BRICK LANE
ROMAN
AUS DEM ENGLISCHEN VON
ANETTE GRUBE
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Brick Lane«
im Verlag Doubleday, London.
Die deutsche Übersetzung erschien erstmals 2004 in der
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München.
© 2003 by Monica Ali
Für die deutsche Ausgabe
© 2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Cover: Anzinger und Rasp Kommunikation GmbH, München
unter Verwendung einer Abbildung von Lisa James
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Printausgabe: ISBN 978-3-608-98497-2
E-Book: ISBN 978-3-608-11834-6
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Für Abba in Liebe
»Eisern, unbarmherzig führt das Schicksal
einen jeden von uns; nur am Anfang,
wenn wir in Kleinigkeiten vertieft sind, in allen
möglichen Unsinn, in uns selbst, sind wir uns
seiner harten Hand nicht bewusst.«
Iwan Turgenjew
»Das Schicksal eines jeden Menschen wird
durch seinen Charakter bestimmt.«
Heraklit
Mymensingh District,
Ostpakistan 1967
Eine Stunde und fünfundvierzig Minuten bevor Nazneens Leben begann – es begann, wie es für einige Zeit auch weitergehen sollte, das heißt ungewiss –, spürte ihre Mutter Rupban, wie eine eiserne Faust ihren Bauch zusammenpresste. Rupban saß auf einem niedrigen dreibeinigen Schemel vor der Küchenhütte. Sie rupfte ein Huhn, weil Hamids Cousins aus Jessore gekommen waren und ein Fest gefeiert werden sollte. »Cheepy-cheepy, du bist alt und zäh«, sagte sie und nannte den Vogel wie immer beim Namen, »aber ich will dich essen, verdorbener Magen hin oder her. Und morgen gibt’s nur gekochten Reis, keine Parathas.«
Sie rupfte noch mehr Federn aus und sah zu, wie sie um ihre Zehen schwebten. »Aaah«, sagte sie. »Aaaah. Aaaah.« Dinge stießen ihr zu. Seit sieben Monaten schwoll sie an wie eine Mango am Baum. Sieben Monate erst. Sie schob die Dinge, die ihr zustießen, beiseite. Eine Weile – eineinhalb Stunden lang, aber das wusste sie nicht –, bis die Männer von den Feldern heimkehrten, verstaubt und mit leerem Magen, hielt sich Rupban an Cheepy-cheepys schlaffem, magerem Hals fest und erwiderte auf alle Nachfragen, wo das Huhn bleibe, nur ich komme, ich komme. Die Schatten der Kinder, die Murmeln spielten und einander anrempelten, wurden lang und spitz. Der Duft nach geröstetem Kreuzkümmel und Kardamom wehte über den Hof. Die Ziegen meckerten in hohen kraftlosen Tönen. Rupban schrie weiße Hitze, rotes Blut.
Hamid rannte aus der Latrine, obwohl er sein Geschäft noch nicht erledigt hatte. Er rannte über die Gemüsebeete, an den Türmen aus Reishalmen vorbei, die höher waren als das höchste Gebäude, den unbefestigten Weg entlang, der um das Dorf herumführte, zu seinem Hof und griff nach einem Knüppel, um den Mann umzubringen, der offensichtlich seine Frau umbrachte. Er wusste, dass sie es war. Wer sonst konnte mit einem Schrei Glas zum Bersten bringen? Rupban war in der Schlafhütte. Die Bettrolle war ausgebreitet, sie selbst stand noch. Mit einer Hand klammerte sie sich an Mumtaz’ Schulter, in der anderen hielt sie ein halb gerupftes Huhn.
Mumtaz winkte Hamid ab. »Lauf! Hol Banesa! Worauf wartest du? Auf eine Rikscha? Na los, lauf schon.«
Banesa hielt Nazneen an einem Knöchel hoch, stieß zwischen den zahnlosen Kiefern Luft hervor und blies verächtlich über den winzigen blauen Körper. »Sie will nicht einen Atemzug tun. Manche Menschen meinen, unbedingt ein paar Takas sparen zu müssen, und holen keine Hebamme.« Sie schüttelte den haarlosen, runzligen Kopf. Banesa behauptete, einhundertzwanzig Jahre alt zu sein, und das seit mindestens einem Jahrzehnt. Da sich niemand im Dorf an ihre Geburt erinnerte und da Banesa vertrockneter war als eine alte Kokosnuss, trat niemand dieser Behauptung entgegen. Sie behauptete zudem, eintausend Babys auf die Welt gebracht zu haben, von denen nur drei verkrüppelt und zwei Mutanten waren (ein Hermaphrodit und ein Buckliger), eins war eine Totgeburt und ein anderes eine Affe-Eidechse-Hybride-Sünde-gegen-Gott-die-lebendig-tief-im-Wald-vergraben-wurde-und-die-Mutter-wurde-Gott-weiß-wohin-geschickt. Nazneen, offenbar tot, konnte nicht zu diesen Fehlschlägen gezählt werden, da sie geboren worden war, kurz bevor Banesa sich in die Hütte schleppte. »Schau dir deine Tochter an«, sagte Banesa zu Rupban. »Von oben bis unten perfekt. Sie hätte nur jemanden gebraucht, der ihr den Weg in die Welt erleichtert hätte.« Sie schielte nach Cheepy-cheepy, der neben der unglücklichen Mutter lag, und saugte die Backen ein; ein hungriger Blick vergrößerte ein wenig ihre Augen, die zwischen Runzeln vergraben waren. Seit vielen Monaten hatte sie kein Fleisch mehr gegessen, da ihr zwei junge Mädchen (sie hätte sie bei der Geburt erwürgen sollen) Konkurrenz machten.
»Ich will sie für die Beerdigung waschen und anziehen«, sagte Banesa. »Natürlich sind meine Dienste umsonst. Vielleicht nur das Huhn für meine Mühen. Es sieht alt und zäh aus.«
»Ich will sie halten«, sagte Nazneens Tante Mumtaz und weinte.
»Ich dachte, ich hätte mir den Magen verdorben«, sagte Rupban und fing ebenfalls an zu weinen.
Mumtaz griff nach Nazneen, die noch immer am Knöchel baumelte, und spürte, wie ihr der kleine glitschige Torso durch die Finger glitt und mit einem Schrei auf der blutbefleckten Matratze landete. Mit einem Schrei! Mit Geplärr! Rupban nahm sie in den Arm und gab ihr einen Namen, bevor sie erneut namenlos sterben konnte.
Banesa machte leise schmatzende Geräusche mit den Lippen. Mit dem Ende ihres vergilbten Saris wischte sie sich Spucke vom Kinn. »So etwas nennt man Todesröcheln«, erklärte sie. Die drei Frauen brachten die Gesichter nahe an das Kind. Nazneen fuchtelte mit den Armen herum und plärrte, als könnte sie diesen erschreckenden Anblick sehen. Sie war nicht länger blau, sondern wurde allmählich braun und lila. »Gott hat sie auf die Erde zurückgeholt«, sagte Banesa und blickte angewidert drein.
Mumtaz, die Banesas ursprüngliche Diagnose zu bezweifeln begann, sagte: »Hat Er sie nicht vor ein paar Minuten zu uns geschickt? Meinst du, dass Er Seine Meinung alle paar Sekunden ändert?«
Banesa murmelte etwas vor sich hin. Sie legte die Hand auf Nazneens Brust, ihre Finger glichen den Wurzeln eines alten Baums, die sich aus dem Erdreich herausgegraben hatten. »Das Baby lebt, aber es ist schwach. Du hast jetzt zwei Möglichkeiten«, sagte sie und wandte sich dabei ausschließlich an Rupban. »Du kannst sie in die Stadt in ein Krankenhaus bringen. Sie werden Drähte an ihr anschließen und ihr Medizin geben. Das wird sehr teuer. Du wirst deinen Schmuck verkaufen müssen. Oder du wartest ab, wie sich das Schicksal entscheiden wird.« Sie drehte sich kurz zu Mumtaz um, um sie mit einzuschließen, dann wandte sie sich wieder an Rupban. »Selbstverständlich wird das Schicksal letztlich den Ausschlag geben, gleichgültig, welchen Weg du nimmst.«
»Wir werden sie in die Stadt bringen«, sagte Mumtaz, und auf ihren Wangen erblühten trotzige rote Flecken.
Aber Rupban, die nicht aufhören konnte zu weinen, drückte ihre Tochter an die Brust und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie, »wir dürfen uns dem Schicksal nicht in den Weg stellen. Was immer passieren wird, ich akzeptiere es. Und mein Kind soll keine Kraft verschwenden und gegen das Schicksal kämpfen. Auf diese Weise wird es stärker.«
»Gut, dann ist es geregelt«, sagte Banesa. Sie blieb noch kurz, weil sie vor Hunger am liebsten das Baby gegessen hätte, aber nach einem Blick von Mumtaz schlurfte sie zurück zu ihrer Bruchbude.
Hamid kam, um sich Nazneen anzusehen. Sie lag in ein Mulltuch gewickelt auf einem alten Jutesack auf der Bettrolle. Ihre Augen waren geschlossen und geschwollen, als wäre sie zweimal fest geschlagen worden.
»Ein Mädchen«, sagte Rupban.
»Ich weiß. Macht nichts«, sagte Hamid. »Was kann man machen?« Und dann ging er wieder.
Mumtaz kam mit einem Blechteller voll Reis, Dal und Hühnercurry herein.
»Sie trinkt nicht«, sagte Rupban. »Sie weiß nicht, wie es geht. Wahrscheinlich ist es ihr Schicksal zu verhungern.«
Mumtaz verdrehte die Augen. »Morgen wird sie trinken. Iss jetzt was. Sonst wirst du auch verhungern.« Sie lächelte in das kleine traurige Gesicht ihrer Schwägerin, deren Miene wie immer von Trauer um alles, was bereits geschehen war und noch geschehen würde, zeugte.
Aber auch am nächsten Morgen trank Nazneen nicht. Ebenso wenig am Tag darauf. Am folgenden Tag wandte sie das Gesicht von der Brustwarze ab und gab würgende Geräusche von sich. Rupban, die berühmt für ihre nie versiegenden Tränen war, konnte die Nachfrage kaum befriedigen. Leute kamen: Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen, Brüder, Neffen, Nichten, Schwiegerleute, Frauen aus dem Dorf und Banesa. Die Hebamme schleifte ihre krummen Beine über den harten Lehmboden der Hütte und betrachtete das Baby. »Ich habe von einem Kind gehört, das nicht bei seiner Mutter getrunken hat, sondern von einer Ziege gesäugt wurde.« Sie lächelte und entblößte ihr schwarzes Zahnfleisch. »Das war selbstverständlich keins von meinen Babys.«
Hamid schaute ein-, zweimal vorbei, aber nachts schlief er draußen auf einem Choki. Am fünften Tag, als Rupban wider Willen zu wünschen begann, das Schicksal möge sich beeilen und eine Entscheidung fällen, schloss Nazneen den Mund um eine Brustwarze, so dass tausend rotglühende Nadeln in Rupbans Brust stachen, und sie schrie auf vor Schmerz und – redliche und geduldige Frau, die sie war – vor Erleichterung.
Während Nazneen heranwuchs, hörte sie viele Male die Geschichte Wie-du-deinem-Schicksal-überlassen-wurdest. Dank der klugen Entscheidung ihrer Mutter überlebte Nazneen und wurde zu einem breitgesichtigen aufmerksamen Mädchen. Gegen das eigene Schicksal anzukämpfen kann das Blut schwächen. Oft oder vielleicht auch meistens hat es den Tod zur Folge. Kein einziges Mal stellte Nazneen die Logik der Geschichte Wie-du-deinem-Schicksal-überlassen-wurdest in Frage. Im Gegenteil, sie war dankbar für den stillen Mut ihrer Mutter und ihren tränenreichen Stoizismus, den sie nahezu täglich unter Beweis stellte. Hamid sagte – er blickte immer weg, wenn er das sagte –, deine Mutter ist eine geborene Heilige. Sie stammt aus einer Familie von Heiligen. Und als ihre Mutter ihr riet, im Geist und im Herzen ruhig zu sein, die Gnade Gottes anzunehmen, das Leben mit der gleichen Indifferenz zu behandeln, mit der das Leben sie behandeln würde, hörte Nazneen aufmerksam zu, den großen Kopf nach hinten geneigt und die Backen schlaff vor Gleichmut.
Sie war ein auf komische Weise ernstes Kind.
»Wie geht es meinem Schatz? Bist du immer noch froh, dass du ins Leben zurückgekehrt bist?«, fragte Mumtaz sie, wenn sie sie ein paar Tage nicht gesehen hatte.
»Ich habe dir keine Klagen oder Gewissensbisse zu berichten«, antwortete Nazneen. »Ich erzähle alles Gott.«
Was nicht zu ändern war, musste erduldet werden. Und da nichts zu ändern war, musste alles erduldet werden. Dieses Prinzip regierte ihr gesamtes Leben. Es war ein Mantra, ein Zustand und eine Herausforderung.
Und im Alter von vierunddreißig Jahren, nachdem sie drei Kinder bekommen hatte und ihr eins wieder genommen worden war, als sie einen zu nichts zu gebrauchenden Ehemann hatte und ihr vom Schicksal ein junger, fordernder Liebhaber zugewiesen worden war, als sie zum ersten Mal nicht mehr abwarten konnte, was ihr das Schicksal bringen würde, sondern es selbst in die Hand nehmen musste, war sie über ihre eigene Handlungsweise ebenso bestürzt wie ein Neugeborenes, das sich mit geballten Fäusten auf die eigenen Augen geschlagen hatte.
Ihre Schwester Hasina, geboren drei Tage nachdem Banesa gestorben war (zu diesem Zeitpunkt und für immer einhundertzwanzig Jahre alt), hörte auf niemanden. Im Alter von sechzehn, als ihre Schönheit fast zu unerträglich war, um sie zu besitzen oder auch nur zu betrachten, brannte sie mit dem Neffen des Sägemühlenbesitzers nach Khulna durch. Hamid biss die Zähne zusammen und schärfte die Axt. Sechzehn heiße Tage und kühle Nächte lang saß er zwischen den beiden Zitronenbäumen, die den Eingang zum Hof markierten. Während dieser Zeit tat er nichts anderes, als mit Steinen auf die scheckigen Hunde zu werfen, die auf der Müllhalde gegenüber streunten, und seine Hurenschweintochter zu verfluchen, der er den Kopf abhacken würde, kaum käme sie zurückgekrochen. In diesen Nächten lag Nazneen wach, horchte auf das Klappern des Wellblechdachs und erschrak über die Schreie der Eulen, die nicht länger nach Eulen klangen, sondern nach einem Mädchen, auf dessen Nacken eine Axt heruntersaust. Hasina kam nicht zurück. Hamid beaufsichtigte wieder die Arbeiter auf den Reisfeldern. Aber abgesehen von den Prügeln, die er gelegentlich auf die geringste Provokation hin austeilte, hätte niemand gemerkt, dass er eine Tochter verloren hatte.
Kurz darauf, als ihr Vater sie fragte, ob sie ein Foto von dem Mann sehen wolle, den sie im nächsten Monat heiraten würde, schüttelte Nazneen den Kopf und antwortete: »Abba, es ist gut, dass du einen Mann für mich ausgesucht hast. Ich hoffe, ich werde ihm eine gute Frau sein, wie Amma.« Aber als sie sich umdrehte, um zu gehen, sah sie, ohne es zu wollen, wohin ihr Vater das Foto gelegt hatte.
Sie sah es zufällig. Solche Sachen passieren einfach. Sie sah das Bild des Mannes vor sich, als sie später mit ihren Cousinen unter den Banyanbäumen spazieren ging. Der Mann, den sie heiraten würde, war alt. Mindestens vierzig Jahre alt. Er hatte ein Gesicht wie ein Frosch. Sie würden heiraten, und er würde sie nach England mitnehmen. Sie blickte über die Felder, die in der kurzen Abenddämmerung grün und golden glitzerten. In der Ferne zog ein Falke seine Kreise, fiel herunter wie ein Stein, schwang sich erneut empor und flog in den Himmel, bis er zu einem Nichts geschrumpft war. Mitten in einem Reisfeld stand eine Hütte. Sie wirkte fehl am Platz: verlegen, sich zur Seite neigend, als wollte sie sich verstecken. Der Orkan, der das halbe Nachbardorf dem Erdboden gleichgemacht hatte, hatte diese Hütte verschont, sie jedoch verpflanzt. Im Dorf begruben sie noch immer ihre Toten und suchten nach Leichen. Dunkle Punkte bewegten sich auf den weit entfernten Feldern. Männer, die taten, was immer sie in dieser Welt tun konnten.
Tower Hamlets,
London, 1985
Nazneen winkte der Tattoo-Lady. Die Tattoo-Lady war immer da, wenn Nazneen hinausblickte über das tote Gras und die zerbrochenen Pflastersteine auf den Block gegenüber. In den meisten Wohnungen, die auf drei Seiten den Hof begrenzten, hingen Stores in den Fenstern, und das Leben dahinter bestand aus Formen und Schatten. Die Tattoo-Lady hatte allerdings überhaupt keine Vorhänge. Vormittags und nachmittags saß sie da, ihre dicken Oberschenkel hingen über den Stuhl, sie neigte sich nach vorn, um Asche in eine Schale abzustippen, und lehnte sich zurück, um einen Schluck aus einer Dose zu trinken. Auch jetzt trank sie und warf dann die Dose aus dem Fenster.
Es war mitten am Tag. Nazneen war mit der Hausarbeit fertig. Bald würde sie anfangen, das Abendessen vorzubereiten, aber jetzt ließ sie die Zeit ein Weile lang einfach vergehen. Es war heiß, und die Sonne schien direkt auf die metallenen Fensterrahmen und brannte auf die Scheiben. Ein rot-goldener Sari hing aus einem Fenster im obersten Stock des Rosemead Block. Weiter unten ein Babylätzchen und eine winzige Hose. Auf dem an die Mauer geschraubten Schild standen steife englische Großbuchstaben, die Schnörkel darunter waren Bengali. Müllabladen verboten. Parken verboten. Ballspielen verboten. Zwei alte Männer in weißen Panjabi-Pyjamas und mit Käppchen auf dem Kopf schlenderten langsam den Weg entlang, als wollten sie nicht ankommen, wohin immer sie gingen. Ein magerer brauner Hund schnüffelte im Gras und erledigte sein Geschäft. Die Brise, die Nazneen ins Gesicht wehte, stank nach den überquellenden Mülltonnen.
Ein halbes Jahr war nun vergangen, seit man sie nach London geschickt hatte. Jeden Morgen, bevor sie die Augen aufschlug, dachte sie, wenn ich mir was wünschen würde, wüsste ich schon, was ich mir wünschen würde. Und dann machte sie die Augen auf und sah Chanus verquollenes Gesicht auf dem Kissen neben sich, seine Lippen sogar im Schlaf vor Empörung geöffnet. Ihr Blick fiel auf die rosarote Frisierkommode mit dem geschwungenen Spiegel und den monströsen schwarzen Kleiderschrank, der fast den ganzen Raum einnahm. War das geschummelt? Zu denken, ich wüsste schon, was ich mir wünschen würde? War es nicht dasselbe, wie es sich tatsächlich zu wünschen? Wenn sie wusste, was sie sich wünschen würde, dann hatte sie es sich doch irgendwo in ihrem Herzen bereits gewünscht.
Die Tattoo-Lady winkte zurück. Sie kratzte sich die Arme, die Schultern, die zugänglichen Teile ihres Hinterns. Sie gähnte und zündete sich eine Zigarette an. Mindestens zwei Drittel des sichtbaren Fleisches waren mit Tinte bedeckt. Nazneen war ihr nie so nahe gekommen (nicht näher als jetzt), um die Zeichnungen dechiffrieren zu können. Chanu sagte, die Frau sei ein Hell’s Angel, was Nazneen bestürzte. Sie dachte, die Tätowierungen könnten Blumen oder Vögel sein. Sie waren hässlich und machten die Tattoo-Lady hässlicher als nötig, aber der Dame war das offensichtlich gleichgültig. Jedes Mal, wenn Nazneen sie sah, blickte sie gelangweilt und distanziert drein. Nach diesem Zustand strebten die Sadhus, die in Lumpen gekleidet durch die muslimischen Dörfer zogen, gleichgültig gegenüber den Freundlichkeiten Fremder und der unfreundlichen Sonne.
Manchmal dachte Nazneen daran, die Treppe hinunter- und über den Hof zu gehen und die Treppe von Rosemead bis in den vierten Stock wieder hinaufzusteigen. Vielleicht müsste sie an ein paar Türen klopfen, bevor sie die Tattoo-Lady gefunden hätte. Sie würde ihr etwas mitbringen, eine Gabe Samosas oder Bhajis, und die Tattoo-Lady würde lächeln, und Nazneen würde lächeln, und vielleicht würden sie sich gemeinsam ans Fenster setzen, und die Zeit würde zu zweit leichter vergehen. Sie zog es in Erwägung, aber sie würde es niemals tun. Wenn sie an die falsche Tür klopfen würde, würden Fremde öffnen. Die Tattoo-Lady könnte sich über die unerwünschte Störung ärgern. Es war klar, dass sie ihren Platz nur ungern verließ. Und auch wenn sie sich nicht ärgerte, was wäre der Sinn der Sache? Nazneen konnte zwei Worte Englisch: Sorry und thank you. Sie würde einen weiteren Tag allein verbringen. Es war ja nur ein Tag mehr.
Sie sollte sich an die Zubereitung des Abendessens machen. Das Lammcurry war schon fertig. Sie hatte es am Vorabend gekocht, mit Tomaten und neuen Kartoffeln. Im Gefrierfach war das Huhn vom letzten Mal, als Dr. Azad eingeladen war und in letzter Minute abgesagt hatte. Sie musste noch das Dal und die Gemüsegerichte machen, die Gewürze zerstoßen, den Reis waschen und die Sauce für den Fisch vorbereiten, den Chanu am Abend mitbringen würde. Sie würde die Gläser spülen und mit Zeitungspapier polieren, damit sie glänzten. Aus dem Tischtuch mussten noch ein paar Flecken entfernt werden. Was, wenn etwas schief ginge? Der Reis könnte klebrig werden. Sie könnte das Dal versalzen, Chanu den Fisch vergessen.
Es war nur ein Abendessen. Ein Abendessen. Ein Gast.
Sie ließ das Fenster offen, stieg aufs Sofa und nahm den Koran von dem Regalbrett ganz oben, das Chanu unter Zwang extra dafür angebracht hatte. Sie sammelte sich inbrünstig und suchte mit geballten Fäusten und Fingernägeln, die sich in ihre Handflächen gruben, Zuflucht vor dem Satan. Dann schlug sie willkürlich eine Seite auf und begann zu lesen.
Und Allahs ist, was in den Himmeln und was auf Erden. Wir haben bereits denen, welchen vor euch die Schrift gegeben ward, und euch eingeschärft, Allah zu fürchten. Und so ihr ungläubig seid – siehe, Allahs ist, was in den Himmeln und auf Erden, und Allah ist reich und rühmenswert.
Die Worte beruhigten ihren Magen, und sie freute sich. Verglichen mit Gott war selbst Dr. Azad nichts. Gott gehört alles, was in den Himmeln und auf Erden ist. Sie sagte es sich ein paar Mal vor, laut. Sie hatte sich gefasst. Nichts konnte ihr etwas anhaben. Nur Gott, wenn er es so wollte. Chanu mochte sich aufregen und herumkreischen, nur weil Dr. Azad zum Abendessen kam. Sollte er sich aufregen. Gott gehört alles, was in den Himmeln und auf Erden ist. Wie mochte es auf Arabisch klingen? Noch schöner als auf Bengali, vermutete sie, denn auf Arabisch hatte Gott die Worte verkündet.
Sie schloss das Buch und schaute sich im Zimmer um, ob alles ordentlich und sauber war. Chanus Bücher und Papiere waren unter dem Tisch gestapelt. Sie müssten woanders untergebracht werden, oder Dr. Azad würde nicht bequem sitzen können. Die kleinen Teppiche, die sie zuvor aus dem Fenster gehalten und mit einem Holzlöffel ausgeklopft hatte, mussten wieder an ihren Platz gelegt werden. Es waren drei: einer rot und orange gemustert, einer grün und lila und einer braun und blau. Der große Teppich war gelb mit einem grünen Blattmuster. Aus hundert Prozent Nylon und, so behauptete Chanu, sehr widerstandsfähig. Das Sofa und die Sessel hatten die Farbe getrockneten Kuhdungs, eine praktische Farbe. Die Kopfstützen waren mit Plastik überzogen, um sie vor Chanus Haaröl zu schützen. Es standen eine Menge Möbel herum, mehr als Nazneen je zuvor in einem Zimmer gesehen hatte. Selbst wenn man alle Möbel aus dem Hof in Gouripur zusammentrug, aus den Ghars aller Tanten und Onkel, wären es nicht so viele wie in diesem Zimmer. Da standen ein Couchtisch mit einer Glasscheibe in der Mitte und orangefarbenen Plastikbeinen, drei kleine Holztische, die man aufeinander stapeln konnte, ein großer Tisch, den sie zum Abendessen benutzten, ein Bücherregal, ein Eckschrank, ein Zeitungsständer, ein Servierwagen voller Aktenordner, das Sofa und die Sessel, zwei Fußschemel, sechs Esstischstühle und eine Vitrine. Die Wände waren tapeziert mit einer gelben Tapete mit braunen Vierecken und Kreisen darauf. Niemand in Gouripur hatte etwas Vergleichbares. Sie war stolz. Ihr Vater war der zweitreichste Mann im Dorf, und er hatte nichts Vergleichbares. Er hatte sie gut verheiratet. An den Wänden hingen an Haken und Drähten Teller, die nicht zum Essen gedacht waren, sondern nur zum Ansehen. Manche hatten einen goldenen Rand. »Blattgold«, sagte Chanu. Zwischen den Tellern hingen seine gerahmten Zeugnisse. Hier hatte sie alles. All diese schönen Dinge.
Sie legte den Koran an seinen Platz zurück. Daneben lag das Allerheiligste Buch in einem Einband aus Stoff: der Koran auf Arabisch. Sie berührte mit den Fingern den Stoff.
Nazneen starrte auf die gläserne Vitrine mit den Keramiktieren, den Porzellanfiguren und dem Plastikobst. Jedes einzelne Stück musste abgestaubt werden. Sie fragte sich, wie der Staub hineingelangte und woher er kam. Alles gehörte Gott. Sie fragte sich, was Er mit Keramiktiger, Nippes und Staub anfing. Und weil sie ihre Gedanken erneut hatte abschweifen lassen und dabei unkonzentriert geworden war, begann sie lautlos eine Sure aus dem Koran zu rezitieren, die sie in der Schule gelernt hatte. Sie wusste nicht, was die Worte bedeuteten, aber ihr Rhythmus beruhigte sie. Ihr Atem kam tief aus dem Bauch. Aus und ein. Geschmeidig. Geräuschlos. Nazneen schlief auf dem Sofa ein. Sie blickte über jadegrüne Reisfelder und schwamm im kühlen dunklen See. Sie ging Arm in Arm mit Hasina zur Schule, dann hüpften sie ein Stück des Weges entlang und stürzten und wischten sich die Knie mit den Händen ab. Und die Mynahs sangen in den Bäumen, und die Ziegen drängten sich an ihnen vorbei, und die großen traurigen Wasserbüffel zogen vorbei wie ein Leichenzug. Und der Himmel über ihr war groß und leer, und das Land erstreckte sich vor ihr, und sie sah bis an sein Ende, wo die Erde in einer dunkelblauen Linie auf den Himmel traf.
Als sie erwachte, war es fast vier Uhr. Sie lief in die Küche und begann, den Schlaf noch in den Augen, Zwiebeln zu schneiden, und bald schnitt sie sich in den Finger, ein tiefer Schnitt im linken Zeigefinger unterhalb des Nagels. Sie drehte den Kaltwasserhahn auf und hielt die Hand darunter. Was tat Hasina gerade? Immer wieder fragte sie sich das. Was tut sie jetzt? Es war nicht einmal eine Frage. Es war ein Gefühl, ein Stich in der Lunge. Nur Gott wusste, wann sie sie wiedersehen würde.
Es machte ihr Sorgen, dass Hasina sich gegen das Schicksal auflehnte. Daraus konnte nichts Gutes erwachsen. Niemand konnte das behaupten. Aber wenn man gründlich darüber nachdachte, wie konnte man sicher sein, dass Hasina ihrem Schicksal nicht einfach folgte? Wenn das Schicksal nicht zu ändern war, sosehr man auch dagegen ankämpfte, dann war es vielleicht Hasinas Schicksal, mit Malek davonzulaufen. Vielleicht hatte sie genau dagegen gekämpft, und genau das hatte sie nicht ändern können. Wenn man sich vor langer, langer Zeit entschieden hatte, dem Schicksal nach der Pfeife zu tanzen, mochte man meinen, die Sache wäre klar, aber woher wollte man wissen, welche Melodie es pfiff? Jeder einzelne Tag musste gelebt werden. Wenn Chanu am Abend nach Hause käme und die Wohnung wäre nicht aufgeräumt, die Gewürze wären nicht zerstoßen, könnte sie dann die Hände heben und sagen, frag mich nicht, warum nichts vorbereitet ist, nicht ich habe es so beschlossen, es war das Schicksal. Eine Ehefrau konnte mit Recht aus nichtigeren Gründen geschlagen werden.
Chanu hatte sie noch nicht geschlagen. Er schien sie auch nicht schlagen zu wollen. Ja, er war ein freundlicher und sanftmütiger Mann. Trotzdem wäre es dumm anzunehmen, er würde sie nicht doch irgendwann schlagen. Er hielt sie für eine »gute Arbeiterin« (sie hatte ihn am Telefon belauscht). Er wäre schockiert, wenn sie plötzlich ihre Pflichten vernachlässigte.
»Sie ist ein unverdorbenes Mädchen. Vom Land.«
Eines Nachts war sie aufgestanden, um ein Glas Wasser zu holen, während er noch auf war und telefonierte. Sie blieb vor der Tür stehen und lauschte. Seit einer Woche waren sie verheiratet.
»Nein«, sagte Chanu, »das würde ich nicht sagen. Nicht schön, aber auch nicht so hässlich. Sie hat ein breites Gesicht und eine hohe Stirn. Die Augen stehen ein bisschen zu eng zusammen.« Nazneen langte sich mit der Hand an die Stirn. Es stimmte. Ihre Stirn war hoch. Aber sie fand nicht, dass ihre Augen zu eng zusammenstanden.
»Nicht groß, nicht klein. Knapp eins sechzig. Das Becken ist ein bisschen schmal, aber breit genug, denke ich, um Kinder zu bekommen. Alles in allem bin ich zufrieden. Im Alter wird ihr vielleicht ein Bart am Kinn wachsen, aber jetzt ist sie ja erst achtzehn. Und ein blinder Onkel ist besser als gar kein Onkel. Ich habe mit dem Heiraten zu lange gewartet.«
Schmales Becken! Wenn das nur dein größter Fehler wäre, sagte sich Nazneen und dachte an die Fettrollen, die um Chanus Bauch hingen. Dazwischen könntest du deine hundert Kugelschreiber und Bleistifte stecken, ohne sie zu verlieren. Auch ein paar Bücher könntest du dazwischen stopfen. Wenn deine dürren Beine das Gewicht aushalten.
»Außerdem ist sie eine gute Arbeiterin. Sie putzt und kocht und so weiter. Der einzige Grund zur Klage wäre, dass sie meine Akten nicht ordnen kann, weil sie kein Englisch kann. Aber ich beklage mich nicht. Ein Mädchen vom Land, völlig unverdorben.«
Chanu redete weiter, und Nazneen kroch zurück ins Bett. Ein blinder Onkel ist besser als gar kein Onkel. Immer war ihr Mann mit einem Sprichwort bei der Hand. Irgendeine Frau ist besser als gar keine Frau. Irgendwas ist besser als nichts. Was hatte sie sich vorgestellt? Dass er verliebt in sie war? Dass er dankbar war, weil sie, jung und anmutig, ihn akzeptiert hatte? Dass er ihr etwas schuldete, weil sie ihm ihr Leben opferte? Ja. Ja. Ihr wurde schmerzlich klar, dass sie sich all dies vorgestellt hatte. Was für ein albernes Mädchen sie doch war. Was für hoch gegriffene Ideen. Was für eine Selbstüberschätzung.
Der Finger blutete anscheinend nicht mehr. Nazneen drehte das Wasser ab und wickelte ein Stück Küchenpapier um den Finger. Mit wem hatte Chanu damals gesprochen? Vielleicht hatte ein Verwandter aus Bangladesh angerufen, der nicht bei der Hochzeit gewesen war. Vielleicht war es auch Dr. Azad gewesen. Heute Abend würde er mit eigenen Augen die hohe Stirn und die zu eng zusammenstehenden Augen sehen. Blut sickerte durch das Papier. Sie entfernte es und sah zu, wie rote Tropfen in die silberne Spüle fielen. Die Tropfen flossen ineinander wie Quecksilber und glitten in den Ausguss. Wie lange würde es dauern, bis alles Blut aus ihrem Finger getropft wäre? Aus ihrem Arm? Aus ihrem Körper, ihrem ganzen Körper? Am meisten vermisste sie die Menschen. Nicht spezielle Menschen (abgesehen von Hasina natürlich), sondern Menschen im Allgemeinen. Wenn sie mit dem Ohr an der Wand horchte, hörte sie Geräusche. Einen Fernseher. Husten. Manchmal eine Toilettenspülung. Das Scharren eines Stuhls oben. Zwei Menschen, die unten um die Wette schrien. Alle saßen in ihrer Schachtel und zählten ihre Besitztümer. Mit ihren achtzehn Jahren konnte sie sich kaum an einen Augenblick erinnern, den sie allein verbracht hatte. Bis sie geheiratet hatte. Und nach London gekommen war, um Tag für Tag in dieser großen Schachtel zu sitzen, die Möbel abzustauben und auf die gedämpften Geräusche anderer Leben über, unter und neben ihr zu horchen.
Nazneen betrachtete ihren Finger. Wieder hatte er aufgehört zu bluten. Gedanken ohne inneren Zusammenhang gingen ihr durch den Kopf. Sie würde wegen eines weiteren Saris mit Chanu sprechen. Abba hatte sich nicht von ihr verabschiedet. Sie hatte gedacht, er würde am Morgen vorbeischauen, bevor sie zum Flughafen von Dhaka aufbrachen. Aber als sie aufstand, war er bereits auf die Reisfelder gegangen. Weil ihm so viel oder weil ihm so wenig an ihr lag? Sie brauchte neue Möbelpolitur. Und Scheuerpulver für die Spüle. Würde sie heute Abend Chanu erneut die Hühneraugen beschneiden müssen? Was tat Hasina gerade?
Sie ging ins Schlafzimmer und öffnete den Schrank. Der Brief lag in einer Schuhschachtel auf dem Boden. Sie setzte sich aufs Bett, um ihn zu lesen, ihre Füße stießen fast an die schwarz lackierten Türen. Manchmal träumte sie, der Kleiderschank wäre auf sie gefallen und hätte sie auf der Matratze erschlagen. Manchmal träumte sie, sie wäre darin eingeschlossen und hämmerte dagegen, aber niemand hörte sie.
Cousin Ahmed hat mir gegeben Adresse von dir, Gott sei gelobt. Ich habe gehört von Verheiratung und viel gebetet am Tag von Hochzeit, und auch jetzt ich bete. Ich bete, dein Mann ist guter Mann. Du wirst mir schreiben und alles erzählen.
Ich bin so glücklich, ich fast ängstlich. Ich trau mich kaum, Augen aufzumachen. Warum? Was macht Angst? Gott hat mich nicht geschickt auf Welt, nur um zu leiden. Das weiß ich immer, auch an Tagen ohne Licht.
Onkel von Malek hat ihm beschafft erstklassigen Job bei Eisenbahngesellschaft. Onkel ist hohes Tier bei Eisenbahn. Malek geht früh aus Haus und kommt spät zurück. Er weiß nicht viel über Züge und solche Sachen, aber sagt, das ist nicht wichtig. Wichtig ist schlau sein. Niemand schlauer wie mein Mann.
Kannst du dir vorstellen? Wir wohnen in Block drei Stockwerke hoch. Wohnung hat zwei Zimmer. Kein Balkon, aber ich gehe auf Dach. Boden ist aus braunen Steinen und kühl für Füße. In Schlafzimmer steht Bett mit Sprungfedern, Truhe und zwei Stühle. Ich lege Saris zusammen und in Kiste unter Bett. In Wohnzimmer drei Rohrstühle, Teppich und Hocker (auf den Malek immer Füße legt) und Kiste, bis wir richtigen Tisch haben. Über Paraffinkocher liegt Schultertuch, damit alles ordentlich. Topf und Pfannen in Kiste. Kaum Kakerlaken, manchmal eine, vielleicht zwei.
Wir zwar arm, aber ich glücklich. Wir haben Liebe. Liebe ist Glück. Manchmal ich will laufen und springen wie Ziege. So wie wir auf Weg in Schule getan haben. Aber hier kein Platz für Laufen, und ich sechzehn Jahre und verheiratete Frau.
Zwischen uns jetzt ist alles gut. Ich nicht will, dass meine Zunge macht Schwierigkeiten, wie sagt mein Mann. Nur weil Mann nett zu seiner Frau, heißt nicht, dass sie reden kann, wie gewachsen ist Schnabel. Wenn Frau versteht, keine Schläge. Malek hat erstklassigen Job. Ich bete um Sohn. Ich bete, Maleks Mutter verzeiht »Verbrechen« von Heirat. Wird schon werden. Irgendwann sie liebt mich wie Tochter. Wenn nicht, dann sie nicht gute Mutter, denn Mutter liebt Sohn ganz und gar. Und ich jetzt Teil von ihm. Meinst du, wenn Amma noch am Leben, sie mir verzeiht, was Abba nicht kann? Manchmal denke ich, ja sie mir verzeiht. Oft denke ich, nein, sie nicht verzeiht, und dann ich wütend und auch traurig.
Schwester, ich denke jeden Tag an dich und schicke Liebe. An Mann ich schicke Hochachtung. Jetzt hast du Adresse und kannst schreiben und alles von London erzählen. Wenn ich denke, wie weit du weg, ich zitter. Weißt du noch Geschichten, als wir Kinder und die anfangen: »Es war einmal Prinz, der lebte in Land über sieben Meere und dreizehn Flüsse.« So denke ich an dich. Aber als Prinzessin.
Wir werden uns bald wiedersehen und wie kleine Mädchen sein.
Jemand klopfte an die Wohnungstür. Nazneen öffnete sie so weit, wie es die Kette erlaubte, dann schloss sie sie, löste die Kette und machte die Tür ganz auf.
»Niemand sagt es ihm ins Gesicht«, sagte Mrs. Islam zu Razia Iqbal, »aber alle reden hinter seinem Rücken. Ich mag diese Art Klatsch nicht.«
Nazneen begrüßte ihre Besucherinnen mit einem Salaam und ging Tee kochen.
Mrs. Islam saß auf dem Sofa, über den Couchtisch gebeugt, faltete Taschentücher und steckte sie in die weiten Ärmel ihrer Strickjacke.
»Gerüchte zu verbreiten ist unser Nationalsport«, sagte Razia. »Das heißt nicht, dass es gut ist. Meistens ist kein Fünkchen Wahrheit dran.« Sie warf Nazneen, die die Teesachen abstellte, einen Blick von der Seite zu. »Was sagen sie diesmal? Wenn ich es von jemand anderem höre, kann ich es gleich richtig stellen.«
»Also«, sagte Mrs. Islam langsam. Sie lehnte sich in die braunen Polster zurück. Die Ärmel ihrer Jacke waren ausgebeult und voll gestopft. Über den schwarzen Socken trug sie Hausschuhe. Nazneen schaute durch die gläserne Tischplatte und sah, wie Mrs. Islams Zehen zuckten vor Aufregung, die ihrem Gesicht nicht anzusehen war. »Man muss bedenken, dass sie keine Kinder hat. Nach zwölf Jahren Ehe.«
»Ja, so ist es«, sagte Razia. »Das ist das Schlimmste, für jede Frau.«
»Und im sechzehnten Stock, wenn man da beschließt zu springen, dann ist das das Ende.« Mrs. Islam zog ein Taschentuch hervor und wischte sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn. Nazneen wurde es unerträglich heiß, wenn sie sie nur ansah.
»Wenn man von so hoch oben springt, hat man nicht einmal die Chance, als Gemüse zu überleben«, stimmte ihr Razia zu. Sie nahm die Tasse, die Nazneen ihr anbot, und hielt sie in ihren großen Männerhänden. Sie trug breite schwarze Schnürschuhe mit dicken Sohlen. Es war der Sari, der nicht recht zu ihr passte. »Aber es war selbstverständlich ein Unfall. Wer wollte etwas anderes behaupten?«
»Ein schrecklicher Unfall«, sagte Mrs. Islam. »Aber alle flüstern hinter dem Rücken des Mannes.«
Nazneen nippte an ihrem Tee. Es war zehn nach fünf, und bislang hatte sie nur zwei Zwiebeln geschnitten. Sie hatte nichts von dem Unfall gehört. Chanu hatte ihn nicht erwähnt. Sie wollte wissen, wer die Frau war, die so schrecklich gestorben war. Sie legte sich im Geist ein paar Fragen zurecht, formulierte sie immer wieder neu.
»Es ist eine Schande«, sagte Razia. Sie lächelte Nazneen an. Nazneen dachte, dass Razia nicht aussah, als würde sie es wirklich als Schande empfinden. Wenn sie lächelte, wirkte sie ungemein amüsiert, obwohl sie die Mundwinkel nur ein wenig nach oben zog und eher Mitleid als Lachen andeutete. Sie hatte eine lange Nase und schmale Augen, aus denen sie einen stets von der Seite, nie direkt anblickte, so dass sie einen permanent zu beurteilen, wenn nicht gar zu verspotten schien.
Mrs. Islam gab einen Laut von sich, der signalisierte, dass es in der Tat eine Schande war. Sie nahm ein frisches Taschentuch und putzte sich die Nase. Nach einer angemessenen Pause sagte sie: »Haben Sie das über Jorina gehört?«
»Ich habe dies und das gehört«, antwortete Razia, als ob sie keinerlei Interesse an Neuigkeiten über Jorina hätte.
»Und was sagen Sie dazu?«
»Das kommt drauf an«, sagte Razia und schaute an ihrer Nase entlang in ihren Tee, »was genau Sie meinen.«
»Ich erzähle ja nichts, was nicht schon jeder weiß. Man kann es ja schlecht geheim halten, wenn man plötzlich in die Arbeit geht.«
Nazneen fiel auf, dass Razia unvermittelt aufblickte. Razia wusste nicht, was Mrs. Islam wusste. Mrs. Islam wusste alles über jeden. Seit fast dreißig Jahren lebte sie in London, und wenn man ein Bangladeshi war, konnte man nichts vor ihr verbergen. Mrs. Islam war die erste Person, die bei Nazneen vorbeischaute in jenen ersten Tagen, als ihr noch schwindelte und die Tage Träume waren und das wirkliche Leben nachts stattfand, wenn sie schlief. Chanu nannte Mrs. Islam »ehrbar«. Nicht viele Leute waren »ehrbar« genug, um Besuche abstatten oder empfangen zu dürfen. »Weißt du«, hatte Chanu gesagt, als er ihr die Sachlage zum ersten Mal erklärte, »die meisten Leute hier sind Sylhetis. Sie halten zusammen, weil sie alle aus demselben Distrikt stammen. Sie kennen sich aus den Dörfern, und hier in Tower Hamlets meinen sie, dass sie wieder im Dorf sind. Die meisten von ihnen kommen mit dem Schiff. Illegal. Sie haben irgendwelche niedere Arbeit auf einem Schiff, Drecksarbeit, oder sie verstecken sich wie kleine Ratten im Frachtraum.« Er räusperte sich und sprach zu der Wand hinter Nazneen, so dass sie sich umdrehte, um zu sehen, an wen er sich wandte. »Und wenn sie das Schiff verlassen haben und hier angekommen sind, dann sind sie in gewisser Weise wieder zu Hause. Und für einen Weißen sind wir alle gleich: schmutzige kleine Affen aus dem gleichen Affenklan. Aber diese Leute sind Bauern. Ungebildet. Analphabeten. Beschränkt. Ohne Ehrgeiz.« Er lehnte sich zurück und fuhr sich über den Bauch. »Ich verachte sie nicht, aber was kann man machen? Wenn ein Mann nur eine Rikscha gezogen und noch nie im Leben ein Buch in der Hand gehabt hat, was kann man dann von ihm erwarten?«
Nazneen wunderte sich über Mrs. Islam. Wenn sie über alle Bescheid wusste, dann musste sie mit allen verkehren, Bauer oder nicht. Und trotzdem war sie ehrbar.
»Sie geht arbeiten?«, sagte Razia zu Mrs. Islam. »Was ist mit Jorinas Mann passiert?«
»Nichts ist mit Jorinas Mann passiert«, sagte Mrs. Islam. Nazneen bewunderte, wie die Worte aus ihrem Mund kamen, wie Geschosse. Jetzt war es zu spät, um nach der Frau zu fragen, die aus dem sechzehnten Stock gefallen war.
»Ihr Mann arbeitet immer noch«, sagte Razia, als wäre sie es, die die Information zur Verfügung stellte.
»Der Mann arbeitet, aber sie kriegt den Hals nicht voll. In Bangladesh kann man mit einem Gehalt zwölf Leute ernähren, aber Jorina kriegt den Hals nicht voll.«
»Wo arbeitet sie? In der Textilfabrik?«
»Wo sie mit allen möglichen Leuten zusammenkommt: Türken, Engländern, Juden. Allen möglichen. Ich bin nicht altmodisch«, sagte Mrs. Islam. »Ich trage keine Burkha. Ich halte den Purdah im Kopf ein, was das Wichtigste ist. Und ich habe Strickjacken und Anoraks und ein Kopftuch. Aber wenn man mit diesen Leuten zusammen ist, auch wenn es anständige Menschen sind, muss man die eigene Kultur aufgeben und ihre annehmen. So und nicht anders ist es.«
»Arme Jorina«, sagte Razia. »Kannst du dir das vorstellen?«, sagte sie zu Nazneen, die es sich nicht vorstellen konnte.
Sie unterhielten sich weiter, und Nazneen kochte mehr Tee, beantwortete ein paar Fragen zu ihrer Person und zur Person ihres Mannes und dachte die ganze Zeit an das Abendessen und die Unmöglichkeit, es vor ihren Gästen zu erwähnen, die sich wie zu Hause fühlen sollten.
»Dr. Azad kennt Mr. Dalloway«, hatte Chanu ihr erklärt. »Er hat Einfluss. Wenn er ein Wort für mich einlegt, werde ich automatisch befördert. So funktioniert das. Pass auf, dass die Gewürze gut geröstet sind, und schneide das Fleisch in große Stücke. Ich will heute Abend keine kleinen Fleischstücke.«
Nazneen fragte nach Razias Kindern, ein Junge und ein Mädchen, fünf und drei Jahre alt, die bei einer Auntie spielten. Sie erkundigte sich nach Mrs. Islams arthritischer Hüfte, und Mrs. Islam gab ein paar Laute von sich, die besagten, dass ihr die Hüfte in der Tat sehr zu schaffen machte, sie jedoch, stoisch wie sie war, nicht darüber sprechen wollte. Und dann, gerade als die Anspannung wegen des Abendessens ihr Schmerzen in der Brust zu verursachen begann, standen ihre Gäste auf, um sich zu verabschieden, und Nazneen lief, um ihnen die Tür aufzuhalten, und kam sich unhöflich vor, als sie daneben stand und wartete, dass sie endlich gingen.
Dr. Azad war ein kleiner, akkurater Mann, der im Gegensatz zu bengalischen Gepflogenheiten nur ein Viertel Dezibel lauter als ein Flüstern sprach. Jeder, der hören wollte, was er sagte, musste sich zu ihm neigen, so dass Chanu den ganzen Abend den Anschein erweckte, an seinen Lippen zu hängen. »Kommen Sie«, sagte Dr. Azad, als Nazneen neben dem Tisch stand, um zu servieren. »Setzen Sie sich zu uns.«
»Mein Frau ist sehr schüchtern.« Chanu lächelte und bedeutete ihr mit einer Kopfbewegung, sich zu setzen.
»Diese Woche habe ich zwei junge Männer von uns in einem sehr bedauernswerten Zustand gesehen«, sagte der Arzt. »Ich habe ihnen ins Gesicht gesagt, ihr habt die Wahl: Hört sofort auf, Alkohol zu trinken, oder eure Leber wird bis Eid kaputt sein. Vor zehn Jahren wäre so etwas undenkbar gewesen. Zwei in einer Woche! Aber jetzt machen unsere Kinder nach, was sie hier sehen, und gehen in Pubs und Nachtclubs. Oder sie trinken zu Hause in ihren Zimmern, wo ihre Eltern glauben, dass sie vollkommen sicher sind. Das Problem ist, unsere Gemeinde weiß über diese Dinge nicht gut genug Bescheid.« Dr. Azad trank ein Glas Wasser in einem langen Zug aus und schenkte sich ein weiteres ein. »Ich trinke immer zwei Gläser, bevor ich mit dem Essen anfange.« Er trank das zweite Glas. »Gut. Jetzt werde ich nicht zu viel essen.«
»Essen Sie! Essen Sie!«, sagte Chanu. »Wasser ist gut, um das System zu reinigen, aber Essen ist auch wichtig.« Er nahm Lamm und Reis mit den Fingern auf und kaute. Es war zu viel auf einmal gewesen, und er machte schmatzende Geräusche. Als er wieder sprechen konnte, sagte er: »Ich stimme Ihnen zu. Unsere Gemeinde weiß über diese und einige andere Dinge nicht gut genug Bescheid. Aber was mich anbelangt, habe ich nicht vor, das Risiko einzugehen, dass so etwas auch meinen Kindern zustößt. Wir werden zurückkehren, bevor sie verdorben werden können.«
»Das ist eine weitere Krankheit, die uns befällt«, sagte der Arzt. »Ich nenne sie das Rückkehr-Syndrom. Wissen Sie, was das heißt?«, wandte er sich an Nazneen.
Sie spürte, wie ihr Nacken heiß wurde, und formte Worte, die ihr nicht über die Lippen kamen.
»Es ist nur natürlich«, sagte Chanu. »Diese Leute sind im Grunde Bauern und vermissen das Land. Die Anziehungskraft des Landes ist sogar noch stärker als die Anziehungskraft des Blutes.«
»Und wenn sie genug gespart haben, steigen sie in ein Flugzeug und fliegen nach Hause?«
»Sie gehen nie wirklich von zu Hause weg. Ihre Körper sind hier, aber ihre Herzen sind dort geblieben. Und schauen Sie sich nur an, wie sie leben: Sie erschaffen hier ihr Dorf.«
»Aber sie sparen nie genug, um zurückzukehren.« Dr. Azad nahm sich Gemüse. Sein Hemd war makellos weiß, und der Kragen und die Krawatte reichten ihm fast bis unters Kinn, so dass er keinen Hals zu haben schien. Nazneen bemerkte einen gelben Fettfleck auf dem Hemd ihres Mannes, wo das Essen gelandet war, das er hatte fallen lassen.
Dr. Azad fuhr fort. »Jedes Jahr sagen sie, nur noch ein Jahr. Aber so viel sie auch sparen, es ist nie genug.«
»Wir würden nicht viel brauchen«, sagte Nazneen. Beide Männer sahen sie an. Sie sprach zu ihrem Teller. »Ich meine, wir könnten sehr sparsam leben.« Ihr Nacken brannte.
Chanu brach das Schweigen mit einem Lachen. »Meine Frau gewöhnt sich gerade erst ein.« Er hüstelte und rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Die Sache ist die. Mit der bevorstehenden Beförderung wendet sich für mich alles zum Besseren. Sobald die Beförderung bestätigt wird, sind viele Dinge möglich.«
»Ich habe auch immer daran gedacht zurückzukehren«, sagte Dr. Azad. Er sprach so leise, dass Nazneen gezwungen war, ihn direkt anzusehen und von seinen Lippen zu lesen, wenn sie jedes Wort verstehen wollte. »Jedes Jahr dachte ich: ›Vielleicht dieses Jahr.‹ Ich fuhr hin, kaufte noch ein Stück Land mehr, besuchte Verwandte und Freunde und beschloss, endgültig dazubleiben. Aber immer passierte etwas. Eine Überschwemmung, ein Orkan, der das Haus beinahe mitgerissen hätte, ein Stromausfall, irgendeine hirnrissige, kleinliche bürokratische Vorschrift, Schmiergelder, die gezahlt werden müssen, damit etwas erledigt wird. Und dann dachte ich: ›Dieses Jahr vielleicht noch nicht.‹ Und jetzt weiß ich es nicht mehr. Ich weiß es einfach nicht.«
Chanu räusperte sich. »Natürlich ist es noch nicht offiziell. Andere Leute haben sich beworben. Aber nach meinen vielen Dienstjahren … Wissen Sie, in sechs Jahren bin ich nicht einmal zu spät gekommen! Und ich war nur drei Tage krank, trotz des Magengeschwürs. Die Gesundheit mancher meiner Kollegen lässt zu wünschen übrig, ständig melden sie sich wegen diesem oder jenem krank. Leider kann ich Mr. Dalloway nicht darauf hinweisen. Trotzdem sollte er sich dessen bewusst sein.«
»Ich wünsche Ihnen Glück«, sagte Dr. Azad.
»Und dann habe ich ja auch noch die akademische Perspektive. In ein paar Monaten bin ich ein ausgewachsener Akademiker mit zwei Abschlüssen. Einer von einer englischen Universität. Bachelor of Arts. Mit Auszeichnung.«
»Ich bin sicher, dass Sie gute Chancen haben.«
»Hat Mr. Dalloway Ihnen das gesagt?«
»Wer ist das?«
»Mr. Dalloway.«
Der Arzt zuckte die geraden Schultern.
»Mein Vorgesetzter. Mr. Dalloway. Hat er Ihnen gesagt, dass ich gute Chancen habe?«
»Nein.«
»Hat er gesagt, dass ich keine guten Chancen habe?«
»Er hat überhaupt nichts gesagt. Ich kenne den fraglichen Herrn nicht.«
»Er ist Ihr Patient. Seine Sekretärin hat einen Termin mit Ihnen vereinbart wegen seiner verrenkten Schulter. Er spielt Squash. Ein sehr aktiver Mann. Durchschnittliche Statur würde ich sagen. Rote Haare. Er trägt Kontaktlinsen – vielleicht untersuchen Sie auch seine Augen.«
»Möglich, dass er mein Patient ist. Es kommen mehrere tausend Menschen in meine Praxis.«
»Ich hätte es Ihnen gleich von Anfang an sagen sollen – er hat eine Hasenscharte. Sie wurde allerdings korrigiert, kosmetische Chirurgie, aber man sieht es natürlich trotzdem. Das sollte Ihnen weiterhelfen.«
Der Gast schwieg. Nazneen hörte, wie Chanu ein Rülpsen unterdrückte. Sie wollte zu ihm gehen und ihm die Stirn streicheln. Sie wollte vom Tisch aufstehen, die Wohnung verlassen und ihn nie wiedersehen.
»Möglicherweise ist er ein Patient. Ich weiß es nicht.« Es war fast ein Flüstern.
»Ja«, sagte Chanu. »Ich verstehe.«
»Aber ich wünsche Ihnen Glück.«
»Ich bin vierzig Jahre alt«, sagte Chanu. Er sprach jetzt so leise wie der Arzt, ohne seine gewohnte Selbstsicherheit. »Seit sechzehn Jahren bin ich in diesem Land. Fast mein halbes Leben.« Er gab einen trockenen gurgelnden Laut von sich. »Als ich kam, war ich ein junger Mann. Ich hatte Ambitionen. Große Träume. Als ich aus dem Flugzeug stieg, hatte ich mein Zeugnis im Koffer und ein paar Pfund in der Tasche. Ich hatte geglaubt,