Ransom Riggs
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von
Silvia Kinkel
Knaur eBooks
Ransom Riggs wuchs in einem kleinen Fischerdorf im südlichen Florida auf, einer Region, in der sich viele Amerikaner zur Ruhe setzen. Um nicht vor Langeweile zu sterben, begann er, in Musikbands zu spielen und mit seinen Freunden Filme zu drehen. Später studierte er in Ohio und Los Angeles Literatur und Filmproduktion.
Ransom Riggs dreht heute Werbefilme für Firmen wie Absolut Vodka und Nissan und arbeitet als Drehbuchautor, Journalist und Fotograf. Mehr Informationen finden sich auf seiner Website: www.ransomriggs.com
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel "The Desolations of Devil's Acre: Miss Peregrine's Peculiar Children" bei Penguin.
Das Zitat von Rebecca Solnit stammt aus: Solnit, Rebecca: Die Kunst, sich zu verlieren. Aus dem Englischen von Michael Mundhenk. Berlin: Matthes&Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH, 2020.
Das Zitat von Ralph Waldo Emerson wurde von Silvia Kinkel ins Deutsche übertragen. Leider konnte nicht ermittelt werden, woher das Zitat stammt.
© 2021 Ransom Riggs
Published by Arrangement with FOX AND BIRD, INC
© 2021 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Gisela Klemt
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: Jack Mord / The Thanatos Archive
ISBN 978-3-426-45127-4
Für Jodi Reamer, Monsterjäger
Manchmal erinnert einen ein altes Foto, eine alte Freundin, ein alter Brief daran, dass man nicht mehr der ist, der man einmal war, denn der Mensch, der damals lebte, der dies mochte, jenes wählte, solcherart schrieb, existiert nicht mehr. Ohne es zu merken, hat man eine große Distanz durchmessen, das Fremde ist einem vertraut geworden, und das Vertraute wenn nicht fremd, so doch zumindest unbehaglich oder unbequem.
Rebecca Solnit
Die Kunst, sich zu verlieren – Ein Wegweiser
Lange Zeit ist um mich herum nur Dunkelheit, das Geräusch von entferntem Donner und das schemenhafte Gefühl, ich würde fallen. Darüber hinaus habe ich keine Existenz, keinen Namen. Keine Erinnerung. Ich bin mir bewusst, dass ich all das mal besessen habe, aber nun ist es fort, und ich bin nahezu nichts. Ein einzelnes Photon schwindenden Lichts, das um eine hungrige Leere kreist.
Jetzt dauert es nicht mehr lange.
Ich fürchte, ich habe meine Seele verloren, aber ich kann mich nicht daran erinnern, wie das geschah. Alles, was ich noch weiß, ist das langsame, reißende Krachen des Donners und mittendrin die Silben meines Namens, wie er auch immer lautete, bis zur Unkenntlichkeit gedehnt. Das und die Dunkelheit, sonst nichts, für sehr lange Zeit, bis sich ein weiteres Geräusch zu dem Donner gesellt: Wind. Und schließlich auch Regen. Da ist Wind, und Donner, und Regen, und Fallen.
Doch dann erwacht etwas zum Leben, eine Sinnesempfindung nach der anderen. Ich erhebe mich aus dem Graben, entfliehe der Leere. Mein einzelnes Photon wird zu einem blinkenden Energiebündel.
Ich spüre etwas Raues an meinem Gesicht, höre das Knarzen von Seilen. Etwas flattert im Wind. Vielleicht bin ich auf einem Boot. Gefangen im dunklen Bauch eines sturmgepeitschten Schiffes.
Blinzelnd öffne ich ein Auge. Über mir flatternde, unscharfe Konturen. Eine Reihe schwingender Pendel. Aus dem Takt geratende Uhren, überdreht, ächzend, Zahnräder, die jeden Moment brechen.
Ich blinzele, und die Pendel werden zu Körpern, die an Galgen hängen. Sie schlagen aus und winden sich. Mühsam drehe ich den Kopf. Verschwommene Formen beginnen sich aufzulösen. Grober grüner Stoff drückt gegen mein Gesicht. Die über mir tick-tackenden Körper sind jetzt sturmgebeutelte Pflanzen, die in knarrenden Weidenkörben am Dachsparren baumeln. Dahinter flattert und klappert eine Fliegengittertür.
Ich liege auf einer Veranda. Auf dem rauen grünen Boden einer Veranda.
ich kenne diese Veranda
ich kenne diesen Boden
Ein Stück entfernt endet ein regengepeitschter Rasen vor einer dunklen Wand aus geneigten Palmen.
ich kenne diesen Rasen
ich kenne diese Palmen
Wie lange bin ich schon hier? Wie viele Jahre?
die Zeit spielt mir schon wieder Streiche
Ich versuche, meinen Körper zu bewegen, kann aber nur den Kopf drehen. Meine Augen huschen zu einem Kartentisch und zwei Klappstühlen. Plötzlich bin ich sicher, dass ich auf dem Tisch eine Lesebrille entdecken würde, wenn ich meinen Körper überreden könnte, sich aufzurichten. Eine halb beendete Partie Monopoly. Ein Becher mit dampfendem, immer noch heißem Kaffee.
Jemand war gerade noch hier. Wörter wurden vor wenigen Augenblicken gesprochen. Sie hängen in der Luft, kehren als Echo zu mir zurück.
»Was für eine Art von Vogel?«
Die Stimme eines Jungen. Meine Stimme.
»Ein großer Falke, der Pfeife rauchte.« Diese Stimme ist harsch, akzentuiert. Die Stimme eines alten Mannes.
»Du musst mich für ziemlich dämlich halten«, erwidert der Junge.
»Das würde ich nie tun.«
Wieder der Junge: »Aber warum wollten dich die Monster verletzen?«
Ein Scharren, als der alte Mann seinen Stuhl zurückschiebt und aufsteht. Er sagt, er wolle etwas holen, das er mir zeigen müsse. Ein paar Bilder.
wie lange ist das her
eine Minute
eine Stunde
Ich muss aufstehen, sonst macht er sich Sorgen. Er wird denken, ich spiele ihm einen Streich, und er mag keine Streiche. Einmal habe ich mich aus Spaß im Wald vor ihm versteckt, und als er mich nicht finden konnte, wurde er so wütend, dass er rot anlief und herumbrüllte. Später erzählte er mir, dass er sich vor Angst um mich so aufgeführt hätte, aber wovor er sich fürchtete, das wollte er mir nicht sagen.
Es gießt in Strömen. Dieser Sturm ist ein wütendes, lebendiges Wesen, das einen klaffenden Riss in der Fliegengittertür hinterlassen hat, sie flattert wie eine Flagge im Wind.
irgendetwas stimmt nicht mit mir
Ich stemme mich hoch auf meinen Ellenbogen, mehr schaffe ich nicht. Auf dem Boden entdecke ich eine seltsame, schwarze Markierung. Eine verkohlte Linie um mich herum, die exakt die Umrisse meines Körpers nachzeichnet.
Ich versuche, mich so weit hochzudrücken, dass ich sitze. Schwarze Punkte flimmern vor meinen Augen.
Dann ein lautes Krachen. Gleißendes, weißes Licht.
so hell so dicht so laut
Es klang wie eine Explosion, aber es war keine, es sind Blitze, so nah, dass Blitz und Donner fast zeitgleich erfolgen.
Jetzt sitze ich, mein Herz hämmert wie verrückt. Ich halte mir die zitternde Hand vor die Augen.
Die Hand sieht merkwürdig aus. Sie ist zu groß. Die Finger sind zu lang. Schwarze Haare sprießen zwischen den Knöcheln hervor.
wo ist der Junge bin ich nicht der Junge? ich mag keine Streiche
Feine rote Striemen rund um das Handgelenk.
Handschellen an das Geländer der Veranda gekettet während eines Sturms
Ich kann den Kartentisch sehen. Er ist leer.
Kein Kaffeebecher. Keine Brille.
er kommt nicht zurück
Aber dann, wie ist das möglich, tut er es doch. Dort draußen steht er, am Waldrand. Mein Großvater. Spaziert durch das hohe Gras, den Rücken im Wind gebeugt, sein gelber Regenmantel hebt sich leuchtend von den dunklen Palmen ab. Die Kapuze hat er tief ins Gesicht gezogen, um die Augen vor dem peitschenden Regen zu schützen.
was tut er da draußen warum kommt er nicht rein
Er verharrt. Starrt hinunter auf etwas in dem viel zu hohen Gras.
Ich hebe die Hand. Rufe seinen Namen.
Er richtet sich auf, und erst dann erkenne ich es: Da stimmt etwas nicht. Seine Gestalt ist zu groß. Er geht zu geschmeidig für einen alten Mann mit arthritischen Hüften.
weil er es nicht ist
Er kommt auf mich zugelaufen, zum Haus.
das war nicht der Sturm
welche Art Monster?
gekrümmt, sich windend, grausige Wesen mit faulender Haut und schwarzen Augen
Als er die Veranda fast erreicht hat, bin ich auf den Beinen.
»Wer bist du?«, fragt er.
Seine Stimme ist ohne Modulation, angespannt. Er schiebt die Kapuze seines Regenmantels zurück.
Er ist mittleren Alters, das kantige Kinn wird durch einen gestutzten, roten Bart betont, die Augen sind hinter einer Sonnenbrille verborgen.
Die Gegenwart einer anderen Person und dazu auf zwei Füßen zu stehen, fühlt sich befremdlich an. So sehr, dass mir kaum auffällt, wie seltsam es ist, bei diesem Unwetter eine Sonnenbrille zu tragen.
Ich antworte automatisch.
»Yacob«, sage ich, aber als ich es laut höre, klingt es falsch.
»Ich bin der Makler«, sagt er, doch ich weiß, dass er lügt. »Ich bin hergekommen, um wegen des Sturms die Fenster zuzunageln.«
»Dafür ist es ein bisschen spät«, erwidere ich.
Langsam tritt er näher, als würde er sich einem scheuen Tier nähern. Er starrt auf den Brandfleck am Boden, wendet seine eisige Miene wieder mir zu.
»Du bist er«, sagt er und streift mit den Fingern den Spieltisch, während er in schweren, schwarzen Stiefeln auf mich zu stampft. »Jacob Portman.«
Mein Name. Mein richtiger Name. Etwas brodelt hoch aus der Versenkung, aus der Dunkelheit.
ein entsetzlicher Mund, geformt aus wirbelnden Wolken, donnert meinen Namen
ein Mädchen mit rabenschwarzem Haar und wunderschön neben mir schreiend
»Ich glaube, du kanntest einen Freund von mir«, sagt der Mann. In seinem Lächeln schwingt Bosheit. »Er benutzte viele Namen, aber du kanntest ihn als Dr. Golan.«
der schreckliche Wolkenmund
eine Frau krümmt sich auf dem Rasen
Mit schonungsloser Wucht schießen die Bilder in meinen Kopf. Ich weiche zurück, bis ich gegen eine Glasschiebetür stoße. Während der Mann auf mich zukommt, holt er etwas aus seiner Tasche. Ein kleines, schwarzes Gerät mit Metallspitzen an einem Ende.
»Dreh dich um«, befiehlt er.
Mir wird plötzlich klar, wie viel auf dem Spiel steht und dass ich mich verteidigen muss. Also tue ich so, als würde ich gehorchen, hebe scheinbar kapitulierend die Hände, und als er nah genug ist, schlage ich ihm mit beiden Fäusten ins Gesicht.
Er schreit auf, und seine Brille fliegt weg. Seine Augen sind weiß, ausdruckslose Kugeln, in denen Mordlust schimmert. Ein lautes Knistern, als blaue Lichtbögen zwischen den Metallspitzen seines schwarzen Gerätes flackern.
Er stürzt sich auf mich.
Ich spüre einen Schlag, ein schmerzhaftes Stechen, er tasert mich durch mein Shirt hindurch und ich stürze nach hinten gegen die Glastür. Wundersamerweise zerbricht sie nicht.
Er ist über mir. Ich höre das Knistern des Tasers, will den Mann wegstoßen, aber ich bin noch zu schwach. Ein Schmerz rast durch meine Schulter, durch meinen Kopf.
Und dann zuckt er zusammen, schreit auf und erschlafft. Etwas Warmes rinnt meinen Nacken hinunter.
Ich blute. (Blute ich?)
Der Mann greift nach etwas und rutscht von mir herunter. Das Etwas hat einen Bronzegriff und ragt gut 15 Zentimeter aus seinem Hals heraus.
Und hinter ihm ist plötzlich eine seltsame Dunkelheit, ein lebender Schatten, aus dem eine Hand hervorschnellt, sich den schweren Aschenbecher meines Großvaters schnappt und dem Mann damit auf den Schädel schlägt.
Er stöhnt und bricht endgültig zusammen. Ein Mädchen tritt aus dem Schatten heraus.
Das Mädchen – die von dem Vorher – langes, schwarzes Haar, verheddert und nass vom Regen, der lange, schwarze Mantel schlammverschmiert, große, dunkle Augen voller Angst, die forschend mein Gesicht absuchen und dann aufleuchten, als sie mich offenbar wiedererkennen. Und obwohl noch nicht alle Erinnerungsstücke wieder aufgetaucht sind, sich in meinem Kopf alles dreht, so weiß ich doch, dass das, was geschehen ist, einem Wunder gleichkommt: Wir leben und sind hier und nicht an dem anderen Ort.
mein Gott
dieses Grauen, das ich kaum in Worte fassen kann
Das Mädchen kniet jetzt neben mir, umarmt mich. Ich klammere mich an sie wie an einen Rettungsring. Ihr Körper ist so kalt, und ich spüre, wie sie zittert, während wir uns aneinander festhalten.
Ohne loszulassen, sagt sie meinen Namen. Wiederholt ihn wieder und wieder, und mit jeder Wiederholung gewinnt das Jetzt eine Unze mehr Gewicht, wird solider.
»Jacob, Jacob! Kannst du dich an mich erinnern?«
Der Mann auf dem Boden stöhnt. Die Aluminiumstäbe der Fliegengittertür ächzen, und der Sturm, dieses wütende Wetter, das wir anscheinend von einem anderen Ort mit uns hergebracht haben, stöhnt ebenfalls.
Und dann erinnere ich mich.
»Noor«, sage ich. »Noor. Du bist Noor.«
Plötzlich ist alles wieder da. Wir hatten überlebt. Waren aus Vs einstürzender Zeitschleife entkommen. Und nun befanden wir uns in Florida, auf dem grünen Kunstrasen der Veranda meines Großvaters, in der Gegenwart.
Schock. Ich glaube, ich stand immer noch unter Schock.
Wir kauerten auf dem Boden, umklammerten einander, bis das Zittern unserer Körper langsam nachließ, während der Sturm unablässig tobte. Der Mann in dem gelben Regenmantel lag da, reglos, abgesehen von dem zunehmend schwindenden Heben und Senken seines Brustkorbs. Blut tränkte den Kunstrasen um ihn herum, bildete eine klebrige Lache. Der Bronzegriff der Waffe, mit der Noor auf ihn eingestochen hatte, ragte aus seinem Hals.
»Das war der Brieföffner meines Großvaters«, sagte ich. »Und das hier war sein Haus.«
»Dein Großvater.« Sie löste sich von mir, gerade weit genug, um mich ansehen zu können. »Der in Florida gelebt hat?«
Ich nickte. Ein Donnerschlag, so laut, dass die Wände vibrierten. Noor schaute sich um, schüttelte ungläubig den Kopf. Das kann nicht real sein. Ich wusste genau, wie sie sich jetzt fühlte.
»Wie?«, fragte sie.
Ich zeigte auf die verbrannten Umrisse im Boden. »Hier bin ich aufgewacht. Keine Ahnung, wie lange ich weggetreten war. Oder welchen Tag wir haben.«
Noor rieb sich die Augen. »In meinem Kopf herrscht Chaos. Alles ist durcheinander.«
»Was ist das Letzte, woran du dich erinnerst?«
Sie runzelte die Stirn, konzentrierte sich. »Wir sind in meiner früheren Wohnung gewesen. Und dann fuhren wir irgendwohin …« Sie redete langsam, als würde sie die Einzelteile eines Traums zusammensetzen. »Wir waren in einer Zeitschleife … wir haben Vs Zeitschleife gefunden! Und wir flohen vor einem Sturm. Nein, einem Tornado.«
»Zwei Tornados, oder?«
»Und dann fanden wir sie! Stimmt doch? Wir fanden sie!« Sie umklammerte meine Hände und drückte sie fest. »Und dann …«
Ihre Hände erschlafften, ihre Miene wurde ausdruckslos. Sie öffnete den Mund, aber kein Wort kam heraus. Das Entsetzen kehrte zurück, brach über sie herein.
Und über mich.
Murnau. Mit einem Messer in der Hand auf dem Rasen über V gebeugt. Seinen Arm triumphierend emporgestreckt, als er schließlich auf den wirbelnden Strudel zulief.
Hitze strömte in meine Brust, blockierte für einen Moment meine Atmung. Noor barg das Gesicht zwischen den Knien und schaukelte vor und zurück. »O mein Gott«, stöhnte sie. »O Gott, o Gott, o Gott.« Ich fürchtete, sie würde sich vor meinen Augen auflösen oder in Flammen aufgehen oder das Licht aus dem Raum saugen.
Aber nach einem kurzen Moment hob sie ruckartig den Kopf. »Warum sind wir nicht tot?«
Unwillkürlich durchfuhr mich ein Schauer.
Vielleicht sind wir das.
Nach allem, was ich wusste, stürzte Vs Zeitschleife über uns zusammen, so wie Caul es gewollt hatte. Noor schien der einzige konkrete Beweis dafür zu sein, dass das, was ich gerade erlebte, mehr war als das letzte Aufblitzen eines sterbenden Gehirns.
Nein – ich verscheuchte diesen Gedanken –, wir waren hier und wir lebten.
»Irgendwie hat sie uns da rausgeschafft«, sagte ich. »Hierhergebracht.«
»Durch eine Art Notausgang. Einen Schleudersitz.« Noor nickte und knetete ihre Hände. »Das ist die einzige Erklärung.«
Ins Haus meines Großvaters – das Zuhause ihres Mentors, ihres Chefs. Er hatte sie ausgebildet, Seite an Seite mit ihr gearbeitet. Das ergab genügend Sinn. Was jedoch keinen Sinn ergab, war, dass hier keine Zeitschleife existierte. Wie also hatte sie es angestellt?
»Falls sie uns rausgebracht hat«, sagte Noor, »dann hat sie selbst es vielleicht auch geschafft.« Hoffnung schwang in ihrer Stimme, aber sie klang irgendwie schrill, drohte jeden Moment zu kippen. »Sie könnte hier sein. Und sie könnte noch …«
Noor brachte das Wort nicht über die Lippen. Leben.
»Er hat ihr das Herz herausgeschnitten«, sagte ich leise.
»Man kann ohne Herz leben. Für einen kurzen Moment, aber …« Noor winkte ab. Ihre Hand zitterte.
Gerade erst hatten wir angefangen, in die Realität zurückzufinden, da entglitt sie ihr schon wieder.
»Na los, komm schon, wir müssen nachsehen«, drängte sie mich mit hektischer Stimme und war bereits auf den Füßen. »Falls überhaupt eine Chance besteht, müssen wir –«
»Moment mal, wir wissen doch gar nicht, was –«
Da drinnen ist, wollte ich sagen. Auf uns wartet.
Aber Noor war bereits in das abgedunkelte Haus gestürmt.
Ich presste die Hand gegen die Hauswand und kam wackelig zum Stehen. Noor jagte mir Angst ein, aber ich durfte sie auf keinen Fall aus den Augen lassen. Sie hegte diese wilde Hoffnung, V könnte noch am Leben sein, um dadurch die Verzweiflung abzuwehren, die sie zu zerschmettern drohte. Ich fürchtete jedoch, dass die unweigerliche Enttäuschung noch niederschmetternder sein würde. Und ich konnte nicht zulassen, dass Noor Pradesh zusammenbrach.
Falls Murnaus widerliches Vorhaben geglückt war, wenn das, was vor meinen Augen in dem Tornado Gestalt angenommen hatte, real war – Cauls Gesicht inmitten der Wolkenwirbel, seine durch die Luft schneidende Stimme –, dann war er tatsächlich zurückgekehrt, dann gingen die schlimmsten Drohungen der Prophezeiung in Erfüllung. Was wiederum bedeutete, dass die gesamte Besonderenwelt im Begriff war, unterzugehen. Gott allein wusste, wozu Caul fähig war, nachdem er sich in der Bibliothek der Seelen die Gefäße mit den mächtigsten Seelen einverleibt hatte, beim Einsturz der Zeitschleife begraben wurde und anschließend wieder auferstand.
Wiedergeboren.
Ich bin der Tod, der Zerstörer der Welten.
Wie schlimm das auch immer war oder noch sein würde, eines wusste ich mit Sicherheit: Die Welt brauchte Noor Pradesh. Sie war eine der sieben. Eine der Besonderen, deren Kommen prophezeit war, die das Volk der Besonderen befreien konnte – von Caul? –, die die Tür versiegeln konnte – die Tür zu was? Zur Hölle? Und so bizarr, wie das alles klang, es war nicht bizarrer als die Teile aus der Prophezeiung des Offenbarers, die sich bereits erfüllt hatten. Ich jedenfalls hatte aufgehört, irgendetwas davon anzuzweifeln. Und auch, meinen eigenen Augen nicht zu trauen.
Das hier war kein Traum und auch nicht das letzte Fantasieren eines sterbenden Verstandes. Und dessen noch sicherer war ich, als ich über die Laufrille der Schiebetür hinweg ins Wohnzimmer trat. Das Haus war in exakt dem Zustand, wie meine Freunde und ich es verlassen hatten, als wir vor ein paar Wochen zum letzten Mal hier gewesen waren: hastig aufgeräumt und fast leer. Die Bücher, die mein Vater nicht weggeworfen hatte, standen wieder in den Regalen, der Müll war zusammengekehrt und in schwarze Plastiksäcke gefüllt. Die Luft war abgestanden und drückend.
Noor schoss in jede Ecke und suchte nach V. Sie riss das Laken fort, mit dem das Sofa abgedeckt war, beugte sich über die Rückenlehne, um dahinter zu schauen. Am Fenster fing ich sie ab, wollte sie aufhalten – »Noor, warte« –, als ein lautes Donnern mich unterbrach und uns beide zusammenzucken ließ. Wir schauten durch die regenverschmierte Scheibe nach draußen. Überall lag Schutt. Die Häuser auf der gegenüberliegenden Seite der Sackgasse waren verrammelt und dunkel. Eine tote Gegend.
Und ruhig.
»Dieser Wight hatte vermutlich Freunde«, sagte ich. »Jede Minute könnten weitere hier sein.«
»Lass sie nur kommen.« Ihre Augen waren wie Eisscherben. »Ich gehe nicht, bevor ich alle Zimmer durchsucht habe. Jede Abstellkammer.«
Ich nickte. »Ich auch nicht.«
Im Schlafzimmer war niemand. Unter dem Bett auch nicht. Es fühlte sich albern an, auf die Knie zu gehen und darunter zu schauen, so wie Kinder sich vergewissern, dass dort kein Ungeheuer lauert. Aber ich tat es trotzdem. Im Teppich war ein rechteckiger Abdruck, dort, wo mein Großvater seine alte Zigarrenkiste aufbewahrt hatte, diejenige, die ich nach seinem Tod fand, voller Schnappschüsse, die den Verlauf meines Lebens für immer verändern sollten. Aber keine V, weder tot noch lebendig. Auch nicht im Schrank. Nicht im Bad, wo Noor den Duschvorhang herunterriss, hinter dem sich aber nur ein Stück vertrocknete Seife verbarg.
Im Gästeschlafzimmer befand sich nichts als ein Stapel unbenutzter Umzugskisten und schwarze Schimmelflecken auf dem Teppich. Ich spürte, wie Noors Verzweiflung wuchs. Als wir uns bis zur Garage vorgearbeitet hatten, rief sie laut Vs Namen. Das brachte mich fast um, zerriss mir das Herz. Ich schaltete das Licht ein.
Unsere Blicke wanderten über einen Wust von ausrangiertem Zeug und Reparaturprojekten, die mein Großvater nie beendet hatte: zwei Leitern, bei denen jeweils eine Sprosse fehlte. Ein alter Kastenfernseher mit zerbrochenem Bildschirm. Aufgewickelte Draht- und Seilrollen. Der Arbeitstisch, auf dem sich Werkzeuge und Handwerkerzeitschriften stapelten. Ich sah Großvaters und meinen Geist hier drin, wie wir Schulter an Schulter unter dem Lichtkegel einer Schwanenhalslampe arbeiteten, rotes Garn über eine Landkarte mit Reißzwecken spannten. Und der Junge hatte die ganze Zeit gedacht, es sei nur ein Spiel, eine Geschichte.
Der Sturm rüttelte am Garagentor, holte mich ruckartig zurück in die Gegenwart. Ich sah zu dem Waffenschrank meines Großvaters, der einzige Gegenstand in der Garage, der groß genug war, dass sich ein Mensch darin verbergen konnte. Noor bewegte sich als Erste, erreichte ihn vor mir und riss an den Griffen. Die Türen öffneten sich einen Spalt, und dann spannte sich eine Kette. Irgendjemand, vermutlich mein Dad, hatte ein Vorhängeschloss angebracht. Durch den Spalt konnten wir eine Reihe geölter Gewehrläufe erkennen. Die Waffen, die möglicherweise die Rettung meines Großvaters gewesen wären, hätte ich nicht den Schlüssel mitgenommen.
Noor zog überrascht den Kopf zurück, dann machte sie wortlos kehrt und rannte ins Haus. Ich folgte ihr ins Arbeitszimmer meines Großvaters, dem einzigen Raum, den wir noch nicht durchsucht hatten. Der Raum, in dem Olive auf den Boden gestampft und dabei die hohl klingende Stelle entdeckt, den Teppich zurückgerollt und die Klappe im Boden mit dem darunter verborgenen Bunker gefunden hatte. Ein Bunker, von dem V möglicherweise gewusst hatte – und vielleicht kannte sie sogar den Code zum Öffnen der Klappe.
Ich versuchte, es Noor zu sagen, versuchte, das Brüllen des Sturms und Noors Schreien – Bist du hier? Mama, wo bist du? – zu übertönen. Aber sie konnte mich nicht hören, schob Abes leeren Schreibtisch beiseite und riss die Türen des winzigen Schranks auf. Schließlich gab ich auf und zerrte den schweren Teppich allein zur Seite, versuchte, mich zu erinnern, wo genau in dem Holzboden sich die Klappe befand, war jedoch so hektisch, dass ich sie nicht fand.
V war nicht in diesem Zimmer. Ich kam zu dem Schluss, dass sie gewiss auch nicht in dem Bunker war. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie dort Zuflucht gesucht und uns ausgesperrt hatte. Als Noor aus dem Zimmer rannte, richtete ich mich wieder auf und folgte ihr.
Sie stand reglos wie eine Statue mitten im Wohnzimmer, atmete schwer, aber kontrolliert. Sie winkte mich zu sich.
»Was, wenn wir alle zusammen herausgekommen wären?«, fragte sie leise, den Blick auf eine leere Stelle in der Zimmerecke gerichtet. »Und genauso weit voneinander entfernt lagen wie auf Vs Veranda.« Sie hob den Arm. »Da. Dort bin ich aufgewacht.« Sie zeigte in die Ecke mit dem abgewetzten Lehnstuhl meines Großvaters. Auf dem Boden daneben sah ich verkohlte Umrisse, die in etwa Noors Gestalt entsprachen. »Und du bist dort aufgewacht.« Sie zeigte durch die Tür auf die mit Fliegengittern abgeschirmte Veranda, wo meine verkohlten Umrisse unter der sich ausbreitenden Blutlache des Wights verschwanden. »Exakt so weit lagen wir auch auf Vs Veranda voneinander entfernt. Du warst mit Handschellen an das Geländer gekettet, und ich lag dort drüben.«
Mir dämmerte etwas, und mein Herz schlug plötzlich schneller. »Und V lag hinten auf dem Rasen.«
Wir hoben gleichzeitig den Kopf, wandten die Blicke zu der klappernden Verandatür, dem zugewucherten Garten, dem hohen Gras am Waldrand, dort, wo der Mann im gelben Regenmantel stehen geblieben war und auf den Boden gestarrt hatte.
»Genau dort«, flüsterte ich.
Unsere Körper erwachten aus der Starre. Gemeinsam stürzten wir hinaus in den Sturm.