Dunkle Schatten auf deiner Seele

DUNKLE SCHATTEN AUF DEINER SEELE

Bergström & Viklund

ANA DEE

Inhalt

Anmerkung

Protagonisten

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Nachwort

Weitere Bücher der Autorin

Impressum

Anmerkung

Auf das in Schweden übliche Duzen wurde zugunsten der Lesbarkeit verzichtet.

Die Geschichte sowie sämtliche Protagonisten, Institutionen und Handlungen sind in diesem Roman frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Wo tatsächlich existierende Orte erwähnt werden, geschieht das im Rahmen fiktiver Ereignisse. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

Protagonisten

Kapitel 1

Tilda rieb fröstelnd die kalten Handflächen aneinander und rief ihren Hütehundmischling Nilson zu sich heran.

„Nun komm schon, du Süßer“, lockte sie den Hund, der schwanzwedelnd an ihre Seite zurückkehrte.

Obwohl der Frühling schon seine Fühler ausstreckte, hatte der Winter das Zepter noch fest in seiner Hand und ihnen über Nacht Neuschnee beschert. Hier in Östersund dauerte es für gewöhnlich länger, bis die Sonne die weiße Pracht unter ihren wärmenden Strahlen dahinschmelzen ließ.

Tilda hatte zum Glück ihre hohen gefütterten Stiefel angezogen und stapfte durch den zentimeterhohen Neuschnee. Nilson trabte eine Weile brav neben seinem Frauchen her, bis er wieder im Dickicht verschwunden war.

„Treulose Tomate“, seufzte Tilda lächelnd und schaute zu einem Bussard auf, der einsam seine Kreise zog. Nachdem sie einige Meter ohne Nilson zurückgelegt hatte, blieb sie stehen.

„Nilson, hierher!“, rief sie mit strenger Stimme, doch der Hund schien auf beiden Ohren taub zu sein. Nun gut, dann eben nicht, dachte sie, und setzte ihren Weg fort. Sie würde noch bis zum Ufer des Sees laufen und dann umkehren, um Nilson aufzulesen.

Sie vergrub ihre klammen Hände in den Manteltaschen und schaute den Atemwölkchen hinterher, die in Richtung Himmel schwebten. Die langen Spaziergänge am Morgen waren ein Teil ihrer täglichen Routine geworden. Sie konnte sich glücklich schätzen, von zu Hause aus zu arbeiten und sich die freie Zeit nach Belieben einteilen zu können. Mit Anfang fünfzig war sie beruflich noch einmal durchgestartet und hatte es nicht bereut.

Plötzlich erklang Nilsons aufgeregtes Kläffen in der Ferne und sein ungewöhnliches Verhalten versetzte Tilda in Unruhe. Ein Herdenschutzhund wie er war von Natur aus ruhig und reagierte auf diese Weise nur bei drohender Gefahr.

„Nilson?“, rief Tilda besorgt. „Nilson, sofort hierher!“

Doch der Rüde hatte auf stur geschaltet und echauffierte sich lautstark. Sein tiefes Bellen hallte durch die Landschaft und Tilda fühlte sich zunehmend unwohl. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Und so, wie Nilson sich in sein Kläffen hineingesteigert hatte, könnte es sich durchaus um einen Wolf handeln.

Tilda atmete noch einmal tief durch, bevor sie sich aus ihrer Starre löste und in die Richtung stapfte, in der sie Nilson vermutete. Wahrscheinlich hatte der Rüde ein Wildtier gestellt, denn er schien sich nicht von der Stelle zu bewegen. Tilda kämpfte sich durch dichtes Buschwerk, dessen harte Dornen sich in ihrer Wollmütze und dem Schal verfingen. Leise fluchend setzte sie sich die Mütze wieder auf und bog die Zweige auseinander.

Nur wenig später hatte sie eine freie Fläche erreicht, auf der ein falunrotes Häuschen mit weißen Fensterläden stand. Soweit sie wusste, lebte hier eine betagte Frau, die von ihrem Sohn betreut wurde.

Herdenschutzhund Nilson hatte sich direkt vor dem Eingang des Häuschens aufgebaut und veranstaltete ein fürchterliches Theater. Die Tür stand offen und schwang sacht hin und her. Seltsam, dachte Tilda und näherte sich dem Haus.

„Ist ja schon gut“, versuchte sie, Nilson zu beruhigen, und ergriff das Halsband des Hundes, um ihn mit sich zu ziehen. Doch Nilson sträubte sich.

„Allein werde ich auf keinen Fall hineingehen, du bleibst schön an meiner Seite“, sagte sie und legte ihm die Leine um.

Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie den Flur betrat. Ein unangenehmer metallischer Geruch hing in der Luft und sie schüttelte sich angewidert. Nilson stieß ein kehliges Knurren aus, das wie Donnergrollen klang. Am liebsten hätte sie sofort die Polizei verständigt, aber sie wollte sich keineswegs lächerlich machen. Vielleicht war die ältere Dame nur schwer gestürzt und Tilda wollte lieber auf Nummer sicher gehen.

„Hallo? Jemand hier? Brauchen Sie Hilfe?“ Ihre Stimme klang dumpf und die Stimmung im Haus wirkte auf eine merkwürdige Weise bedrückt.

Die angrenzende Küche lag im diffusen Dämmerlicht. Die Vorhänge waren zugezogen und es roch wie in einer Schlachterei. Tilda wusste, dass es im Alter sehr beschwerlich werden konnte, das eigene Heim in Schuss zu halten. In dieser Hinsicht baute sie fest auf die Unterstützung ihrer drei Töchter, damit ihr Haushalt später nicht im Chaos versinken würde, so wie es hier der Fall war.

Die Dielen knarrten unter Tildas Füßen, als sie sich dem nächsten Raum zuwandte. Der Geruch verstärkte sich und Nilson zog erneut die Lefzen hoch, um ein drohendes Knurren auszustoßen.

„Ist ja schon gut“, wisperte sie, obwohl ihr die nackte Angst ins Gesicht geschrieben stand. Schließlich musste es einen Grund geben, warum Nilson sich dermaßen aufführte.

Im winzigen Wohnzimmer, das den Namen eigentlich nicht verdiente, herrschte Unordnung. Getragene Kleidungsstücke lagen auf dem Boden und die Sessel waren umgestoßen. Eine weitere Tür führte direkt ins Schlafzimmer, das sie gerade betreten wollte, als sie einen Laut vernahm. Abrupt hielt sie in ihren Bewegungen inne, um zu lauschen. War das Geräusch aus dem Flur gekommen?

Mit einem Mal spannte sich die Leine und Nilson machte einen Satz nach vorn. Tilda wurde förmlich hinter ihm hergerissen und stolperte ins Schlafzimmer. Auch hier waren die Vorhänge zugezogen und sie stieß mit ihrem Fuß gegen einen weichen Gegenstand.

Der Blick auf den Boden ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren – die alte Frau lag mit eingeschlagenem Schädel blutüberströmt auf dem abgewetzten Teppich.

„Oh Gott, oh Gott, oh Gott“, keuchte Tilda und wich entsetzt zurück.

Fluchtartig verließ sie das Schlafzimmer und hastete in den Flur. Erneut vernahm sie einen wimmernden Laut, doch sie hatte genug gesehen. Draußen vor der Tür stützte sie die Hände auf die Knie und würgte.

„So eine Katastrophe …“

Mit zitternden Fingern tippte sie die Notrufnummer ein und war kaum eines vernünftigen Satzes fähig. Nach mehreren Anläufen versprach die Beamtin am anderen Ende der Leitung, sofort jemanden vorbeizuschicken.

„Ach Nilson, was machen wir denn jetzt?“, hauchte Tilda.

Sie wollte nur noch weg von hier, aber das dufte sie nicht. Nervös stapfte sie auf und ab und wartete vergeblich darauf, dass sich ihr Puls normalisieren würde.

Erneut hörte sie ein leises Wimmern. Himmel, was sollte sie nur tun? Vielleicht lag der Sohn ja irgendwo schwer verletzt im Haus und bedurfte dringend ihrer Hilfe? Doch was, wenn sich der Mörder noch in der Nähe befinden würde?

Tilda verscheuchte den beängstigenden Gedanken und fasste sich ein Herz. Sie band Nilson am Zaun fest und betrat nochmals das Haus. Die Tür zum Keller, das hatte Tilda anfangs übersehen, stand ebenfalls offen, und sie vernahm das leise Rascheln von Stoff.

„Hallo? Brauchen Sie Hilfe?“

Alles in ihr sträubte sich, die knarrenden Holzstufen in die undurchdringliche Schwärze hinabzusteigen. Fahrig wischte sie mit zitternden Fingern über das Display ihres Smartphones und richtete den Lichtstrahl nach unten. Sie entdeckte die dunklen Umrisse einer Person, die am Fuße der Treppe lag. Ein weiterer Toter?

Das schaffe ich nicht, dachte Tilda und machte einen Schritt zurück.

Erneut erklang der wimmernde Ton, dem sie sich nicht entziehen konnte. Wenn die am Boden liegende Person Hilfe benötigte, dann musste sie ihre Angst überwinden. Nicht auszudenken, wenn dieser Mensch verstarb, nur weil sie sich nicht im Griff hatte.

Nilson kläffte abermals und sie konnte hören, wie das morsche Holz des alten Zauns knarrte, als er sich gegen die festgezurrte Leine aufbäumte.

Mit klopfendem Herzen stieg sie die wackeligen Stufen hinab, während ihre Gedanken unaufhörlich kreisten. Am Fuße der Treppe angekommen, lenkte sie den Strahl auf die Person und ein animalischer Schrei löste sich von ihren Lippen. Keuchend griff sie sich an die Brust und schwankte.

Zu ihren Füßen lag seltsam verrenkt der Sohn der alten Dame und hielt noch immer die blutige Axt mit seiner rechten Hand umklammert. Er musste gestürzt sein und hatte sich dabei wohl das Genick gebrochen. Tilda stupste den Mann mit der Stiefelspitze an. Er war mausetot.

Ob er seine Mutter in einem Anfall von Raserei getötet hatte? Aber was hatte er dann ausgerechnet im Keller gewollt? Und woher war das wimmernde Geräusch gekommen?

Tilda befürchtete das Schlimmste, als sie den Lichtstrahl durch den Kellerraum lenkte. Zwei rostige Fahrräder mit platten Reifen, ein altertümlicher Holzschlitten, eine defekte Saftpresse, jede Menge Gerümpel und …

Ihr stockte der Atem, als sie nackte Füße und den schmutzigen Saum eines weißen Nachthemdes hinter einer alten Eichentruhe entdeckte. Wie in Trance näherte sie sich der Truhe und war schockiert. Auf dem kalten Boden hockte ein Mädchen, das sich schützend die Hand vor Augen hielt, als der Lichtstrahl es traf. Es war nicht älter als zwölf oder dreizehn Jahre, wirkte verwahrlost und verstört.

„Komm, reiche mir deine Hand, damit ich dich in Sicherheit bringen kann“, sagte Tilda mit sanfter Stimme. Sie schmeckte die bittere Galle und ahnte, warum der Sohn des Hauses am Fuße der Kellertreppe lag. Nicht auszudenken, was er hätte anrichten können, wenn er nicht gestürzt wäre.

Das Mädchen duckte sich ängstlich unter ihren Worten und Tilda zog überrascht ihre Hand zurück.

„Du musst wirklich keine Angst haben, ich will dir doch nur helfen.“

Tilda war irritiert und mit der Situation komplett überfordert, denn das Mädchen zeigte sich wenig kooperativ. Gutes Zureden half nichts und Tilda betrachtete es aufmerksam. Feuerrotes, lockiges Haar, grüne Katzenaugen und ein hübsches Gesicht. Woher stammte das Kind? Und warum hatte sie es vorher noch nie gesehen?

„Nun komm schon, dieser Ort ist nicht gut für dich“, startete sie einen weiteren verzweifelten Versuch, das Mädchen zu überzeugen. Doch es wandte Tilda wieder den Rücken zu. „Ich muss nach draußen zu meinem Hund, du hörst ja, wie aufgeregt er ist“, sagte sie und drehte sich um.

Sie hetzte die Stufen nach oben hinaus ins Freie. Nilson wedelte mit seiner Rute, sie sich ihm näherte, und legte dann seine schweren Pfoten auf ihre Schultern. Tilda verbarg ihr Gesicht im Fell des Hundes.

„Du bist ein Guter. Danke, dass ich mich immer auf dich verlassen kann“, flüsterte sie und strich ihm durchs dichte Winterfell. In der Ferne konnte sie die Sirenen hören. Endlich. Sie atmete auf. Die Verantwortung lastete nun nicht mehr auf ihren Schultern, die Beamten würden schon wissen, was zu tun wäre. Ganz besonders im Falle des verstörten Mädchens.

Der Streifenwagen kam kurz vor dem Haus zum Stehen und wirbelte den frisch gefallenen Schnee auf. Tilda erteilte dem Rüden ein strenges Kommando, der sich sofort hinsetzte.

„Sind Sie Tilda Hansson, die uns verständigt hat?“, fragte der junge Mann, der seinem Rang nach zu urteilen erst vor Kurzem seine Ausbildung beendet haben musste.

„Ja, die bin ich“, bestätigte Tilda.

„Waren Sie schon im Haus?“

Sie nickte. „Ich wollte nachsehen, ob ich helfen kann, aber …“ Ihre Stimme erstarb.

„Bitte atmen Sie tief durch“, sagte der Beamte. „Und jetzt noch einmal von vorn.“

„Im Schlafzimmer liegt die Besitzerin des Hauses. Der Sohn hat ihr wahrscheinlich mit der Axt den Schädel eingeschlagen.“

„Wo ist der Mann?“

„Er liegt im Keller, ist tödlich gestürzt“, stammelte sie.

„Befinden sich weitere Personen im Haus?“

„Ja, ein etwa zwölfjähriges Mädchen, aber ich kenne das Kind nicht.“

„Sollen wir auf Verstärkung warten?“, fragte der jüngere Beamte seinen Kollegen.

„Nein, wir gehen rein.“

Nacheinander betraten die Beamten das Haus und gaben über Funk die Einzelheiten durch. Ein weiteres Fahrzeug näherte sich dem Haus und parkte hinter dem Streifenwagen. Die Beamten in weißen Schutzanzügen blieben abwartend im Wagen sitzen.

Nur wenige Minuten später hatte sich eine regelrechte Fahrzeugkolonne ihren Weg durch das unwegsame Gelände gebahnt und Tilda verfolgte aufmerksam das Geschehen. Sie wollte nur noch nach Hause zurück, einen warmen Tee aufsetzen, die Beine unter dem Küchentisch ausstrecken und diesen Albtraum vergessen. Aber das würde wohl niemals mehr möglich sein. Warum war sie mit Nilson nicht in die entgegengesetzte Richtung gelaufen, so, wie sie es von Anfang an vorgehabt hatte?

Ein blonder Mann und eine bildhübsche Frau in den besten Jahren stiegen aus einem anthrazitfarbenen Volvo und steuerten direkt auf Tilda zu.

„Hej, ich bin Kriminalhauptkommissar Erik Viklund und das ist meine Kollegin Greta Nordin. Sie haben die Tote gefunden?“

„Nicht ich, sondern mein Hund“, verbesserte Tilda. „Er ist zum Haus gelaufen und hat die ganze Zeit über gebellt. Als ich nachsehen wollte, ach …“ Ihre Stimme erstarb.

„Wir werden Sie trotzdem vorladen, damit Sie Ihre Zeugenaussage auf der Polizeibehörde zu Protokoll geben können.“

„Kein Problem. Dürfte ich jetzt nach Hause gehen?“, bat Tilda leise.

„Ihre Personalien wurden bereits aufgenommen?“

„Nein.“

„Dann wird das ein Kollege übernehmen.“

Der Kommissar winkte einen Kollegen zu sich heran und nachdem sich Tilda ausgewiesen hatte, durfte sie endlich gehen. Nilson freute sich unbändig, als sie die Leine vom Zaun löste und seine Rute wedelte wie ein Propeller. Sie entfernte sich mit schnellen Schritten und der Schnee knirschte leise unter ihren Sohlen. Nichts würde mehr so wie früher sein.

Kapitel 2

Er schob seine kalten Hände in die Manteltaschen und beobachtete aus sicherer Entfernung das Szenario. Die Polizisten liefen wie eine Schar aufgescheuchter Hühner herum, kein Wunder bei diesem unschönen Tatort. Die Frau, deren Köter fast durchgedreht war, hatte inzwischen das Weite gesucht.

Zwei Beamte bemühten sich vergebens, das rothaarige Biest aus dem Keller zu locken, und er konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Was für eine Tragödie! Sie würden noch ihre wahre Freude mit der Kleinen haben.

Im Haus war es ziemlich heftig zugegangen, ein ungleicher Kampf. Nun ja, manchmal gewinnt man und manchmal verliert man, dachte er amüsiert. Aber die Natur nahm keinerlei Rücksicht auf den Schwächeren. Entweder biss man sich durch oder man wurde zum Opfer. Und er hatte gewiss nicht vor, in die Opferrolle zurückzukehren.

So wie es aussah, hatten die Kriminaltechniker in ihren weißen Schutzanzügen im Erdgeschoss mit der Arbeit begonnen. Ein weiteres Fahrzeug hielt, aus dem ein Mann und eine ziemlich attraktive Frau ausstiegen. Allein an der Körperhaltung konnte er erahnen, dass die zwei hier das Sagen hatten. Wölfe erkannten einander.

Ja, auch er machte seine Beute, ging den Weg des geringsten Widerstandes und pickte sich die Schwächsten heraus. Wozu Ressourcen verschwenden?

Beinahe hätte er laut losgelacht, aber er zog sich stattdessen tiefer ins Dickicht zurück. Er würde noch ein paar Minuten bleiben, um das Schauspiel zu genießen, denn die Gelegenheit war günstig. Außerdem war er neugierig, ob es den Beamten gelingen würde, das verstörte Mädchen aus dem Keller ans Tageslicht zu holen.

Er bewegte seine Zehen in den feuchten Schuhen und fluchte leise. Die teuren Wanderschuhe waren die Kronen nicht wert gewesen. Er hatte noch einen strammen Fußmarsch vor sich, da er seinen Wagen ziemlich weit entfernt abgestellt hatte. Nun ja, der Anblick der Polizisten, die wie Ameisen herumwuselten, war es wert gewesen.

Kapitel 3

Greta, die Kollegen brauchen deine Hilfe“, wandte sich Erik an seine Kollegin. „Das Mädchen hat sich hinter der Truhe verschanzt und beißt und kratzt, wenn man es nach draußen bringen will. Die Kriminaltechniker wollen mit ihrer Arbeit beginnen.“

„Geht klar, ich werde mein Bestes geben“, versprach sie und stieg die Stufen in den Keller hinunter.

Erik folgte ihr und blieb am Fuße der Treppe stehen. Er warf einen Blick auf den leblosen Körper von Ole Jonsson und fragte sich, wann und warum dieses Drama seinen Lauf genommen hatte.

„Erik?“

„Äh, ja?“

„Verständige bitte die Jugendhilfe“, sagte sie und formte anschließend mit ihren Lippen das Wort Psychologe.

Erik hob die Hand zum Zeichen, dass er verstanden hatte, und lief nach oben. Er beschrieb der Frau von der Jugendhilfe die ungewöhnliche Situation und Sigrun Hjälm erklärte sich sofort bereit, alles in die Wege zu leiten und eine passende Pflegefamilie zu organisieren.

„Wir können uns überhaupt nicht erklären, woher dieses Mädchen stammt“, sagte Erik.

„Wahrscheinlich haben Verwandte aus einer Notsituation heraus das Kind dort untergebracht.“

„Die Kollegen durchforsten mittlerweile die freigegebenen Räume auf der Suche nach Hinweisen.“

„Kontrollieren Sie die Telefonliste, da sind Sie mit Sicherheit schneller am Ziel.“

„Das ist bereits geschehen, jedoch ohne Erfolg.“

„Vielleicht könnte es sich auch um eine uneheliche Tochter handeln“, merkte Sigrun an.

„Wir gehen der Sache nach, aber jetzt bauen wir auf Ihre Unterstützung.“

„Ich werde zwei erfahrene Kolleginnen vorbeischicken, die sich um das Mädchen kümmern“, versprach sie und legte auf.

Erik verstaute sein Smartphone wieder in der Jackentasche und kehrte in den Keller zurück. Greta hockte neben der Truhe und strich sacht mit den Fingerspitzen über den Arm des Mädchens.

„Alles ist gut, du bist jetzt in Sicherheit.“

Greta hatte ein Händchen für derlei Situationen und ihr gelang tatsächlich, woran andere scheiterten. Das Mädchen drehte sich zu ihr um und stand im Zeitlupentempo auf. Greta legte ihren Arm um das Kind und führte es behutsam zur Treppe.

„Möchtest du mir deinen Namen verraten?“, fragte sie.

Das Mädchen stieß einen unverständlichen Laut aus.

„Kannst du sprechen?“, hakte Greta nach, doch das Mädchen senkte seinen Blick.

Erst jetzt fiel Erik auf, wie dünn und ungepflegt sie war. Das verschmutzte Nachthemd schlotterte um ihren mageren Körper, das feuerrote Haar hing ihr strähnig ins Gesicht. Dennoch …

Ihm fehlten die passenden Worte, um das Mädchen genauer zu beschreiben. Da war diese Aura, die es umhüllte – geheimnisvoll, düster, unnahbar. Wahrscheinlich waren nur die grausigen Umstände daran schuld, die sie im Haus vorgefunden hatten.

Erik folgte Greta und dem Mädchen nach draußen. Die zwei Mitarbeiterinnen der Jugendhilfe waren bereits eingetroffen und nahmen das Kind in Empfang. Sie teilten ihnen die Adresse der Pflegefamilie mit und traten sofort den Rückweg an.

„Was hältst du von dem Ganzen?“, wandte sich Erik an Greta.

„Bizarr, ein anderes Wort fällt mir dazu nicht ein“, antwortete sie. „Hoffentlich ist die Kleine in ein paar Tagen vernehmungsfähig. Mich würde brennend interessieren, welches Drama sich in diesem Haus abgespielt hat.“

„Tja, man hört und liest ja immer wieder von diversen Familientragödien, wo ein Wort das andere gibt, bis einem der Anwesenden der Geduldsfaden reißt“, sagte Erik.

„Aber nicht jeder greift danach zu einer Axt, um seine Mutter zu attackieren.“

„Ich finde es generell seltsam, wenn Männer in den besten Jahren noch bei ihrer Mutter wohnen“, brummte er.

„Auch wieder wahr“, stimmte Greta ihm zu.

„Ich werde mal zu Sven gehen, ob es schon Neuigkeiten gibt“, sagte Erik.

„In Ordnung. Ich schaue mich währenddessen auf dem Grundstück um.“

Sven Bergman, der Rechtsmediziner, befand sich noch im Schlafzimmer der alten Dame.

„Hej, schon neue Erkenntnisse?“, fragte Erik.

„Mehr oder weniger. Auf jeden Fall muss ein Kampf stattgefunden haben, denn das Opfer ist von etlichen Abwehrspuren gezeichnet. Was mich jedoch erstaunt, dass es so viele sind. Ich meine, ihr Sohn hat eine kräftige Statur, ein Hieb und die alte Dame wäre sofort zu Boden gegangen.“

„Vielleicht wollte er sie anfangs nur einschüchtern, während ihn im Eifer des Gefechts dann doch die blanke Wut übermannt hat“, sinnierte Erik.

„Nun ja, das wirst du ihn leider nicht mehr fragen können“, erwiderte Sven.

„Sehr witzig“, brummte Erik. „Bist du schon im Keller gewesen?“

„Nur kurz, um den Tod des Mannes festzustellen.“

„Und?“

„Wie ungelenk muss dieser Mann die Stufen hinabgestiegen sein, um auf diese Weise zu stürzen?“, sagte Sven kopfschüttelnd.

„Er war anscheinend in Eile, um die einzige Zeugin zu beseitigen.“

„Sieht wohl so aus. Die üblichen Familiendramen halten uns stets auf Trab.“

„Wenn du nichts weiter für mich hast, würde ich wieder ins Büro zurückfahren.“

„Mach das. Ich bin hier so weit fertig und lasse die Leichen anschließend ins Institut abtransportieren.“

„Na dann, wir hören wieder voneinander.“

Erik lief nach draußen, um Greta einzusammeln. Bis auf die Identität des Mädchens würde es nicht viel zu ermitteln geben, die Beweislage war mehr als offensichtlich.

Am nächsten Morgen hatte sich das Team zu einer Lagebesprechung im Konferenzraum zusammengefunden. Die Stimmung war gelöst und eine Sonderkommission nicht gebildet worden. Kaffee und Gebäck standen auf dem Tisch.

„So, wie ist der Stand der Dinge?“, fragte Erik in die Runde.

„Ich habe mit Sigrun Hjälm von der Jugendhilfe gesprochen, das Mädchen kann sich bedauerlicherweise nur mit Lauten verständlich machen“, meldete sich Greta als Erste zu Wort.

„Wie das?“, fragte Lasse.

„Jördis, die Psychologin, ist an der Sache dran, mehr kann ich dazu nicht sagen. Sie vermutet ein gravierendes Trauma.“

„Konnte die Identität des Mädchens gelüftet werden?“

„Leider nein, obwohl wir gestern Abend noch Überstunden geschoben und das Haus auf den Kopf gestellt haben“, antwortete Lasse resigniert. „Keine Unterlagen, keine Telefonnummern, nichts.“

„Vermisstenanzeigen?“, hakte Erik nach.

Auch auf diese Frage folgte nur ein ratloses Kopfschütteln seiner Kollegen.

„Das ist mir unbegreiflich. Sie kann doch nicht vom Himmel gefallen sein“, sagte er.

„Ich habe schon beim Telefonanbieter die Anruflisten angefordert. Gegen Mittag sollen sie gefaxt werden“, erwiderte Lasse.

„Immerhin etwas. Wir müssen so schnell wie möglich herausfinden, wer das Mädchen ist, um den Fall abschließen zu können.“

Die Kollegen pflichteten ihm bei, während Erik nachdenklich an seinem mittlerweile kalten Kaffee nippte.

Kapitel 4

Schatz, ich bin fertig“, sagte Henning und rubbelte mit einem Handtuch sein Haar trocken.

Linnea schlug die Bettdecke zurück und tappte mit müden Schritten ins Badezimmer. Es verlangte eine Menge schauspielerisches Talent, das morgendliche Unwohlsein vor Henning zu verbergen. Schon längst hatte sie das Thema ansprechen wollen, aber sich stets davor gescheut. Nicht der richtige Zeitpunkt, nicht der passende Ort, nicht …

Leise stöhnend stützte sie sich auf dem Waschbecken ab und betrachtete ihr Spiegelbild. Traurige Augen, die ihr entgegenblickten, das Gesicht leicht aufgedunsen. Henning hatte ihre depressive Gemütsverfassung natürlich bemerkt und machte sich Sorgen. Das wiederum setzte sie unter Druck. Warum hatte sie sich bloß auf diesen bärbeißigen Viklund eingelassen? Sie bedauerte, das Rad der Zeit nicht zurückdrehen zu können.

„Ich koche schon mal einen Kaffee“, rief Henning durch die geschlossene Badezimmertür.

Seine Fürsorge beschämte sie und sie hatte schon mehrmals darüber nachgedacht, die Beziehung zu beenden. Er hatte etwas Besseres verdient.

Frustriert wischte sie die Tränen mit dem Handrücken fort. Sie musste endlich reinen Tisch machen, egal wie schlimm es für sie werden würde. Augen zu und durch. Heutzutage war es keine Schande mehr, ein Kind allein großzuziehen.

Sie putzte ihre Zähne, stieg unter die Dusche und ging anschließend in die Küche, um mit Henning gemeinsam zu frühstücken.

„Und, was hast du heute Schönes vor?“, fragte er gut gelaunt.

Lustlos zuckte sie mit den Schultern. „Du hast doch sicher von der Familientragödie gehört? Der Sohn soll seine Mutter erschlagen haben.“

„Ja, so etwas spricht sich wie ein Lauffeuer herum.“ Henning biss in seinen Käsetoast.

„Besson hat mich damit beauftragt, einen Artikel darüber zu schreiben und weil die Herkunft des Mädchens ungeklärt ist, muss ich noch ein wenig recherchieren.“

„Das klingt nach einer spannenden Aufgabe“, antwortete Henning. „Aber pass bitte auf dich auf, ja? Ich will nicht den wichtigsten Menschen in meinem Leben verlieren.“

Abermals schlug das schlechte Gewissen ihr einmal quer ins Gesicht. Linn schämte sich abgrundtief.

„Ich werde ein Interview mit Sigrun Hjälm führen und danach zum Haus fahren, um ein paar Fotos zu schießen und die Eindrücke auf mich wirken zu lassen. Also nichts Weltbewegendes.“

„Muss der Besuch des Hauses wirklich sein?“ Henning zog missbilligend die Stirn kraus.

„Wenn ich einen Artikel schreibe, dann muss ich mich in die Gegebenheiten einfühlen. Einfach lieblos etwas hinschmieren ist nicht meine Art, verstehst du?“

„Und ob ich das verstehe“, antwortete Henning. „Genau aus diesem Grund habe ich mich in dich verliebt, weil du ein warmherziger und zielstrebiger Mensch bist.“ Er stand auf, beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie auf die Wange. „Ich muss jetzt los und wünsche dir einen schönen Tag. Halte trotzdem die Augen offen, wenn du dich dort draußen umschaust.“

„Das werde ich, Henning. Versprochen.“

Sie hörte, wie die Eingangstür ins Schloss fiel und der Motor seines Wagens ansprang. Seine Fürsorglichkeit rührte sie jedes Mal aufs Neue. Himmel, sie musste endlich ihr Schweigen brechen und für klare Fronten sorgen. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich verlogen und feige. Sie wollte Henning nicht verlieren, schon gar nicht, wo es so gut zwischen ihnen lief. Er war der Mann, auf den sie ihr Leben lang gewartet hatte. Und dennoch …

Karin hatte den Standpunkt vertreten, dass ihre Absichten Henning gegenüber nicht der Wahrheit entsprachen. Dass Linn, wenn auch unbewusst, die Chance ergriffen hatte, ihren verborgenen Gefühlen für Erik nachzugeben.

Blödsinn, dachte Linn und verbannte diese unangenehmen Gedanken aus ihrem Kopf. Sie leerte ihre Tasse und räumte den Tisch ab, den Henning wie üblich liebevoll gedeckt hatte. Im Badezimmer legte sie noch ein wenig Make-up auf, um die dunklen Augenringe zu kaschieren, zog sich im Flur Jacke und Mantel über und machte sich auf den Weg zu Sigrun Hjälm.

„Guten Morgen, Frau Bergström.“ Sigrun Hjälm reichte ihr zur Begrüßung die Hand. „Folgen Sie mir doch bitte in mein Büro.“

Linn schritt den langen Flur entlang und betrat das Büro, das sehr behaglich eingerichtet worden war. Verschiedene Topfpflanzen in unterschiedlichen Wachstumsstadien säumten das Fensterbrett und besiedelten die Aktenschränke. Bunte Bilder schmückten die Wände, die von Kindern gemalt worden waren.

„Setzen Sie sich doch.“ Sigrun deutete auf einen bequemen Stuhl vor ihrem Schreibtisch. „Also, was wollen Sie wissen?“

„Ich würde gern mehr über das Mädchen erfahren. Sie müssten mir mitteilen, was ich für den Artikel verwenden darf und was nicht.“

„Nun ja, die Angelegenheit gestaltet sich ziemlich schwierig, wissen Sie“, begann Sigrun zögerlich.

„Inwiefern?“, hakte Linn nach.

„Wir hatten recht schnell eine passende Pflegefamilie gefunden, die bereits zwei Kinder von uns betreut. Aber Madita – wir haben gemeinsam diesen Namen ausgesucht, um sie überhaupt ansprechen zu können – hat sich von unseren Plänen wenig begeistert gezeigt.“ Sigrun stieß einen tiefen Seufzer aus.

„Sind diese Informationen für die Presse relevant?“

„Eher nicht. Ich möchte unbedingt vermeiden, dass man uns unprofessionelles Verhalten vorwirft.“

„Ich verstehe“, erwiderte Linn.

„Madita ist so verstört, dass sie auf die anderen Kinder losgegangen ist. Sie hat die Kleinen gebissen und gekratzt, sobald diese sich ihr genähert haben. Die Psychologin war der Meinung, dass ein Haushalt ohne weitere Pflegekinder besser geeignet wäre.“

„Haben Sie schon eine passende Familie gefunden?“

„Nein, wir sind noch auf der Suche.“

„Wenn Sie dem Mädchen einen Namen gegeben haben, bedeutet das sicherlich, dass sie immer noch nicht spricht. Oder irre ich mich da?“

„Tja, das ist das große Problem an dieser Geschichte. Ich kann nur hoffen, dass wir das Rätsel um Maditas Herkunft bald lösen können.“

„Wie gestaltet sich der Alltag mit ihr? Isst und trinkt sie normal, leidet sie unter Albträumen?“

„Die Pflegemutter hat mir berichtet, dass die Portionen, die sie zu sich nimmt, denen eines Spatzen gleichkommen. Außerdem würde Madita nachts durchs Haus geistern und ihnen den Schlaf rauben. Eine ungünstige Konstellation, da die anderen Pflegekinder morgens zur Schule müssen.“

„Ich dachte mir schon, dass es schwierig werden würde, bei dem, was dieses Mädchen erlebt haben muss“, merkte Linn an.

„Am besten wäre natürlich für alle Beteiligten, wenn sich die Eltern von Madita recht bald melden würden. Ich stelle mir immer wieder die Frage, warum ausgerechnet die Jonssons das Mädchen aufgenommen haben.“ Sigrun schüttelte verständnislos den Kopf. „Ich meine, das Kind hätte bei der Behörde gemeldet werden und zur Schule gehen müssen. Außerdem finde ich es erstaunlich, dass keine persönlichen Dinge im Haus gefunden wurden. Madita wird dieses altmodische Nachthemd doch nicht Tag und Nacht getragen haben?“

Sigrun Hjälms Stimme klang entrüstet, aber auch Linn dachte sich ihren Teil. War das Mädchen vielleicht gefangen gehalten worden? An Missbrauch wollte sie gar nicht erst denken.

„Ist das Mädchen einem Arzt vorgestellt worden?“

„Selbstverständlich.“ Sigrun errötete.

„Und?“

Die Leiterin holte tief Luft. „Ich möchte, dass davon nichts an die Öffentlichkeit dringt, versprechen Sie mir das?“

„Sie können auf mein Wort zählen“, antwortete Linn.

„Eigentlich dürfte ich Ihnen das gar nicht sagen, aber die Kleine ist keine Jungfrau mehr.“

„Also doch Missbrauch?“

„Wir wissen es nicht genau, aber es sieht ganz danach aus.“

„Das macht mich fassungslos“, sagte Linn.

„Das erging uns ähnlich. Wahrscheinlich ist es zu diesem Eklat gekommen, als die Mutter mitbekommen hat, was ihr Sohn da mit dem Mädchen treibt. Aber letztlich müssen wir die Ermittlungen abwarten. Sie berichten bitte nur von Maditas Verwahrlosung und dass sie von nun an jede erdenkliche Hilfe erhält. Wer Hinweise auf die Identität des Kindes geben kann, soll sich an die Polizei oder an die Jugendhilfe wenden.“

„Das werde ich tun, vielen Dank für Ihr Vertrauen.“ Linn erhob sich und schulterte ihre Tasche.

„Warten Sie, ich begleite Sie nach draußen“, sagte Sigrun Hjälm und brachte Linn vor die Tür, wo sie sich von ihr verabschiedete.

Linn warf die Tasche auf den Beifahrersitz und glitt hinters Steuer. Was für ein bizarrer Fall, dachte sie und war dankbar für den Vertrauensbonus, den Sigrun Hjälm ihr gewährt hatte. Dann startete sie den Motor und ließ Östersund hinter sich.

Das Anwesen der Jonssons lag außerhalb und ein unbefestigter Schotterweg führte zum Haus. Die vielen Fahrzeuge hatten den einst so unberührten Schnee in eine braune matschige Masse verwandelt. Holpernd bewegte sich Linns alter Volvo über die Piste, bis er einige Meter vor dem Haus zum Stehen kam. Einzelne Nebelschwaden stiegen vom Boden auf und verliehen der Umgebung einen gespenstischen Touch.

Linn stieg aus dem Wagen und rieb sich fröstelnd über die Oberarme. Was für ein ungemütlicher Tag. Sie schoss ein paar Fotos und näherte sich dann dem Haus. An der Eingangstür befand sich wie erwartet das übliche Siegel und verwehrte ihr den Eintritt. Linn warf stattdessen einen neugierigen Blick durch die Fenster im Erdgeschoss. Bis auf einen umgeworfenen Stuhl deutete nichts auf einen Kampf hin und im Schlafzimmer waren die Vorhänge zugezogen.

Vielleicht auch besser so, dachte sich Linn. Seit ihrer Schwangerschaft war sie noch dünnhäutiger geworden, was diese Dinge betraf. Nicht nur einmal hatte sie erwogen, diese Art von Journalismus ad acta zu legen und stattdessen einen Blog zu eröffnen, um in Zukunft ihre Brötchen auf diese Weise zu verdienen.

Ohne Hast umrundete sie das Haus und machte sich währenddessen einige Notizen. Der kleine Garten im hinteren Bereich wirkte verwahrlost und auch die Dachrinne hätte repariert werden müssen. Hier draußen war es schon recht einsam ohne einen einzigen Nachbarn weit und breit. Ein Bach plätscherte leise murmelnd vor sich hin, an dessen Rand sich hübsche Eisformationen gebildet hatten. Aber der Frühling nahte und die Sonne würde diese bald zum Schmelzen bringen.

Linn war so in die Erkundung des Grundstücks vertieft, dass sie ihren Blick erschrocken hob, als ein paar Meter neben ihr etwas auf den Boden fiel. Hatte jemand einen Stein nach ihr geworfen? Ängstlich presste sie den Notizblock an ihre Brust und schaute sich suchend um.

„Hallo?“

Natürlich war es total albern, auch noch die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Aber wer verhielt sich in solchen Situationen schon rational?

Ihr Blick wanderte zu dem dichten Dornengestrüpp, das einige Meter vom Haus entfernt wucherte. Linn glaubte, rotes flammendes Haar zwischen den einzelnen Zweigen zu erkennen, war sich aber nicht sicher. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und schaute nochmals hin.

Ein Fuchs preschte plötzlich aus dem Dickicht, um sich hastig aus dem Staub zu machen. Linn stieß einen erleichterten Laut aus. Bloß gut, dass sie die Fotos schon im Kasten hatte. So schnell sie ihre Beine tragen konnten, eilte sie zum Wagen zurück, riss die Autotür auf und ließ sich auf den Fahrersitz fallen.

Die mysteriöse Geschichte des stummen Mädchens mit dem Flammenhaar machte sie nervös, und das abgelegene Haus tat sein Übriges dazu.

Linn drehte den Schlüssel im Zündschloss herum, wendete und fuhr auf dem schnellsten Weg nach Östersund zurück.