Dzogchen Ponlop Rinpoche

Rebell Buddha

Aufbruch in die Freiheit

Aus dem Amerikanischen von
Michael Wallossek

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Dzogchen Ponlop Rinpoche

Dzogchen Ponlop Rinpoche wurde 1965 im Kloster Rumtek in Indien geboren und lebt heute in Seattle, USA. Nach einer traditionellen buddhistischen Ausbildung in Indien studierte er Vergleichende Religionswissenschaft und Englisch an der Columbia University in New York. Dzogchen Ponlop ist bekannt für seinen scharfen Intellekt, seinen Humor und die Klarheit seiner Unterweisungen. Er gehört zu den führenden tibetischen Meistern der neuen Generation.

Über dieses Buch

Es gibt einen Rebell in Ihnen, der weiß, wie er sich von Angst und Leid befreien kann. Er ist die Stimme Ihres eigenen erwachten Geistes – eine scharfe und klare Intelligenz, die sich gegen alle starren Gewohnheiten sträubt. Er rüttelt Sie aus dem schläfrigen Hinnehmen Ihrer Alltagsrealität auf und zeigt Ihnen die Kraft Ihres erleuchteten Wesens. Er ist die vibrierende und einsichtsvolle Energie, die Sie zwingt, die Wahrheit zu suchen.

Dzogchen Ponlop führt Sie durch die innere Revolution, die Sie auslösen, wenn Sie Ihrem Buddha-Rebell freien Lauf lassen. Er erklärt, wie Sie durch Geistestraining Ihre wahre Natur erkennen und sich dadurch von unnötigem Leiden befreien können. Er gibt eine fundierte Einführung in die Lehre Buddhas und bringt Sie dazu, sie voll und ganz in Ihren Alltag zu integrieren. Dzogchen Ponlop tritt entschieden dafür ein, den ganzen Ballast des asiatischen Buddhismus hinter sich zu lassen, denn letztlich können wir uns ja nur von unserer eigenen Weisheit leiten lassen, unserem Buddha-Rebell.

Impressum

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Rebel Buddha«

bei Shambhala Publications, Boston, MA, 2010

 

Deutsche Erstausgabe

Copyright © 2010 Dzogchen Ponlop Rinpoche

Copyright © 2011 der deutschsprachigen Ausgabe O. W. Barth Verlag

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Copyright © 1993 Zitat zum Zwölf-Schritte-Programm

der Anonymen Alkoholiker,

interpretiert von der Hazelden Foundation, Center City, MN.

Copyright © 2011 der eBook Ausgabe by Knaur eBook.

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –

nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Oliver Neumann

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: Covermotiv »Buddha Shakyamuni«

von Gonkar Gyatso. Abdruck mit freundlicher Genehmigung

des Künstlers und TAG Fine Arts.

ISBN 978-3-426-40900-8

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Endnoten

1

Aus dem Kalamasutra, einem Bestandteil der Nikaya-Sutras aus dem Pali-Kanon, die dem Buddha zugeschrieben werden. Hier nach der amerikanischen Übersetzung von Kevin O’Neill, The American Buddhist Directory, 2nd ed., American Buddhist Movement, New York City 1985, S. 7.

2

Vasubandhu, IV, 7 (Tib.: theg pa chen po mdo sde rgyan): Schmuck der Mahayana-Sutras (Skrt.: Mahayanasutralamkara von Maitreya).

3

James Jennings, Hazelden Foundation, The Twelve Steps of Alcoholics Anonymous: Interpreted by the Hazelden Foundation, Hazelden Foundation, Center City, MN, 1993, S. 115.

4

Patrul Rinpoche, The Words of My Perfect Teacher, Shambala, Boston 1998, S. 129130. Hier nach dem englischen Text übersetzt. Die entsprechende deutsche Buchübersetzung finden Sie in: Patrul Rinpoche, Die Worte meines vollendeten Lehrers, übers. v. Padmakara, Arbor, Freiburg 2001, S.186.

5

Patrul Rinpoche, Words of My Perfect Teacher, S. 127. Dt.: a.a.O., S.183.

6

Ein bekanntes Beispiel dafür ist die Arbeit, die der indische Meister, Gelehrte und Übersetzer Atisha geleistet hat. Er hat in Indien wie auch in Tibet für die Entwicklung des Buddhismus eine wichtige Rolle gespielt. Er war als Reformer bekannt, der für Klärung sorgte, wo Verwirrung herrschte. Und wo er Anzeichen von Schwäche und Niedergang sah, stellte er durch angemessene Korrekturen die Integrität der Überlieferung wieder her.

7

Zitiert in: Unrai Wogihara (Hrsg.), Yashomitra, Abhidharmakoshavyakhya, Publishing Association of Abhidharmakoshavyakhya, Tokio 193236, S.704.

8

Buddha Shakyamuni (Tib.: sa’i snying po’i ’khor lo bcu pa zhes bya ba theg pa chen po’i mdo, Skrt.: Dashachakrakshitigarbhasutra, Dt.: Das – an Kshitigarbha sich richtende – Zehn-Kreise-Sutra). Siehe auch: Samdhong Rinpoche und C. Mani (Hrsg.), »The Social and Political Strata in Buddhist Thought«, in: The Social Philosophy of Buddhism, The Central Institute of Higher Tibetan Studies, Varanasi 1972, S. 2535.

Rebell

Jemand, der die ungerechte oder unangemessene Kontrolle einer Autorität oder Tradition hinterfragt, sich ihr widersetzt, sich weigert, ihr Folge zu leisten, oder sich gegen sie auflehnt.

 

Buddha

Der erwachte Geist.

Dieses Buch ist meinem kleinen Buddha-Rebellen gewidmet,

Raymond Sidarta Wu,

der ersten in Amerika geborenen Generation meiner Familie.

Einführung
Zur Freiheit geboren

In Rebell Buddha gehen wir der Frage nach, was »frei sein« bedeutet und wie es uns gelingen kann, wahrhaft frei zu sein … Mit unserer Wählerstimme können wir eine Entscheidung darüber treffen, wer unser Land regiert. Wir heiraten den Menschen, den wir lieben. Und wir bestimmen selbst, welcher göttlichen oder weltlichen Macht wir Respekt erweisen. Dennoch fühlen sich die meisten von uns im Alltag nicht wirklich frei. Sobald wir über Freiheit reden, sprechen wir im selben Atemzug auch ihr Gegenteil an: Unfreiheit, mangelnde Unabhängigkeit, einen fremdbestimmten Zustand, in dem nicht wir selbst die Fäden in der Hand halten, sondern von etwas oder jemandem außerhalb unserer selbst gelenkt oder beherrscht werden. Das gefällt uns nicht. Wenn wir also in diese Situation geraten sind, überlegen wir uns, wie wir ihr schleunigst wieder entrinnen können. Jeder Versuch, unser Leben, unsere Freiheit und unser Streben nach Glück einzuschränken, stößt bei uns auf erbitterten Widerstand. Stehen unser Glück und unsere Freiheit auf dem Spiel, kann von einem Moment auf den anderen der Rebell in uns zum Vorschein kommen.

Jedem von uns wohnt dieser rebellische Zug inne. Mag sein, dass er gewöhnlich im Verborgenen schlummert. Doch wenn er geweckt wird, bringen wir ihn zum Ausdruck. Wird er von Weisheit und Mitgefühl getragen und gespeist, kann er zu einer positiven Kraft werden, die uns von Angst und Unwissenheit befreit. Rebellion in ihrer neurotischen, durch Groll, Wut und Eigennutz gekennzeichneten Ausprägung aber verwandelt sich in eine zerstörerische Kraft, die uns und unseren Mitmenschen gleichermaßen Schaden zufügt. Sobald der rebellische Zug in uns zum Ausdruck kommen will, weil wir uns in unserer Freiheit und Unabhängigkeit bedroht sehen, können wir uns entscheiden, wie wir reagieren. Eine entsprechend kanalisierte Energie kann zum Bestandteil eines kontemplativen, Einsicht bewirkenden Prozesses werden. Manchmal stellt sich die Einsicht sehr zügig ein. Andererseits kann der Prozess auch Jahre in Anspruch nehmen.

Unsere Freiheit, hat der Buddha erklärt, ist im Grunde genommen niemals in Frage gestellt. Wir sind frei geborene Wesen. Die wahre Natur des Geistes wird durch die beiden Erleuchtungsqualitäten Weisheit und Mitgefühl gekennzeichnet. Unser Geist, stets hellwach, ist klares und lichtes Gewahrsein. Trotzdem machen uns quälende Gedanken und jene Unruhe stiftenden Emotionen, die in ihrem Gefolge auftreten, häufig zu schaffen. Dann leben wir in Zuständen von Verwirrung und Angst, wissen nicht, wo wir einen Ausweg finden können. Denn für uns bleibt im Unklaren, wer wir letzten Endes wirklich sind. Das ist unser Problem. Wir sehen nicht, welche Kraft unserer erleuchteten Geistesnatur innewohnt. Stattdessen vertrauen wir der augenscheinlich vor uns befindlichen Realität. Ihr Geltungsanspruch scheint für uns außer Frage zu stehen, zumindest so lange, bis uns ein unvermutet eintretendes Ereignis – eine Krankheit, ein Unfall oder eine schwere Enttäuschung – unsere Illusionen nimmt. Anschließend sind wir möglicherweise bereit, unsere Überzeugungen zu hinterfragen und uns auf die Suche nach einer sinnvolleren und verlässlicheren Wahrheit zu begeben. Damit legen wir den ersten Schritt auf unserem Weg in die Freiheit zurück.

Wovon befreien wir uns auf diesem Weg? Von der Illusion. Und was befreit uns von der Illusion? Die Enthüllung der Wahrheit. Um die Wahrheit enthüllen zu können, müssen wir uns das durchdringende Einsichtsvermögen unseres wachen Geistes zunutze machen, um mit seiner Hilfe zu erkennen, worin wir uns täuschen lassen. So können wir der Täuschung entgegenwirken und sie schließlich überwinden. Genau darin findet der »Rebell Buddha« seine wichtigste Aufgabe: Er soll uns nicht nur von Illusionen über uns selbst befreien, sondern auch von denjenigen, die in unserer Gesellschaft fälschlicherweise als Realität bezeichnet werden.

Damit uns das gelingen kann, unterziehen wir die in unserem Leben sich abspielenden Dramen zunächst einmal einer eingehenden Betrachtung. Allerdings betrachten wir sie nicht mit gewöhnlichen Augen, sondern mit den Augen des Dharma. Woran erkennen wir ein Drama, und was kennzeichnet den Dharma? Ein Drama, so könnte man es wohl am ehesten ausdrücken, ist eine Illusion, die sich gebärdet, als sei sie wirklich und wahrhaftig existent. Als Dharma bezeichnen wir hingegen die Wahrheit selbst: die tatsächliche Beschaffenheit der Dinge, den grundlegenden, nicht in Abhängigkeit von Moden, Launen oder den wechselnden Prioritäten von Tag zu Tag sich ändernden Zustand der Wirklichkeit. Sobald die Grundelemente jedes guten Schauspiels – Emotion, Konflikt und Handlung – vorliegen, verwandelt sich Dharma in Drama. Wir brauchen nur den Eindruck zu haben, für die an der Handlung beteiligten Akteure stehe etwas Dringliches und Bedeutsames auf dem Spiel. Ausgangspunkt unserer persönlichen Dramen können »Tatsachen« sein, die damit zu tun haben, wer wir sind und was wir tun. Von unseren Emotionen und von unseren Vorstellungen geschürt und befeuert, können sich diese Tatsachen dann im Handumdrehen in schiere Ausgeburten unserer Fantasie verwandeln, ähnlich schwer zu entschlüsseln wie die Handlungsabläufe unserer Träume. Unser Realitätssinn entfernt sich damit zusehends weiter von der tatsächlich vorhandenen Realität. Immer mehr verlieren wir aus dem Blick, wer wir eigentlich sind. Schließlich haben wir keinerlei Möglichkeit mehr, Einbildung und Wirklichkeit voneinander zu unterscheiden beziehungsweise diejenige Art von Selbsterkenntnis und von Wissen hervorzubringen, die uns von unseren Illusionen befreien kann.

In meinem Leben musste erst viel Zeit vergehen, bis ich gelernt habe, Drama und Dharma voneinander zu unterscheiden. Da eines dem andern zum Verwechseln ähnlich ist, lassen sie sich nur schwer auseinanderhalten. Für den asiatischen Kulturkreis gilt das ebenso wie für den westlichen. Wenn ich von dem Leben eines Großstädters, das ich heute führe, auf meine frühe Kindheit zurückblicke – in der ich durch eine intensive Ausbildung in die Lage versetzt werden sollte, der mir von Geburt an zugefallenen Rolle eines Rinpoche gerecht zu werden –, wird mir klar: In mancherlei Hinsicht unterscheiden sich die beiden Lebensstile gar nicht so sehr. Damals wie heute waren und sind die Dramen und der Dharma des Lebens miteinander verflochten.

In meiner Jugend hatte ich vielerlei Verpflichtungen zu erfüllen. Ihnen gerecht zu werden ist mir keineswegs immer leichtgefallen. Zum Beispiel gehörte es zu meinen Aufgaben, mich um die spirituellen Belange zu kümmern – zeremonielle Funktionen zu übernehmen und für den Fortbestand der überlieferten kulturellen Abläufe zu sorgen. Dabei war für mich durchaus nicht immer ersichtlich, welchen Sinn diese Aktivitäten hatten beziehungsweise worin eigentlich ihre Verbindung zu wirklicher Weisheit bestand. Mag sein, dass ich die Empfindungen, die mir damals zu schaffen machten, aufgrund meines jugendlichen Alters noch nicht wirklich verstehen konnte. Dessen ungeachtet war diese kleine Ungereimtheit für mich Grund genug, der Frage nachzugehen, was real und daher von wahrer Bedeutung und was lediglich Illusion ist.

Das sich daraus ergebende Dilemma lief für mich auf ein persönliches Drama hinaus und gab mir einen ersten Vorgeschmack auf die Bedeutung und die Auswirkung von »Rebellion«. Immerhin habe ich durch solches Aufbegehren meine Identität und meine Rolle als künftiger Lehrer innerhalb der Überlieferung, in die ich hineingeboren worden war, in Frage gestellt. Trotzdem gab mir diese Erfahrung zugleich einen wichtigen Anstoß, mich auf den Dharma zuzubewegen. Denn an dem Punkt hat für mich persönlich die Suche nach der Wahrheit begonnen – mit Fragen, nicht mit Antworten.

Innere Rebellion

Nachdem ich bereits ungefähr acht Jahre lang das klösterliche Ausbildungssystem durchlaufen hatte, begann ich im Sommer 1978 mit dem Studium der Vinaya-Schriften. Diese beinhalten die – hauptsächlich an die klösterliche Gemeinschaft gerichteten – Lehren des Buddha zu gesellschaftlichen Themen, zur Ausübung von Autorität und zu ethischem Verhalten. Die in diesen Schriften so reich zum Ausdruck kommende Weisheit hat mir große Freude bereitet und mich stark inspiriert. Dennoch zeigte sich unübersehbar wieder dieser rebellische Zug in mir: Die gleiche Unzufriedenheit, die ich zuvor angesichts leerer Rituale und der institutionalisierten Werte der religiösen Traditionen empfunden hatte, regte sich erneut.

Als ich im weiteren Verlauf meiner Studien auch mit dem buddhistischen Leerheitsbegriff in Berührung kam, hatte ich zunächst das Gefühl, mit ihm nichts anfangen zu können. »Wovon, zum Teufel, hat der Buddha da überhaupt geredet?«, fragte ich mich. Alles sollte leer sein. Ein Tisch sei seiner Natur nach leer, desgleichen das Selbst beziehungsweise das Ich. Aber ich konnte den Tisch spüren, und ich konnte ihn sehen. Mein gutes altes Ich-Empfinden war nach wie vor intakt. Nichtsdestoweniger wurde mir im Rahmen einer kontemplativen Betrachtung dieser Lehren schließlich klar, dass ich meinen Geist bislang nur bis zur Ebene der gewöhnlichen Denkprozesse ergründet hatte und kein Stück weiter. In darüber hinausgehende, stärker in die Tiefe reichende Dimensionen war ich damals noch nicht vorgestoßen.

Bei dieser Leerheit, so stellte sich nun heraus, handelte es sich tatsächlich um eine wahrhaft revolutionäre Entdeckung. Denn sie bot mir ungeahnte Möglichkeiten, mich aus dem blinden, mir ein Leben lang selbstverständlichen Vertrauen auf den Realismus zu lösen. Mit einem Mal kam mir dieser Realismus außerordentlich einfältig und naiv vor. Schon das bloße Lesen der Schriften übte eine ungemein befreiende Wirkung auf mich aus. Und diese Empfindung von Freiheit steigerte sich noch, als ich die darauf bezogenen Unterweisungen des Buddha von ganzem Herzen zu praktizieren begann.

Wie wundervoll wäre es doch, dachte ich mir, wenn wir die Unterweisungen gleich so in die Tat umsetzen könnten, wie er sie ursprünglich erteilt hat: unmittelbar aus der Erfahrung schöpfend, unbeeinträchtigt von all dem religiösen Drumherum, das sie unserem Blick gewöhnlich verhüllt. Denn an sich beinhalten die Unterweisungen äußerst wirkungsvolle Methoden zur Steigerung des Gewahrseins, und sie können uns zu tiefer Einsicht verhelfen. Es fällt indes schwer, die Methoden von all den kulturell geprägten Formen zu unterscheiden, in die gekleidet sie uns präsentiert werden. Wenn Sie von einer Freundin oder einem Freund ein Geschenk erhalten, ist dann das hübsche Geschenkpapier, in das es eingewickelt wurde, nichts weiter als Papier? Oder ist es Bestandteil des Geschenks? Hängt der Wert Ihrer Einkaufstasche in höherem Maß davon ab, welcher Designer-Name darauf steht, als von ihrem Inhalt? Sind die bei einer religiösen Praxis durchgeführten Zeremonien und Rituale wichtiger als der Sinngehalt der Praxis – jenes nicht in Worte zu fassende Heilige, das uns zu dem macht, wer und was wir in Wahrheit sind?

Die eigene kulturelle Konditionierung zu hinterfragen, die durch sie vorgegebenen Einschränkungen zu durchbrechen, um daran anschließend gleich den nächsten Schritt zu vollziehen und bis zu der noch subtileren Konditionierung des eigenen Geistes vorzudringen, all das ist keine Kleinigkeit. Diese Schritte zu absolvieren liegt jedoch in der Natur jener Wahrheitssuche, durch die Sie sich von der Illusion befreien können. Bei dem Gedanken an diese Freiheit und daran, wie viel Mut es erfordert hat, die unterkühlte Formalität der perfektionistischen asiatischen Kultur zu durchbrechen, der ich entstamme, rufe ich mir stets Siddhartha in Erinnerung, den Prinzen aus dem alten Indien. Seine Verwirklichung liefert uns nach wie vor das Beispiel für eine vollendete geistige Revolution: für eine einsgerichtete Wahrheitssuche, die letztlich zu seinem vollständigen Erwachen und zur Befreiung aus allen kulturell und psychisch bedingten Fesseln geführt hat. Von der Außenwelt hat Siddhartha nichts gewollt. Er befand sich nicht auf einem emotionalen Trip, bei dem es um persönlichen Ruhm und persönliche Macht geht. Er wollte einfach nur wissen, was – im Unterschied zu schierer Illusion – wirklich und wahr ist. Seine Aufrichtigkeit und sein Mut haben mich immer inspiriert, und sie können jedem Menschen auf seiner Suche nach Wahrheit und Erleuchtung als Quelle der Inspiration dienen.

Um diese Suche geht es in Rebell Buddha. Als Antwort auf die Frage, wer wir sind, will jede/r von uns zu einer bedeutungsvollen Wahrheit vordringen. Nach dieser Wahrheit sind wir unablässig auf der Suche. Ausfindig machen können wir sie freilich nur, indem wir uns von der eigenen Weisheit leiten lassen – von dem Buddha-Rebellen in uns. Durch Übung können wir das Wahrnehmungsvermögen unserer Weisheitsaugen und -ohren so weit schärfen und verfeinern, dass wir die Wahrheit, wenn wir sie sehen oder hören, tatsächlich auch als solche erkennen. Diese Art des Hinsehens und Hinhörens ist allerdings eine Kunstfertigkeit und will gelernt sein. Wie oft glauben wir, offen und aufnahmebereit zu sein – tatsächlich aber fällt bei uns nichts auf fruchtbaren Boden. Denn unser Geist ist bereits randvoll, befrachtet mit Schlussfolgerungen, Einschätzungen, unserer eigenen Sicht der Dinge. Etwas Neues in Erfahrung zu bringen, daran ist uns weniger gelegen. Vielmehr geht es uns darum, das, was wir zu wissen glauben, von unseren Mitmenschen einfach absegnen zu lassen.

Doch was geschieht, wenn es uns gelingt, geistig wirklich offen zu sein? Dadurch wird Raum geschaffen. Zugleich entsteht die Bereitschaft, Neues willkommen zu heißen. Man möchte die Menschen und die Dinge kennenlernen und empfindet eine reale Verbindung zu etwas, was über unser gewöhnliches Selbst hinausreicht. Unter solchen Voraussetzungen sind wir aufnahmefähig für die Wahrheit, die sich uns im gegebenen Augenblick gerade mitteilen will – sei es, dass wir sie in einem anderen Menschen, einem Buch oder in unseren Wahrnehmungen der Welt ringsum erkennen. Das läuft ganz ähnlich ab wie beim Musikhören. Wenn Sie vollkommen in die Erfahrung des Musikhörens eintauchen und darin aufgehen, gelangt Ihr Geist auf eine andere Ebene. Sie hören nur zu, beurteilen nicht, liefern keine intellektuelle Deutung ab. Denn Sie hören mit dem Herzen. Wollen Sie die Wahrheit vernehmen, müssen Sie ihr auf die gleiche Weise lauschen.

Können Sie die Wahrheit auf dieser Ebene erleben, dann entdecken Sie die Wirklichkeit in ihrer nackten, ihrer entkleideten Form jenseits von Kultur, Sprache, Zeit oder Ort. Als Siddhartha zum Buddha wurde, zum »Erwachten«, hat er diese Wahrheit entdeckt. Im Rahmen solch eines Transformationsprozesses – unseres Erwachens zu dem, der wir eigentlich sind, jenseits unserer persönlichen Dramen und unserer veränderlichen kulturellen Identität – wird Illusion wieder in jenen Wirklichkeitszustand verwandelt, der ihr ursprünglich zugrunde liegt. Genau diese Art von Transformation, eine revolutionäre Umwälzung des Geistes, wollen wir hier erkunden. Nachdem ich über die Ausbildung, die mir zuteilgeworden war, eingehend nachgedacht hatte, wollte ich den zeitgenössischen Lesern exakt das präsentieren: eine allen kulturellen Beiwerks entkleidete Darstellung des buddhistischen Weges zum Erwachen.

Jenseits von Kultur

In meiner Rolle als Lehrer geht es mir darum, die Weisheit des Buddha an andere Menschen weiterzugeben und mit ihnen meine persönlichen Erfahrungen zu teilen: Erfahrungen, die ich während der Beschäftigung mit diesen Lehren, bei deren Studium und bei ihrer praktischen Umsetzung in einem traditionellen wie auch in einem modernen Umfeld gesammelt habe. In meinen Unterweisungen der letzten Jahre habe ich außerdem versucht, gewisse, sich in Bezug auf den Buddhismus häufig einstellende Missverständnisse auszuräumen. Insbesondere meine ich damit die Tendenz, Asiens buddhistische Kultur mit dem Buddhismus als solchem gleichzusetzen. Deshalb habe ich den eigentlichen Kern der Lehren in den Vordergrund gestellt: Weisheit, die mit Mitgefühl Hand in Hand geht.

Auch wenn es wahrhaftig nicht immer leichtfällt, diese Dinge auseinanderzuhalten, haben mir meine vielfältigen Erfahrungen zu der Einsicht verholfen, dass der Einfluss der Kultur in unserem Leben unsere Wahrnehmung vieler Dinge trübt, uns regelrecht blind macht. Dadurch wurde mir klar, wie wichtig es ist, unseren Blick gänzlich über alles Kulturelle hinaus zu erheben. Wollen wir, individuell oder als Gesellschaft, je begreifen, wer wir sind, müssen wir erkennen, wie sehr Kultur, Identität und Sinngebung einander wechselseitig bedingen.

Freiheit ist das Ziel des buddhistischen Weges, und um dieses Ziel erreichen zu können, benötigen wir Weisheit. Entsprechend wichtig ist es, einige Fragen zu stellen: »Worin besteht wirkliche Weisheit – ein Wissen, das uns von unseren Fesseln befreit? Woran erkennen wir sie? Wie manifestiert sie sich in unserem Leben und in der Welt? Hat sie so etwas wie eine kulturelle Identität? Sind die gesellschaftlichen und die religiösen Normen unseres Alltags Ausdruck wirklicher Weisheit?« Diese Fragen haben mich inspiriert, eine Reihe von Vorträgen über Kultur, Werte und Weisheit zu halten. Aus diesen Vorträgen wurde das vorliegende Buch zusammengestellt.

Die Weisheit des Buddha von einer Kultur und Sprache in eine andere zu übertragen ist beileibe kein leichtes Unterfangen. Guter Wille allein reicht da nicht. Außerdem geht es bei dieser Aufgabe nicht einfach nur um eine räumliche Verlagerung, etwa im Sinne einer Übertragung vom Osten in den Westen. Neben einer Bewegung durch den physischen Raum handelt es sich vielmehr ebenso sehr um eine Bewegung durch die Zeit. Ein Nachbarland mit andersartigen Bräuchen und Werten zu besuchen und sich zu überlegen, wie man mit den Landesbewohnern kommunizieren kann, ist die eine Sache. Sie werden eine Verständigungsmöglichkeit finden, da Sie ungeachtet aller Unterschiede bestimmte gemeinsame Bezugspunkte haben und gewisse Denkweisen Sie miteinander verbinden – einfach weil Sie Zeitgenossen sind, weil Sie genau wie Ihre Nachbarn im 21. Jahrhundert leben. Würde man Sie hingegen zwei- oder dreitausend Jahre in die Vergangenheit zurückversetzen oder entsprechend weit in die Zukunft befördern, müssten Sie erst Mittel und Wege finden, mit dem für jenes Zeitalter charakteristischen Denken in Verbindung zu treten.

Ebenso müssen wir eine Möglichkeit finden, zwischen diesen vor vielen Jahrhunderten entstandenen Weisheitslehren und unserer heutigen Sicht der Dinge eine Verbindung zu knüpfen. Nur indem wir nebensächliche kulturelle und gesellschaftliche Wertvorstellungen beiseitelassen, werden wir voll und ganz erkennen können, wodurch diese Weisheit in ihrer nackten, aller unnötigen Beigaben entkleideten Form gekennzeichnet ist und was sie uns, die wir einer zeitgenössischen Kultur angehören, zu bieten hat. Eine wirkliche Verschmelzung dieser jahrhundertealten Weisheit mit der Psyche der modernen Welt wird unmöglich bleiben, solange wir an den kulturellen Werten und Gewohnheiten von Ost und West festhalten.

Immer weniger kann man in einer Welt, in der die Globalisierung uns allen dieselben Probleme und Versprechungen beschert, zwischen Ost und West genau unterscheiden. Von Neu-Delhi über Toronto, San Antonio, London, München und Mailand unterhalten wir uns über Skype, nutzen soziale Netzwerke wie Facebook, machen online Geschäfte, sehen uns dieselben albernen YouTube-Videos an und trinken unseren Starbucks-Kaffee. Wir leiden unter den gleichen Panikstörungen und depressiven Anwandlungen. Nur könnte es sein, dass ich vielleicht Valium schlucke, während Sie mit chinesischer Kräutermedizin zurechtzukommen versuchen.

Zugleich nimmt jede Kultur die Welt mit eigenen Augen und Ohren wahr und deutet sie dementsprechend. Für jede Gesellschaft, die daran mitwirkt, auf ihrem Boden eine authentische buddhistische Überlieferungslinie des Erwachens aufrechtzuerhalten, gilt es den Einfluss von Psychologie, Geschichte und Sprache in Rechnung zu stellen. Eine interessante neue spirituelle Überlieferung in unserer Kultur willkommen zu heißen ist eine Sache, sie frisch und lebendig zu halten hingegen eine ganz andere. Wenn die betreffende Überlieferung dann allmählich in die Jahre kommt und ein Gemeinplatz zu werden droht, kann es sein, dass wir ihr gegenüber abstumpfen, für ihre Botschaft und ihre Kraft taub und unempfänglich werden. Dann gleicht sie all den übrigen Dingen, denen wir nach außen hin Respekt erweisen, tatsächlich jedoch kaum Aufmerksamkeit schenken. Alles, mit dem wir nicht mehr von Herzen verbunden sind – sei es eine Sammlung alter Comics, ein Ehering oder die spirituellen Überzeugungen, die uns bis zum Augenblick unseres Todes begleiten –, wird zum Bestandteil des Hintergrundrauschens in unserem Leben.

Genau aus diesem Grund hat der Buddhismus sich über all die Jahrhunderte hinweg im Verlauf von Umwälzungs- und Erneuerungsprozessen immer wieder selbst auf die Probe und vor neue Herausforderungen gestellt. Sofern diese Überlieferung denjenigen, die sie praktizieren, nicht zum Erwachen und zur Freiheit verhilft, wird sie der eigenen Philosophie untreu, und das ihr innewohnende Potenzial bleibt unausgeschöpft. Wenn kulturelle Errungenschaften von der Weisheit und den praktischen Bezügen, aus denen sie einst hervorgingen, abgeschnitten sind, wohnt ihnen keine erweckende Kraft mehr inne. Ihrerseits zu Illusionen geworden, werden sie Teil des Dramas der religiösen Kultur. Obgleich sie vielleicht vorübergehend beglückend wirken können, sind sie außerstande, uns von Leid zu befreien. Und ab einem gewissen Punkt werden sie so zur Quelle von Enttäuschung und Entmutigung. Letzten Endes können sie uns womöglich nicht mehr inspirieren, sondern rufen nur noch Widerstand gegen die von ihnen in Anspruch genommene Autorität hervor.

Mehr Dharma, weniger Drama

Ich bin in einer klösterlichen Einrichtung im indischen Bundesstaat Sikkim aufgewachsen. Rings um das Kloster hatten sich aus Tibet stammende Flüchtlinge, ferner Angehörige diverser, in den indischen, nepalesischen und bhutanesischen Himalaja-Regionen ansässiger Volksstämme angesiedelt. So konnte ich einen Eindruck davon gewinnen, welche Bereicherungen und Herausforderungen das Leben in einer multikulturellen, aus zahlreichen Religionsbekenntnissen sich zusammensetzenden Gemeinschaft mit sich bringt. Doch erst als ich mit vierzehn Jahren nach New York kam, erfuhr ich, was es wirklich heißt, in einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft zu leben. Auf meiner ersten USA-Reise mit meinem Lehrer, dem Sechzehnten Karmapa, wurde mein Geschick, glaube ich, dahingehend besiegelt, dass ich zu jenem US-Bürger wurde, der ich heute bin.

Die kulturellen Herausforderungen, die ich in den USA vor Augen habe, unterscheiden sich gar nicht so sehr von denen, die ich in Europa, in Asien allgemein und insbesondere in den Bergen des Himalaja gesehen habe – bei jenen Völkern, bei denen die überlieferten buddhistischen Werte besonders sorgsam bewahrt werden. Da solche Traditionen unser Leben nachhaltig zum Positiven wie zum Negativen beeinflussen können, tun wir gut daran, unsere kulturellen Überlieferungen einer aufrichtigen Überprüfung zu unterziehen und die Frage zu klären, welchen Stellenwert wir ihnen in unserer Gesellschaft einräumen wollen. In manchen Kulturen wird die Weisheit früherer Generationen bewahrt, und sie dienen uns als wichtige Wissensquelle. Andere enthalten dagegen rein gar keine Weisheit mehr, die ihnen einst innegewohnt haben mag, und es ermangelt ihnen an jeglichem Mitgefühl. Vom indischen Kastensystem mit der Kaste der »Unberührbaren« über die Herrschaft des Feudalismus im Tibet des 19. Jahrhunderts bis zur Hexenverbrennung in Europa und der Versklavung von Schwarzafrikanern in Amerika haben leidvolle und ungerechte Verhaltensweisen bar jeder Vernunft und Weisheit allzu lange Bestand gehabt und sind nicht in Frage gestellt worden. Wenn sich unser Denken und Handeln unter der Last unvernünftiger gesellschaftlicher, religiöser oder kultureller Werte ausprägt, kann es geschehen, dass wir schließlich an einem Punkt steckenbleiben, an dem wir keinerlei Freude mehr erleben, sondern nur Leid und weitere Einschränkung und Fesselung. Wirkliche Freiheit bleibt dagegen von all den kulturellen oder religiösen Dramen unbelastet. Sie sollte uns nichts anderes bringen als Empfindungen von Frieden und Freude.

Vielfach geraten wir jedoch in eine Abhängigkeit von unseren Dramen und haben Angst vor der Wahrheit. Wollen Sie wahrhafte Dramen erleben, brauchen Sie gar nicht erst Ihren Fernseher einzuschalten – Sie finden sie in Ihrem Leben mit all seinen Emotionen, all der Besorgtheit und Niedergeschlagenheit. Und falls Ihnen der Sinn danach steht, sich über solche Dramen zu beklagen, brauchen Sie sich nicht in einen Chatroom einzuloggen – das passiert auch in Ihren Gedanken.

Tag für Tag stehen uns rund um die Uhr unerhört viele materielle Möglichkeiten, alle erdenklichen Annehmlichkeiten, Unterhaltungsangebote und Ablenkungen zur Verfügung. Trotzdem erleben wir kaum einen Tag, an dem wir uns nicht irgendwann ein wenig bedrückt oder niedergeschlagen fühlen. Und geht es uns mal richtig gut, beschleichen uns meist Schuldgefühle. Selbst wenn wir einen geradezu makellos schönen Tag genossen haben, ertappen wir uns bei der Frage: »Habe ich das eigentlich verdient? Habe ich hart genug gearbeitet, um auf so was Anspruch zu haben?« Wo immer sich ein ichbezogenes Drama abspielt, erleben wir Menschen Leid. Das nimmt erst dann ein Ende, wenn wir das Drama aus einer anderen Perspektive betrachten, die uns den Blick auf den Dharma unseres wahren Selbst freigibt.

Nichts geschieht

Als mich während meines Studiums an der Columbia University meine Lehrer aufgefordert haben, mich meinen Kommilitoninnen und Kommilitonen vorzustellen, verschlug es mir regelrecht die Sprache: Ich war mir nicht sicher, wer ich eigentlich war. War ich Tibeter, weil meine Eltern Tibeter waren? Oder war ich Inder, weil ich auf dem indischen Subkontinent zur Welt gekommen war? Oder war ich weder das eine noch das andere, ein Staatenloser ohne eindeutige Nationalität? Seit ich erst nach Kanada, später in die USA gegangen bin, kommt mir bei meinen gelegentlichen Besuchen in Indien alles merkwürdig fremd vor. Meine Gespräche mit Freunden und einstigen Kollegen laufen anders ab als früher. Nicht immer, so wird deutlich, verbindet uns noch der gleiche Sinn für Humor. Unsere Anknüpfungspunkte an den Alltag sind unterschiedlich, und unsere Werte scheinen sich zu wandeln. Geht das also schon wieder los? In dem Land, in dem ich geboren wurde, bin ich ein Fremder, und auch meinen alten Freunden gegenüber habe ich mich entfremdet. Wenn ich mir bei einer Landwirtschaftsausstellung im Mittleren Westen der USA ein wenig deplaziert vorkomme, erstaunt das nicht weiter. Aber dass ich mich dort, wo ich geboren wurde, wie ein Außerirdischer fühle, ist eine Überraschung. Zu den Orten, an denen ich mir wie ein ganz normaler Mensch vorkomme und das Gefühl habe, nicht weiter aufzufallen, zählen mittlerweile die U-Bahnen und Straßen von New York City, meine erste Wohnung in Nordamerika in der Innenstadt von Vancouver, das Souterrain-Apartment in Seattle, in dem mein Tag mit einer Tasse Kaffee beginnt und am Abend mit einer TV-Satire, dem Colbert Report, zu Ende geht.

Wer bin ich jetzt eigentlich? Und was ist mit mir geschehen? »Nichts geschieht«, hat der Sechzehnte Karmapa einst gesagt. Vielleicht ist also eigentlich gar nichts mit mir geschehen. Tatsache ist: Nach Aussage mancher Menschen gehöre ich der »Generation X« an, und ich bin treuer Benutzer eines BlackBerry-Smartphones. In Wahrheit bin ich jedoch ein Rebell ohne klare kulturelle Identität und auf der Suche nach dem Buddha, der, wie ich weiß, in mir gegenwärtig ist.

 

Wenn ich Ihnen hier und auf den nachfolgenden Seiten meine Gedanken mitteile, um gemeinsam mit Ihnen diese Reise durch den Geist und seine Kultur zurückzulegen, tue ich das mit einer bestimmten Intention. Diese Reise soll die Botschaft des Buddha widerspiegeln: Es lohnt sich, die Wahrheit darüber in Erfahrung zu bringen, wer wir jenseits aller Erscheinungsformen wirklich sind. Dieses Wissen führt zur Freiheit, und die Freiheit führt zum Glück. Möge ein jeder von uns sich vollkommenen Glücks erfreuen. Und möge dieses Glück wiederum die Welt von Leid befreien.

1 Rebell Buddha

Woran denken Sie, wenn Sie das Wort Buddha hören? An eine goldene Statue? An einen jungen Prinzen, der unter den ausladenden Ästen eines Baumes sitzt? Oder vielleicht an Keanu Reeves in dem Film Little Buddha? An Mönche in Roben und mit kahlrasiertem Kopf? Möglicherweise haben Sie zahlreiche Assoziationen – oder keine. Die meisten von uns sind weit davon entfernt, einen realistischen Bezug zu diesem Wort zu haben.

Das Wort Buddha bedeutet schlicht und einfach »wach« beziehungsweise »erwacht«. Es bezieht sich weder auf eine bestimmte historische Person noch auf eine Philosophie oder Religion, sondern auf Ihren Geist. Sie verfügen über Geist, das wissen Sie. Doch wie ist er beschaffen? Er ist wach. Damit meine ich nicht bloß »nicht eingeschlafen«. Vielmehr meine ich, Ihr Geist ist wirklich wach, jenseits all dessen, was Sie sich vorstellen können. Ihr Geist ist von strahlender Klarheit, offen, weit, voll von solch außerordentlichen Qualitäten wie bedingungsloser Liebe, Mitgefühl und einer Weisheit, der sich die Dinge so zeigen, wie sie tatsächlich sind. Anders ausgedrückt: Ihr erwachter Geist ist stets ein positiver Geist, niemals getrübt oder verwirrt. Von all den Zweifeln, der Angst und den Emotionen, die uns häufig so schwer zu schaffen machen, wird er nicht heimgesucht. Vielmehr ist Ihr Geist in Wahrheit ein freudvoller, von allem Leid freier Geist. Das sind Sie. Es ist die wahre Natur Ihres Geistes – und die wahre Geistesnatur eines jeden von uns. Ihr Geist sitzt jedoch nicht einfach nur untätig da und ist vollkommen, sondern er mischt die ganze Zeit über mit, indem er Ihre Welt hervorbringt.

Wenn das zutrifft, warum ist Ihr Leben dann nicht vollkommen? Und die ganze Welt nicht? Warum sind Sie nicht permanent glücklich? Wie kann es möglich sein, dass Sie in dieser Minute noch lachen, in der nächsten hingegen von Verzweiflung überwältigt werden? Und aus welchem Grund sollten sich »erwachte« Menschen streiten, einander bekämpfen, belügen, betrügen, bestehlen und bekriegen? Das hat folgenden Grund: Der erwachte Zustand ist zwar die wahre Natur des Geistes, die meisten von uns erblicken sie freilich nicht. Weshalb? Weil da etwas im Wege steht. Etwas versperrt uns den Blick darauf. Gewiss, hin und wieder bekommen wir durchaus das eine oder andere Zipfelchen zu sehen. Doch in dem Moment, in dem wir es erblicken, taucht in unserem Geist etwas anderes auf: »Wie spät ist es eigentlich? Vielleicht Zeit zum Abendessen? Oh, sieh dir das an, ein Schmetterling!« Und schon ist es um unseren Einblick geschehen.

Wodurch wird Ihnen der Blick auf die wahre Natur des Geistes, auf Ihren Buddha-Geist, versperrt? Paradoxerweise ebenfalls durch den Geist – durch jenen Teil des Geistes, der immerzu geschäftig und rührig, in einen nicht abreißenden Strom von Gedanken, Emotionen und sonstigen Vorstellungen verwickelt ist. Dieser geschäftige Geist, so kommt es Ihnen vor, sind Sie. Er ist ziemlich leicht zu erkennen, ähnlich wie das Gesicht einer Person, die vor Ihnen steht. Zum Beispiel ist ein Gedanke, der Ihnen gerade in den Sinn gekommen ist, für Sie offensichtlicher als Ihr Gewahrsein dieses Gedankens. Wenn Sie wütend werden, schenken sie dem, worüber Sie wütend werden, mehr Beachtung als dem Ursprung Ihrer Wut, ihrer eigentlichen Quelle. Mit anderen Worten: Was Ihr Geist gerade macht, sehen Sie, den Geist selbst sehen Sie nicht. Stattdessen identifizieren Sie sich mit den Inhalten, mit denen dieser geschäftige Geist sich befasst – mit Ihren Gedanken, Emotionen, Vorstellungen. Und schließlich halten Sie all das für Ihr »Ich« und sind der Meinung: »So bin ich.«

Das ist so, als würden Sie nach dem Einschlafen träumen und Ihre Traumbilder für bare Wirklichkeit nehmen. Gesetzt den Fall, Sie träumen, ein bedrohlich wirkender Fremder verfolge Sie; dann würde Ihnen das beängstigend und real vorkommen. Aber sobald Sie aufwachen, ist der Fremde verschwunden, Angst und Schrecken ebenfalls. Nun verspüren Sie große Erleichterung. Wäre Ihnen von vornherein klar gewesen, dass Sie träumen, hätten Sie erst gar keine Angst gehabt.

In ganz ähnlicher Weise gleichen wir im gewöhnlichen Leben Träumern, die ihren Traum für die Realität halten. Wir glauben, wach zu sein, sind es aber nicht. Wir leben in dem Glauben, jener geschäftige Geist mit all seinen Gedanken und Emotionen zu sein. Wachen wir dann tatsächlich auf, sind unsere fehlgeleiteten Vorstellungen in Bezug auf unser Dasein und unsere Identität verschwunden – und die durch solche Vorstellungen hervorgerufenen Erfahrungen von Leid und Verwirrung ebenso.

Der Rebell in uns

Sofern wir es könnten, würden wir vermutlich vollständig in den Traum versinken, den wir fälschlich für unseren Wachzustand halten. Irgendetwas rüttelt uns jedoch aus unserem Schlaf immer wieder auf. Wie benommen und verwirrt das träge Selbst auch sein mag, steht es dennoch stets in Verbindung zu vollkommener Wachheit. Diese Wachheit oder Wachsamkeit hat eine scharfe, durchdringende Qualität. Unserem Einsichtsvermögen und klaren Gewahrsein wohnt die Fähigkeit inne, alles zu durchschauen, was uns den Blick auf unser wahres Selbst, auf die wahre Natur unseres Geistes verstellt. Einerseits sind wir zwar an den Schlaf gewöhnt und geben uns mit den Traumerfahrungen des Schlafzustands zufrieden. Andererseits weckt dieses wache Selbst uns immer wieder auf und schaltet gewissermaßen das Licht ein. Das wache Selbst, der wahrhafte, hellwache Geist, will den im Schlaf bestehenden Beschränkungen entgehen, will diese illusionsgleiche Realität hinter sich lassen. Während wir in unserem Traum gefangen sind, sieht es das Freiheitspotenzial. Darum provoziert und weckt es uns, darum stachelt es uns an und gibt uns Impulse, bis es uns schließlich dazu anstiften konnte, entsprechend aktiv zu werden. Unser Leben lang, so könnte man sagen, haben wir einen Rebellen in uns.

Egal, ob Zeitgenossen oder historische Gestalten, Berühmtheiten, weniger bekannte oder in Vergessenheit geratene Menschen: Wenn wir an Leute denken, die gegen die politischen oder gesellschaftlichen Verhältnisse aufbegehrt, für Freiheit und Gerechtigkeit gekämpft haben beziehungsweise dies heute noch tun, neigen wir dazu, sie uns als heroische Heldengestalten vorzustellen. Seien es die Väter der amerikanischen Revolution, Harriet Tubman (die in der zweiten Hälfte des 19. Jh. als Fluchthelferin vielen anderen aus der Sklaverei entlaufenen Schwarzen die Flucht nach Nordamerika oder Kanada ermöglichte), Gandhi, Martin Luther King, Nelson Mandela oder Aung San Suu Kyi – mit einer gewissen Selbstverständlichkeit verharren wir in Ehrfurcht angesichts ihres Mutes, ihres Mitgefühls und all der außerordentlichen Dinge, die sie erreicht haben.

Dessen ungeachtet werden solche Idealisten und Reformer von denen, gegen die sie aufbegehren, als Unruhestifter angesehen. Mit ihren Absichten und Zielen, ja selbst mit ihrer bloßen Anwesenheit sind sie keineswegs immer und überall willkommen. Rebellen sind ganz offenkundig nicht jedermanns Sache. Auch wenn sie für die Filmbranche ein gefundenes Fressen sind, machen sie im gewöhnlichen Leben viele Leute ausgesprochen nervös. Denn sie lassen nicht locker, man wird sie nicht so leicht wieder los. Ein ums andere Mal konfrontieren sie einen mit Fragen, die sonst niemand stellt. Mit Teilwahrheiten oder vagen Antworten lassen sie sich nicht abspeisen. Sie sind nicht bereit, sich an Konventionen zu halten, durch die sie beziehungsweise die Angehörigen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen gleichsam an die Kette gelegt und unterdrückt werden. Der Weg zum Triumph ihrer Ideen führt häufig durch reichlich unwegsames Gelände. Doch ihre Rebellennatur lässt sich nicht entmutigen: Sich engagiert in den Dienst einer Sache zu stellen – einer umfassenderen Sicht dessen, was sein könnte –, darin besteht das Lebenselixier des Rebellen.