum wurde seit jeher von Generation zu Generation in Form von Geschichten weitergegeben, die allesamt eine Mischung aus wahren Begebenheiten und Märchen sind. Darüber hinaus dienen sie als moralische Lehrstücke für heranwachsende Besondere. Diese Geschichten stammen aus ganz unterschiedlichen Gegenden dieses Erdballs, aus mündlichen oder auch schriftlichen Überlieferungen, und erfuhren im Laufe der Jahre eindrucksvolle Wandlungen. Ihr Fortbestand beruht nicht nur darauf, dass es sich um ausgezeichnete Literatur handelt, die Geschichten sind vielmehr auch Träger von Geheimwissen. Verschlüsselt finden sich auf ihren Seiten die geografische Lage verborgener Zeitschleifen, die Geheimidentitäten einiger wichtiger Besonderer sowie weitere Informationen, die das Überleben eines Besonderen in der feindlichen Welt gewährleisten. Ich muss es wissen: Diese Geschichten sind der Grund, warum ich überhaupt noch in der Lage bin, diese Worte zu schreiben. Sie haben nicht nur mein Leben gerettet, sondern auch das meiner Freunde und unserer geliebten Ymbryne. Ich, Millard Nullings, bin ein lebender Beweis für den fortdauernden Nutzen dieser Geschichten, obwohl sie bereits vor sehr langer Zeit entstanden sind.
Deshalb widme ich mich ihrer Erhaltung und Verbreitung und habe es mir zur Aufgabe gemacht, eine Auswahl der Geschichten unter dem Titel Die Legenden der besonderen Kinder herauszugeben und zu kommentieren. Die vorliegende Sammlung ist beileibe nicht erschöpfend oder vollständig – jene Ausgabe, die Erzählungen von Besonderen, die ich in meiner Jugend gelesen habe, war ein unhandliches dreibändiges Werk, das zusammengenommen mehr wog als meine Freundin Bronwyn –, aber die hier enthaltenen Geschichten repräsentieren meine Favoriten, und ich habe mir die Freiheit genommen, sie mit historischen und kontextbezogenen Fakten zu versehen, sodass Besondere allerorts von meinem Wissen profitieren können. Zudem hege ich die Hoffnung, dass Ihnen diese Ausgabe durch ihr kleineres Format auf Reisen und bei Abenteuern als praktischer Begleiter dienen und sich als ebenso nützlich erweisen wird wie einst für mich.
Genießen Sie also bitte die Lektüre – vor einem knisternden Feuer in einer frostigen Nacht, einen schnarchenden Grimmbären zu Ihren Füßen. Und sollten Sie die Geschichten laut vorlesen (was ich sehr empfehle), dann bedenken Sie deren heikle Natur, und vergewissern Sie sich, dass Ihre Zuhörer ausschließlich Besondere sind.
Millard Nullings, Dr. rer. nat., Gelehrter
n dem kleinen Dorf Swampmuck lebten Besondere, die ein sehr bescheidenes Dasein führten. Sie waren Bauern, und obwohl sie nur das Allernötigste besaßen und in wackeligen Hütten aus Schilfrohr wohnten, waren sie gesund und guter Dinge. Nahrung wuchs reichlich in ihren Gärten, und sauberes Wasser strömte in den Flüssen. Sogar ihre einfachen Behausungen schienen reiner Luxus zu sein, weil das Wetter in Swampmuck so mild war, dass sich viele der Bewohner nach einem langen Tag hingebungsvoller Arbeit in den Sümpfen einfach auf den Boden legten und zwischen den Gräsern schliefen.
Die Erntezeit liebten sie am meisten. Sie arbeiteten rund um die Uhr, hieben die am höchsten aufgeschossenen Schilfhalme ab, bündelten sie auf Eselskarren und transportierten ihren Ertrag in die fünf Tagesritte entfernte Marktstadt Chipping Whippet. Das war harte Arbeit. Die scharfen Ränder der Schilfblätter zerschnitten ihnen die Hände. Die Esel waren übellaunig und bissig. Die Straße zum Markt war voller Schlaglöcher und wurde von Dieben belagert. Oft ereigneten sich während der Erntezeit schlimme Unfälle wie jener, als der Bauer Pullman in einem Anfall von Übereifer beim Mähen seinem Nachbarn aus Versehen ein Bein abhackte. Der Nachbar, Bauer Hayworth, reagierte verständlicherweise aufgebracht, aber die Dorfbewohner waren generell nicht nachtragend, und so war der Vorfall schon bald vergeben. Das wenige Geld, das die Leute auf dem Markt verdienten, reichte gerade, um das Notwendigste und außerdem noch ein paar Rationen Ziegenkeule zu kaufen. Mit diesen seltenen Leckerbissen feierten sie nach der Ernte ein rauschendes Fest, das über Tage andauerte.
Da geschah es in einem Jahr kurz nach dem Erntefest, dass drei Reiter eintrafen. Nach Swampmuck verirrte sich so gut wie nie jemand, denn es war kein Ort, der Fremde anlockte, und Gestalten wie diese hatte es hier ganz sicher noch nie gegeben: zwei Männer und eine Dame, von Kopf bis Fuß in kostbaren Seidenbrokat gekleidet, auf drei edlen Araberhengsten. Doch obwohl die Fremden offenkundig reich waren, wirkten sie ausgemergelt und schwankten kraftlos in ihren mit Edelsteinen geschmückten Sätteln.
Neugierig versammelten sich die Dorfbewohner um die Reiter, bewunderten deren wunderschöne Kleidung und Pferde.
»Geht nicht zu nah heran!«, warnte Bäuerin Sally. »Sie sehen krank aus.«
»Wir sind unterwegs zur Küste von Meek«[1], erklärte einer der Männer, der offenbar als Einziger genügend Kraft zum Sprechen besaß. »Vor ein paar Wochen wurden wir von Banditen überfallen. Wir konnten ihnen zwar entkommen, haben uns aber hoffnungslos verirrt. Seither bewegen wir uns im Kreis und suchen nach der alten Römerstraße.«
»Hier seid ihr himmelweit von der Römerstraße entfernt«, sagte Bäuerin Sally.
»Und von der Küste von Meek«, fügte Bauer Pullman hinzu.
»Wie weit ist es bis dorthin?«, fragte der Mann.
»Sechs Tagesritte«, antwortete Bäuerin Sally.
»Das schaffen wir nie«, sagte der Mann mit düsterer Miene.
In diesem Moment rutschte die in Seide gewandete Dame von ihrem Sattel und stürzte zu Boden.
Trotz ihrer Sorge vor Ansteckung brachten die mitfühlenden Dorfbewohner die Dame und ihre Begleiter ins nächstgelegene Haus. Die Bauern reichten den Reitern Wasser und betteten sie auf Strohlager. Bestimmt ein Dutzend Dorfbewohner umringten die Fremden und boten ihre Hilfe an.
»Lasst sie in Ruhe!«, befahl Bauer Pullman. »Sie sind erschöpft und müssen schlafen!«
»Nein, sie brauchen einen Arzt«, erwiderte Bäuerin Sally.
»Wir sind nicht krank«, entgegnete der Mann. »Wir haben Hunger. Vor über einer Woche gingen unsere Vorräte zu Ende, und seither hatten wir nicht einen Bissen zu essen.«
Bäuerin Sally wunderte sich, warum so reiche Menschen nicht einfach Essen bei anderen Reisenden kauften, denen sie unterwegs doch sicher begegnet waren, aber sie war zu höflich, um zu fragen. Stattdessen befahl sie ein paar Jungen aus dem Dorf, loszulaufen und Schalen mit Sumpfgrassuppe, Hirsebrot und die wenigen, vom Fest übrig gebliebenen Stücke Ziegenkeule zu holen. Aber als die Speisen vor den Besuchern ausgebreitet wurden, schoben diese sie beiseite.
»Ich möchte nicht unhöflich scheinen«, sagte der Mann, »aber das können wir nicht essen.«
»Wir wissen, dass es eine sehr bescheidene Mahlzeit ist«, sagte Bäuerin Sally, »und ihr seid vermutlich Festmahle gewohnt, die eines Königs würdig sind, aber mehr haben wir nicht.«
»Das ist nicht der Grund«, entgegnete der Mann. »Getreide, Gemüse, Tierfleisch – das können unsere Körper nicht verarbeiten. Und wenn wir uns zwingen, es trotzdem zu essen, machen uns diese Speisen noch schwächer.«
Die Dorfbewohner waren verwirrt. »Wenn ihr weder Getreide noch Gemüse oder Tiere essen könnt«, sagte Bauer Pullman, »wovon ernährt ihr euch dann?«
»Von Menschen«, antwortete der Mann.
Alle in der Hütte wichen einen Schritt von den Fremden zurück.
»Wollt ihr damit sagen, dass ihr … Kannibalen seid?«, fragte Bauer Hayworth.
»Von Natur aus, wir haben es uns nicht ausgesucht«, antwortete der Mann. »Aber, ja.«
Er versicherte den Dorfbewohnern, dass sie zivilisierte Kannibalen seien und niemals unschuldige Menschen töteten.
Sie, und andere ihrer Art, hatten mit dem König eine Vereinbarung getroffen, niemals Menschen gegen ihren Willen zu entführen und zu essen. Als Gegenleistung wurde ihnen gestattet, zu einem hohen Preis die abgetrennten Gliedmaßen von Unfallopfern und die Körper gehängter Verbrecher zu kaufen. Darauf reduzierte sich folglich ihr Speiseplan.
Sie waren jetzt unterwegs zur Küste von Meek, weil sich dieser Ort rühmte, die höchste Unfallrate und die meisten Toten durch Erhängen in ganz Großbritannien zu haben, sodass Nahrung verhältnismäßig üppig, wenn nicht gar reichlich vorhanden war.
Obwohl die Kannibalen zu jener Zeit als vermögend galten, waren sie ständig unterernährt, immerzu gequält von einem Hunger, den sie nur selten zu stillen vermochten. Und so wie es aussah, waren die in Swampmuck eingetroffenen Kannibalen dem Hungertod nahe und würden es niemals bis nach Meek schaffen.
Nun hätten die Bewohner jedes anderen Dorfes, seien es Besondere oder Normale, vermutlich mit den Schultern gezuckt und die Kannibalen hungern lassen.
Aber die Swampmuckianer waren über die Maßen mitfühlend, und von daher überraschte es niemanden, als Bauer Hayworth auf Krücken humpelnd einen Schritt vortrat und sagte: »Zufällig habe ich neulich bei einem Unfall mein Bein verloren. Ich habe es in den Sumpf geworfen, finde es aber bestimmt wieder, wenn die Aale es noch nicht gefressen haben.«
Die Augen der Kannibalen begannen zu leuchten.
»Das würdest du tun?«, fragte die Kannibalendame und strich ihr langes Haar von der knochigen Wange zurück.
»Ein bisschen seltsam ist das schon für mich«, gestand Hayworth, »aber wir können euch doch nicht einfach sterben lassen.«
Die übrigen Dorfbewohner stimmten zu. Hayworth humpelte zum Sumpf, fand sein Bein, vertrieb die daran nagenden Aale und brachte es den Kannibalen auf einem Tablett.
Einer der Kannibalen reichte Hayworth einen Beutel voller Geldstücke.
»Was ist das?«, fragte Hayworth.
»Die Bezahlung«, antwortete der Kannibale. »Genauso viel berechnet uns der König.«
»Das kann ich nicht annehmen«, erwiderte Hayworth, aber als er den Beutel zurückgeben wollte, hielt der Kannibale die Hände hinter den Rücken und lächelte.
»Es ist nur gerecht«, versicherte er. »Ihr rettet uns das Leben!«
Als die Kannibalen zu essen begannen, wandten sich die Dorfbewohner höflich ab. Bauer Hayworth öffnete den Beutel, schaute hinein und wurde blass. Es war mehr Geld, als er je in seinem Leben gesehen hatte.
Die Kannibalen verbrachten die folgenden Tage damit, zu essen und wieder zu Kräften zu kommen. Und als sie endlich stark genug waren, um ihre Reise an die Küste von Meek fortzusetzen – dieses Mal mit einer korrekten Wegbeschreibung –, versammelten sich die Dorfbewohner, um sie zu verabschieden. Als die Kannibalen Bauer Hayworth sahen, fiel ihnen auf, dass er ohne Krücken ging.
»Ich verstehe das nicht!«, rief einer der Kannibalen erstaunt. »Ich dachte, wir hätten dein Bein gegessen!«
»Habt ihr auch«, antwortete Hayworth. »Aber wenn die Besonderen von Swampmuck ihre Gliedmaßen verlieren, dann wachsen sie wieder nach.«[2]
Der Kannibale sah ihn an, schien etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann aber offenbar anders. Stattdessen stieg er auf sein Pferd und ritt mit den anderen davon.
Wochen vergingen. Alle kehrten zur Normalität zurück, außer Bauer Hayworth. Er war oft geistesabwesend und ertappte sich im Laufe des Tages mehrfach dabei, wie er sich auf seine Hacke stützte und aufs Moor hinaussah. Er dachte an die Geldbörse, die er in einem Loch versteckt hatte. Was sollte er mit dem Geld anfangen?
Alle seine Freunde machten Vorschläge.
»Du könntest dir einen ganzen Schrank voller schöner Kleider kaufen«, sagte Bauer Bettelheim.
»Aber was soll ich damit?«, erwiderte Bauer Hayworth. »Ich arbeite den ganzen Tag im Sumpf, ich würde die Sachen nur ruinieren.«
»Du könntest dir eine Bibliothek voller guter Bücher zulegen«, schlug Bauer Hegel vor.
»Aber ich kann nicht lesen«, erwiderte Bauer Hayworth, »und auch sonst niemand in Swampmuck.«
Der Vorschlag von Bauer Bachelard war der dümmste von allen. »Du solltest dir einen Elefanten kaufen«, sagte er. »Mit dem kannst du dein Sumpfgras zum Markt schleppen.«
»Aber er würde das ganze Gras fressen, bevor ich es verkaufen kann!«, entfuhr es Hayworth zunehmend verzweifelt. »Wenn ich doch etwas an meiner Hütte machen könnte! Die Schilfrohre halten den Wind nicht richtig ab, und im Winter zieht es durch alle Ritzen.«
»Du könntest das Geld nutzen, um die Wände zu tapezieren«, sagte Bauer Anderson.
»Sei kein Narr«, meldete sich Bäuerin Sally zu Wort. »Kauf dir einfach ein neues Haus!«
Und genau das tat Hayworth: Er baute ein Haus aus Holz, das erste, das jemals in Swampmuck errichtet wurde. Es war klein, aber stabil und hielt den Wind ab. Und es besaß sogar eine Tür, die in Angeln hing und auf- und zuschwang. Bauer Hayworth strahlte vor Stolz und wurde von allen Dorfbewohnern um sein Haus beneidet.
Ein paar Tage darauf traf eine Gruppe Reiter ein. Sie waren zu viert, drei Männer und eine Frau, und da sie schöne Kleider trugen und auf Araberhengsten ritten, wussten die Dorfbewohner sofort, wer sie waren – gesetzestreue Kannibalen von der Küste Meeks.[3] Diese Kannibalen schienen nicht zu hungern.
Wieder versammelten sich die Dorfbewohner um die Ankömmlinge, um sie zu bestaunen. Die Kannibalendame, in einem mit Goldfäden durchwirkten Rock, Hosen mit Knöpfen aus Perlen und Stiefeln mit Fuchsfellbesatz, sagte: »Vor ein paar Wochen sind Freunde von uns in dieses Dorf gekommen, und ihr habt euch sehr großzügig gezeigt. Da wir derlei Freundlichkeit nicht gewohnt sind, wollten wir euch persönlich danken.«
Dann stiegen die Kannibalen von ihren Pferden ab, verbeugten sich vor den Dorfbewohnern und schüttelten jedem Einzelnen die Hand. Die Dorfbewohner staunten über die zarte Haut der Kannibalen.
»Noch eine Sache, bevor wir wieder gehen«, sagte die Kannibalenfrau. »Wir hörten, dass ihr über eine einzigartige Gabe verfügt. Ist es wahr, dass euch verlorene Gliedmaßen nachwachsen?«
Die Dorfbewohner bestätigten dies.
»Wenn das so ist«, sagte die Frau, »möchten wir euch einen bescheidenen Vorschlag unterbreiten. Die Gliedmaßen, die wir an der Küste von Meek essen, sind selten frisch, und wir sind das vergammelte Essen sehr leid. Würdet ihr uns ein paar von euren verkaufen? Wir bezahlen euch natürlich großzügig.«
Sie öffnete ihre Satteltasche und präsentierte einen Sack voller Münzen und Juwelen. Den Dorfbewohnern gingen bei dem Anblick die Augen über, aber sie wandten sich verunsichert ab und tauschten sich flüsternd aus.
»Wir können unsere Gliedmaßen nicht verkaufen«, gab Bauer Pullman zu bedenken. »Ich jedenfalls brauche meine Beine zum Gehen!«
»Dann verkauf doch deine Arme«, schlug Bauer Bachelard vor.
»Aber wir brauchen unsere Arme für die Arbeit in den Sümpfen!«, erwiderte Bauer Hayworth.