In einer Diktatur kann es keine Städte geben, weil alles klein ist, wenn es bewacht wird.
Herta Müller
Herztier
Ich stolperte und fiel vornüber auf den matschigen Rasen.
»Na, na!«, rief der Polizist, ein Wachtmeister soundso, der mich unbedingt hatte verhaften müssen. Er griff nach mir, aber ich stieß seine Hand weg, was verächtlich wirken sollte, aber es war nur hilflos und lächerlich, so viel begriff ich, während ich vor dem strahlend weißen, nur an der Seite irgendwie dunkel zernagten Haus meines Vaters, neben dem Teich, unter den gewaltigen Tannen im Dreck krabbelte und versuchte, mich aufzurichten.
Wie der lehmige Boden sich durch das Moos und den Rasen drückte! Schaumig, inmitten ockerfarbener Bläschen schien alles Grün um mich herum unterzugehen und ich versank ebenso. Ich patschte im Schlamm (woher kam nur der ganze Schlamm?) und mir war übel, furchtbar zum Kotzen war mir von Vaters ewigem Cognac. Kopfschmerz hämmerte in den Schläfen. Gleichzeitig fühlte ich eine merkwürdige Leichtigkeit. Meine Lage amüsierte mich, auch wenn es kein ungetrübter Genuss war, denn mittlerweile war ich von Kopf bis Fuß dreckverschmiert.
»Scheiße!«, stöhnte der Beamte in meinem Rücken. Sicher hatte er Angst um seinen blitzblanken Streifenwagen. Mit angewidertem Gesichtsausdruck half er mir hoch.
»Da geht’s lang!«
Vorbei an Absperrbändern und durch Brandgeruch verließen wir in einer Art schmatzendem Gleichschritt das Grundstück.
Während wir durchs Dorf fuhren, hockte ich stumm und fröstelnd im Fond. Vorn schnarrte der Sprechfunk, ohne dass ich auseinanderhalten konnte, worum es ging. Unauffällig wischte ich meine Hände am Bodenbelag sauber. Ich registrierte Signalwesten und Desinfektionsmittel, sah auf den Nacken meines Begleiters und wandte mich wieder dem grauen Himmel zu, der im Ausschnitt des Wagenfensters klebte wie gekauter Kaugummi.
Ich schlief ein und schreckte erst am Stadtrand hoch, als wir auf die Polizeiinspektion zusteuerten und mein diensteifriger Chauffeur vor dem Portal mit der Ampel und dem runden Spiegel fast eine Vollbremsung hinlegte.
Während das Tor zur Seite rollte, betrachtete ich rechts und links die parkenden Autos auf diesem, wie zu lesen war, nicht öffentlichen Parkplatz, so wie ich noch nie parkende Autos betrachtet hatte.
Die Verhaftung begann zu wirken.
Anscheinend hatte ich genug Alkohol ausgedünstet, um mir in Erinnerung rufen zu können, schon einmal verhaftet worden zu sein. Mit der damaligen hatte die jetzige Festnahme nichts zu tun. Abgesehen vom Umstand, dass ich es war, der erwischt worden war.
Die Angst vor Befragungen kehrte zurück. Ich würde belauert und bewertet werden. Auf harten Stühlen, an kahlen Tischen würde ich in sogenannte Vernehmungen hineingezogen werden. Ich würde die Nähe, die Übergriffigkeit von Personen ertragen müssen, denen ich nicht mal im Traum begegnen wollte.
Während das Tor aufrollte, sah ich Autos auf diesem Parkplatz, die vorwärts, und ich sah andere, die rückwärts eingeparkt worden waren, und ich schwor mir, obwohl dieser Schwur kindisch war, künftig zu den Rückwärtseinparkern zu gehören, zu jenen also, die wussten, was auf sie zukäme und ihr Tun in weiser Voraussicht darauf abstimmten.
Leider war ich noch nicht so weit, sondern wurde auf den Hof einer Polizeiinspektion gefahren, mehr aus dem Wagen gezerrt als gebeten und durchsucht, wurde in einen Raum geführt, wo ich mich einem Alkoholtest unterziehen musste, und auf eine Toilette geleitet, wo ich mich säubern sollte. Schließlich kam ich, notdürftig hergerichtet und halbwegs erfrischt, in ein Zimmer mit vergitterten Fenstern. Dort setzte ich mich auf einen harten Stuhl vor einen leeren Tisch, genau wie ich es erwartet hatte, und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Bevor derjenige es tat, der bald darauf die Tür öffnete.
Es war der Kerl vom Hertransport. Er hatte seine Uniformjacke ausgezogen, die Ärmel hochgekrempelt und fläzte vor mir, als würde ich ihm gehören. Seine trainierten Unterarme, ein ausrasierter, an den Rändern verschorfter Kinnbart, vor allem aber ein nackter Schädel, der im Neonlicht glänzte und dessen fantastische Eiform mir im Auto nicht aufgefallen war, ließen mich unwillkürlich schmunzeln.
Nach dem Ausfüllen eines Formulars knallte er den Kugelschreiber auf einen Notizblock.
»Was hatten Sie in diesem Haus zu schaffen?«
»Entschuldigung, das ist mein Elternhaus. Ich war dort zu Besuch.«
»Ihr Elternhaus?! Wer ist unter dieser Adresse gemeldet?«
»Mein Vater.«
»Franz Schwindner ist Ihr Vater?«
»Korrekt.«
»Aber Sie heißen anders. Laut Personaldokument sind Sie …«
Er musste nachsehen.
»Oliver Hacker.«
»Nicht Hacker, sondern Hackert.«
Mit sich stumm bewegenden Lippen las er nach.
»Weshalb tragen Sie unterschiedliche Namen?«
»Nach dem Tod meiner Mutter nahm er ihren Mädchennamen an.«
Er rollte mit den Augen. So hochfahrende Dümmlichkeit verdiente einen Querschläger:
»Er war Schriftsteller.«
»Hä?«
»Proletarischer Schriftsteller. Er schrieb Romane im sozialistisch realistischen Stil, bevorzugt über die Volkspolizei.«
»Ja und?«
»Seinen Autorennamen behielt er nach dem Tod meiner Mutter bei. Wenn Sie so wollen, wurde sein richtiger Name zum Künstlernamen, ohne dass er ihn ändern musste. Irgendwie andersherum als sonst.«
»Warten Sie bitte.«
Ich blieb eine Weile allein, ohne jede Erklärung, was ihn hatte aufspringen und rausgehen lassen, unwissend auch, was überhaupt passiert war oder passiert sein sollte. Die kleine Unterredung hatte mir die Angst genommen. Sofort zog es mich auf die Straße zurück, wo Arbeit wartete. In Gedanken prüfte ich meinen Kalender, der irgendwo sein musste (aber wo?). In Gedanken organisierte ich die verbleibenden Tage bis zum Interview.
Mit einem Mal stand Mark Traber vor mir.
»Was machst du denn hier?«, rief ich und wollte ihn umarmen.
Mark gelang es mit einem Seitwärtsschritt, den Tisch zwischen uns zu bringen.
»Ermitteln«, entgegnete er.
Weil ich weiter mit offenen Armen dastand und mich freute, »Mensch, wie lange ist das her? Acht Jahre?!«, reichte der Jugendfreund mir schließlich die Hand, so wie er immer die Hand gereicht hatte. Er schüttelte nicht. Er gab eine glatte, weiche Gliedmaße her, von der man sich keinerlei eigene Aktivität vorstellen konnte, und ließ diese schütteln. Ihn zu begrüßen, war ein Missverständnis.
»Elf Jahre«, korrigierte er und setzte sich. Äußerlich hatte er sich seitdem kaum verändert. Er war ein sehniger kleiner Mann. Nur die Kurzhaarfrisur konnte ich nicht ansehen, ohne an die lange Mähne zu denken, die er sich zum Ärger seines Vaters mit siebzehn hatte wachsen lassen.
Dass er Polizist geworden war, wusste ich. Selbstverständlich, auch wenn es in Anbetracht mancher Erinnerungen derart abstrus war, dass man es leicht vergaß.
»Was bist du jetzt, dienstgradtechnisch?«
»Hauptkommissar.«
»Klingt gewaltig.«
Wir saßen im Vernehmungszimmer, jeder auf seiner Seite, und es half, Dinge richtigzustellen und Überflüssiges, Privates vom Tisch zu wischen. Wenn auch nicht klar war, was privat war und was nicht. Marks Wissen über mich war plötzlich Teil seiner Arbeit.
»Du bist zu Besuch?«
»Der Alte hat mich zum Geburtstag eingeladen.«
»Ist das nicht heute?«
»Richtig. Heute ist der neunte Mai.«
»Mm.«
Er sah mich durchdringend an und ich versuchte, seinem Blick standzuhalten. Irgendwann konnte ich nicht mehr und fragte:
»Was soll das? Könntest du erklären, worum es geht?«
»Sicher, Oliver. Wir haben dich festgenommen, weil du verdächtigt wirst, etwas mit dem Verschwinden deines Vaters und dem Brand an seinem Haus zu tun zu haben.«
»Wie bitte?«
»Willst du sagen, dass du nichts davon weißt?«
»Was redest du? Brand? Verschwinden? Ich war eben noch dort. Er hat gestern Abend für uns gekocht, und wir haben reingefeiert.«
»Friedlich?«
Mark beugte sich vor. Sein Mund war halb geöffnet, als würde er jede meiner Regungen aufsaugen wollen. Seine Anspannung kam mir putzig vor. Ich brach in lautes Lachen aus. Es schüttelte mich bestimmt mehr als eine Minute. Ich musste mir Tränen aus den Augen wischen und klopfte mit den Fäusten auf den Tisch, während er mich beobachtete, reglos lauernd.
»Friedlich«, japste ich, »friedlich gefällt mir!«
»Du hast 1,8 Promille im Blut«, stellte er klar.
»Dafür geht es mir prächtig, oder?«
»Du raffst es offenbar nicht, mein Freund. Deinem Vater ist etwas zugestoßen. Wir wissen nicht, was, aber nach Lage der Dinge stehst du auf unserer Liste der Verdächtigen oben, sehr weit oben. Eigentlich ist es auch keine Liste. Da bist einfach nur du. Geht das in dein vernebeltes Hirn? Willst du dich dazu äußern? Oder weiter den Clown spielen?«
»Der Herr Hauptkommissar, wow!«
Er verzog keine Miene.
Ich musste daran denken, wie wir zusammen aufgewachsen waren. Mark, im Garten hinter den wuchernden Haselnusssträuchern, der Nachbarsjunge mit der Sammlung ausgeschlachteter Radios im Schuppen, der technikverrückte, immer ein wenig scheue und für sich bleibende Sohn des ABV, des Abschnittsbevollmächtigten, der jedes Kabel, jeden alten Lautsprecher, jede Schraube aufhob und einsortierte in selbst gebaute, bis zur Decke reichende Regale voller Kisten und Kästen. Alles wollte er werden, Fernsehmonteur, Rockmusiker, Tierpfleger, nur nicht Polizist wie sein Vater. Ich erinnerte mich, dass ich lange nicht ohne Marks Hilfe über den hohen und arg biegsamen Zaun zwischen unseren Grundstücken klettern konnte. Die Gewissheit, dass er auf der anderen Seite wartete und meinen Sturz abfedern würde, fiel mir ein. Es war eine ganz und gar deplatzierte, sentimentale Eingebung. Der Mark, der mir jetzt gegenübersaß, wollte nicht helfen. Ich begriff es voller Staunen. Trotz meines Verkatertseins. Er schien anzunehmen, dass ich fähig wäre, meinem Vater etwas anzutun.
»Gab es wieder Streit? Ihr hattet den Kontakt doch abgebrochen. Wie lange habt ihr euch nicht gesehen?«, bohrte er nach. Er ließ nicht locker. Was er über mich wusste und auch das, was er noch herausbekäme, spürte ich, würde gegen mich verwendet werden.
»Was heißt Streit! Du weißt, wie es zwischen ihm und mir steht und wie wir damals auseinandergingen.«
»Ihr habt euch also nach zehn Jahren zum ersten Mal wiedergesehen?«
»Ja.«
»Warum?«
Mir schossen mehrere Antworten durch den Kopf. Ich war unfähig, sie zu ordnen. Verwoben und verknäult hing alles zusammen und in meiner aufsteigenden Panik (Was hatte ich getan?) entschied ich mich instinktiv und ohne zu zögern für die 1,8-Promille-Auskunft. Etwas, das ich für die Wahrheit hielt.
»Seine Einladung kam zur rechten Zeit. Zehn Jahre sind genug!«, sagte ich und merkte zum ersten Mal, so als würde ich aufwachen, wie dick und schwerfällig meine Zunge war.
»Soweit ich mich erinnere, sind diese Geburtstagsfeiern für dich immer ein Gräuel gewesen.«
»Schon richtig, aber diesmal sollte ich eigentlich der einzige Gast sein.«
Ich ahnte, worum es noch ging. Marks Schärfe war eine professionelle Angewohnheit, vermutlich die beste Methode, die Ungereimtheiten, Ausflüchte und Lügen seiner Klientel zu ergründen. Doch darunter schob sich unsere Geschichte vor, insbesondere weil es so aussah, als würden wir uns nicht kennen, als wären wir uns nie begegnet, als würden dieser Hauptkommissar und ich nicht auf eine Jugend im selben Dorf, nicht auf Jahre mit unseren oft genug durchdrehenden Vätern zurückblicken, als wären wir keine Freunde und Nachbarn gewesen, als hätten wir nicht vieles geteilt, selbst die erste Liebe.
»Dein Vater hat sich Feinde gemacht, möglicherweise auch in letzter Zeit. Aber all diese Kandidaten, ich muss dir das klipp und klar sagen, schlägst du um Längen.«
Der Schleier hinter meiner Stirn war ein treuer Gefährte. Er erlaubte es mir, hin und her zu springen und einfach dem Gedanken zu folgen, der auftauchte.
»Und wie geht es dir mit Nadine?«
»Das gehört nicht hierher!«
Er lächelte fein und fies. Es ärgerte mich.
»Also gut. Ich habe ihn besucht, ich bin auf seine Einladung, die übrigens schon im letzten Jahr kam und im Jahr davor auch, eingegangen wegen einer beruflichen Sache. Es klingt nicht gerade charmant, aber so war es.«
»Wolltest du ihn interviewen, oder was?«
»Nicht doch. Jemand, den er kennt, ist ein wichtiger Informant. An dem Material recherchieren wir seit Monaten. Es ist brisant.«
»Dein Reportergequatsche nervt.«
»Du hast gefragt.«
»Ich glaube dir nicht.«
»Mehr werde ich dazu nicht sagen.«
»Dann behalten wir dich hier.«
»Das ist doch Scheiße! Ich muss los. Ich habe zu tun. Wo soll der Alte schon sein? Wenn er nicht zu Hause ist, geht er spazieren. Er spaziert stundenlang durch die Heide und denkt über seine Memoiren nach, wusstest du das nicht? Oder er ist bei der Nachbarin. Habt ihr Frau, Frau …«
Grinsend genoss Mark meinen Aussetzer.
»Frau Zirwick, meinst du?«
»Ja sicher. Wurde sie befragt?«
Die Zelle, in die ich kam, war einfach eine Zelle.
Der Blick aus dem Fenster setzte den Blick aus dem Streifenwagen fort. Nach Marks Auftritt fühlte ich mich wacher. Das Treffen hatte Kraft gekostet, aber auch geholfen, auszunüchtern. Ich ging acht Schritte vor und acht Schritte zurück, wie ich es kannte, und weil ich es kannte, war es keine große Sache und beinah normal. Vier Wände umgaben mich, voll der üblichen Krakeleien, eine graue, doppelt genietete Stahltür mit einer Klappe in Brusthöhe, und das Fenster, immer wieder das Fenster. Wie an einem Altar aus Glas stand ich nach meinen Acht-Schritte-Wanderungen davor und strich über den Rahmen und atmete, als würde ich es lernen, und freute mich, wenn durch den Schacht, in den ich blickte, vor rissigem Putz und einer Dachrinne, eine Krähe flog, Wespen, Mücken, Fliegen, irgendeine Kreatur, die sich einfach so bewegte, oder auch nur ein Geräusch zu mir drang. Ein nicht identifizierbares, unregelmäßiges Klappern, Rufe wie »Bring die Jacke mit!« oder »Bis nachher!«, Geräusche von Autos, Zügen und Flugzeugen.
Gefängniszellen, sollte ich wieder begreifen, machen demütig. Sie schüren die Sehnsucht und rufen ins Bewusstsein, was einem fehlt, wenn man endgültig gegangen ist. Ich dachte an Darja, die von dieser Eskapade nichts wusste, und an Sweta. Der Gedanke an unsere Tochter ließ mich losheulen, und ich hoffte inständig, bald wieder herauszukommen, um den Schock in die einzige Währung umzumünzen, die eine Achtjährige interessierte: gemeinsam verbrachte Zeit.
Der reizende Mark hatte mich mit der Frage entlassen, was ich am Haus meines Vaters gewollt hätte. Ich massierte meine Schläfen und versuchte, einen Puzzlestein zum nächsten zu legen. Es hätte schlimmer kommen können. Ich wusste meinen Namen. Dies war eine Arrestzelle. Ich musste professionell bleiben. Sammeln, sortieren, verarbeiten, schlussfolgern. Warum gaben sie meine Notizen nicht heraus? Mark wusste genau, dass ich ständig Aufzeichnungen machte. Hatte er das nicht überprüft? Was sollte ich stattdessen mit diesem Fetzen Papier und einem Ikea-Bleistift-Stummel? Dreißig Worte, dann war der unbrauchbar. Egal. Ich durfte mich nicht hängen lassen!
Warum war ich über die Absperrbänder gestiegen? Hatte ich die versiegelte Haustür geöffnet? Was war überhaupt passiert?
Ich raste über die hügelige enge Straße durch die Muggower Heide und kam mir vor wie eine Comicfigur. Nach zehn Jahren kehrte ich heim mit Tweedmütze und langem Schal, dessen Ende hinter dem gemieteten Cabriolet herflatterte. Die Rehe auf den Lichtungen und die Vögel in den Bäumen staunten. Ich war zum Piepen, auch für mich selbst. So ausstaffiert (fehlte nur noch die Pfeife), um mich zu wappnen und von mir abzulenken! Ich inhalierte Heimatluft – für das geöffnete Verdeck war es eigentlich noch zu kalt – und genoss das Kribbeln im Bauch, wenn der Wagen in die nächste Senke schoss.
Vor Muggow wurde mir anders. Ich stoppte an der Tankstelle. Genau an der Tankstelle trat ich auf die Bremse, weil sich etwas in mir zusammenzog, nicht mehr kribbelnd, sondern pressend und fordernd. Ich stürmte in den Kassenraum, um nach dem Schlüssel für die Toilette zu fragen, und kam trotz meiner Eile nicht umhin, die Eistruhe zu bemerken, deren Kabel sich wie ein Pflänzchen zur Decke ringelte und dort in der Steckdose verschwand.
Um das Gebäude herumlaufend, rettete ich mich in die Kabine, und hielt nach einem Haken für meine Jacke Ausschau. Natürlich umsonst. Als ich Papier abwickeln wollte, fiel die Rolle zu Boden, die man mit viel zu kurzen Schrauben eingehängt hatte. Ich fühlte mich angemessen willkommen geheißen.
Dieser Besuch ist falsch, dachte ich. Wer seinen Vater ablehnt, mit ihm nichts mehr zu tun haben will und dieses Ziel vor zehn Jahren erreicht hat, sollte einer Geburtstagseinladung nicht Folge leisten.
Ich fuhr ins Dorf hinein, am Sportplatz, am frisch gestrichenen Feuerwehrhaus vorbei, und mein Herz trommelte. Es schmerzte, weil ich mich aufregte und stumm blieb, nur kontrahierter Muskel war und blutleere Finger am Lenkrad.
Die Morgensonne schaffte es immer wieder, zwischen den schnell ziehenden Wolken hindurchzustrahlen. Die Straße war leer. Buchen am Waldrand dufteten nach Kindheit, nach Verstecken im Laub, Fahrradtouren, Fußballspielen, Geborgenheit. Alles war so bezaubernd wie trügerisch.
Ich schaffte es nicht im ersten Anlauf. Am Rondell mit dem Kriegerdenkmal wendete ich und fuhr zurück und parkte hinter der Vereinsgaststätte. Es war mir selbst nicht klar, warum ich lieber gehen als fahren wollte. Mit dem Auto hätte es sich rasch und anonym erledigen lassen, aber paradoxerweise bildete ich mir ein, zu Fuß weniger Aufsehen zu erregen, mich an Gartenzäunen und Fassaden entlangschummeln und herantasten zu können ans Vaterhaus.
Für mein Verhalten gab es keinen nachvollziehbaren Grund.
Es konnte ihn nicht geben, sonst wäre ich überhaupt nicht gekommen. Ich hätte mich nicht kompromittieren lassen sollen von Anreizen, die mich im Innersten anwiderten. Wer aber hatte sein Innerstes ständig parat?
Was mich so lange abgeschreckt hatte herzukommen, hielt ich manchmal selbst für eine alte Geschichte. Selten, dass ich daran dachte. Konnte das Ganze nicht ad acta gelegt werden?
Mit eins siebenundneunzig war ich alles andere als unauffällig. Hüstelnd und mit Rachenschmerzen (Darjas Wollschal kratzte an meinem Hals) trabte ich in wehendem Mantel (Fischgräte) um den Dorfteich, um nicht zu sagen: trampelte. Meine Größe war immer ein Vorteil gewesen, auch meine Breitschultrigkeit. Sie demonstrierten Charakter und wirkten stärker als mein rötlich aufgequollenes Gesicht mit den Pockennarben. Karriere bei der Zeitung machte ich trotz dieser gelegentlich eiternden Dellen. Journalisten behaupten gern, sehr auf Details zu achten, orientieren sich in der Regel aber an groben Zeichen wie alle übrigen. Seit zehn Jahren war ich Korrespondent des Berliner Tagblatts in Minsk, ein Job, um den mich niemand beneidete. Aber es war mir gelungen, das Desinteresse für meinen Dienstort in Respekt, seit Neuestem sogar in Popularität umzuwandeln. Den auslösenden Satz meiner Kollegin Sabine Schall sollte ich mir einrahmen lassen: »Sie schreiben ein paar süffige Kolumnen, die Ihren Namen bekannt machen. Dann packen Sie alles in ein Buch und lassen sich als Autor feiern.« Frau Schall war leitende Redakteurin, saß im Beirat des Verlages und förderte mich, wo sie nur konnte. Ich vermutete, dass sie in grauer Vorzeit mehr als eine Bekannte meines Vaters gewesen war. Bei einer Recherchereise, abends in einem thüringischen Provinzhotel, hatte ich von den Schwierigkeiten mit ihm erzählt und sie, die sonst pausenlos schwadronierte, hatte nur – »Ich kenne ihn aus dem Schriftstellerverband« – gemeint und ihre Augenbrauen waren sonderbar gehüpft, was als Indiz kaum taugte, aber es war mir auch egal. Frau Schall stand kurz vor der Pensionierung. Je näher ihr Ausstieg rückte, desto gehässiger wurde sie. Mit strichdünnen Lippen und wippender Lockenfrisur lästerte sie über alles und jeden. Ich bildete da keine Ausnahme.
Mir war zugetragen worden, dass sie mich als »unseren Minsker Homunkulus, der auch noch Bücher schreibt« verspottet hatte.
So lange sie mein liebstes Projekt, meinen Coup, mit der ihr eigenen Widerborstigkeit in der Chefetage vertrat, konnte sie sagen, was sie wollte.
Kommende Woche würde ich den selbst ernannten Marschall interviewen. Ich würde Arkadij Lomon treffen, der seit Jahren kein Vieraugengespräch mit einem westlichen Journalisten zugelassen hatte. In seinem Palast würde ich mit ihm über Binnenwirtschaft, Geheimdiplomatie, die Erfolge der Olympiamannschaft … und irgendwann, wenn das Geplänkel kaum noch zu ertragen wäre, auch auf die Leichen zu sprechen kommen, die seinen Weg säumten. Wenn ich den Diktator tatsächlich vors Diktaphon bekäme, wenn mich dieses Monster in seinem Bau nicht sofort anspringen, zerfleischen und zu den anderen Verrückten werfen lassen würde, die es gewagt hatten, ihm zu widersprechen, dann wollte ich nicht bibbernd und zähneklappernd einknicken und zurückrudern, sondern im Namen der Opfer und in einem Akt symbolischen Starrsinns auf meinen Fragen und Positionen beharren. Das wäre komplettes Kamikazeverhalten. Wegen meiner Randständigkeit und Harmlosigkeit (ich sah das realistisch) würde es ihn nicht weiter jucken. Eventuell könnte es ihm sogar imponieren, und dann bestände Aussicht, seinen Palast auch wieder zu verlassen. Dann hätte das Interview den fabelhaften Effekt, dass ich Minsk den Rücken kehren müsste. Dann würde ich, wie Frau Schall unter der Hand wissen ließ, vielleicht in die Redaktionsleitung aufrücken. Dann könnten Darja und Sweta in eine Welt übersiedeln, in der Mord allenfalls Privatsache war.
Wie ging es weiter? Jede noch so kleine Beobachtung, jede Bagatelle konnte wichtig sein. Mir kam ein Halbwüchsiger auf einem Mountainbike entgegen. Das Fahrrad war ihm zu klein. Genau wie sein Basecap, dessen Schirm von seinem Kopf abstand wie ein großer Löffel. In der minzfrischen Kaugummifahne, die er hinter sich herzog, flogen mir Begriffe zu wie Pioniernachmittag, Fahnenappell und Straße der Werktätigen. Ein paar Jahre nur, und die Surrealitäten hatten gewechselt. Die vertrauten Fundamente waren vorhanden, Biegungen der Straßen und Wege, Ausrichtungen von Häusern. Grundstrukturen von Gärten, die meisten Benennungen und nicht wenige Bewohner, aber in das große Ganze, in die Benutzeroberflächen war neuer Geist gezogen. Hier, wo ich jeden Flecken kannte, fiel es besonders auf. Die Verschlafenheit des Dorfes war eine andere.
Ich stellte mich an den Feuerwehrteich und hörte den Anglern zu, wie sie sich beim Anfüttern über Brotpreise unterhielten. »Einundfünfzig Cent bei Rewe«, sagte einer und griff in seine Tüte. »Sechsundvierzig bei Edeka«, meinte ein anderer und ergänzte, »ist nur ein Sechser. Muss man nicht extra hin.« »Ein Sechser kommt zum anderen«, warf der Dritte ein, und sie wiegten die Köpfe. Mit ihren Arbeitskombis, den im Wasser plätschernden Karpfen und ihrer Ruhe wirkten sie wie drei Weise, die über allen Preisen standen, sie hinnahmen und immer hinnehmen würden wie die Welt im Ganzen, der man beim Angeln und generell, schienen sie sagen zu wollen, nur den Rücken kehren konnte.
»Du bist doch der Sohn vom Franz?!«, rief mir einer nach.
Je näher ich dem Haus kam, desto stärker wurde der Hass.
Ich ärgerte mich darüber, wollte souveräner sein, fand es dem Vater gegenüber auch ungerecht, aber Gefühle ließen sich keine Vorschriften machen. Der Hass war da. Ich musste ihn in Bahnen lenken, konnte ihn kitzeln und an geeigneten Stellen als Antrieb nutzen, musste aber Maß halten und durfte nicht die Kontrolle verlieren.
Ich kannte die Worte, wie der Vater die Worte kannte. Worte, die zwischen uns gefallen waren. Worte, die in den Abgrund rauschten. Sie würden sich opfern. Sie würden uns eine Zeit lang abhalten, das zu tun, wovon wir redeten. Ich dankte den Worten, dass es sie gab. Sie waren Bannworte. Indem ich sie aussprach, wieder und wieder auf ihnen herumkaute, halfen sie, die Spannungen zu dämpfen.
Ich eilte dem Haus entgegen. Zweifellos war ich das, wer sonst?! Schon die Art des Gehens verriet mich. Zackig schritt ich voran. Meine Unruhe, meine Besessenheit überspielte ich mit artigen »Guten Morgen« über diverse Gartenzäune.
Eine Zeit hatten wir nicht vereinbart. Vielleicht würde der Vater nicht da sein, hoffte ich insgeheim. Aber zaudernd wären die nächsten Tage nicht durchzustehen. Besser, wir brachten es hinter uns. Wir könnten über ein lang zurückliegendes Abwaschen und Abtrocknen von Geschirr sprechen. Als mir die Glasschüssel heruntergefallen war und ich dem Vater einen Splitter durch die Kehle ziehen wollte.
Nein, darüber durften wir nicht sprechen. Das taugte nicht als Begrüßung. Dieses Ruckzuck und die Wunde an seinem Hals. Das Schreien und Bluten in der Küche. Mein Wegrennen und Wiederkommen und Nachschauen waren kein zivilisierter Gesprächsgegenstand. Ich war kein Mörder (kein Vatermörder zumindest), kein seelischer Vulkan mehr, sondern geheilt und gereift, als Publizist gefragt, auch privat in guten Händen.
Wie sehr ich mit jeder Lebensfaser an Darja hing, spürte ich bei meiner Ankunft. Ich ging durchs Dorf wie unter ihren Händen, die mich abschirmten und besänftigten. Meine Liebste war eine begeisterte Spaziergängerin und Touristin, die mich mit ihren Stadtbummeln und Erkundungstouren über versteckte Hinterhofmärkte oft genug behelligte. Aber in diesen allzu vertrauten Straßen, ausgesetzt meinem inneren Brodeln, wollte ich eher wieder durch Moskau oder Paris marschieren, ihre Einkaufstüten tragen und beispielsweise auf dem Champ de Mars bis zum Eintritt der Dunkelheit ausharren, um dann so zu tun, als würde ein blinkender Eiffelturm mich vor Glück fassungslos machen, als allein und vor allem ohne Darja in Muggow zu sein.
Wie ich vom Dorfteich kommend in unsere kleine Straße bog und auf die letzte Kreuzung zusteuerte, glich ich dem Abtrünnigen, der nach zehn Jahren zurückkam und einlenkte, weil er weich geworden war. Verständnisvoll. Aber hatte ich Verständnis? Ich wollte meinen Vater lediglich bitten, einen Kontakt herzustellen. Sein Studienfreund Oleg Mitrochin war ein langjähriger Vertrauter des Diktators. Ich wusste aus sicherer Quelle, dass Mitrochin untergetaucht war. Angeblich hatte er belastendes Material über seinen Dienstherrn gesammelt und war in eine Intrige verwickelt. Diese Geschichte war der Grund meines Kommens. Es ging mir wie Sweta, dachte ich. Sie hatte gebeichtet, dass sie ihre Mitschülerin Alina schrecklich fand und nur so tat, als wäre sie mit ihr befreundet, weil Alinas Familie in einem Gehege hinter der Datscha Schäfchen hielt, wuschlig süße Dinger, die Sweta unbedingt streicheln und füttern wollte.
Kurz vor dem Grundstück begegnete ich einer Frau.
Sie trug enge, reflektierende Sportkleidung, hob und schwenkte ihre Nordic-Walking-Stöcke, sodass ich kurz annahm, es gäbe ein Problem und ich sollte ihr zu Hilfe eilen. Aber dann kam sie heran und ich erkannte Nadine. Sie wirkte konsterniert.
»Was machst du hier!?«
»Ich besuche meinen Vater.«
Ich sah ihre zuckenden Wimpern, darunter die unvergleichlich blauen Augen.
»Weshalb tust du dir das an?«
»Er liefert mir eine Information«, hörte ich mich antworten.
»Aha.« Mit einer abrupten Handbewegung wischte sie sich Schweiß aus der Stirn. »Und warum hast du nie auf meine Briefe reagiert?«
Der Kloß in meinem Hals konnte nicht allein mit Schnupfen und Heiserkeit erklärt werden. Ich zuckte mit den Schultern und stammelte »Arbeit, Arbeit.«
Ihr Aufzug, ihre Korpulenz, besonders die fuchsroten, mit Strähnchen verzierten Haare überforderten mich.
»Ich lese deine Kolumnen. Scheint dir ja gut zu gehen.«
»Kann nicht klagen«, murmelte ich und wich zurück. Sie hatte Mark geheiratet, nicht mich. Nach einigem Hin und Her, auch nach einer Phase kniffliger Gleichzeitigkeit hatte sie sich für den Versorger mit den goldenen Händen entschieden, den Kriminalbeamten, der das Anwesen der Eltern erbte und kernsanierte. Sie lächelte, dass ihr Zahnfleisch hervortrat, blasse, von vollen Lippen umrahmte Fleischleisten.
»Magst du mich noch?«
»Wie bitte?«
Ich beugte mich vor, legte sogar die Hand ans Ohr wie ein Tauber, denn es konnte nicht wahr sein.
»Ob du weiter scharf bist auf mich?«
Sie schien jedes Wort auszukosten. Ich glotzte auf ihre tanzende Zunge.
»Sag mal, hast du sie noch alle?«
»Ich denke schon.«
Sie lachte glockenhell und winkte noch einmal aus dem Handgelenk, als wären wir beim Pferderennen oder in der Oper und grüßten uns über Sitzreihen hinweg. Dann stöckelte sie weiter, nicht ohne sich noch einmal umzudrehen.
»Du kannst jederzeit rüberkommen. Steig einfach über den Zaun. Wie früher, Oliver. Würde mich freuen.«
Sie bog um die Ecke und ich lauschte, wie das Klick Klack leiser wurde.
Ich klingelte, aber niemand reagierte. Also ging ich in den Garten, der so verwunschen aussah wie in meiner Erinnerung. Unter den Tannen hielt ich inne und sah hinauf in die wogenden Spitzen. Ich begutachtete den Komposthaufen vorn an der Straße und auch den zweiten hinter der Garage. Keine Ahnung, warum ich das tat. Warum wollte ich zerschnittene Äpfel, Kaffeegrund oder Eierschalen sehen und die darüber tanzenden Fliegen beobachten? Sagte das etwas über den Vater, das ich wissen musste? Wollte ich seine Entsorgungsgewohnheiten studieren und mich so auf unsere Begegnung vorbereiten? Sollte ich vielleicht auch die Mülltonne und die Papiertonne kontrollieren oder den Kanaldeckel aufstemmen?
Mich in diesem Garten, an diesem Haus aufzuhalten, dort zu warten, fiel schwer. Eine Weile lümmelte ich auf der Bank am Teich. Meine Arme hingen herab. Mit einer Hand fuhr ich durchs Wasser. Während ich in die Luft starrte, mit den Augen der aufsteigenden Linie des Giebels folgte, berührte ich kaum die Wasseroberfläche. Da ich nervös war, zuckten meine Fingerspitzen, sodass die daran herumknabbernden Goldfische erschrocken abtauchten.
Sofort hatte ich Mutter vor Augen, wie sie auf der flachen Mauer hinter dem Teich von Vater zurückgeholt werden sollte. Sie lag auf dem Rücken auf diesem schmalen Sims, mit nassen, im Gesicht klebenden Haaren, einer Frisur, die sie nie akzeptiert hätte, denn sie kämmte sich mehrmals am Tag mit entschiedenen Bürstenbewegungen und schmerzverzogener Miene vor dem Spiegel im Schlafzimmer oder dem Spiegel in ihrem Atelier. Jetzt lag sie dort schlaff und mit tropfender Kleidung. Vater schwenkte ihre weißen Arme, als sollte sie am Ende fliegen lernen, und blies ihr seinen Atem ein, als könnte sein Atem irgendjemanden wiederbeleben. Er hoffte es lange, länger als ich, der sie sofort abgeschrieben hatte wegen ihrer verrutschten Frisur, den vollgesogenen Sachen und dem Geräusch, wenn ihre Arme zusammenklatschten. Bis die Feuerwehrleute kamen (oder waren es Sanitäter?) und mich wegschickten und Mutter von der Mauer hoben, sah ich dem Vater zu und erfasste eine Fülle von Einzelheiten, die ich später jederzeit abrufen konnte. Sieben Jahre alt war ich damals gewesen. Ab dem Moment aber, als man mich entfernt hatte, verwischten die Erinnerungen, wurde ich von Mutters Körper weggezogen in ein eigenes Leben ohne Frisurzwänge, ohne todbringenden Teich und bekam andere Probleme.
Ich wusste, dass der Vater sich meinen Extremismus, meine Unausgeglichenheit immer mit der fehlenden Mutter erklärte. Musste ich ihm auch hier recht geben?
Ich ging um das Haus herum, das nun bald dreißig Jahre alt war. Mein Vater hatte es eigenhändig gebaut. Ich betrachtete es von allen Seiten. Es wirkte von überallher wie eine Burg, ein stolzes Landhaus mit Garage, solider Ziegeldeckung, einer Terrasse, einem geräumigen Wintergarten und einem Balkon im Dachwinkel, einem Schwalbennest ähnlich, den sich meine Mutter gewünscht hatte und der ihr gewährt wurde, auch wenn sie die Aussicht über die Muggower Heide nur wenige Monate genießen konnte.
Von der Straße her drangen Stimmen.
Ich lief zur Einfahrt. Es waren zwei Missionare, einer davon im schwarzen Anzug, mit Hut und Köfferchen, der andere sein Eleve in T-Shirt, die mich über die Allgegenwart Gottes aufklären wollten. Ich winkte ab. Wo blieb der Vater?
Es begann zu nieseln und ich suchte den Schlüssel. Der Schlüssel war dort, wo er immer lag, unter Steinen an der Garage. Dann stand ich vor der Tür und schloss auf. Das schnörkelige »Schwindner«, die handschriftliche Hommage eines Witwers an seine Frau und ihren Mädchennamen, bemerkte ich kaum. Auch dass die Tür weiß war, strahlend weiß, mit einer Regen und Schmutz abweisenden, wahrscheinlich selbstreinigenden Beschichtung, sah ich nur flüchtig, obwohl es eine typische Eingangstür war für Männer wie ihn, die sich gern sauber und aufgeräumt hielten. Zumindest zur Straße hin.
Ohne mich im Flur aufzuhalten, den Geruch von Rasierwasser und im Keller lagernden Äpfeln in der Nase, stieg ich die Treppe hinauf in mein altes Zimmer. Alles war unverändert. Wimpel und Fotos von Sportgrößen (darunter einige Olympiasieger), Spartakiademedaillen, Plakate von Karat und Silly, das Bukowski-Foto, eine aus einem Reißverschluss und einer Sonne konstruierte Wetterstation namens Emotiometer. Ich riss das Fenster auf und sah vor Marks Haus Nadine im Liegestuhl liegen, in eine Decke gewickelt, rauchend und Kaffee trinkend.
Moment, so war es nicht! Bevor ich Nadine sah, konnte ich sie hören. Die Terrassentür stand offen und die Stimmen von ihr und Mark drangen hinauf bis zu mir. Marks Wutgeheul war bestimmt noch zwei Straßen weiter zu vernehmen.
»Der Artikel ist eine Frechheit! Perverse Scheiße, so sehe ich das.«
»Sei nicht so spießig!«
»Spießig ist, dass du sein Geschmiere auch noch ausschneidest und sammelst. Wozu, frage ich mich? Sind wir ein verdammtes Archiv?«
»Jetzt komm wieder runter! Du bist nur sauer, dass die Geschichten gut laufen und auch noch witzig sind.«
»Unsinn! Die ganze Zeitung ist für die Katz. Wozu überhaupt ein Abo? Wenn du das brauchst, lies es im Netz.«
»Einen Teufel werd ich. Am besten, du fährst jetzt los zu deiner Polizeiarbeit. Wird dir guttun.«
Wenig später brauste ein Wagen davon.
Und erst danach kam Nadine auf die Terrasse, legte sich in den Liegestuhl, rauchte und trank Kaffee!
Hatte sie Mark erzählt, dass wir uns über den Weg gelaufen waren?
Sie sah mich am Fenster und winkte mir zu wie vorhin, mit dieser provozierenden Freundlichkeit. Ich wich zurück und hockte mich unter die Dachschräge und fragte mich, wohin das führen sollte. Um die Ankunft des Vaters nicht zu verpassen, blickte ich durchs andere Fenster auf die asphaltierte Einfahrt mit den Rosenstöcken zu beiden Seiten, dem geschmiedeten Gestell mit der Sonnenuhr und den zwölf Sternzeichen an der Hauswand, was völlig irreführte. Als wohnte hier ein Astrologe und Sonnenanbeter und kein proletarischer Schriftsteller im Ruhestand.
Ich stolperte durch die Räume, wie ich immer durch die Räume gestolpert war, weil es nicht mein Haus war und nie mein Haus gewesen war und auch nie mein Haus werden würde. Falls mein Vater stürbe und mich, den immerhin einzigen Nachkommen, als Erben einsetzen würde, wovon nicht automatisch auszugehen war, würde ich es sofort verkaufen. Weil es ein Schreckensbau war, ein Irrtum in jeglicher Hinsicht.
Hier zu sein, machte mich zornig. Auch wenn meine Gefühle aus allen möglichen Richtungen zusammenflossen. In ihrem Zentrum stand – vergleichbar dem Dunkelbraun, das herauskam, wenn man alle Farben zusammenkippte – Zorn auf dieses Haus und den Vater. Man musste kein psychoanalytisches Genie sein, um zu ahnen, worum es hier ging.
Mit seiner Einladung zum Geburtstag hatte mein Vater einen Vorwand geliefert. Einzuwilligen, um nach Oleg Mitrochin fragen zu wollen, konnte auf einer Ebene, wo Konventionen keine Rolle spielten, nur als Wunsch verstanden werden, den Vater ein für alle Mal abzuhaken.
Es war unangenehm, mit dieser Erkenntnis aus dem Kinderzimmer in die Küche, in die Veranda, in sein Arbeitszimmer, in die beiden Bäder, in das Schlafzimmer, in das Gästezimmer, auch in den Keller zu wandern und zurück und wieder von vorn, aber es war die Wahrheit, nichts als die Wahrheit. Darauf hatte ich mich einzustellen.
»Franz!«, rief eine Frauenstimme.
Ich war gerade in der Küche und stürzte zum Fenster und sah Frau Zirwick. Die Nachbarin, mit der ich nie viel am Hut gehabt hatte, stand in ihrem Garten und wischte sich die Hände an der Schürze ab. Dann erblickte ich meinen Vater, der eben eingetroffen sein musste. Es war ein Wiedersehen nach meinem Geschmack.
Er trug eine beigefarbene Jacke, dazu schwarze, ausgebeulte Jogginghosen und Turnschuhe. Er lehnte zwei gefüllte Einkaufstüten gegen die Birke und begab sich zügig an den Zaun. Erstaunlich, dass eine überzeugte Kirchgängerin so gut mit ihm auskam. Vor etwa fünfzehn Jahren war sie nebenan eingezogen. An den Tag erinnerte ich mich vor allem wegen einer Zurückweisung. Einer ihrer Schränke war beim Transport demoliert worden. Die herausgebrochene Seitenwand lehnte am Tor und ich bot an, beim Reparieren behilflich zu sein. Obwohl sie es nicht schaffte (und später einen Tischler bemühen musste), lehnte sie ab: »Das schaffe ich schon!« Wenn ich ihr damals begegnete, wich sie mir aus. Während der paar Gespräche, die sich mitunter nicht vermeiden ließen, konnte sie in Tränen ausbrechen. Ich fand das sonderbar. Vom Vater erfuhr ich, dass sie nach langer Ehe verwitwet war und aus dem Sächsischen stammte.
So, wie beide lächelten, war die Sympathie noch immer gegenseitig.
»Wo brennt’s, Irene?«
»Heute Nacht konnte ich kaum ein Auge zutun.«
»Was ist los?«