Christoph Keese
Silicon Germany
Wie wir die digitale
Transformation schaffen
Knaus
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Copyright © der Originalausgabe 2016
beim Albrecht Knaus Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Jonas Wegerer
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-19583-0
V004
www.knaus-verlag.de
Für Caspar, Nathan und Camilla
In Erinnerung an meinen Vater
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
DIE LAGE
Im Land des digitalen Defizits
DIE GRÜNDE
Vernetzung: Wir verbinden Systeme nicht
Produktion: Wir verlassen uns zu sehr auf alte Stärken
Spezialisierung: Wir denken in Fachgebieten und meiden Risiken
Management: Wir belohnen Perfektion und bestrafen Fehler
DIE HERAUSFORDERUNGEN
Technologie: Durchbrüche revolutionieren die Wirtschaft
Plattformen: Produzenten werden an den Rand gedrängt
Disruption: Alte Märkte kollabieren, neue springen hervor
Geschäftsmodelle: Das Wie entscheidet über den Erfolg
DIE SZENARIEN
Automobil
Banken
Versicherungen
Telekommunikation
Energie
Wohnen
Handel
Logistik
Gesundheit
WAS UNTERNEHMEN TUN SOLLTEN
Strategie: In die eigenen Kannibalen investieren
Führung: Vom Anspruch auf Allwissen verabschieden
Innovation: Großes denken, Neues wagen
Standort: Dorthin gehen, wo die Talente sind
Transformation: Kritische Masse durch Lernen schaffen
Integration: Freiheit lassen und nicht erdrosseln
Organisation: Netze flechten und Pyramiden verkleinern
WAS POLITIK UND GESELLSCHAFT TUN SOLLTEN
Regierung: Ein Digitalministerium gründen und Kommunikationsnetze ausbauen
Regulierung: Freiräume für Innovationen schaffen
Finanzierung: 30 Milliarden pro Jahr für Start-ups organisieren
Justiz: Schnell eintragen, kompetent Recht sprechen
Bildung: Wissenschaft stärken, Universitäten reformieren
Werte: Eine Charta der digitalen
Rechte und Chancen schreiben
DIE ZUKUNFT
Technikmuseum oder Silicon Germany?
ANHANG
Dank und Kontakt
Literatur und Quellen
Index
Vorwort
»Die Zukunft ist schon da, sie ist nur
ungleich verteilt.«
William Ford Gibson,
Science-Fiction-Autor,
Erfinder des Worts Cyberspace
Dieses Buch geht zwei Fragen nach, die mich beschäftigen, seitdem ich im Sommer 2013 von einem halbjährigen Arbeitsaufenthalt im Silicon Valley nach Berlin zurückgekehrt bin: Wie konnte es passieren, dass Deutschland den Anschluss an die Digitalisierung so gründlich verpasst hat? Und was können wir tun, um den Rückstand so schnell wie möglich aufzuholen? Mir sind diese beiden Fragen als Bürger wichtig, aber auch aus persönlichen Gründen. Die Rückkehr aus Palo Alto ist mir schwergefallen. Schon einmal, im Sommer 1981, hatte ich das Silicon Valley nach einem Jahr als Austauschschüler verlassen und dadurch das Goldene Zeitalter des Computers verpasst, das ich in seinem Zentrum hätte miterleben können. Jetzt, im Jahr 2013, fürchtete ich, wieder aus der Mitte der Welt abzureisen, diesmal im Goldenen Zeitalter des Netzes. Meine Familie war mit mir nach Palo Alto gezogen. Unsere Kinder Caspar, Nathan und Camilla liebten die Stadt, mochten die Schule und hatten Freunde gefunden. Schon auf dem Rückflug bereute ich die Heimkehr. Warum führte ich die Kinder fort aus dem Land der Inspiration, des Erfindungsgeists, des andauernden Aufbruchs, der glänzenden Bildung und der sicheren Arbeitsplätze? Ich redete mir ein: weil Deutschland aufholen sollte und ich dazu beitragen kann. Mit diesem Gedanken rechtfertigte ich unsere Rückkehr vor mir selbst. Und mit diesem Gedanken endete auch das Buch, das ich über unsere Zeit in Palo Alto geschrieben habe: Silicon Valley – Was aus dem mächtigsten Tal der Welt auf uns zukommt (Knaus, 2014).
Mein neues Buch beschreibt nun, was nach der Rückkehr geschah. Kaum in Deutschland angekommen, begann ich mit der Suche nach Antworten auf die beiden Fragen. In meinem Beruf habe ich es tagein, tagaus mit digitaler Transformation zu tun, innerhalb unseres Unternehmens und darüber hinaus. So konnte ich berufsbedingt mit Hunderten von Menschen über das Thema sprechen, unter vier Augen, auf Kongressen, bei Vorträgen, in Firmen und Ministerien, in Berlin und fast allen Regionen Deutschlands, in Brüssel und in anderen europäischen Hauptstädten. Dabei entstand ein Bild mit vielen Details. Meine ursprüngliche Ungeduld mit Deutschlands Rückständigkeit wich einem tieferen Verständnis für seine Psychologie. Für seine Ängste, seine Sorgen, seinen Stolz und seine Hoffnungen. Es wäre leicht, unserem Land vorzuwerfen, dass es das Internet nicht versteht, satt und zufrieden am Erreichten festhält, in starren Strukturen festsitzt und seinen Höhepunkt überschritten hat. Ganz so leicht möchte ich es mir aber nicht machen. Denn wenn alles schlecht wäre, woher kämen dann die großen Erfolge unserer Industrie?
Im Laufe meiner Recherche verstand ich, dass Stärken und Schwächen eng miteinander zusammenhängen. Man kann nicht so einfach stark in der Produktion und gleichzeitig stark in der Digitalisierung sein. Beide Fähigkeiten sind schwer miteinander zu vereinbaren. Also sollten wir verständnisvoll mit uns selbst umgehen. Wir haben nichts falsch gemacht. Wir haben uns lediglich auf andere Aufgaben konzentriert als das Silicon Valley. Deswegen sind wir weder besser noch schlechter als die Kalifornier. Nun aber ist die Zeit gekommen, das Digitalzeitalter auch in Deutschland einzuläuten. Wir kommen nicht darum herum, denn die Digitalisierung dringt tief in unsere Schwerpunktbranchen vor. Ja, wir kommen spät, aber nicht zu spät. Noch können wir die digitale Transformation schaffen. Im Angesicht der Niederlage wachsen wir über uns hinaus. Ermutigende Anzeichen gibt es zuhauf. Ich habe Beispiele gesammelt und rege dazu an, sie nachzuahmen. Es könnte sich lohnen. Wir haben die Chance, Arbeit und Wohlstand zu schaffen, die Umwelt zu schützen, Gerechtigkeit herzustellen und sogar unsere Angst vor Daten zu überwinden. Von beidem handelt dieses Buch: von den Gründen des Abstiegs und den Chancen des Aufstiegs.
Im ersten Teil des Buchs beschreibe ich die gegenwärtige Lage, suche dann nach den Gründen für das bisherige Scheitern an der Digitalisierung, schildere die wichtigsten Herausforderungen, beschreibe deren Wirkungen auf einige wichtige Branchen und zeige schließlich, was Unternehmen, Politik und Gesellschaft tun können, um den Wandel zu meistern. Wie schon im letzten Buch berichte ich in einer Mischform aus Reportage, Analyse und politischer Streitschrift. Fast alles, was ich beschreibe, habe ich selbst erlebt. Literatur spielte bei meiner Recherche keine große Rolle. Ich wollte mit eigenen Augen sehen, was um uns herum geschieht. Außerdem gibt es über die meisten Aspekte noch keine Bücher. Dafür ist die Entwicklung zu neu.
Anders als im vorherigen Buch berichte ich dieses Mal auch aus meinem eigenen Unternehmen. Manche Leser werden mir das vielleicht als Befangenheit oder Werbeversuch auslegen. So ist es aber nicht gemeint. Ich halte es lediglich für ratsam, neben vielen anderen Erfahrungen auch jene bei Axel Springer zu schildern. Das Unternehmen ist so stark digitalisiert wie kaum ein anderes in Deutschland: Zwei Drittel des Umsatzes und drei Viertel des operativen Gewinns kommen aus dem Netz. Ein Buch über digitale Transformation wäre unvollständig ohne den Fall Axel Springer. Deswegen hat auch er hier seinen Platz.
Ein Schlüsselerlebnis gab den letzten Ausschlag zum Schreiben. Anfang 2015 erlebte ich einen Schlagabtausch zwischen Winfried Kretschmann, dem Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, und einem Unternehmer mit. Es ging um Digitalisierung. Kretschmann schlug einen zuversichtlichen Ton an: »Ich habe den Eindruck, dass die deutsche Industrie die Herausforderung gut und erfolgreich annimmt«, sagte er. »Bei vielen Besuchen in großen und kleinen Unternehmen sehe ich, wie entschlossen digitalisiert wird. Selbst kleine mittelständische Betriebe im Schwarzwald tun das. Ich kann den verbreiteten Pessimismus nicht teilen, dass Deutschland den Anschluss an die Digitalwirtschaft verpasst hat. Natürlich können alle noch viel besser werden. Doch den Abstand zum Silicon Valley holen wir auf.« Auch die deutschen Autofirmen seien gut gerüstet für die Zukunft, meinte Kretschmann: »Sie werden die Wertschöpfungsprozesse rund um das Automobil weiter dominieren. Deutschland ist gut vorbereitet auf die digitale Zukunft.« Kaum hatte Kretschmann geendet, meldet sich der Unternehmer zu Wort. Er widersprach ihm in aller Deutlichkeit: »Deutschland läuft Gefahr, nicht ein neues Silicon Valley, sondern ein deutsches Shenzhen zu werden. Eine verlängerte Werkbank, die von Kalifornien ferngesteuert wird und an der Wohlstandsmehrung der nächsten Jahrzehnte nicht mehr teilnimmt.« Dieser Wortwechsel brachte meine beiden Fragen auf den Punkt: Werden wir ein zweites Silicon Valley oder ein zweites Shenzhen? Und haben wir überhaupt eine Chance, ein zweites Shenzhen zu werden? Schließlich ist diese Sonderwirtschaftszone vor den Toren Hongkongs ein außergewöhnlich großer Erfolg. Erst 1980 auf dem Reißbrett entworfen, leben dort inzwischen mehr als 13 Millionen Menschen. Shenzhen ist eine der dynamischsten Städte Asiens. Foxconn sitzt da, Hauptproduzent des iPhones, Arbeitgeber von 300 000 Menschen. Müssen wir uns vielleicht sogar glücklich schätzen, wenn wir künftig in der Liga von Shenzhen mitspielen dürfen – als eine der vielen Werkbänke Kaliforniens? Oder gelingt uns noch nicht einmal das, weil das Silicon Valley und Shenzhen einen Pakt bilden, der alles ignoriert, was geografisch zwischen ihnen liegt? Sind wir bald nur noch die Konsumenten dessen, was die USA und Asien entwerfen und bauen? Und wenn ja: Müssen wir uns diesem Schicksal beugen, oder können wir etwas dagegen tun? Ich denke: Nein, wir sollten uns diesem Schicksal nicht beugen, und ja, wir können etwas dagegen tun. Wenn wir jetzt entschlossen handeln, dann schaffen wir das.
Christoph Keese
Berlin, im Sommer 2016
DIE LAGE