Linda Sventon schaute über den Rand ihres Bildschirms, als Jörgen Persson das gemeinsame Büro betrat.
„Einen wunderschönen guten Morgen, Linda. Na, wie hast du geschlafen?“
Er setzte sich gut gelaunt an seinen Schreibtisch und startete leise summend den Rechner.
„Kannst du bitte damit aufhören, so anstrengend gute Laune zu verbreiten?“
„Linda, du sollst nachts schlafen und nicht den aktuellen Fall analysieren.“
„Du hast gut reden. Auf diesen Profiler aus Stockholm“, sie betonte das Wort abschätzig, „kann ich getrost verzichten.“
„Du weißt doch, dass wir momentan feststecken und jede Hilfe von außen willkommen ist.“
„Das gilt vielleicht für dich. Aber ich mag es nicht, wenn mir jemand meinen Job erklären will.“ Sie lehnte sich zurück und taxierte ihn. „Wenn man frisch verliebt ist, hängt der Himmel noch voller Geigen. Warts nur ab, mein Lieber.“
„Sollte das eine Drohung, eine Warnung oder ein gut gemeinter Ratschlag sein?“
„Such dir etwas aus“, erwiderte sie knapp.
„Weißt du was? Ich besorge uns erst einmal einen anständigen Kaffee und dann gehen wir gemeinsam die Zeugenaussagen durch. Einverstanden?“
Sie nickte dankbar und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder der Akte, die vor ihr lag. Die Fotos vom Tatort waren grauenerregend und es tat ihr in der Seele weh, wie grausam diese hübschen Mädchen zugerichtet worden waren.
Tilda Beck war nach einem Kinobesuch mit Freunden spurlos verschwunden und erst Tage später hatte ein Spaziergänger ihre Leiche entdeckt. Ihr Rücken wies etliche Brandmale auf und drei Finger waren gebrochen. Bevor der Täter Tilda im Wald wie Abfall entsorgt hatte, war ihr gesamter Körper mit Bleichmittel behandelt worden, um verräterische Spuren zu beseitigen.
Nachdem eine weitere Vermisstenanzeige eingegangen war, es handelte sich um ein Mädchen in Tildas Alter, ahnte Linda nichts Gutes. Ein Jogger war auf Karoline Lindts sterbliche Überreste gestoßen und auch bei ihr bot sich ein ähnlich furchtbares Bild. Dem Täter bereitete es sichtlich Vergnügen, den jungen Frauen, die auf dem Weg ins Erwachsenenalter gewesen waren, auf entsetzliche Weise Schmerzen zuzufügen. Linda dachte mit Unbehagen daran, wie sie den Eltern die schlechten Nachrichten hatten überbringen müssen.
Sie löste sich vom Anblick der Fotos und schob sie in die Akte zurück. Genau in diesem Moment öffnete Jörgen die Tür und betrat mit zwei dampfenden Tassen das Büro.
„Bitte schön, die Dame“, sagte er lächelnd, als er ihren Kaffee auf dem Schreibtisch abstellte.
„Danke, dass du frischen gekocht hast“, antwortete sie. Dieses lauwarme Gesöff aus dem Automaten trank sie ungern.
Jörgen deutete auf die Akte. „Dieser Fall geht dir besonders nahe.“
„Was erwartest du von einer alleinerziehenden Mutter mit zwei Töchtern? Ich lebe ständig am Limit, wenn sich auch nur eine von ihnen fünf Minuten verspätet.“
Linda und ihr Mann Arwed hatten sich als Kollegen kennen und lieben gelernt. Trotz der berufsbedingten Belastung verlief ihre Ehe harmonisch, bis zu jenem schrecklichen Tag, bei dem Arwed durch einen Schusswechsel ums Leben gekommen war. Es hatte eine undichte Stelle gegeben und die mafiösen Strukturen einer Hehlerbande waren ihm schließlich zum Verhängnis geworden.
Verstohlen wischte sich Linda eine Träne aus dem Augenwinkel. Mit Anfang vierzig erwartete sie nicht mehr allzu viel vom Leben und hatte den Fokus voll und ganz auf ihre Töchter gerichtet.
„Ich kann erahnen, wie schwer das für dich sein muss“, sagte Jörgen mitfühlend.
Er war nur fünf Jahre jünger, und als er zu ihr ins Team wechselte, hatten sie sich auf Anhieb verstanden. Er brachte die nötige Erfahrung mit und hatte sich der Liebe wegen aus dem Hexenkessel Malmö nach Ludvika versetzen lassen.
Das Klingeln des Telefons riss Linda aus ihren Gedanken und sie nahm den Hörer ab. Sie lauschte der Stimme am anderen Ende der Leitung und ihre Miene verfinsterte sich.
„Schlechte Nachrichten?“, flüsterte Jörgen und sie nickte.
Nur eine Minute später legte sie auf.
„Was gibt’s?“, fragte er.
„Es ist wieder ein Mädchen verschwunden, Livia Michelsen.“
„Seit wann wird sie vermisst?“
„Die Eltern haben bis zum Morgengrauen vergeblich gewartet. Livia Michelsen war mit ihren beiden Freundinnen in einer Diskothek.“
„Was ist passiert?“
„Ich weiß es nicht so genau. Es gab wohl einen Streit zwischen den Freundinnen und dann ist Livia Michelsen allein losgezogen“, antwortete sie.
„Es ist doch immer wieder das Gleiche“, brummte Jörgen. „Warum müssen sich diese jungen Mädchen so fahrlässig in Gefahr bringen?“
„Dafür sind wohl die Hormone verantwortlich, die in diesem Alter Achterbahn fahren“, sagte Linda und dachte dabei an ihre Älteste. Fünfzehn, Zahnspange, Sommersprossen und Weltmeister im Widersprechen. Allein das Zimmer der Heranwachsenden war der reinste Horror. Linda fühlte sich jedes Mal wie bei Ikea, wenn sie das Zimmer mit allerlei Kleinkram wieder verließ.
„Knöpfen wir uns zuerst die Freundinnen vor?“, fragte Jörgen.
„Das wird wohl das Beste sein, solange die Erinnerungen an den gestrigen Abend noch frisch sind.“
Linda leerte die Tasse, schnappte sich ihre Jacke und warf Jörgen den Autoschlüssel zu.
„Du fährst“, sagte sie und stürmte aus dem Büro.
Alva saß wie ein Häufchen Elend zwischen ihren Eltern, die offensichtlich die Beschützerrolle eingenommen hatten.
„Jetzt erzählen Sie uns doch bitte, was an diesem Abend schiefgelaufen ist.“
Linda setzte ein verständnisvolles Lächeln auf, während Alva bis in die Haarspitzen errötete.
„Ähm, ja, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.“
Hilfesuchend pendelte Alvas Blick zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter hin und her.
„Es ist enorm wichtig, dass Sie sich an jedes noch so kleine Detail erinnern. Ihre beste Freundin ist spurlos verschwunden, und dafür muss es einen triftigen Grund geben.“
Alva schluckte und knetete nervös ihre Hände.
„Warum ist Livia ohne Sie aufgebrochen?“
Alva senkte ihren Blick, bevor sie mit leiser Stimme zu sprechen begann.
„Liv hatte Streit mit Malin.“
„Und weiter …“, drängte Linda sanft.
Es war Alva unangenehm, die Erinnerung an diesen Abend preiszugeben.
„Ich habe mich die meiste Zeit mit Livs Exfreund Malte unterhalten.“
„War das der Grund für das Verschwinden Ihrer Freundin?“, fragte Jörgen.
„Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.“ Alva rang nach Worten. „Er hat mich geküsst.“
Alvas Mutter stieß geräuschvoll die Luft aus und warf ihr einen erstaunten Blick zu. Dieses Verhalten hatte sie ihrer Tochter anscheinend nicht zugetraut.
„Liv ist danach wütend weggelaufen“, fuhr Alva fort. „Malin hat noch versucht, sie aufzuhalten. Die Diskothek war gut besucht und als Malin den Ausgang endlich erreicht hatte, war Liv schon weg.“
„Welchen Weg könnte Ihre Freundin genommen haben?“, fragte Linda.
Alva zuckte ratlos mit den Schultern. „Ein Kumpel von Malte, der zum Rauchen nach draußen gegangen war, hat sie die Hauptstraße entlanglaufen sehen.“
„Wer war dieser Kumpel?“
„Da müssen Sie Malte fragen.“
„Was ist dann passiert? Haben Sie nach Livia gesucht?“
Schweigen.
„Wir haben weitergefeiert“, gestand Alva zögerlich.
Ihre Mutter schüttelte verständnislos mit dem Kopf. „Was habt ihr euch nur dabei gedacht? Vor genau solchen Szenarien haben wir euch immer gewarnt. Wie sollen wir Livias Familie je wieder unter die Augen treten?“ Sie stand auf und ging zum Fenster, wo sie mit verschränkten Armen in die Ferne starrte.
„Mama, es tut mir wirklich leid“, sagte Alva mit leiser Stimme.
„Dafür ist es jetzt zu spät. Diese Ungewissheit muss für Livias Mutter die Hölle sein.“
„Ist Ihnen vielleicht eine männliche Person aufgefallen, die Interesse an Ihrer Freundin gehabt haben könnte?“, fragte Linda.
„Nicht dass ich wüsste. Entweder waren Liv und Malin zusammen auf der Tanzfläche oder sie haben am Tisch gestanden und ihre Cocktails getrunken.“
„Ist das alles, was Sie uns über diesen Abend sagen können?“
Alva nickte stumm.
„Gut, das war es dann auch schon.“
Linda und Jörgen erhoben und verabschiedeten sich, danach brachte Alvas Mutter sie zur Tür.
„Das mit Livias Freund habe ich nicht gewusst“, sagte sie entschuldigend.
„Kinder in diesem Alter gehen ihre eigenen Wege“, antwortete Linda. „Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche.“
„Ja, es ist nicht so leicht“, seufzte Alvas Mutter.
Linda wandte sich ab und lief mit Jörgen zum Wagen. Sie war schon gespannt darauf, was Malin zu diesem Abend zu sagen hatte.
Die Fahrt währte nur kurz und Linda und Jörgen hielten vor einem imposanten Neubau. Ein gepflegter Vorgarten und ein akkurat gepflasterter Weg führten zu einer doppelflügeligen Eingangstür.
Malins Mutter öffnete ihnen und bat sie ins Haus. Sie war perfekt gestylt und schien sehr viel Wert auf ihr Äußeres zu legen. Ihr Ehemann saß im lichtdurchfluteten Wohnzimmer und trug Anzug und Krawatte. Nervös wippte er mit dem Fuß und Linda ahnte, dass er zurück in seine Firma wollte.
„Also gut, bringen wir es hinter uns“, sagte Malins Mutter. „Möchten Sie vielleicht einen Kaffee oder einen Tee?“
„Nein, danke“, lehnte Linda das Angebot höflich ab und widmete ihre Aufmerksamkeit Malin, die ihnen ganz entspannt gegenübersaß.
„Wir haben soeben Ihre Freundin Alva befragt“, eröffnete Jörgen das Gespräch.
„Ich weiß“, antwortete Malin mit fester Stimme.
Sie muss in diesem Dreiergestirn den Ton angegeben haben, dachte Linda, als sie das selbstbewusste Mädchen unauffällig musterte.
„Würden Sie uns den gestrigen Abend noch einmal aus Ihrer Sicht schildern?“, fragte sie.
„Liv war an diesem Abend nicht sonderlich gut drauf“, erzählte Malin.
„Wegen Alva und ihrem Exfreund?“
„Ach, das wissen Sie schon?“
„Ja, Alva hat uns davon in Kenntnis gesetzt“, erwiderte Linda.
„Na ja, sie hat sich tierisch aufgeregt, weil Alva mit Malte herumgemacht hat“, erklärte Malin nüchtern. „Dabei war sie doch diejenige gewesen, die diese Beziehung beendet hat.“
Malin schien sehr abgeklärt zu sein und die Reaktion auf das Verschwinden der besten Freundin nicht unbedingt angemessen. Aber Linda war nicht hier, um zu richten.
„Alva hat von einem Kumpel gesprochen, der Livia beim Verlassen der Diskothek gesehen hat. Kennen Sie diesen Mann?“
„Nein, nicht persönlich. Er war immer mit Malte unterwegs.“
„Können Sie uns die Adresse von Malte geben?“
„Tut mir leid, ich weiß nicht, wo er wohnt.“
„Welchen Weg hat Livia genommen?“, fragte Linda.
„Sie ist die Hauptstraße entlanggegangen. Aber was danach passiert sein könnte, weiß ich nicht.“
„Wäre es möglich, dass sich Livia aus verletztem Stolz verkrochen hat und deshalb nicht nach Hause gekommen ist?“, hakte Jörgen nach.
„Das glaube ich nicht. Liv ist nicht abgebrüht genug, um ohne ein Wort zu verschwinden und alle in Aufruhr zu versetzen“, erklärte Malin nüchtern.
„Und warum haben Sie nicht nach ihr gesucht?“ Linda war von Malins Verhalten überrascht. Im negativen Sinne.
„Wir wollten Liv auf der Rückfahrt auflesen, aber sie stand nirgends am Straßenrand. Wir haben vermutet, dass sie sich vielleicht ein Taxi genommen hat.“
„Sie haben es sich ganz schön leicht gemacht“, sagte Linda und ein leiser Vorwurf schwang in ihrer Stimme mit.
„Was hätten Alva und ich denn tun sollen? Es war ihre Entscheidung, wir haben sie nicht dazu gezwungen.“
„Das erklären Sie mal Livias Mutter“, merkte Jörgen an.
„Gut, war es das jetzt?“
Malins Vater war aufgestanden und man sah ihm deutlich an, dass ihm die Richtung missfiel, in die das Gespräch driftete.
„Ich denke schon“, antwortete Linda. „Es könnte jedoch sein, dass wir uns bei weiteren Fragen wieder an Ihre Tochter wenden müssen.“
„Kein Problem, aber dann nur in Anwesenheit unseres Anwalts.“
„Selbstverständlich“, erwiderte Linda lächelnd, obwohl sie sich über sein arrogantes Auftreten ärgerte. Sie erhob sich und schritt zur Tür. „Danke, wir finden schon allein hinaus.“
Jörgen folgte ihr wortlos nach draußen.
„Was für eine schrecklich nette Familie“, stöhnte Linda, als sie sich auf den Beifahrersitz fallen ließ.
„Ja, die meinen, mit Geld alles kaufen zu können. Ich fand Malin schon sehr …“, er suchte nach dem passenden Wort.
„Speziell?“, half Linda ihm auf die Sprünge.
„Genau“, sagte er lachend. „Und jetzt bin ich wirklich gespannt, wen uns der Boss aus Stockholm vor die Nase setzt.“
„Oh je, erinnere mich bloß nicht daran. Hoffentlich ist es nicht so ein notorischer Besserwisser, der uns das Leben zur Hölle macht.“
„Linda, nun warte doch erst einmal ab. Solange wir ihn nicht persönlich kennengelernt haben, können wir uns kein Urteil erlauben.“
„Ich habe ihn gegoogelt, seine Pressefotos sprechen Bände. Er ist mir nicht sympathisch, und damit Ende der Diskussion.“
„Ganz wie du meinst“, antwortete Jörgen und richtete seinen Fokus wieder konzentriert auf die Straße.