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Am Ende des Buchs finden Sie ein Glossar zum Brauchtum in Rheinbach.
Lucas Cuchenheim Sohn des verstorbenen Rheinbacher Lederwarenhändlers Johann Cuchenheim, Hauptmann über ein Regiment des Fürstbischofs Bernhard von Galen
Hedwig Cuchenheim Lucas’ Mutter
Madlen Thynen Tochter des Rheinbacher Tuchhändlers Gerlach Thynen
Anne-Maria Thynen Madlens Mutter
Gerlach Thynen Madlens Vater, Tuchhändler, Ratsherr
Marie Thynen Madlens jüngere Schwester
Marianne / Janni Thynen Madlens jüngste Schwester
Mattis Thynen Madlens jüngerer Bruder
Peter von Werdt Obrist in einem Regiment der kurkölnischen Armee, Sohn des Kaufmanns Erasmus von Werdt
Erasmus von Werdt Peters Vater, Kaufmann, Ratsherr
Gislinde von Werdt Peters Mutter
Ludwig von Werdt Peters jüngerer Bruder
Alma Magd bei der Familie von Werdt
Pascal d’Armond Leutnant unter König Ludwig XIV.
Hermann Becker Ratsherr, Notar und Gerichtsschreiber
Bridlin Magd bei der Familie Thynen
Carel Hausdiener bei der Familie von Werdt
Friedrich Eick Wachtmeister und Torwart am Voigtstor
Else Magd bei der Familie Velde
Barbara Falckenbach Tochter von Margarete und Christoph Leinen, verheiratet mit Werner Falckenbach
Werner Falckenbach Bauer, Torwächter, alter Freund von Lucas
Gerinc ehem. Armeeknecht, jetzt bei Lucas angestellt
Gregor Haffemeister Waidkrämer
Gertrud Halfmann Gattin eines Holzhändlers
Jonata Köchin der Familie Thynen
Karl Büttel
Henns Klötzgen Schustermeister
Veronica Klötzgen Henns’ Tochter
Christoph Leinen Großbauer
Emilia Leinen Tochter von Margarete und Christoph
Georg Leinen Sohn von Margarete und Christoph
Margarete Leinen Gattin von Christoph Leinen
Lotti Magd bei der Familie Cuchenheim
Rudolf Offermann Schöffe
Hermann Overkamp Schöffenmeiser
Pitter Knecht bei der Familie Haffemeister
Lutter Reitz Büttel
Thönnes Schubknecht Tuchhändler
Toni Handelsgehilfe und Hausknecht bei der Familie Cuchenheim
Paul Wicke fahrender Krämer
Wilhelmi Handelsgehilfe der Familie Thynen
Christoph Bernhard von Galen Fürstbischof von Münster
Freiherr Wilhelm Jakob
Schall von Bell Amtmann zu Flerzheim
(Heinrich) Averdunk Bürgermeister der Stadt Rheinbach (Vorname nicht historisch belegt)
Heinrich Diefenthal Schöffe (belegt 1686)
Edmund Fröhlich Schöffe (belegt 1689)
George de Hertoghe, Herr von Valkenburg Leutnant-Kolonel der Infanterie unter Wilhelm III. von Oranien
Herbert Horst Schöffe (belegt 1686)
Constantijn Huygens Sekretär Wilhelms III. von Oranien
Johann Matthias Reimbach Vogt
Antonius Hepp Ratsherr
Wilhelm III. Prinz von Oranien, Statthalter von Holland und Zeeland
Ludwig XIV. König von Frankreich
Rheinbach, 18. April 1668
«Hör auf damit! Nicht!» Madlen wich kichernd zurück, als Lucas an einer ihrer langen hellbraunen Locken zupfte. «Lass mich durch, ich muss die Kräuter ins Haus bringen. Mutter und Jonata brauchen sie in der Küche.»
Da Lucas strategisch günstig in dem von noch kahlen Rosen überwucherten Torbogen stand, der den Garten der Thynens von Haus und Hof trennte, blieb er einfach, wo er war, um das hübsche Mädchen noch ein bisschen weiter zu necken. «Hast du gerade gesagt, dass ich aufhören oder dass ich nicht aufhören soll?» Er grinste breit und zupfte erneut an der Strähne. Er mochte Madlens glänzende weiche Locken, besonders wenn sie vom Frühlingswind leicht zerzaust waren, so wie jetzt. Sie hatte sie nicht hochgesteckt, wie es sich eigentlich gehörte.
Das angenehm kribbelnde Gefühl, das sich bei Madlens Anblick stets in Lucas’ Magengrube ausbreitete, versuchte er jedoch zu ignorieren. Er war immerhin ein Mann von vierundzwanzig und sie ein junges, unerfahrenes Ding, gerade mal sechzehn Jahre alt. Ganz und gar nicht die Art Frau, die ihn normalerweise reizte. Zumal er sie praktisch schon seit ihrer Geburt kannte. Trotzdem konnte er sich nicht zurückhalten, das schüchterne Mädchen noch ein wenig weiter zu reizen. Er liebte es, wenn sie ihre Zurückhaltung vergaß. «Ich könnte schwören, dass du da gerade etwas von ‹nicht aufhören› gesagt hast.»
«Hab ich überhaupt nicht. Ich hab gesagt, du sollst aufhören.» Madlen wich erneut zurück, als er einen Schritt auf sie zu machte und tat, als wolle er mit beiden Händen nach ihren Haaren greifen. «Nicht!»
«Siehst du, da ist es wieder, das Wörtchen ‹nicht›.» Triumphierend grinste er sie an. «Also tue ich bloß, was du von mir verlangst.» Obgleich er wusste, dass es sich nicht gehörte, nahm er ihre Hand und hob sie an seine Lippen. Die Geste bewirkte, dass sich ihre Augen weiteten und sich das kribbelnde Gefühl in seinem Magen bedrohlich verstärkte. Deshalb besann er sich und zwickte sie rasch mit der anderen Hand in die Seite.
«He!» Mit einem Quietschen wich Madlen ihm aus und ließ dabei das Körbchen mit den Wildkräutern fallen. «Was machst du denn da?» Rasch bückte sie sich und sammelte die kleinen Blätter und Stiele wieder ein. «Mutter wird mich schelten, wenn ich die Kräuter auf dem Weg ins Haus zertrete. Es sind sowieso nur so wenige und noch ganz winzig, weil sich der Winter so hartnäckig gehalten hat.» Ihre Wangen hatten sich gerötet, was ihr ganz bezaubernd zu Gesicht stand.
«Bitte entschuldige.» Entschlossen, es nicht weiterzutreiben, behielt Lucas seine Hände nun bei sich. «Ich wollte dir nur guten Tag sagen und ein bisschen mit dir klaafen. Hast du schon das Neueste gehört?»
Madlen entspannte sich sichtlich und lächelte, sodass die kleinen Grübchen neben ihren Mundwinkeln zutage traten. «Nein, aber du wirst es mir ganz bestimmt erzählen. Was hast du nun wieder angestellt?»
«Ich?» Er tat vollkommen unschuldig. «Wie kommst du darauf, dass ich etwas angestellt haben könnte?»
«Weil du du bist und weil du gerne mit deinen Missetaten angibst.»
Mit dieser Einschätzung traf sie zugegebenermaßen genau ins Schwarze. Mit einem erneuten Grinsen hob er die Schultern. «Schuldig in allen Anklagepunkten. Hast du heute schon mal Offermanns Remise angeschaut?»
«Nein.» Sie zog die Augenbrauen verwundert hoch. «Warum sollte ich?»
«Weil der Anblick eines Pflugs auf einem Dach nicht zu verachten ist. Vor allem, wenn der Pflug noch mit einem Berg Schweinemist garniert ist.»
«Ach du Schreck!» Madlen riss die Augen auf. «Warum hast du das getan?»
«Woher willst du wissen, dass ich das war?»
Sie bedachte ihn nur mit einem beredten Blick, woraufhin er lachte. «Er hat dafür gesorgt, dass sein Sohn Hans zum Flurschütz des Reihs[*] ernannt wurde und nicht ich. Mir wollen sie jetzt das Amt des Knuwelshalfen andrehen.»
«Du wolltest Flurschütz werden?» Verblüfft starrte Madlen ihn an, dann lachte sie laut auf. «Du liebe Zeit, was für ein Witz. Da würden sie ja den Bock zum Gärtner machen. Ausgerechnet der Junggeselle mit dem schlimmsten Ruf in ganz Rheinbach …»
«Na, na, ganz so arg ist es nun auch wieder nicht.»
Sie ließ sich von seinem Einwand nicht beirren. «Und ob. Ausgerechnet du sollst auf die Einhaltung der Reihgesetze, auf Zucht und Ordnung achten? Da lachen ja unsere Hühner.»
«Eigentlich wollte ich das Amt gar nicht», gab er zu. «Mein Onkel Averdunk hat mich dafür vorgeschlagen. Wahrscheinlich hoffte er, das würde vorteilhaft auf meinen Charakter abfärben. Was mir nur stinkt, ist, dass Offermann sich eingemischt hat. Ich bitte dich, Hans als Flurschütz? Das ist doch wohl noch mehr ein Witz, als wenn ich den Posten übernähme. Er wird nicht mal genug respektiert, dass die Leute den Hut zum Gruß vor ihm ziehen. Wie soll er denn dann durchsetzen, dass alle Welt die Gesetze des Reihs einhält und sich züchtig und ordentlich benimmt? Anscheinend hat Offermann dem Reih eine große Spende fürs Maifest getätigt. Du kannst dir wohl vorstellen, wie gut das bei der Vereinigung von Junggesellen ankommt. Dementsprechend ist dann natürlich auch die Wahl des Flurschützen verlaufen.»
«Also hast du dem alten Offermann seinen Pflug aufs Dach gestellt und einen Kübel Mist drüber ausgeschüttet», folgerte Madlen. «Glaubst du nicht, dass sie dich dafür bestrafen werden?»
«Erst mal müssen sie beweisen, dass ich das war.»
Madlen legte den Kopf leicht schräg. «Du hast es mir gegenüber doch gerade zugegeben. Wenn sie mich fragen würden …»
«Dann würdest du mich nicht verraten.» Er zwinkerte ihr zu.
«Ach nein? Und warum nicht?»
«Weil …», er trat wieder etwas näher an sie heran, «wir gute Freunde sind.»
Sie errötete erneut. «Sind wir das?»
«Etwa nicht?»
«Doch, ja, natürlich.» Sie blickte sich vorsichtig um, doch im Haus war alles still. «Ich muss jetzt wirklich rein, sonst kommt Mutter mich holen.»
«Guckst du dir Offermanns Remise noch an?»
Sie zögerte. «Vermutlich hat er den Pflug längst heruntergeholt.»
«Ich hab ihn an den Dachbalken zwischen den Sparren festgebunden. Damit ist er eine Weile beschäftigt.»
Lachend schüttelte sie den Kopf. «Wann wirst du endlich erwachsen? Kein Wunder, dass dein Onkel versucht, dir ein verantwortungsvolles Amt zuzuschustern. Andere in deinem Alter sind schon Herr ihres eigenen Hausstandes, und du …»
«Ich drücke mich erfolgreich um diese grauenhafte Aussicht herum. Wer würde mich schon ertragen?»
«Jetzt tu doch nicht so. Es gibt in Rheinbach und den Dörfern ringsum genügend nette Mädchen. Du bräuchtest dir bloß eine auszusuchen.» Sie knabberte verlegen an ihrer Unterlippe. «Oder ersteigere ein Mailehen. Kommende Woche Samstag ist doch die Versteigerung.»
Lucas grinste wieder. «Vielleicht sollte ich dich als Mailehen ersteigern.»
«Mich?» Mit einem Ruck hob Madlen den Kopf.
«Sicher. Du bist jetzt sechzehn und nimmst zum ersten Mal an der Versteigerung teil, nicht wahr?»
«Ja, schon …» Die Röte auf ihren Wangen vertiefte sich. «Aber warum willst du mich ersteigern?»
«Warum nicht? Wir haben doch gerade festgestellt, dass wir gute Freunde sind. Außerdem bist du klug und nicht so leichtgläubig wie manche anderen Mädchen. Bei dir muss ich mir nicht ständig Gedanken machen, dass du etwas, das ich sage, falsch verstehst. Du kennst mich.» Er zupfte erneut an einer ihrer Locken. «Und du bist hübsch, also werden wir ein sehr ansprechendes Maipaar abgeben.»
«Das ist doch Unsinn, Lucas.» Sichtlich verlegen nestelte Madlen am Griff des Körbchens herum. «Man ersteigert doch kein Mailehen, bloß weil man nett zusammen aussieht.»
«Das habe ich ja auch nicht gesagt, Madlen.»
«Oder weil man befreundet ist. Die Leute werden denken …»
«Was?» Forschend sah er Madlen ins Gesicht, bis sie ihren Blick zu seinem hob. Das kribbelnde Gefühl verstärkte sich abermals.
«Außerdem bin ich schon jemandes Mailehen.» Sie schluckte hörbar. «Also natürlich jetzt noch nicht, aber Peter hat gesagt, dass er mich beim Schultheißen des Reihs schon vorab freikaufen will, damit niemand auf mich bieten kann.»
«Peter von Werdt, natürlich.» Lucas behielt sein heiteres Lächeln bei, obgleich ihn das Gefühl der Enttäuschung härter traf, als er erwartet hätte. Natürlich war ihm klar gewesen, dass Madlen Thynen nicht sein Mailehen sein wollen würde. Nicht wegen des Altersunterschieds, denn von Werdt war noch einmal zwei Jahre älter als er, sondern wegen seines fragwürdigen Rufs. Er hatte noch nie viel darum gegeben, was die Rheinbacher von ihm dachten, und er scheute sich auch nicht, sich mit den falschen Leuten anzulegen. Nach dem Tod seines Vaters hatte er zudem angefangen, einigen halbseidenen Geschäften nachzugehen. Sein Vater war, ähnlich wie der von Madlen, Kaufmann gewesen. Allerdings war die Konkurrenz im Lederwarenhandel groß, und das Geschäft, das Lucas mit zwanzig Jahren geerbt hatte, war kaum der Rede wert gewesen. Das Einkommen hätte niemals ausgereicht, um Lucas und seine Mutter am Leben zu erhalten. Also hatte er sich nach anderen Einkommensquellen umgesehen, und wenn er dafür seine Kundschaft übers Ohr hauen musste, dann war das eben so. Stolz war er nicht darauf, doch wenigstens hatte er nie etwas wirklich Ungesetzliches getan – oder war zumindest nicht erwischt worden. Inzwischen hatte er sich wieder überwiegend dem Lederwarenhandel verschrieben, doch so wirklich war es nicht das Richtige für ihn. In letzter Zeit dachte er immer häufiger daran, fortzugehen, sich der Armee anzuschließen. Vielleicht den Kurkölner Regimentern. Dort war es in diesen schwierigen Zeiten sicher leicht, zu Ruhm und Ehre zu gelangen … und zu einem annehmbaren Einkommen, das ihn nicht zwang, jeden Kreuzer dreimal umzudrehen.
Deshalb war es sicher besser, dass Madlen kein Interesse an ihm hatte. Er lächelte ihr schief zu. «Ich hatte mir schon gedacht, dass von Werdt dich allen anderen Junggesellen vorenthält. Immerhin seid ihr so gut wie verlobt.» Auch wenn dieser Gedanke ihm mehr widerstrebte, als er vor sich selbst zugeben wollte.
«Sind wir nicht!» Erschrocken schüttelte Madlen den Kopf. «Er ist einfach nur ein guter Freund der Familie und …» Sie geriet ins Stocken, denn offenbar wurde ihr klar, wie unsinnig dieses Argument war. Sie hatte schließlich abgelehnt, sein Mailehen zu werden, weil niemand sie nur für Freunde halten würde. «Na ja, vielleicht … Glaubst du wirklich, er hat so ernsthafte Absichten?»
Lucas zuckte mit den Achseln. «Es würde mich nicht wundern. Ihr zwei gebt das perfekte Paar ab – und er ist eine gute Partie.»
«Ich weiß.»
«Wer ist eine gute Partie?»
Peter von Werdt war hinter Lucas aufgetaucht, so als hätte er gewittert, dass von ihm die Rede war. Dieses leidige Talent hatte er schon immer besessen. Lucas drehte sich langsam zu ihm um und musterte ihn mit neutraler Miene – so hoffte er wenigstens. «Du, wer sonst? Oder soll ich Madlen jemand anderen anempfehlen?»
Peter von Werdt, groß, schwarzhaarig und vom Herrgott mit geradezu anstößig ebenmäßigen Gesichtszügen versehen, lächelte mit einer Spur Ingrimm in den Augen. «Untersteh dich, Cuchenheim. Nicht, dass ich Angst vor Konkurrenz hätte, aber es lebt sich so viel leichter ohne, nicht wahr?» Er wandte sich dem Mädchen zu. «Guten Tag, Madlen. Wie geht es dir? Du bist wie immer eine Augenweide. Dieses Kleid steht dir ausnehmend gut.»
«Danke sehr.» Madlen senkte geschmeichelt den Kopf. «Mir geht es ausgezeichnet.» Ihr Blick fiel auf die Ledermappe, die von Werdt bei sich trug. «Bist du auf dem Weg zu meinem Vater? Er ist drinnen in seinem Kontor.»
«Gut, ich will ihm die Abschriften der letzten beiden Ratssitzungen bringen. Geht es ihm nach dieser scheußlichen Erkältung wieder besser?»
«Ja, glücklicherweise hat er sie endlich überstanden.»
«Sehr schön.» Mit einem fragenden Blick wandte von Werdt sich an Lucas. «Entschuldige, wolltest du auch zu Thynen? Ich will mich nicht vordrängen.»
Fast hätte Lucas mit den Zähnen geknirscht. Als ob er einen Grund gehabt hätte, den reichen Tuchhändler und Ratsherrn Gerlach Thynen aufzusuchen. «Nein, von Werdt, geh nur. Ich bin rein zufällig hier vorbeigekommen und habe Madlen mit einem Schwatz von ihren Pflichten abgehalten.»
«Soso.» Von Werdt wandte sich mit einem Stirnrunzeln ab. «Nun gut, dann will ich mal reingehen.» Er hielt inne und lächelte Madlen traulich zu. «Ich hoffe, du hast für die Mailehenversteigerung dein schönstes Kleid herausgelegt. Ich möchte, dass du an dem Abend besonders hübsch aussiehst, damit ich mit dir angeben kann.»
«Oh, ja, natürlich.» Madlen nickte verlegen. «Ich freue mich schon. Das wird bestimmt sehr nett.»
«Und feuchtfröhlich», fügte Lucas trocken hinzu. «Bring sie bloß vor Mitternacht nach Hause und halte sie vom Bierbrunnen fern.»
«Ich trinke doch gar kein Bier!»
Madlens empörte Miene reizte Lucas zum Lachen. «Noch nicht. Aber wer weiß, was passiert, wenn dich mal der Übermut reitet.»
«Ich werde nie übermütig», widersprach das Mädchen erneut.
Lucas blinzelte schelmisch. «Pass auf, was du sagst, sonst versteht jemand diese Aussage noch als Herausforderung.»
«Hör auf mit dem Blödsinn!» Madlen schlug nach seiner Hand, als er versuchte, noch einmal eine ihrer Locken zu erhaschen.
«Wie du wünschst.» Betont fröhlich trat Lucas den Rückzug an, denn von Werdts Miene hatte sich zusehends verfinstert. «Ich muss weiter.»
Von Werdt nickte. «Du hast sicher noch irgendwo Unruhe zu stiften.»
«Allerdings. Also auf bald, Madlen, und viel Spaß bei der Versteigerung.» Er zwinkerte ihr zu. «Auch wenn du die typische Aufregung ja gar nicht ausstehen musst, weil dein von Werdt dich schon freigekauft hat. Das hast du doch, nicht wahr?»
«Natürlich. Ich komme gerade von dort.»
Lucas grinste von Werdt zu. «Hoffentlich hast du ordentlich was springen lassen.»
Von Werdt straffte die Schultern und richtete sich zu seiner vollen Größe auf, womit er durchaus respekteinflößend wirkte. «Ich habe einen angemessenen Preis bezahlt.»
«Der Reih wird es dir danken.»
«Bist du nicht zum Knuwelshalfen ernannt worden?» Von Werdt zog spöttisch eine Augenbraue hoch. «Dann darfst du dich dieses Jahr um die Sitzengebliebenen und die Mauerblümchen kümmern.»
«Ich habe dankend abgelehnt.» Lucas nickte Madlen noch einmal zu und wandte sich zum Gehen, blieb aber abrupt stehen, als er die beiden städtischen Büttel auf sich zukommen sah, gefolgt von seinem Onkel, dem Bürgermeister Heinrich Averdunk, und einigen neugierigen Nachbarn und Gaffern.
«Madlen? Madlen!» Anne-Maria Thynen, Madlens Mutter, war in der Haustür erschienen. «Wo bleibst du denn bloß so lange? Wir brauchen die Kräuter und …» Verblüfft stockte sie, als sie Lucas entdeckte. «Was treibst du denn hier?» Ohne auf seine Antwort zu warten, richtete sie ihren Blick als Nächstes auf von Werdt. «Und der liebe Peter ist auch hier! Na, das ist aber eine Überraschung. Guten Tag. Geht es dir gut? Na, bestimmt, denn du siehst so schneidig aus wie immer. Willst du zu meinem lieben Thynen? Er sitzt in seinem Kontor und brütet über seiner Korrespondenz. Dein Besuch wird ihn ganz bestimmt freuen.»
«Ich wollte in der Tat zu ihm, Frau Thynen. Und danke der Nachfrage, es geht mir ausgezeichnet. Wie sollte es das auch nicht in Gegenwart dieser zauberhaften jungen Dame und ihrer hübschen Mutter.»
Lucas verdrehte innerlich die Augen über so viel Schmeichelei, war aber abgelenkt, weil die Büttel immer näher kamen und sein Onkel heftig gestikulierend auf sie einredete.
«Ach, du bist ja so ein Charmeur!» Madlens Mutter lachte geschmeichelt und strich beiläufig über ihren gewölbten Leib. «Aber übertreib bitte nicht so. Ich bin dieser Tage alles andere als hübsch anzusehen. Das Kind trägt sich von Tag zu Tag schwerer. Mutter Amalie, die Hebamme, sagt, das sei ein gutes Zeichen dafür, dass es diesmal ein Sohn wird.»
«Ich bin vollkommen sicher, dass der Herrgott Euch einen Jungen schenken wird.» Peter von Werdt lächelte ihr herzlich zu, wurde dann aber ebenfalls auf die näher kommenden Männer aufmerksam.
«Da ist er!», schrie eine ältliche Frau, die den Bütteln folgte. «Da, bei Thynens im Hof!» Sie deutete mit dem ausgestreckten Finger auf Lucas. «Schnappt ihn euch, den Unhold, bevor er flieht!»
Lucas runzelte die Stirn. Was machten die Leute denn für ein Gewese wegen eines simplen Streichs? Mit einem unguten Gefühl trat er auf die Männer zu. «Stimmt etwas nicht, Onkel Averdunk? Gibt es ein Problem?»
«Ja, verdammt.» Heinrich Averdunk wischte sich mit dem Ärmel seines Ratsherrenmantels über die Stirn. In seinem Alter und mit seinem nicht unerheblichen Wanst war es ihm offensichtlich schwergefallen, mit den Bütteln mitzuhalten. «Was in drei Teufels Namen hast du diesmal wieder angestellt?»
Ehe Lucas antworten konnte, traten die beiden Büttel auf ihn zu und ergriffen ihn bei den Armen. «Lucas Cuchenheim, Ihr seid verhaftet.» Der eine Büttel, Lutter Reitz, schnallte schwere eiserne Handschellen von seinem Gürtel ab und versuchte, sie Lucas anzulegen. «Ihr werdet beschuldigt, Veronica, die Tochter des Schusters Henns Klötzgen, mit falschen Versprechungen zu einem heimlichen Stelldichein im Wald verführt und dann gegen ihren Willen entehrt zu haben.»
«Was?» Schockiert starrte Lucas den Mann an und vergaß darüber, sich gegen die Handschellen zur Wehr zu setzen.
«Verleumdung!», schimpfte sein Onkel indes und gestikulierte wieder wild. «Das ist doch alles an den Haaren herbeigezogen. Ich verlange …»
«Das Gesetz schreibt vor, dass wir Lucas Cuchenheim festsetzen, damit die Schöffen ihn verhören können», unterbrach Reitz ihn. «Er wird einen Prozess bekommen.»
«Lucas?» Madlen starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Das Entsetzen war ihr deutlich anzusehen, und sie bemerkte nicht einmal, dass sie ihn in aller Öffentlichkeit beim Vornamen genannt hatte, obwohl sich das eigentlich nicht gehörte. Nicht einmal ihre Mutter sprach ihren Vater in der Öffentlichkeit vertraulich mit dem Vornamen an.
Lucas schüttelte ungläubig den Kopf, dann blickte er auf seine gefesselten Hände. «Das ist ein Irrtum. Ich habe mit Veronica Klötzgen nichts zu tun.»
«Das werden die Schöffen schon herausbekommen», beschied ihn der Büttel.
«Schmeißt ihn ins tiefste Gefängnisloch!», schrie jemand aus der Menschenmenge. Die Leute waren den Bütteln nicht in den Hof gefolgt, sondern drängten sich auf der Straße.
«Büßen soll er für seine Missetaten», kam es von einem anderen.
«Das Mädchen ist für alle Zeiten entehrt! Den Tod hat er dafür verdient, der Unhold. Hängt ihn auf!»
«Ruhe!» Reitz hatte eine laute, unangenehm krächzende Stimme, die ihre Wirkung nicht verfehlte. «Niemand wird aufgehängt, bevor ihm nicht der Prozess gemacht wurde.»
«Dann bringt ihn endlich vor Gericht!»
«Nun mal ganz ruhig.» Peter von Werdt trat auf den Büttel und den aufgeregten Bürgermeister zu. «Was genau ist denn geschehen?»
Reitz, der von Werdt und dessen Vater, einen angesehenen Ratsherrn und Freund des Vogtes, natürlich gut kannte, antwortete bereitwillig: «Der Vater von Veronica Klötzgen hat für sie Anklage erhoben, nachdem sie ihm von der Ungeheuerlichkeit erzählt hat. Es ist schon etwas her, denn sie hat sich aus verständlichen Gründen geschämt, jemandem davon zu erzählen. Nun aber ist sie, bestärkt durch den Zorn ihres Vaters, bereit, gegen Cuchenheim auszusagen.»
«Ich habe Veronica nicht angefasst.» Lucas bemühte sich um einen ruhigen Ton, obgleich ihn der Schreck über die Situation ebenso gepackt hatte wie der Zorn über diese infame Anschuldigung. «Das letzte Mal habe ich sie vor vielleicht zwei Wochen gesehen, und da habe ich sie allenfalls ein wenig geneckt.»
«Ihr gebt also zu, Euch mit ihr getroffen zu haben.» Der Büttel blickte ihn scharf an.
«Nicht in dem Sinne, wir Ihr es mir vorwerft, und ganz sicher habe ich sie nicht entehrt.»
«Sie schwört, dass Ihr es getan habt, noch dazu gegen ihren Willen. Es gibt Zeugen, deshalb werdet Ihr in den Baseller Turm gebracht und dort in einer Gefängniszelle verbleiben, bis Euch der Prozess gemacht wird.»
«Ja, sperrt ihn endlich ein, den Schweinepriester!»
«Büßen soll er!»
«Die Höchststrafe hat er verdient!»
Immer lauter wurden die Rufe und Schreie der aufgebrachten Menschen, sodass der Büttel sich erneut gezwungen sah, für Ruhe zu sorgen.
«Bestimmt handelt es sich um einen Irrtum.» Peter von Werdt blickte besorgt von Lucas zu der Menschenansammlung und dann zu Madlen, die ganz bleich geworden war. Er griff nach ihrem Ellenbogen. «Komm, Madlen, geh mit deiner Mutter ins Haus, das hier ist nichts für dich. Es wird sich sicher bald aufklären.»
«Nein, lass mich.» Unwirsch schüttelte Madlen seine Hand ab. «Das ist doch alles ein großer Irrtum, oder nicht?» Ihr Blick glitt hektisch zwischen den Bütteln, seinem Onkel und den Menschen auf der Straße hin und her. «Lucas würde niemals … Er ist ein Schelm, aber so etwas Schreckliches würde er doch nicht tun. Das würdest du doch nicht?» Beinahe flehentlich sah sie Lucas an.
«Nein, natürlich nicht.» Allmählich brach Lucas der Schweiß aus. Madlens ängstlicher Blick schnitt ihm mindestens ebenso schmerzhaft ins Herz wie sein eigenes Entsetzen. «Wie ich schon sagte, ich habe Veronica nicht angefasst. Niemals. Warum sie das behauptet, ist mir ein Rätsel.»
«Komm, Madlen, Peter hat recht, wir sollten ins Haus gehen.» Anne-Maria Thynen, ebenfalls blass vor Schreck, nahm die Hand ihrer Tochter und zog sie mit sich in Richtung Haustür.
«Was geht denn hier draußen vor?» Gerlach Thynen trat aus dem Haus, noch bevor die beiden Frauen den Eingang erreicht hatten. Der Blick des schlanken, fast hageren Mannes richtete sich in ungläubigem Erstaunen auf Lucas und die eisernen Handschellen. «Ist das ein verfrühter Maispaß?»
«Leider nicht.» Der Büttel wandte sich sichtlich ungern von den erregten Menschen auf der Straße ab, denn sobald er das tat, wurden erneut wütende Rufe laut. Sie drängten sich am Tor, und es sah so aus, als wollten sie im nächsten Moment in den Hof einfallen. «Verzeiht bitte die Störung, Herr Thynen. Wir tun bloß unsere Arbeit.» Er winkte dem zweiten Büttel zu. «Karl, geh vor und mach uns den Weg frei. Der Gefangene soll heil im Gefängnisturm ankommen.»
«Er soll überhaupt nicht in den Turm gebracht werden.» Wütend rang sein Onkel die Hände. «Diese Anklage ist an Lächerlichkeit nicht zu überbieten! Lucas mag ja nicht der bravste Kerl innerhalb unserer Stadtmauern sein, aber solch eine Anschuldigung ist nichts anderes als infame Verleumdung!»
«Wie gesagt, Herr Bürgermeister, es gibt Zeugen», erklärte Reitz geduldig. «Andernfalls hätte das Schöffengericht nicht seine Verhaftung veranlasst.»
«Wer sind denn diese Zeugen und was behaupten sie, gesehen zu haben?» Gerlach Thynen trat noch weiter auf den Hof. Seine Frau und seine Tochter blieben hinter ihm zurück.
«Das ist nichts, was wir auf offener Straße besprechen dürfen.»
«Verleumderisches Pack, allesamt!», brüllte Averdunk, dem offenbar allmählich die Nerven durchgingen.
«Beherrscht Euch.» Thynen maß ihn mit einem bezeichnenden Blick. «Es führt zu nichts, wenn Ihr Euch derart ereifert.» Eingehend und streng musterte er Lucas. «Du sagst, du hast dir nichts zuschulden kommen lassen?»
Lucas nickte. Ihm war inzwischen mehr als nur mulmig zumute. «Ja, Herr Thynen, das sage ich, und dabei bleibe ich.»
«Lügner! Lügner, vermaledeiter! Ich bringe dich eigenhändig um!» Ein gedrungener Mann mit Vollbart und schütterem schwarzem Haar drängte sich durch die Menge, stürmte durch das Tor und hätte sich auf Lucas gestürzt, wenn Karl ihn nicht zurückgehalten hätte. «Loslassen! Der Kerl hat meine Tochter entehrt. Ich drehe dir den Hals um, du Drecktier!»
«Haltet ein, Henns Klötzgen!» Reitz stieß den erregten Mann unsanft vor die Brust. «Ihr habt hier nichts zu suchen. Lasst uns unsere Arbeit tun.»
«Aber er hat meine Tochter vergewaltigt. Dafür soll er in der Hölle braten, und ich will ihn persönlich dorthin schicken!»
«Ich kann Euren Zorn verstehen, aber nicht Ihr bestimmt die Strafe für seine Missetat, sondern das Schöffengericht und der Vogt.»
«Komm endlich ins Haus, Madlen!» Lucas drehte den Kopf, als er die strenge Stimme von Anne-Maria Thynen vernahm. Madlen hörte jedoch nicht auf sie, sondern entzog sich ruckartig ihrem Griff und rannte an die Seite ihres Vaters. «Bitte, das ist doch alles nicht wahr. Vater, Ihr müsst etwas unternehmen. Lucas Cuchenheim würde doch niemals etwas so Schreckliches tun.»
«Ach nein?» Klötzgen warf ihr geradezu mörderische Blicke zu. «Hat er Euch vielleicht auch schon eingewickelt und um Eure Ehre gebracht, Mädchen? Wie könnt Ihr jemanden wie ihn verteidigen?»
Madlen wurde noch blasser und starrte den Mann fassungslos an. «Lucas ist …» Sie verstummte unsicher, fuhr dann aber fort: «Lucas ist mein Freund.» Ihre Stimme schwankte. «Ein guter Freund, schon solange ich denken kann. Ich glaube nicht, dass er zu so etwas in der Lage …»
«Ihr glaubt es nicht?», unterbrach Klötzgen sie mit überkippender Stimme. «Dann wartet, bis Ihr und alle Welt hört, was meine Tochter aussagt. Ich will, dass Cuchenheim büßt für das, was er ihr und unserer Familie angetan hat. Jawohl, büßen soll er, und wenn ich ihn eigenhändig am nächsten Baum aufknüpfen muss.»
«Madlen, geh mit deiner Mutter ins Haus.» Gerlach Thynen legte seiner Tochter eine Hand auf die Schulter.
«Aber Vater, jemand muss doch …»
«Ich werde die Büttel und den Bürgermeister begleiten.» Thynen nickte Averdunk zu. «Gemeinsam werden wir der Sache schon auf den Grund gehen.»
«Nun komm endlich.» Die Mutter war erneut neben Madlen getreten und zerrte sie diesmal energisch und äußerst unsanft mit sich ins Haus. «Das ist nichts für ein unbescholtenes Mädchen. Dein Vater wird sich schon kümmern.»
«Ich will aber nicht, dass Lucas ins Gefängnis gebracht wird», protestierte Madlen eigensinnig. «Er hat nichts getan, das weiß ich.»
«Schon gut, Madlen.» Nun mischte sich auch von Werdt ein, ging zu Madlen und lächelte ihr beruhigend zu. «Ich werde mit deinem Vater gehen. Wir sorgen schon dafür, dass alles aufgeklärt wird.»
Madlen zögerte, entspannte sich dann aber etwas. «Ganz sicher? Versprochen?»
Von Werdt nickte ihr zu. «Versprochen.»
Lucas atmete auf, als das Mädchen sich schließlich doch von ihrer Mutter ins Haus führen ließ. In der Haustür drehte sie sich noch einmal kurz um, und ihre Blicke trafen sich. Ein Stich durchfuhr ihn, überraschend heftig. Doch er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, warum ihn Madlens ängstlicher und zugleich so ehrlich von seiner Unschuld überzeugter Blick derart berührte.
«Los jetzt, bewegt Euch.» Die beiden Büttel postierten sich vor und hinter ihm, und zwischen den Menschen tauchten plötzlich noch weitere Gerichtsknechte auf, die dafür sorgten, dass die Leute Abstand hielten. Harsch wurde Lucas vorangetrieben und hörte hinter sich seinen Onkel, Gerlach Thynen und Peter von Werdt leise und aufgeregt miteinander sprechen.
Alles kam ihm unwirklich und wie ein böser Traum vor, doch als sich nur wenig später die Tür der Gefängniszelle mit einem lauten Knall hinter ihm schloss und der Riegel mit einem metallischen Knirschen vorgeschoben wurde, war ihm klar, dass er aus diesem Albtraum wohl nicht so rasch erwachen würde.