Tilda rieb fröstelnd die kalten Handflächen aneinander und rief ihren Hütehundmischling Nilson zu sich heran.
„Nun komm schon, du Süßer“, lockte sie den Hund, der schwanzwedelnd an ihre Seite zurückkehrte.
Obwohl der Frühling schon seine Fühler ausstreckte, hatte der Winter das Zepter noch fest in seiner Hand und ihnen über Nacht Neuschnee beschert. Hier in Östersund dauerte es für gewöhnlich länger, bis die Sonne die weiße Pracht unter ihren wärmenden Strahlen dahinschmelzen ließ.
Tilda hatte zum Glück ihre hohen gefütterten Stiefel angezogen und stapfte durch den zentimeterhohen Neuschnee. Nilson trabte eine Weile brav neben seinem Frauchen her, bis er wieder im Dickicht verschwunden war.
„Treulose Tomate“, seufzte Tilda lächelnd und schaute zu einem Bussard auf, der einsam seine Kreise zog. Nachdem sie einige Meter ohne Nilson zurückgelegt hatte, blieb sie stehen.
„Nilson, hierher!“, rief sie mit strenger Stimme, doch der Hund schien auf beiden Ohren taub zu sein. Nun gut, dann eben nicht, dachte sie, und setzte ihren Weg fort. Sie würde noch bis zum Ufer des Sees laufen und dann umkehren, um Nilson aufzulesen.
Sie vergrub ihre klammen Hände in den Manteltaschen und schaute den Atemwölkchen hinterher, die in Richtung Himmel schwebten. Die langen Spaziergänge am Morgen waren ein Teil ihrer täglichen Routine geworden. Sie konnte sich glücklich schätzen, von zu Hause aus zu arbeiten und sich die freie Zeit nach Belieben einteilen zu können. Mit Anfang fünfzig war sie beruflich noch einmal durchgestartet und hatte es nicht bereut.
Plötzlich erklang Nilsons aufgeregtes Kläffen in der Ferne und sein ungewöhnliches Verhalten versetzte Tilda in Unruhe. Ein Herdenschutzhund wie er war von Natur aus ruhig und reagierte auf diese Weise nur bei drohender Gefahr.
„Nilson?“, rief Tilda besorgt. „Nilson, sofort hierher!“
Doch der Rüde hatte auf stur geschaltet und echauffierte sich lautstark. Sein tiefes Bellen hallte durch die Landschaft und Tilda fühlte sich zunehmend unwohl. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Und so, wie Nilson sich in sein Kläffen hineingesteigert hatte, könnte es sich durchaus um einen Wolf handeln.
Tilda atmete noch einmal tief durch, bevor sie sich aus ihrer Starre löste und in die Richtung stapfte, in der sie Nilson vermutete. Wahrscheinlich hatte der Rüde ein Wildtier gestellt, denn er schien sich nicht von der Stelle zu bewegen. Tilda kämpfte sich durch dichtes Buschwerk, dessen harte Dornen sich in ihrer Wollmütze und dem Schal verfingen. Leise fluchend setzte sie sich die Mütze wieder auf und bog die Zweige auseinander.
Nur wenig später hatte sie eine freie Fläche erreicht, auf der ein falunrotes Häuschen mit weißen Fensterläden stand. Soweit sie wusste, lebte hier eine betagte Frau, die von ihrem Sohn betreut wurde.
Herdenschutzhund Nilson hatte sich direkt vor dem Eingang des Häuschens aufgebaut und veranstaltete ein fürchterliches Theater. Die Tür stand offen und schwang sacht hin und her. Seltsam, dachte Tilda und näherte sich dem Haus.
„Ist ja schon gut“, versuchte sie, Nilson zu beruhigen, und ergriff das Halsband des Hundes, um ihn mit sich zu ziehen. Doch Nilson sträubte sich.
„Allein werde ich auf keinen Fall hineingehen, du bleibst schön an meiner Seite“, sagte sie und legte ihm die Leine um.
Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie den Flur betrat. Ein unangenehmer metallischer Geruch hing in der Luft und sie schüttelte sich angewidert. Nilson stieß ein kehliges Knurren aus, das wie Donnergrollen klang. Am liebsten hätte sie sofort die Polizei verständigt, aber sie wollte sich keineswegs lächerlich machen. Vielleicht war die ältere Dame nur schwer gestürzt und Tilda wollte lieber auf Nummer sicher gehen.
„Hallo? Jemand hier? Brauchen Sie Hilfe?“ Ihre Stimme klang dumpf und die Stimmung im Haus wirkte auf eine merkwürdige Weise bedrückt.
Die angrenzende Küche lag im diffusen Dämmerlicht. Die Vorhänge waren zugezogen und es roch wie in einer Schlachterei. Tilda wusste, dass es im Alter sehr beschwerlich werden konnte, das eigene Heim in Schuss zu halten. In dieser Hinsicht baute sie fest auf die Unterstützung ihrer drei Töchter, damit ihr Haushalt später nicht im Chaos versinken würde, so wie es hier der Fall war.
Die Dielen knarrten unter Tildas Füßen, als sie sich dem nächsten Raum zuwandte. Der Geruch verstärkte sich und Nilson zog erneut die Lefzen hoch, um ein drohendes Knurren auszustoßen.
„Ist ja schon gut“, wisperte sie, obwohl ihr die nackte Angst ins Gesicht geschrieben stand. Schließlich musste es einen Grund geben, warum Nilson sich dermaßen aufführte.
Im winzigen Wohnzimmer, das den Namen eigentlich nicht verdiente, herrschte Unordnung. Getragene Kleidungsstücke lagen auf dem Boden und die Sessel waren umgestoßen. Eine weitere Tür führte direkt ins Schlafzimmer, das sie gerade betreten wollte, als sie einen Laut vernahm. Abrupt hielt sie in ihren Bewegungen inne, um zu lauschen. War das Geräusch aus dem Flur gekommen?
Mit einem Mal spannte sich die Leine und Nilson machte einen Satz nach vorn. Tilda wurde förmlich hinter ihm hergerissen und stolperte ins Schlafzimmer. Auch hier waren die Vorhänge zugezogen und sie stieß mit ihrem Fuß gegen einen weichen Gegenstand.
Der Blick auf den Boden ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren – die alte Frau lag mit eingeschlagenem Schädel blutüberströmt auf dem abgewetzten Teppich.
„Oh Gott, oh Gott, oh Gott“, keuchte Tilda und wich entsetzt zurück.
Fluchtartig verließ sie das Schlafzimmer und hastete in den Flur. Erneut vernahm sie einen wimmernden Laut, doch sie hatte genug gesehen. Draußen vor der Tür stützte sie die Hände auf die Knie und würgte.
„So eine Katastrophe …“
Mit zitternden Fingern tippte sie die Notrufnummer ein und war kaum eines vernünftigen Satzes fähig. Nach mehreren Anläufen versprach die Beamtin am anderen Ende der Leitung, sofort jemanden vorbeizuschicken.
„Ach Nilson, was machen wir denn jetzt?“, hauchte Tilda.
Sie wollte nur noch weg von hier, aber das dufte sie nicht. Nervös stapfte sie auf und ab und wartete vergeblich darauf, dass sich ihr Puls normalisieren würde.
Erneut hörte sie ein leises Wimmern. Himmel, was sollte sie nur tun? Vielleicht lag der Sohn ja irgendwo schwer verletzt im Haus und bedurfte dringend ihrer Hilfe? Doch was, wenn sich der Mörder noch in der Nähe befinden würde?
Tilda verscheuchte den beängstigenden Gedanken und fasste sich ein Herz. Sie band Nilson am Zaun fest und betrat nochmals das Haus. Die Tür zum Keller, das hatte Tilda anfangs übersehen, stand ebenfalls offen, und sie vernahm das leise Rascheln von Stoff.
„Hallo? Brauchen Sie Hilfe?“
Alles in ihr sträubte sich, die knarrenden Holzstufen in die undurchdringliche Schwärze hinabzusteigen. Fahrig wischte sie mit zitternden Fingern über das Display ihres Smartphones und richtete den Lichtstrahl nach unten. Sie entdeckte die dunklen Umrisse einer Person, die am Fuße der Treppe lag. Ein weiterer Toter?
Das schaffe ich nicht, dachte Tilda und machte einen Schritt zurück.
Erneut erklang der wimmernde Ton, dem sie sich nicht entziehen konnte. Wenn die am Boden liegende Person Hilfe benötigte, dann musste sie ihre Angst überwinden. Nicht auszudenken, wenn dieser Mensch verstarb, nur weil sie sich nicht im Griff hatte.
Nilson kläffte abermals und sie konnte hören, wie das morsche Holz des alten Zauns knarrte, als er sich gegen die festgezurrte Leine aufbäumte.
Mit klopfendem Herzen stieg sie die wackeligen Stufen hinab, während ihre Gedanken unaufhörlich kreisten. Am Fuße der Treppe angekommen, lenkte sie den Strahl auf die Person und ein animalischer Schrei löste sich von ihren Lippen. Keuchend griff sie sich an die Brust und schwankte.
Zu ihren Füßen lag seltsam verrenkt der Sohn der alten Dame und hielt noch immer die blutige Axt mit seiner rechten Hand umklammert. Er musste gestürzt sein und hatte sich dabei wohl das Genick gebrochen. Tilda stupste den Mann mit der Stiefelspitze an. Er war mausetot.
Ob er seine Mutter in einem Anfall von Raserei getötet hatte? Aber was hatte er dann ausgerechnet im Keller gewollt? Und woher war das wimmernde Geräusch gekommen?
Tilda befürchtete das Schlimmste, als sie den Lichtstrahl durch den Kellerraum lenkte. Zwei rostige Fahrräder mit platten Reifen, ein altertümlicher Holzschlitten, eine defekte Saftpresse, jede Menge Gerümpel und …
Ihr stockte der Atem, als sie nackte Füße und den schmutzigen Saum eines weißen Nachthemdes hinter einer alten Eichentruhe entdeckte. Wie in Trance näherte sie sich der Truhe und war schockiert. Auf dem kalten Boden hockte ein Mädchen, das sich schützend die Hand vor Augen hielt, als der Lichtstrahl es traf. Es war nicht älter als zwölf oder dreizehn Jahre, wirkte verwahrlost und verstört.
„Komm, reiche mir deine Hand, damit ich dich in Sicherheit bringen kann“, sagte Tilda mit sanfter Stimme. Sie schmeckte die bittere Galle und ahnte, warum der Sohn des Hauses am Fuße der Kellertreppe lag. Nicht auszudenken, was er hätte anrichten können, wenn er nicht gestürzt wäre.
Das Mädchen duckte sich ängstlich unter ihren Worten und Tilda zog überrascht ihre Hand zurück.
„Du musst wirklich keine Angst haben, ich will dir doch nur helfen.“
Tilda war irritiert und mit der Situation komplett überfordert, denn das Mädchen zeigte sich wenig kooperativ. Gutes Zureden half nichts und Tilda betrachtete es aufmerksam. Feuerrotes, lockiges Haar, grüne Katzenaugen und ein hübsches Gesicht. Woher stammte das Kind? Und warum hatte sie es vorher noch nie gesehen?
„Nun komm schon, dieser Ort ist nicht gut für dich“, startete sie einen weiteren verzweifelten Versuch, das Mädchen zu überzeugen. Doch es wandte Tilda wieder den Rücken zu. „Ich muss nach draußen zu meinem Hund, du hörst ja, wie aufgeregt er ist“, sagte sie und drehte sich um.
Sie hetzte die Stufen nach oben hinaus ins Freie. Nilson wedelte mit seiner Rute, sie sich ihm näherte, und legte dann seine schweren Pfoten auf ihre Schultern. Tilda verbarg ihr Gesicht im Fell des Hundes.
„Du bist ein Guter. Danke, dass ich mich immer auf dich verlassen kann“, flüsterte sie und strich ihm durchs dichte Winterfell. In der Ferne konnte sie die Sirenen hören. Endlich. Sie atmete auf. Die Verantwortung lastete nun nicht mehr auf ihren Schultern, die Beamten würden schon wissen, was zu tun wäre. Ganz besonders im Falle des verstörten Mädchens.
Der Streifenwagen kam kurz vor dem Haus zum Stehen und wirbelte den frisch gefallenen Schnee auf. Tilda erteilte dem Rüden ein strenges Kommando, der sich sofort hinsetzte.
„Sind Sie Tilda Hansson, die uns verständigt hat?“, fragte der junge Mann, der seinem Rang nach zu urteilen erst vor Kurzem seine Ausbildung beendet haben musste.
„Ja, die bin ich“, bestätigte Tilda.
„Waren Sie schon im Haus?“
Sie nickte. „Ich wollte nachsehen, ob ich helfen kann, aber …“ Ihre Stimme erstarb.
„Bitte atmen Sie tief durch“, sagte der Beamte. „Und jetzt noch einmal von vorn.“
„Im Schlafzimmer liegt die Besitzerin des Hauses. Der Sohn hat ihr wahrscheinlich mit der Axt den Schädel eingeschlagen.“
„Wo ist der Mann?“
„Er liegt im Keller, ist tödlich gestürzt“, stammelte sie.
„Befinden sich weitere Personen im Haus?“
„Ja, ein etwa zwölfjähriges Mädchen, aber ich kenne das Kind nicht.“
„Sollen wir auf Verstärkung warten?“, fragte der jüngere Beamte seinen Kollegen.
„Nein, wir gehen rein.“
Nacheinander betraten die Beamten das Haus und gaben über Funk die Einzelheiten durch. Ein weiteres Fahrzeug näherte sich dem Haus und parkte hinter dem Streifenwagen. Die Beamten in weißen Schutzanzügen blieben abwartend im Wagen sitzen.
Nur wenige Minuten später hatte sich eine regelrechte Fahrzeugkolonne ihren Weg durch das unwegsame Gelände gebahnt und Tilda verfolgte aufmerksam das Geschehen. Sie wollte nur noch nach Hause zurück, einen warmen Tee aufsetzen, die Beine unter dem Küchentisch ausstrecken und diesen Albtraum vergessen. Aber das würde wohl niemals mehr möglich sein. Warum war sie mit Nilson nicht in die entgegengesetzte Richtung gelaufen, so, wie sie es von Anfang an vorgehabt hatte?
Ein blonder Mann und eine bildhübsche Frau in den besten Jahren stiegen aus einem anthrazitfarbenen Volvo und steuerten direkt auf Tilda zu.
„Hej, ich bin Kriminalhauptkommissar Erik Viklund und das ist meine Kollegin Greta Nordin. Sie haben die Tote gefunden?“
„Nicht ich, sondern mein Hund“, verbesserte Tilda. „Er ist zum Haus gelaufen und hat die ganze Zeit über gebellt. Als ich nachsehen wollte, ach …“ Ihre Stimme erstarb.
„Wir werden Sie trotzdem vorladen, damit Sie Ihre Zeugenaussage auf der Polizeibehörde zu Protokoll geben können.“
„Kein Problem. Dürfte ich jetzt nach Hause gehen?“, bat Tilda leise.
„Ihre Personalien wurden bereits aufgenommen?“
„Nein.“
„Dann wird das ein Kollege übernehmen.“
Der Kommissar winkte einen Kollegen zu sich heran und nachdem sich Tilda ausgewiesen hatte, durfte sie endlich gehen. Nilson freute sich unbändig, als sie die Leine vom Zaun löste und seine Rute wedelte wie ein Propeller. Sie entfernte sich mit schnellen Schritten und der Schnee knirschte leise unter ihren Sohlen. Nichts würde mehr so wie früher sein.