A Storm Between Us

Nina Bilinszki

A Storm Between Us

Roman


Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Über Nina Bilinszki

Nina Bilinszki ist mitten im Ruhrgebiet aufgewachsen, ehe es sie 2009 ins Rhein-Main-Gebiet zog. Bücher begleiten sie dabei schon ihr ganzes Leben, und auch das Schreiben ist inzwischen nicht mehr aus ihrem Leben wegzudenken. Wenn sie sich nicht gerade neue Geschichten ausdenkt, ist sie meist in der Natur anzutreffen, wo sie ihren Labrador-Mischling über die Felder scheucht.

Triggerwarnung - Hinweis

Liebe Leser*innen,

 

bei manchen Menschen lösen bestimmte Themen ungewollte Reaktionen aus. Deshalb findet ihr am Ende des Buches eine Triggerwarnung.

 

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.

 

Wir wünschen euch gute Unterhaltung mit A Storm Between Us.

 

Nina und der Knaur Verlag

Für die PJs

Alex, Anabelle, Ava, Bianca,

Klaudia, Laura, Laura (Jesus),

Marie, Nicole und Tami.

Danke, dass ihr mich nehmt,

wie ich bin.

Ich liebe euch!

Kapitel 1

Mia

Ich hastete durch die leeren Gänge der Wirtschaftsfakultät zu dem Raum, in dem meine erste Vorlesung stattfand. Meine Schritte hallten unnatürlich laut von den Wänden wider, und mein keuchender Atem war meine einzige Begleitung. Außer mir hielten sich kaum Studierende auf den Fluren auf. Die meisten waren schon in ihren Vorlesungen, und es war noch zu früh für welche, die hier in ihren freien Stunden abhingen. Es hätte gespenstisch auf mich wirken können, wie der Beginn eines Horrorfilms, doch ich war jemand, der ohnehin lieber allein war.

Außerdem hatte ich gerade andere Sorgen.

Wie hatte ich nur verschlafen können? Ausgerechnet heute, da wir unsere Präsentationen vortragen mussten.

Das war mir noch nie passiert. Normalerweise war ich immer pünktlich. Ich wusste nicht einmal, ob ich meinen Wecker überhört, ihn im Halbschlaf ausgestellt oder ihn gestern Abend gar nicht eingeschaltet hatte. Was es auch war, es änderte nichts an der Tatsache, dass ich zu spät war. Viel zu spät. Hoffentlich hatte Mrs Greene, meine Dozentin in Marktforschung und Statistik, noch nicht begonnen.

Ich schlitterte um die letzte Ecke und stieß einen leisen Fluch aus, als ich die Tür zu meinem Raum bereits geschlossen vorfand. Zwei Sekunden gönnte ich mir, um mich zu sammeln und meine Atmung unter Kontrolle zu bekommen, dann drückte ich die Klinke hinunter. Möglichst geräuschlos schlüpfte ich hinein und ging an der Wand entlang zu meinem Platz in der letzten Reihe.

»… Sie alle haben Ihre Vorlagen rechtzeitig eingereicht, und ich werde Sie nacheinander aufrufen, damit Sie sie vortragen können. Jede und jeder von Ihnen hat zehn Minuten für die Präsentation und um danach Fragen zu beantworten. Ich hoffe, Sie haben alle geübt, um innerhalb der vorgegebenen Zeit zu bleiben, denn dann werde ich abbrechen – und wer nicht fertig ist, wird eine unvollständige Präsentation vorgetragen haben.«

Ein kollektives Murmeln ging durch die Menge der Studierenden, und Mrs Greene warf mir einen missbilligenden Blick zu, ohne ihre kleine Rede zu unterbrechen. Unpünktlichkeit fand sie respektlos, weshalb ich mir gar nicht erst die Mühe machte, ihr eine Erklärung liefern zu wollen. Wenigstens war heute Freitag und damit fast Wochenende. Das war das einzig Positive an meiner Situation.

»Die Eiskönigin ist zu spät«, raunte mir Madison im Vorbeigehen zu. Laut genug, damit ich es mitbekam, aber so leise, dass Mrs Greene sie nicht verstehen konnte. Ihre Sitznachbarinnen kicherten hämisch, wofür ich nur ein müdes Augenrollen übrighatte. Madison und ihre Freundinnen hatten es vom ersten Tag an auf mich abgesehen. Sie waren zu den meisten unfreundlich, aber auf mich hatten sie sich besonders eingeschossen. Mit meinen dunklen Klamotten, die nie eng saßen, stach ich schon auf den ersten Blick aus der Gruppe meiner Kommilitoninnen heraus. Dass ich mit niemandem aktiv das Gespräch suchte, machte mich noch sonderbarer. Doch was Madison vermutlich am meisten störte, war, dass sie mir mit ihren spitzen Bemerkungen keine Reaktion entlocken konnte. Dass sie mich die Eiskönigin nannte, war noch eine ihrer netteren Bezeichnungen. Ihr Repertoire war umfassend und einfallsreich, aber egal, was sie mir an den Kopf warf, ich hielt mein Gesicht so ausdruckslos wie möglich.

Nichts, was sie sich ausdenken kann, ist so schlimm wie das, was ich mir selbst sage.

Etwas in mir zog sich schmerzhaft zusammen, und ich schob diesen Gedanken ganz weit weg, während ich auf meinen Platz rutschte. Joan schenkte mir ein schüchternes Lächeln, das ich jedoch nicht erwiderte. Nach über einem halben Jahr hatte sie es immer noch nicht aufgegeben, sich mit mir anfreunden zu wollen. Als ich mich von ihr abwandte, konnte ich regelrecht spüren, wie ihr Lächeln in sich zusammenfiel. Für einen Moment schloss ich die Augen, weil meine Fassade zu bröckeln drohte. Manchmal war es unheimlich schwer, sie aufrechtzuerhalten. Joan war ein nettes Mädchen, sie hatte diese Behandlung nicht verdient. Aber es war besser so. Nicht nur für mich, sondern auch für alle anderen.

Ich zog Block und Bleistift aus meiner Tasche, behielt meine Jacke aber an. Draußen war es eiskalt gewesen, und obwohl ich den Weg hierher gerannt war, war die Kälte durch meinen ganzen Körper gedrungen.

Ich studierte Business Management mit Nebenfach Gesundheitsmanagement, und in unseren Vorträgen für heute ging es um den Wandel und die Bedeutung von Start-up-Unternehmen.

Mrs Greene rief Madison nach vorne. Sie warf ihre blonden Haare über ihre Schulter und stolzierte zu unserer Dozentin, die ihr lächelnd eine Hand auf die Schulter legte. »Madison hat die mit Abstand beste Präsentation eingereicht«, sagte Mrs Greene an die Klasse gewandt. »Schaut euch genau an, wie sie die Aufgabe strukturiert hat. Von ihr könnt ihr noch etwas lernen.«

Madison räusperte sich und setzte ein falsches Lächeln auf. Sobald Mrs Greene die erste Folie an die Wand warf, begann sie zu reden. »Meine Aufgabe war der strukturelle Wandel in Silicon Valley …«

Ich blendete sie aus und holte mein Notizbuch aus meiner Tasche. Nachdem ich gestern das neue Album von WayV, einer K-Pop-Untergruppe von NCT, angehört hatte, hatte ich mir Notizen dazu gemacht, die ich jetzt in eine verständliche Form bringen musste, um den Post in meinem Blog veröffentlichen zu können. Der Blog war meine Flucht aus der Realität, seit ich mein Studium am LaGuardia Community College begonnen hatte. Er gab mir nicht nur etwas zu tun, durch ihn hatte ich mir auch eine Followerschaft aufgebaut, dank der ich mich weniger allein fühlte. Der Blog half mir an den schwierigen Tagen, nicht wieder in alte Muster zu verfallen.

Eigentlich hatte ich den Post gestern schon veröffentlichen wollen, und ich hatte bei Instagram auch schon einige Nachfragen erhalten, wo die Albumbesprechung blieb. Ein Seufzen unterdrückend, antwortete ich ihnen kurz und erstellte zudem eine Story, dass der Blogpost am Nachmittag folgen würde, um weitere Fragen zu verhindern. Ich versuchte wirklich, meinen Posting-Rhythmus einzuhalten, immerhin hatte ich meine dreißigtausend Follower nicht durch Schludrigkeit erhalten. Aber manchmal kamen unvorhergesehene Dinge dazwischen – wie die K-Drama-Serie, von der ich mich gestern Abend nicht hatte trennen können. Eigentlich hatte ich nur kurz in die erste Folge reinschauen wollen, war dann aber daran hängen geblieben und hatte den Laptop erst nach eins ausgeschaltet – der Grund, der zu meinem Zuspätkommen geführt hatte.

Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen, das ich sofort zurückdrängte. Niemand sollte mich lächeln sehen. Vor allem nicht in Gedanken versunken. Erst recht nicht die Leute in meinen Vorlesungen. Diesen Teil von mir hatte ich zurückgelassen, als ich Seattle den Rücken gekehrt hatte. Die fröhliche, draufgängerische Mia, die an der Highschool beliebt gewesen war und viele Freunde gehabt hatte, gab es nicht mehr. Sie hatte mir und anderen nur Unglück gebracht, und ich wollte nie wieder für etwas Ähnliches verantwortlich sein.

Es ist alles deine Schuld.

Ich zwang mich mit aller Macht dazu, nach vorne zu sehen und mich doch auf die Präsentationen zu konzentrieren. Madison war gerade fertig und ging sichtlich selbstzufrieden zu ihrem Platz zurück. Ihren herausfordernden Gesichtsausdruck ignorierte ich geflissentlich.

Aber natürlich rief Mrs Greene als Nächste mich nach vorne. Ich unterdrückte ein Seufzen, zog meine Mappe aus meiner Tasche und stellte mich vor die Klasse.

 

Zurück im Wohnheim, warf ich meinen Rucksack in die Ecke und setzte mich an den Schreibtisch. Mein Zimmer, das ich mir mit einer Mitbewohnerin teilte, sah aus wie das vieler anderer zwanzigjähriger Frauen. Über meinem Bett hingen einige Poster von BTS, NCT und Jungkook. K-Pop war seit einigen Jahren meine Leidenschaft. Seit ich zum ersten Mal auf YouTube ein Video von BTS gesehen hatte, war es um mich geschehen gewesen. Obwohl ich kein Wort von dem verstand, was sie sangen, liebte ich die Musik, die Tänze und wie viel Gefühl sie mit ihrer Stimme rüberbringen konnten. Von BTS war es dann nicht weit zu all den anderen Bands gewesen, die am K-Pop-Himmel nur darauf gewartet zu haben schienen, von mir entdeckt zu werden. Unweigerlich war ich danach bei K-Drama-Serien gelandet und hatte begonnen, alles in mich aufzusaugen, was ich über Korea und seine Leute erfahren konnte.

Das war auch der Grund, warum ich meinen Blog eröffnet hatte. Auch wenn ich nach wie vor keine Korea-Expertin war, versuchte ich, in jeden Beitrag etwas einfließen zu lassen, was Land und Leute ausmachte. Diese Liebe zum Detail war es, die mir nicht nur in kürzester Zeit viele Follower geschenkt, sondern mich auch mit Gleichgesinnten zusammengebracht hatte. Leute, die meine Leidenschaft teilten und auf der ganzen Welt verstreut waren, doch – durchs Internet vereint – sich gar nicht so weit weg anfühlten. Ich wüsste nicht, was ich in den vergangenen zwei Jahren ohne sie getan hätte.

Die Zimmerseite meiner Mitbewohnerin Kady sah auf den ersten Blick völlig anders aus, bei näherer Betrachtung dann aber doch sehr ähnlich. Sie war ebenfalls musikverrückt, auch wenn es eher Popsängerinnen waren, die es ihr angetan hatten. Beyoncé, Christina Aguilera, Lady Gaga und Taylor Swift zierten ihre Wände und schienen sich einen stummen Wettstreit mit den Postern an meinen Wänden zu liefern.

Die Tür wurde aufgestoßen, und Kady flog regelrecht in den Raum. Rotblonde Haare fielen wellig um ihre Schultern, unzählige Sommersprossen, die selbst jetzt im Winter nicht verschwanden, bedeckten ihr Gesicht, und ihre Brille war ihr mal wieder bis zur Nasenspitze heruntergerutscht.

»Oh, du bist auch schon da.« Kady schob sich die Brille mit dem Zeigefinger hoch und schälte sich aus ihrer dicken Jacke. »Ich dachte, du hättest heute diesen Auftritt.«

»Der Auftritt ist nächsten Samstag. Ich muss gleich los zur Bandprobe, aber vorher noch diesen Blogpost fertig machen.« Ich fügte gerade die Schlagworte hinzu, über die der Post in Suchmaschinen gefunden werden konnte.

Kady trat hinter mich und sah über meine Schulter auf den Bildschirm des Laptops. »Ah, das neue Album. Ist es gut?«

»Ich liebe es. Es vereint den typischen Sound der Band mit völlig neuen Elementen.«

Kadys Blick schnellte zu meinem Regal, auf dem ein Teil meiner beachtlichen CD-Sammlung stand, und sie zog die Stirn kraus. »Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der noch immer physische CDs kauft.«

Ich zuckte mit den Schultern. Ich mochte es einfach, CDs in den Händen zu halten, durch das Booklet zu blättern, in dem die Songtexte standen und die oftmals mit Fotos gespickt waren. »Damit unterstützt man die Musikerinnen und Musiker«, sagte ich stattdessen. »An Streaming-Diensten verdienen sie ja kaum was.«

»Ich weiß.« Kady nickte. »Aber man kann die Alben ja auch downloaden. Denn sind wir mal ehrlich, es besitzt doch kaum noch jemand einen CD-Player.«

Sie hatte vollkommen recht. Auch ich hörte Musik nur noch über den Player auf meinem Handy, nichtsdestotrotz konnte ich mich nicht davon trennen, die Alben auch im Regal stehen zu haben. Es war genauso wie bei Buchliebhabern, die sich lieber eine Printversion ihres Lieblingsbuches ins Regal stellten, das sie anfassen und streicheln konnten, anstatt ein E-Book auf ihren Reader zu laden.

Doch ich sagte nichts davon zu Kady, sondern zuckte nur erneut mit den Schultern. Denn sonst hätte ich mich ihr noch weiter geöffnet, und das wollte ich nicht. Ich wollte mich nicht mit ihr anfreunden. Freundschaft war etwas, das nur Unheil brachte. Vor allem für diejenigen, die mit mir befreundet waren – das hatte ich leidvoll erfahren müssen. Daher sah ich Kady weiter möglichst teilnahmslos an, bis sie sich mit einem Seufzen abwandte und zu ihrer Zimmerhälfte ging.

Enttäuschung legte sich mit kalter Hand um mein Herz und drückte zu. Es ist besser so, redete ich mir ein, und obwohl ich das wusste, half es nicht dabei, die Empfindungen loszuwerden.

Abrupt drehte ich mich zu meinem Schreibtisch um und starrte für einige Sekunden auf den mittlerweile dunklen Bildschirm, dann machte ich mich an die Arbeit. Ich veröffentlichte den Blogbeitrag und postete zudem das Bild des hübsch gestalteten Albumcovers auf Instagram mit einer Kurzeinschätzung und dem Vermerk, dass die komplette Rezension auf meinem Blog zu finden sei.

Ein Blick auf die Uhr teilte mir mit, dass ich bald losmusste. Im Bad kämmte ich meine Haare und band sie locker im Nacken zusammen. Meinen dunklen Hoodie und die schwarze Jeans behielt ich an. Es hatte eine Zeit gegeben, zu der ich mich jetzt richtig in Schale geworfen und geschminkt hätte, doch mittlerweile fühlte ich mich so wohler. Keine freizügigen Klamotten, keine auffällige Schminke mehr. Einfach Mia. Eine andere Version als zu meiner Highschoolzeit, aber eigentlich war ich trotzdem noch ich.

Ich warf einen letzten, prüfenden Blick in den Spiegel, dann verließ ich das Bad. Meine Noten hatte ich bereits in der Tasche verstaut, und unsere Instrumente durften wir auch außerhalb der Proben in unserem Raum eingeschlossen lassen, sodass wir sie nicht zweimal die Woche über den halben Campus schleppen mussten.

»Ich bin dann weg«, sagte ich im Vorbeigehen zu Kady, die am Schreibtisch über ihre Unterlagen gebeugt dasaß.

»Viel Spaß«, murmelte sie abwesend.

Ich wand meinen Schal um meinen Hals und schlüpfte in meine Daunenjacke, dann verließ ich das Wohnheim.

Draußen wehte mir ein böiger Wind den feinen Nieselregen wie tausend kleine Nadeln ins Gesicht. Ein Frösteln durchfuhr mich. Die Temperaturen lagen nur noch knapp über dem Gefrierpunkt, und wenn man den Meteorologen glauben durfte, sollte es in den kommenden Wochen noch kälter werden und dann auch Schnee geben. Der Winter in New York hielt einige Überraschungen für mich bereit. Ich konnte den Frühling schon jetzt kaum noch abwarten.

Mit einem lautlosen Seufzen zog ich die Kapuze über meinen Kopf und beschleunigte meine Schritte. Die hohen Gebäude ragten wie Riesen neben mir in den Himmel und gaben mir ein Gefühl von Sicherheit. Im Hintergrund waren die ersten Hochhäuser zu sehen, deren obere Etagen in den tief hängenden Wolken verschwanden. Es herrschte eine angenehme Anonymität in dieser großen Stadt, nach der ich gesucht hatte, als ich hierhergeflohen war. Obwohl es bereits dunkel und ungemütlich war, begegneten mir etliche Studentinnen und Studenten auf dem Campus, doch niemand schenkte mir Beachtung. Hier war ich nur eine unter vielen, unsichtbar in der Masse, was genau das war, was ich beabsichtigt hatte.

An der musikwissenschaftlichen Fakultät angekommen, zog ich die schwere Glastür auf und trat ins Gebäude. In den Gängen war es still, und niemand war zu sehen, aber hinter einigen Türen war das leise Klimpern von Instrumenten zu hören. Wie immer erfüllte mich dieser Klang mit einer tiefen Zufriedenheit. Die Leidenschaft zur Musik war fest in meiner Seele verankert. Sie war ein Teil von mir, so wichtig wie Atmen, Schlafen und Essen. Ohne sie hätte ich die letzten zwei Jahre vermutlich nicht überstanden. Zu wissen, dass es anderen ebenso ging, selbst wenn ich sie nicht kannte und vermutlich nie mit ihnen reden würde, löste etwas in mir aus, das ich mit Worten nicht beschreiben konnte. Etwas Warmes pulsierte in meiner Brust, breitete sich in meinem ganzen Körper aus und ließ mich beschwingten Schrittes zu unserem Proberaum gehen.

Virginia und Chloe waren bereits da, als ich eintrat. Chloe hatte versucht, ihre blonde Lockenmähne mit einem Haarband zu bändigen, was ihr aber nur bedingt gelungen war. Sie saß hinter ihrem Schlagzeug und drehte ihre Sticks zwischen flinken Fingern. Virginia hängte sich gerade die Gitarre über die rechte Schulter und versuchte, ihre regenbogenfarbenen Haare unter dem Gurt zu befreien. Beide blickten auf, als sie mich hörten.

»Hey, Mia«, sagten sie fast zeitgleich. Sie waren so aufeinander eingestimmt, dass es manchmal fast gruselig war.

»Hi.« Ich senkte den Blick und schälte mich aus meiner dicken Jacke, um sie über eine Stuhllehne zu werfen. Dann ging ich zu meinem Keyboard.

Während ich meine Finger dehnte und kleine Übungen machte, um sie aufzuwärmen, unterhielten sich Virginia und Chloe über eine Serie, die sie bei Netflix gesehen hatten, von der gerade die zweite Staffel angelaufen war. Irgendein Regency-Kostümdrama, von dem ich bisher noch nichts mitbekommen hatte, weil ich zu sehr von meinen K-Dramen eingenommen war. Aber Virginia und Chloe schwärmten dermaßen von der Serie und wie toll die Schauspieler und Schauspielerinnen waren, dass ich mir vornahm, mal einen Blick in Bridgerton zu werfen.

Die Tür wurde mit Schwung aufgestoßen, und Lizzy, unsere Sängerin und Bassistin, rauschte in den Raum. Gemeinsam mit Virginia hatte sie vor einem halben Jahr den Aufruf gestartet, dass Mädels für die Frauen-Rockband Purple Dragons gesucht wurden, dem ich gefolgt war.

»Hey, Leute.« Lizzy streifte ihre Jacke ab und schob sich einige dunkle Haarsträhnen hinter das Ohr, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten. Ihre Wangen waren von der Kälte draußen gerötet, und ihre Augen funkelten vor Aufregung. »Seid ihr auch so gespannt auf nächsten Samstag wie ich?«

Virginia rieb die Hände aneinander. »Das wird so gut. Wir werden sie mit unserer Musik komplett umhauen.«

»Ugh.« Chloe verzog das Gesicht, als hätte sie in etwas Ungenießbares gebissen. »Können wir da bitte erst drüber reden, wenn es so weit ist? Ich hab echt Schiss. Da geht es zum ersten Mal um was. Was, wenn ich Schläge vergesse, komplett aus dem Takt gerate und damit das ganze Lied zerstöre?«

»Hey.« Mitfühlend legte Virginia ihrer Freundin eine Hand auf den Unterarm. »Das wird nicht passieren. Du bist so eine großartige Schlagzeugerin, du könntest unsere Lieder im Schlaf spielen. Es ist völlig normal, nervös zu sein, aber sobald du auf der Bühne bist, wirst du die Jury mit deiner Performance umhauen.«

Wenn möglich, wurde Chloes Gesichtsausdruck noch gequälter. »Erinnere mich doch nicht noch an die Jury. Das macht es noch viel realer … und Furcht einflößender.«

Lizzy lachte leise und ging auf die beiden zu. Kurzerhand zog sie Chloe in eine feste Umarmung. »Wir reden nicht mehr darüber, versprochen. Aber du wirst sehen, sobald du mit deinen Sticks hinter deinem Schlagzeug sitzt, ist die Nervosität vergessen.«

Obwohl sie noch immer in Lizzys Armen gefangen war, schüttelte Chloe den Kopf. »Die Angst geht nie weg. Sie ist ein ständiger Begleiter auf der Bühne, selbst wenn wir nur im Wohnheim spielen.«

»Trotzdem legst du jedes Mal eine perfekte Vorstellung hin.«

»Aber wird es auch nächsten Samstag so sein?« Chloe klang zweifelnd. »Ich will euch nicht diese einmalige Chance verbauen, weil ich aus dem Takt gerate.«

»Wirst du nicht.« Lizzy entließ Chloe aus ihren Armen und griff stattdessen nach ihren Händen. »Wir gewinnen zusammen, und wir verlieren zusammen. Es kann immer etwas schiefgehen, aber ich bin davon überzeugt, dass jede von uns ihr Bestes geben wird.«

Ein seltsames Ziehen machte sich in meiner Magengrube breit, denn ich konnte Chloe sehr gut verstehen. Die Angst, bei diesem wichtigen Auftritt zu versagen, begleitete auch mich seit einigen Tagen. Bisher war ich von Lampenfieber verschont geblieben, doch bei den bisherigen Auftritten im Wohnheim hatten wir auch nie etwas zu verlieren gehabt. Das war nächsten Samstag anders.

Denn dann fand ein Nachwuchswettbewerb für junge Bands statt, der gemeinsam von einem Plattenladen und einem Musiklabel organisiert wurde. Kayson, der Freund unserer Sängerin Lizzy, hatte den Plattenladen im letzten Jahr entdeckt. Der Laden organisierte in regelmäßigen Abständen Auftritte für unbekannte Bands, und bei einem davon hatten wir vor zwei Monaten mitgewirkt. Im Gegensatz zu den anderen Bands, die nur Cover gespielt hatten, hatten wir unseren einzigen eigenen Song performt. Das hatte den Veranstaltern so gut gefallen, dass sie uns zu diesem Nachwuchswettbewerb eingeladen hatten.

Doch daran wollte ich jetzt nicht denken.

Inzwischen hatte sich Chloe beruhigt, und alle standen an ihren Instrumenten.

Lizzy blickte in die Runde. »Seid ihr bereit?«

»Klar«, sagten Virginia und Chloe wie aus der Pistole geschossen, während ich bloß nickte.

Chloe gab mit ihren Sticks den Takt vor, dann stiegen wir ein. Sobald mein Keyboard die ersten Töne von sich gab, legte sich die mir bekannte Ruhe über mich. Die Musik konnte ich nicht nur hören, sie floss auch über meine Finger durch mich hindurch und resonierte in mir. Ich wurde eins mit ihr. Nicht nur mit der von mir erzeugten, sondern auch mit Lizzys Stimme, Virginias Gitarrenriffs und Chloes Schlägen. Ohne etwas sagen zu müssen, verschmolzen wir zu einer Einheit, die unser geiles Lied hervorbrachte. In Momenten wie diesen hatte ich das Gefühl, zu dieser Band, zu diesem Team zu gehören, obwohl ich ansonsten immer das Gegenteil darstellen wollte.

Wir spielten unser Repertoire durch, wobei wir unseren Fokus auf die drei Lieder legten, die wir nächsten Samstag vortragen wollten.

Kurz vor dem Ende unserer Probe ging die Tür auf, und Kayson, Lizzys Freund, schlüpfte in den Raum. Die beiden waren erst seit wenigen Monaten ein Paar, trotzdem war es nicht ungewöhnlich, dass er sie nach der Probe abholte. Was mich jedoch überraschte, war, dass Kayson dieses Mal nicht allein war.

Ein blonder Typ mit verwuschelten Haaren trat hinter ihm ein und lehnte sich gegen die Wand, die Hände tief in seinen Jackentaschen vergraben. Seine blauen Augen blitzten spitzbübisch, und mein Herz machte einen überraschten Satz. Für den Bruchteil einer Sekunde erstarrte ich, ehe ich mich daran erinnerte weiterzuspielen. Er war ohne Zweifel attraktiv, doch das allein hatte mich noch nie aus dem Konzept gebracht. Die Andeutung eines Lächelns zupfte an seinen Lippen, während sein Blick durch den Raum wanderte und auf mir zum Liegen kam. Ich spürte ihn wie eine Decke, die sich wärmend um meine Schultern legte, und mein verräterischer Puls beschleunigte sich noch mehr.

Was war das denn jetzt auf einmal?

Meine Finger spielten weiterhin die Melodie auf dem Keyboard, während der Rest von mir wie hypnotisiert von ihm war. Mittlerweile hatte er seine Jacke ausgezogen, und unter seinem eng anliegenden Shirt waren breite Schultern und ausgeprägte Armmuskeln zu erkennen. Seine Skinny Jeans zeigte, dass seine Beine ebenfalls trainiert waren und er irgendeine Art von Sport machen musste. Dass ich aber meinen Blick nicht von ihm abwenden konnte, selbst wenn ich gewollt hätte, lag an diesen atemberaubenden Augen, mit denen er mich nach wie vor ansah. Sie waren von einem hellen, aber intensiven Blau, wie der Himmel über dem Meer. Ein beständiges Funkeln lag darin, das den Wunsch in mir hervorrief, ihn anzulächeln, was ich normalerweise nie tun wollte.

Als wir unser Lied beendet hatten, konnte ich mich endlich von ihm losreißen. Mit wild hämmerndem Herz, als wäre ich einen verdammten Marathon gelaufen, drehte ich mich um und nahm mir einen Moment, um mich zu sammeln. So was war mir noch nie passiert. Nicht früher und erst recht nicht, seit ich am LaGuardia Community College war. Seitdem ich gut daran tat, mich von Männern fernzuhalten.

Nachdem sich mein Puls etwas normalisiert hatte, wandte ich mich wieder zurück, nur um gleich darauf zu erschrecken, weil er direkt hinter meinem Keyboard stand, nur einen knappen halben Meter von mir entfernt. Was wollte er von mir?

Sein Blick war offen und direkt auf mich gerichtet. »Hi, ich bin Noah.« Seine Stimme war genauso anziehend wie der Rest von ihm – warm, weich und tief –, und ich spürte, wie sich etwas in meiner Magengrube angenehm zusammenzog.

Verdammt, was sollte das? Ich reagierte doch sonst nicht so extrem auf Männer, die ich nicht kannte. Das war überhaupt nicht meine Art, vor allem nicht seit jenem Abend.

Ich schob den Gedanken weg und konzentrierte mich wieder auf mein Gegenüber. Noah legte den Kopf leicht schief und zog fragend die Augenbrauen hoch.

Oh, richtig, er wartete noch auf eine Antwort von mir.

Ich schluckte, weil meine Kehle plötzlich staubtrocken war. »Mia. Ich heiße Mia.«

Sehr eloquent.

Noah trat um das Keyboard herum, bis er direkt vor mir stand. Er berührte mich nicht, trotzdem spürte ich die Hitze, die von seinem Körper ausging, und machte automatisch einen Schritt zurück.

»Du spielst unfassbar gut Keyboard.«

Überrascht sog ich die Luft ein. Ich war mir fast sicher, dass er mit mir flirtete. Ein anzügliches Lächeln umspielte nun seine Lippen, und sein Blick huschte immer wieder über mein Gesicht, als versuchte er, jedes Detail davon in sich aufzunehmen. Während mein verräterisches Herz noch immer zu schnell schlug, als würde ihm die Aufmerksamkeit gefallen, brüllte mir eine Stimme in meinem Kopf zu, dass ich mich schnellstmöglich aus dieser Situation befreien sollte. Ich wusste, wie so etwas enden konnte, ich hatte es selbst erlebt.

Es ist alles deine Schuld.

Das ernüchterte mich so sehr, dass ich es endlich schaffte, den Blick von ihm abzuwenden. »Danke«, brachte ich irgendwie über die Lippen und machte einen Schritt zur Seite, um an ihm vorbei zu meiner Tasche gehen zu können.

Ich hörte, wie er mir folgte, und zog automatisch die Schultern hoch, als könnte ich mich so davor schützen, ein weiteres Mal von ihm angesprochen zu werden.

»Hast du Lust …«, setzte er an, wurde jedoch sofort von Lizzy unterbrochen.

»Lass Mia lieber in Ruhe. Sie mag das nicht.«

Erleichterung durchströmte mich, und ich sprach Lizzy einen stummen Dank aus, dass sie dazwischengegangen war.

»Aber ich wollte doch nur …« Noahs Blick lastete auf mir, bohrte sich regelrecht zwischen meine Schulterblätter. Ich hielt mich absolut still, wagte nicht einmal zu atmen und zwang mich dazu, mich nicht zu ihm umzudrehen, konnte aber nicht verhindern, ihn aus den Augenwinkeln zu beobachten. Ein Ausdruck der Verwirrung huschte über sein hübsches Gesicht, als sei er es nicht gewohnt, von Frauen abgewiesen zu werden.

Kayson trat an ihn heran und klopfte ihm auf die Schulter. »Was ist jetzt, Mann? Wir kommen noch zu spät, der Film fängt in ’ner Viertelstunde an.«

»Sorry.« Endlich wandte sich Noah ab, und ich konnte wieder befreiter atmen.

Lizzy verabschiedete sich mit einer flüchtigen Umarmung von Virginia und Chloe und mahnte sie an, den Raum zweimal abzuschließen, ehe sie gingen, dann verließ sie gemeinsam mit Noah und Kayson den Proberaum.

Ich wartete eine Minute, um sicher zu sein, ihnen nicht draußen ein weiteres Mal zu begegnen, ehe ich meine Tasche schulterte und mit einem gemurmelten »Tschüss« ebenfalls zur Tür hinausging.

Kapitel 2

Noah

Hey, Mann.« Theo begrüßte mich mit einem Schlag auf die Schulter, ehe er auf den Platz neben mich rutschte. Grundlagen der Sporttherapie war der einzige Kurs, den wir zusammen hatten.

Ich machte mir gar nicht die Mühe, meinen Kopf von der Tischplatte zu heben, sondern brummte nur etwas Unverständliches.

»Ich musste Noah heute wieder dazu zwingen, seinen Hintern aus dem Bett zu bewegen«, sagte Kayson gut gelaunt von meiner anderen Seite.

»So sieht er auch aus«, entgegnete Theo schmunzelnd.

Wenn ich etwas mehr Energie gehabt hätte, hätte ich ihnen die Meinung gesagt, doch dazu war ich nicht in der Lage. Es war zu früh, mein Koffeinspiegel war im Keller, und es war ganz allgemein … zu Montag. Montag war mein Hasstag, was unter anderem damit zusammenhing, dass ich jedes Wochenende zur Nachteule mutierte. Sobald ich wusste, dass ich am nächsten Morgen nicht früh aufstehen musste, blieb ich bis zum Morgengrauen wach, um dann bis mittags zu schlafen. Dass Kayson seit einem halben Jahr die Wochenenden komplett im Wohnheim seiner Freundin Lizzy verbrachte, verschärfte die Sache noch. Ich musste keine Rücksicht mehr auf einen Mitbewohner nehmen, der auch am Wochenende in aller Herrgottsfrüh aufstand, um trainieren zu gehen, weil er der Star des Basketballteams war.

Es war einfach mein natürlicher Biorhythmus: Würde man mich lassen, würde mein komplettes Leben nachts stattfinden. Doch jeden Montag rächte sich das. Ich konnte sonntags nicht einschlafen, egal zu welcher Uhrzeit ich ins Bett ging, und fühlte mich montags, als hätte mich ein Zug überrollt. Mehrfach.

Theo stupste mich mit dem Ellbogen in die Seite. »Wieso hast du diesen Kurs eigentlich gewählt, wenn du ihn doch immer verschläfst?« Das Grinsen war deutlich aus seiner Stimme herauszuhören, und ich fragte mich, wie man um diese Uhrzeit nur so ekelhaft gut gelaunt sein konnte.

»Um wach zu werden«, brummte ich. Außerdem hatte ich Sport als Zweitfach gewählt, um einen Ausgleich zu meinem Hauptfach zu haben. Wirtschaft war notwendig, weil es eins der Fächer war, mit denen ich den Sprung auf die Law School schaffen konnte. Darin musste ich meinen Bachelor machen, mit dem ich mich später an einer Law School anmelden konnte. Manchmal war der Stoff trocken und mit viel stupidem Lernen verbunden, trotzdem machte es mir auch Spaß. Sport war das komplette Gegenteil davon. Im Track-Team konnte ich mich, zusätzlich zu meinen eigenen Laufeinheiten, auspowern und alles, was ich über Regeneration und das Verhindern von Verletzungen lernte, immer auch gleich an mir anwenden. Das hieß aber noch lange nicht, dass ich deswegen montags besser drauf war.

»Wie lange habt ihr eigentlich gestern gebraucht, um das Chaos aufzuräumen?«, fragte Theo.

Mühsam richtete ich mich in eine aufrechte Position auf, bis ich ihn ansehen konnte. Am Samstag hatte es eine spontane Party im Wohnheim gegeben, nachdem Kayson mit seinem Basketballteam, den Red Hawks, einen wichtigen Sieg eingefahren hatte. »Nicht lang. Ich hab einige von den Erstis gezwungen, uns zu helfen, dann waren wir in einer halben Stunde fertig.«

Theo seufzte bedeutungsschwer. »Womit hast du sie diesmal erpresst?«

»Mit gar nichts«, sagte ich so überzeugend wie möglich.

Zweifelnd zog Theo die rechte Augenbraue hoch, und ich gab mich geschlagen.

»Ich hab ihnen angedroht, dass sie beim nächsten Mal zusehen können, wo sie ihr Bier herbekommen.«

Kayson lachte. »Du bist echt unmöglich.«

»Das gilt ja fast schon als Unterdrückung«, stimmte Theo grinsend zu.

»Hey!«, wehrte ich mich. »Das ist alles nur eure Schuld, weil ihr mich mit dem Aufräumen alleine gelassen habt, um mit euren Freundinnen zu kuscheln. Dabei haben wir die Party nur wegen euch überhaupt organisiert.«

»Eigentlich nur wegen Kayson«, korrigierte Theo mich.

»Und eigentlich bist du nur sauer, weil du die Nacht nicht mit einer Frau verbringen konntest«, fügte Kayson hinzu.

»Ich hasse euch«, grummelte ich, denn sie hatten recht. Es war viel zu lange her, seit ich das letzte Mal ungezwungenen Spaß mit einer Frau gehabt hatte. Das lag nicht nur daran, dass das Studium mir momentan alles abverlangte, sondern auch an meinem Nebenjob, durch den ich an den meisten Wochenenden arbeitete. Wenn ich doch mal freihatte, dann meistens, weil ich Kayson bei einem Spiel oder Theo bei einem Schwimmwettkampf anfeuern wollte. Wann ich das letzte Mal ausgegangen war, nur um eine Frau aufzureißen, wusste ich schon gar nicht mehr. Eigentlich hätte ich am Samstag die Möglichkeit dazu gehabt, doch nachdem Theo und Kayson recht früh mit ihren Freundinnen abgehauen waren, hatte ich mich selbst auf mein Zimmer verzogen. Irgendwie hatte mich keine der anwesenden Frauen genug gereizt, um sie anzusprechen.

Ich war erst einundzwanzig, aber manchmal fragte ich mich bereits, ob ich nicht langsam zu alt für den Scheiß wurde. Vielleicht erkannte ich aber auch, dass mir bei bedeutungslosem Sex etwas fehlte, auch wenn ich mir das noch nicht recht eingestehen wollte.

Von mir selbst genervt, rieb ich mir über die Schläfen, hinter denen es dumpf zu pochen begann. Diese Grübeleien brachten mich noch um.

Theo klopfte mir auf die Schulter. »Die nächste Party kommt bestimmt.«

Ehe ich ihm antworten konnte, wurde die Tür geöffnet, und Professor Ramirez betrat den Raum. Das war mein Stichwort, um den Kopf wieder auf meine Unterarme zu betten und die Augen zu schließen.

 

Es waren drei Kaffees nötig, bis ich mich einigermaßen menschlich fühlte und klarer denken konnte. Zur Mittagspause betrat ich mit Kayson die Mensa. Der würzige Duft von zerlaufenem Käse deutete darauf hin, dass heute Pizzatag war. Mein Magen begann, so laut zu knurren, dass ich befürchtete, es könnte sogar über das Stimmengewirr hinweg zu hören sein, als wir uns am Ende der Schlange anstellten.

»Musst du heute arbeiten?«, fragte Kayson, während er seinen Blick über die Auslage gleiten ließ.

»Nein, erst am Mittwoch wieder.«

»Wollen wir dann mal wieder einen Männerabend machen? Lizzy hat heute Probe, und Avery begleitet sie. Theo und ich haben also frei.«

Ein Schnauben entwich mir. »Das klingt so, als würden sie euch zwingen, Zeit mit ihnen zu verbringen.«

Kayson verdrehte die Augen. »Du weißt, wie ich das meine. Also?«

»Klar, wieso nicht.« Seit die beiden in einer Beziehung waren, sahen wir uns deutlich weniger. Zwar verbrachten wir immer noch jeden Tag unsere Mittagspause zusammen, doch Treffen von uns Jungs ohne die dazugehörigen Freundinnen waren Mangelware geworden. Aber wann sollten wir die auch noch einplanen, wenn Theo und Kayson zusätzlich ihre Sportlerkarrieren pushten und ich an mindestens vier Abenden im Restaurant arbeiten musste? Seit vier Monaten arbeitete ich bereits im Traverna, einem italienischen Lokal nur einige Blocks vom Campus entfernt.

Wir waren an der Essensausgabe angekommen, nahmen unsere Teller entgegen und bezahlten mit der Studentenkarte, ehe wir den Tisch in der hinteren Ecke ansteuerten, an dem Theo, Lizzy und Avery bereits saßen.

»Da seid ihr ja«, begrüßte Lizzy uns und stand auf, um Kayson einen Kuss zu geben.

»Braden hat wieder überzogen«, sagte er und setzte sich neben sie.

Ich rutschte neben Theo auf den Stuhl und stellte meinen Teller vor mir ab. »Ihr habt heute Abend Ausgang, hab ich gehört?«

Mit einem breiten Grinsen sah Theo zu mir auf. »Sogar ohne Auflagen, wir können total über die Stränge schlagen.«

Ich konnte nicht anders, als in Gelächter auszubrechen. Theo und Kayson waren so auf ihre Karrieren fixiert, dass sie alles andere hintenanstellten. Sie feierten keine ausufernden Partys, schlugen sich die Nächte nicht bis zum Morgengrauen um die Ohren, und ich hatte keinen der beiden jemals so richtig betrunken erlebt. »Über die Stränge schlagen« hieß bei Theo meistens, dass wir bis Mitternacht vor meiner Playstation saßen und versuchten, bei Dead by Daylight nicht zu sterben.

Avery stimmte in mein Lachen mit ein. »Wenn ich dich nicht genau kennen würde, hätte ich jetzt Angst.«

»Irgendwann werde ich das wirklich mal machen. So besoffen nachts nach Hause kommen, dass ich meinen Namen nicht mehr weiß und das ganze Bad vollkotze«, entgegnete Theo.

»Mit irgendwann meinst du dann, wenn deine aktive Karriere vorbei ist?«, konterte Avery.

»Oder wenn ich Olympia gewinne.«

»Dann hauen wir alle gemeinsam auf den Putz.« Seit ich Theo kannte, sprach er davon, dass es sein Traum war, einmal die Olympischen Spiele im Hundert-Meter-Freistil zu gewinnen, was seine beste Schwimmdisziplin war. Sollte es wirklich dazu kommen, würde mich nichts und niemand davon abhalten, mich mit ihm bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken. Egal, wohin es mich bis dahin verschlagen haben sollte.

»Jetzt aber mal im Ernst, was macht ihr heute Abend?«, griff Lizzy unser Gespräch wieder auf.

Mein Blick schweifte von Kayson zu Theo, und wir begannen gleichzeitig zu grinsen.

»Das ist Top Secret«, sagte Kayson verschwörerisch.

»Würden wir euch das verraten, müssten wir euch töten«, fügte ich hinzu.

Avery sah ziemlich unbeeindruckt in die Runde. »Ihr werdet einfach nur zocken, oder?«

»Machen sie jemals was anderes?«, stimmte Lizzy lachend zu.

»Oder …« Kayson deutete mit dem Zeigefinger nach oben, als hätte er die zündende Idee. »Wir machen mal was ganz Wildes und gehen bei Noah im Restaurant essen.«

»Och nee«, wiegelte ich sofort ab. »Es ist mein freier Tag, den will ich nicht auch noch an meinem Arbeitsplatz verbringen.« Es war nicht so, dass ich den Job nicht mochte. Er war gut bezahlt, und ich hatte sogar die Freiheit, Schichten zu tauschen, wenn ich für Klausuren lernen musste. Außerdem war ich meinem Chef echt dankbar, dass er mich sofort eingestellt hatte, obwohl ich keinerlei Vorkenntnisse im Kellnern aufweisen konnte. Er hatte mir meine Verzweiflung, wie dringend ich den Job benötigte, wohl angesehen. Ich war stolz darauf, sagen zu können, dass ich ihm bisher keinen Grund gegeben hatte, seine Entscheidung zu bereuen – von drei kaputten Biergläsern einmal abgesehen.

Trotz alldem und obwohl das Essen dort wirklich ausgezeichnet war, wollte ich meinen freien Tag lieber anderswo verbringen.

»Wir können ja gerne was essen gehen, aber dann in einem anderen Lokal«, lenkte ich ein.

Theo zuckte mit den Schultern. »Ist mir eigentlich egal.« Er warf einen Blick auf die Uhr und fluchte. »Mist, ich muss los, mein Training fängt gleich an. Wir schreiben einfach später und entscheiden spontan, was wir machen.« Er packte seine Sachen zusammen, drückte Avery einen Kuss auf die Lippen und rauschte mit seinem Tablett davon.

»Hast du nicht heute ein Gespräch mit der Studienberatung? Ich muss da auch mal einen Termin machen.« Interessiert lehnte Kayson sich näher zu mir.

»Ja, aber erst um drei.« Theo, Kayson und ich standen kurz vor dem Ende unserer Zeit am LaGuardia und mussten uns langsam überlegen, wie es weitergehen sollte. Eigentlich wussten wir das genau. Theo war auf dem besten Weg in ein professionelles Schwimmteam, Kayson würde hoffentlich bald von einem NBA-Team gedraftet werden, und ich musste an einer weiterführenden Uni meinen Bachelor machen, um es danach auf eine Law School zu schaffen. Während die Studienberatung Theo und Kayson bei ihren Wegen nur bedingt unterstützen konnte, sah es bei mir völlig anders aus. Meinen Bachelor konnte ich zwar an den meisten Unis absolvieren, doch ich wollte nicht an irgendeine. Ich wollte auf die Columbia, die zudem eine der besten Law Schools der Ostküste hatte. Die Voraussetzungen, um dort angenommen zu werden, waren nicht nur herausragende Noten. Es gab viele Kleinigkeiten, die bedacht werden mussten – wie zum Beispiel der Studienbeitrag, wenn man kein Stipendium erhielt.

Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Eigentlich hatte ich immer gedacht, dass mein Dad meine Studiengebühren bezahlen würde, wie er es am LaGuardia ebenfalls tat. Doch seit er vor über einem halben Jahr mit seiner zwanzig Jahre jüngeren Sekretärin durchgebrannt war, war irgendwie alles anders. Er hatte Mom den Geldhahn zugedreht, weshalb ich mir den Job im Restaurant gesucht hatte, um sie und meine jüngere Schwester, die in ihrem letzten Highschooljahr war, zu unterstützen. Dad zahlte momentan zwar noch meine Studiengebühren, aber ich hatte keinen Kontakt mehr zu ihm. Ein Mal hatte ich mit Dad nach seinem Auszug noch gesprochen. Es war in einem riesigen Streit geendet, bei dem ich ihn nur angeschrien hatte, und danach war er nie mehr rangegangen. Ich war einfach so sauer auf ihn. Nicht nur, weil er wohl schon was mit seiner Sekretärin gehabt haben musste, bevor er sich von Mom getrennt hatte. Seitdem hatte er auch all die Grundsätze, die unsere Familie geprägt hatten, mit Füßen getreten. Ich verstand einfach nicht, wie er so etwas tun konnte. Natürlich war mir bewusst, dass Leute sich mit den Jahren auseinanderlebten und Beziehungen auseinandergehen konnten, aber darum ging es mir überhaupt nicht. Dass er Mom und Karla jegliche Unterstützung entzogen hatte, wog für mich viel schwerer.

Vor allem, weil er gleichzeitig weiterhin meine Gebühren für das College übernahm.

Es war nur die Spitze des Eisbergs an Verfehlungen, die er sich in den letzten Monaten geleistet hatte, und der bloße Gedanke an meinen Vater löste mittlerweile rasende Wut in mir aus. Eigentlich wollte ich von ihm gar kein Geld mehr bekommen. Ich wollte mich nicht von jemandem aushalten lassen, für den ich keinen Funken Respekt mehr übrighatte, doch genau damit stand ich vor dem nächsten Problem. Ohne Unterstützung konnte ich mir die Columbia oder eine andere Universität nur mit einem Stipendium leisten. Meine Noten waren zwar gut, aber ob sie dafür ausreichten, war fraglich. Würde ich kein Stipendium erhalten, wäre mein Traum, Anwalt zu werden, für mich gestorben, und ich hatte keinen Plan B. Ich hatte keine Ahnung, was ich ansonsten mit meinem Leben anfangen wollte, weil sich die Frage bis vor Kurzem nicht für mich gestellt hatte.

Bei dem Gespräch heute wollte ich daher zwei Dinge mit der Studienberatung klären: Welche Dokumente waren für einen Wechsel auf die Uni nötig, und welche Empfehlungsschreiben sollte ich bei meinen Dozenten anfragen? Welche Universitäten hatten eine integrierte Law School, und wie hoch wären die Kosten, die ich dafür aufbringen musste? Bei meinen bisherigen Recherchen war ich nur auf welche gestoßen, die im Jahr mehr kosteten, als der Durchschnittsamerikaner verdiente, und das würde ich mit einem Nebenjob nicht stemmen können.

Außerdem wollte ich wissen, welche Alternativen es außer Jura für mich gäbe, und zwar hier in New York. Obwohl ich Jura noch nicht aufgeben wollte, musste ich mir langsam Gedanken über einen Plan B machen. Und sollte ich diesen Weg wählen müssen, wollte ich in der Stadt, die niemals schlief, bleiben. Hier kannte ich mich aus, und ich hatte einen Job, bei dem ich auch mehr Stunden arbeiten könnte, wenn es nötig wäre.

 

Nach meinen Nachmittagsvorlesungen machte ich mich auf den Weg zur Studienberatung. Sie befand sich im Verwaltungsgebäude nahe der Bibliothek und damit am entgegengesetzten Ende des Collegegeländes. Ich zog die Mütze fest über meine Ohren und krempelte den Kragen meiner Jacke bis zur Nasenspitze hoch, ehe ich aus dem Gebäude trat. Obwohl es kalt war, herrschte Trubel auf dem Campus. Eine kleine Gruppe hatte sich auf den Wiesen rechts von mir versammelt und übte einige Streetdance Moves. Die hinter ihnen in den Himmel aufragenden Hochhäuser boten das perfekte Ambiente dafür, sodass man sich fast wie in einem Hollywoodfilm fühlte.

Als ich die Verwaltung erreicht hatte, waren nicht nur meine Zehen, sondern auch meine Fingerspitzen halb eingefroren. Weil ich bis zu meinem Termin noch zehn Minuten Zeit hatte, stellte ich mich an die Heizung, um mich notdürftig aufzuwärmen. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich eine Bewegung, die mich aufblicken ließ. Ich wusste nicht einmal, was genau es war, das meine Aufmerksamkeit auf sich zog, aber als ich erkannte, wer ein paar Meter von mir entfernt vor dem Schwarzen Brett stand, machte mein Herz einen überraschten Satz.

Mia studierte die Aushänge. Ihre schwarzen Haare waren heute offen und verdeckten wie ein Schleier einen Teil ihres Gesichts. Trotzdem wusste ich sofort, dass sie es war. Wie am Freitag trug sie schwarze Kleidung, ihre Füße steckten in gefütterten Boots, und ein endlos langer Schal war um ihren Hals gewickelt. Nur ihre Stupsnase schaute heraus, doch die war unverkennbar.

Bevor ich mich dazu entschieden hatte, sie anzusprechen, setzten sich meine Beine bereits in Bewegung.

»Hey, Mia.«

Beim Klang meiner Stimme zuckte sie erschrocken zusammen und wirbelte zu mir herum. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und etwas Verhaltenes lag darin, das mich einen Schritt zurückweichen ließ.

»Ich hab einen Termin bei der Studienberatung«, erklärte ich.

»Und du?« Ich warf einen Blick auf das Schwarze Brett, an dem überwiegend Jobanzeigen hingen. »Suchst du einen Nebenjob?«

Interessiert lehnte ich mich mit der Schulter gegen die Wand. »Warum? Kommst du mit deiner Mitbewohnerin nicht klar?«

»Doch, eigentlich schon«, sagte Mia zögerlich und zupfte eine imaginäre Fluse von ihrer Daunenjacke, den Blick auf ihre Schuhspitzen gesenkt.

»Ich würde einfach lieber alleine wohnen, das ist alles«, sagte Mia und sah nun doch zu mir auf. Unsere Blicke trafen sich, verhakten sich ineinander, und selbst wenn ich es gewollt hätte, hätte ich nicht wegsehen können. Ich las Angst in Mias dunklen Augen und fragte mich unweigerlich, wovor sie sich fürchtete. Doch darunter schimmerte noch etwas anderes. Etwas, das ich nicht benennen konnte, das aber den Wunsch in mir wachrief, es näher zu erkunden.

»Dann viel Glück«, sagte ich zu Mia. »Ich hab gehört, dass es ohne triftigen Grund nahezu unmöglich ist, ein Einzelzimmer zu bekommen.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie an mir vorbei und schnurstracks durch die breiten Glastüren hinaus ins Freie. Ich sah ihr hinterher, bis sie zwischen den anderen Studierenden verschwunden war. Warum war sie einfach abgehauen? Ich dachte, sie hätte einen Termin? War das nur ein Vorwand gewesen, um ihre Anwesenheit zu erklären, oder hatte sie es so eilig gehabt, von mir wegzukommen, dass sie lieber gleich den Rückzug antrat?

Das war auch der Grund, warum ich sie letzte Woche nach der Bandprobe angesprochen hatte. Ich hatte ausloten wollen, ob wir uns bei einem lockeren Gespräch verstehen würden, doch ich war an der harten Wand von Mias Ablehnung abgeprallt. Wie auch jetzt hatte ich diese unsichtbare Distanz zwischen uns gespürt, mit der sie mich von sich fernhielt. Warum sie das wohl tat?

Ich nickte, wie um mir meine Entscheidung selbst zu bestätigen, und ging den Gang entlang bis zum Büro der Studienberatung.