Stephan Goldschmidt / Lars Hillebold / Margit Zahn (Hg.)
Fasse dich kurz – Gottesdienste im Espresso-Format
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Lektorat: Ekkehard Starke, Ruth Atkinson
DTP: Breklumer Print-Service, Breklum, www.breklumer-print-service.com
Verwendete Schrift: Chaparral Pro, Myriad Pro
Gesamtherstellung: PPP Pre Print Partner GmbH & Co. KG
ISBN 978-3-7615-6836-1 E-Book
www.neukirchener-verlage.de
Zum Geleit
Ich habe für dieses Geleitwort ein maximales Zeichenlimit bekommen. Für mich ist das okay. Für Geleitworte gilt die Devise: Lieber knapp und knackig als lang und fädig! Einfach ist das allerdings nicht. Kurztexte sind ein anspruchsvolles Genre. Man muss die Kunst der Auslassung beherrschen und den genialen Gedanken, in den man sich beim Schreiben verliebt hat, am Ende, wenn gezählt wird, kaltblütig in den Papierkorb manövrieren. Wer regelmäßig für Zeitungen und Zeitschriften Artikel verfasst, weiß, was ich meine ...
Was wir in der Liturgik Andacht oder Besinnung nennen, der Wortteil im Ritual, hat ein vergleichbares Profil. Es ist zwar nicht die Schriftleiterin, die ein Zeichenkontingent festlegt, sondern die Uhr, die fünf Minuten vorschreibt, aber die Wirkung ist dieselbe. Ich muss mich beschränken und das, was ich sagen will, auf den Punkt bringen. In meinem Redetempo entsprechen fünf Minuten Redezeit ungefähr 500 Worten oder 2.500 Zeichen. Einige meiner norddeutschen Freunde bringen es in derselben Zeitspanne locker auf 1.000 Worte. Aber auch sie müssen ihren Gedankenstrauch stutzen.
Was aus der Perspektive der Rednerin oder des Autors einer sogenannten Kurzandacht Selbstdisziplinierung bedeutet, kann für die Zuhörenden ein Gewinn werden. Kurzweil hat allemal den größeren Unterhaltungswert als Langweiliges. So verstanden ist „kurz“ eine Verheißung. Es enthält aber auch einen Trost. Sollte dummerweise ein Langweiler die Andacht leiten, ist die Leidenszeit des Auditoriums auf ein erträgliches Maß begrenzt.
Natürlich versprechen sich die Herausgebenden dieses Buches ein wenig mehr vom Kurzformat. Darum haben sie sich für eine Metapher entschieden, die Genuss verheißt. Espresso ist der starke Kaffee! Sein Geschmack ist intensiv. Erfunden wurde der Espresso um die vorletzte Jahrhundertwende in Mailand. Den starken Kleinen konsumiert man an der Bar im Stehen, hergestellt wird er mit Dampfdruck. Daher der Name. Das Wort espresso (= ausdrücken) kann mit dem mechanischen Vorgang in Verbindung gebracht werden. Weil man das Tässchen schnell getrunken hat, könnte man auf die Idee kommen, der Espresso habe etwas mit dem schnellen Express zu tun. Hat er nicht. Naheliegender und passender ist die Assoziation, dass espresso – von esprimere abgeleitet – so viel heißt wie „ausdrücken von Gefühl, Meinung, Bedeutung“ und hier als Adjektiv im Sinne von „explizit, also ausdrücklich“ gebraucht wird.1 Ob dieses „explizit“ für den alleinigen Bezug der Espressi an der Bar steht oder sich auf die Geschmacksintensität bezieht, lassen wir offen.
Das Espresso-Bild offeriert eine witzige Analogie. Es entspricht der Absicht der in diesem Band versammelten Beispiele, den Gehalt ausdrücklicher zu präsentieren. Würde man das Versprechen der Kürze nur auf die kürzere Dauer beziehen, wäre das Anliegen missverstanden worden. Hätten die Herausgebenden an ein Express-Format für eilige Zeitgenossen gedacht, wäre wohl ein Burger oder Döner die bessere kulinarische Metapher. Quickfood ist für Schnellesser, die sich keine Mahlzeit gönnen oder die plötzlich einen Heißhunger auf Salz und Fett verspüren. Mit Blick auf diese ungesunden Gewohnheiten ist es sicher nicht schlecht, wenn man sich die mögliche Verwechslung vor Augen hält. Eine Kurzandacht, die Verkürztes statt Konzentriertes bietet, hat ihre Chance verpasst.
Geben wir es zu: Die Verknappung des Zeitbudgets kommt dem beschleunigten Lebensrhythmus entgegen. Dennoch meine ich, dass der Geist, der sich in diesen Andachten ausdrückt, nicht zeitgeistig daherkommt. Das gewählte Zeichen- und Zeitmaß berücksichtigt die Aufnahmespanne auch der Gemeinde, die sich nicht im Raum, sondern hinter dem Bildschirm versammelt hat. Gerade mit Blick auf diese Verwendungsform ist das halbe Maß der Kurzformate körperfreundlich. Was nicht lange dauert, kann trotzdem in die Tiefe gehen. Aber wie macht man das „mundwerklich“?
Wer darin Anleitung sucht, wird sie hier – natürlich kurz und knapp – finden! Die Kapitel über TED, Storytelling und die praktischen Hinweise zur Lesung sind schnell gelesen. Es ist ein Starterkit samt Musterbeispielen, wie man es (nach)machen kann. Gute Praxishilfen sind wichtig, sollten aber nicht zu gewichtig sein.
Mein Zeichenlimit ist erschöpft. Ich kann leider nicht mehr ausführen, was ich noch zu sagen hätte. Es wäre um Nespressokapseln gegangen und ich hätte den Vorzügen eines guten Latte macchiato nachgespürt. Aber das ist so unendlich komplex und derart gescheit, dass ich keine Worte finde, um es kurz zu sagen. „Gott sei Dank“, höre ich Sie flüstern.
Wünsche fruchtbare Lektüre!
Ralph Kunz, Zürich im November 2021
1 https://www.espresso-kaffee-blog.de/2009/06/woher-kommt-der-name-espresso; zuletzt abgerufen am 10.01.2022.
Teil 1
1. Zu diesem Buch Ideen, Fragen – Menschen
konzentriert und anschaulich
„Bitte achten Sie darauf, dass die Predigt nicht länger dauert als drei bis fünf Minuten.“ Ein Satz aus einer Rundmail während der Pandemie, um Gottesdienste – in gekürzter Form – auch in einer kleinen Kirche wieder möglich zu machen. Kurz ist aber längst mehr als ein Notprogramm. Wie auch in anderen Lebensbereichen beschleunigt sich durch die Pandemie eine schon länger anhaltende Entwicklung. Kurzgottesdiensten gehört vielleicht die Zukunft, zumindest eine Zukunft. Aber wie gelingt es, wirkungsvolle Kurzgottesdienste zu gestalten? Wir wagen einen Versuch: Wir bitten leidenschaftliche Gestalterinnen und Gestalter von Gottesdiensten um Entwürfe für kurze Gottesdienste. Anschaulich, elementar, narrativ sollen die Gottesdienste sein. Mehr Vorgaben machen wir als Herausgebende nicht.
vielstimmig und multiprofessionell
Die Autorinnen und Autoren arbeiten auf dem Land und in der Stadt, vom Norden Deutschlands bis in die Schweiz im Süden. Sie kommen aus unterschiedlichen liturgischen Traditionen und orientieren sich an verschiedenen homiletischen Ansätzen. Vertreten sein sollen auch Entwürfe von Menschen, die nicht „von Berufs wegen“ predigen. Darum haben wir auch Prädikantinnen und Prädikanten angefragt. Zukünftig wird Gottesdienstgestaltung ein multiprofessionelles Geschehen sein. Wenigstens in Ansätzen soll das in diesem Buch über Kurzgottesdienste sichtbar werden. Das ist unser Wunsch.
elementarer Jahreslauf
Perspektivisch verändert sich der Gottesdienstrhythmus in den Kirchen. Nicht mehr jeden Sonntag wird in jeder Kirche am Sonntagmorgen um 10 Uhr Gottesdienst gefeiert (werden). Wenn vielerorts zukünftig womöglich von Monat zu Monat gefeiert wird, zu unterschiedlichen Tageszeiten – ergänzt durch besondere Angebote in der Region und zu besonderen Anlässen –, wird es darauf ankommen, den Zusammenhang der Themen im Kirchenjahr erkennbar zu halten.
Bei der Auswahl der biblischen Texte und Themen für ein Jahr orientieren wir uns als Herausgebende am „elementaren Kirchenjahr“ der Liturgischen Konferenz. Entsprechend „geben“ wir den Autorinnen und Autoren Texte „auf“, die wir für zentral halten und die die Fülle biblischer Gattungen umfassen. Weil wir uns entscheiden mussten, wird mancher Lieblingstext in diesem Buch fehlen. Dafür darf Aufmerksamkeit bekommen, was bisher mehr am Rand stand:
Die Sommersonnenwende im Juni etwa bekommt einen eigenen Entwurf. Ebenso der Valentinstag im Februar oder die Erinnerung an die Pogrome im November. Neben dem Kirchenjahr sollen bei der Auswahl auch wiederkehrende lebensweltliche Bezüge eine Rolle spielen.
mund-werklich
In diesem Buch finden Sie sorgfältig gestaltete Entwürfe von Kurzgottesdiensten für ein ganzes Jahr, einschließlich einer Übersicht der von den Autorinnen und Autoren vorgeschlagenen Lieder.
Wir verstehen die Entwürfe als Anregung für die eigene Weiterarbeit an kurzen Gottesdiensten und stellen den Entwürfen darum einen „Werkzeugkasten“ für Ihre eigene „mundwerkliche“ Arbeit an Lesung und Predigt voran.
Dem Lesen der biblischen Texte kommt auch im kurzen Gottesdienst eine besondere Bedeutung zu. Meist gibt es nur eine Lesung, auf die es dann „ankommt“. Kurz meint nicht gehetzt, um Zeit zu sparen. Welche innere Vorbereitung für eine lebendige Lesung gut ist, wie ein Auftritt mit Atempausen gelingt, wie viel oder wenig Vorrede hilfreich ist, all das und mehr beschreibt Holger Pyka in seinem Beitrag „Lesen im kurzen Gottesdienst“.
Nachhaltiger wirkt eine Predigt, wenn sie nicht erklärt, sondern anschaulich erzählt, wenn nicht „über“ einen biblischen Text gesprochen wird, sondern „in“ ihm. Dann sind Hörende kreativ beteiligt, sie sehen in inneren Bildern vor Augen, was sie hören. Dieser Gedanke steht hinter Storytelling, einer Methode, die unter Corona gerade in digitalen Gottesdiensten große Verbreitung gefunden hat. Claudia Süssenbach erläutert, was beim Storytelling wichtig ist und wie/wo die Methode erlernt/vertieft werden kann.
Felix Ritter und Peter Meyer stellen TED für die Predigtarbeit vor. Die Methode geht zurück auf ein amerikanisches Konferenzformat (Technology, Entertainment und Design). Es traut der freien Rede große Wirkung zu, sofern sie nicht länger als 18 Minuten dauert.
Ausgangspunkt ist das Finden einer Predigt-Idee. Das reicht. Und dann können Predigende passend zu ihrer Person, zum Kontext und zum Thema die rhetorischen Strategien anwenden, die Ritter und Meyer in diesem Buch vorstellen, um Hörende zu überzeugen. Die Stimme und den Körper so einzusetzen, wie es der redenden Person entspricht und der Botschaft dient, das lässt sich lernen – auch bei Felix Ritter und Peter Meyer im Zentrum für Gottesdienst- und Predigtkultur.
Der Rapper und Theologe Lukas Klette zeigt, wie mundwerklich anspruchsvoll eine Predigt als Rap entsteht: Ein biblischer Text, manchmal nur Verse, Klänge und Bilder spielen zusammen – auf der Kanzel, im Konzert, auf der Straße. „Inkulturiertes Evangelium“ nennt Klette den Rap.
Nicht alle werden seine Kunstfertigkeit erreichen, aber in Zeiten digitaler Gottesdienste sind die Beiträge von Lukas Klette im Netz eine Fundgrube spannender Raps.
Wer gern Espresso trinkt, weiß: Immer bleiben Spuren in der Tasse zurück. Stephan Goldschmidt und Lars Hillebold nehmen je auf ihre Weise die liturgischen und homiletischen Spuren auf und beschreiben, was sie nach der Lektüre der Beiträge gekostet haben und welche Entwicklungen nun „in der Luft liegen“.
Wir danken sehr herzlich allen Autorinnen und Autoren, die uns auf den Geschmack des kurzen Formates bringen.
Ganz gleich, ob Sie Espresso trinken oder Latte macchiato: Wir hoffen, als Lesende können Sie die Anregungen dieses Buches genießen.
Margit Zahn
2. Espresso-Gottesdienst Der intensive, starke liturgische Genuss
kurz, intensiv und wenig festgelegt
Wer einen Espresso bestellt, tut das in der Regel mit Bedacht, wie auch Ralph Kunz das im Geleitwort formuliert hat. Espresso ist die intensive, starke Form des Kaffeegenusses. Man trinkt den Espresso an der Bar und im Stehen. Oder nach einem Essen, um keine Müdigkeit aufkommen zu lassen. Um die Metapher aufzugreifen, ist ein Kurzgottesdienst kurz, intensiv und stark im Geschmack. Die Phasen, in denen die Gedanken der Teilnehmenden abschweifen, werden reduziert. Also weniger liturgisches Grundrauschen, dafür die Gebete, die Lieder und die Predigt möglichst pointiert.
Vor allem aber wird die Intensität eines Gottesdienstes durch seine Kürze gesteigert. Dafür wird auf die Performanz, also das Auftreten innerhalb des Gottesdienstes besonders geachtet. Am Beispiel der Lesung lässt sich durchspielen, wie ein gottesdienstliches Element gestaltet werden kann, damit es bei den Hörenden ankommt (mehr dazu im Beitrag von Holger Pyka).
Grundsätzlich gilt, kurz ist nicht gleich kurz. Ein Blick in die vorliegenden Entwürfe zeigt: Die einen bieten kurze, manchmal sogar sehr kurze Predigten, die gerade auf diese Weise wirken. Andere predigen gern länger, bieten dafür eine sehr elementare Liturgie. Noch ist vieles im Fluss. Aber es gibt Auffälligkeiten und es gibt offene Fragen für die zukünftige Gestaltung von Kurzgottesdiensten:
Was sagt es aus, dass es in nahezu allen Kurzgottesdiensten eine thematische Einstimmung gibt, meist anstelle eines Votums? Braucht es gerade bei den kurzen Formaten ein neues Bewusstsein für den Einstieg in den Gottesdienst, der weniger liturgisch geprägt ist, dafür die Aufmerksamkeit der Teilnehmenden fokussiert?
Bestimmte Elemente in der Eingangsliturgie, wie beispielsweise Kyrie und Gloria, entfallen fast durchgängig. Was kann bei Kurzgottesdiensten an die Stelle dieses theologisch gewichtigen Teils treten? Auch an die Stelle des Dialogs, der für diesen Teil des Gottesdienstes zentral ist?
Wie kann es gelingen, die Gemeinde bei kurzen Formaten auf andere Weise aktiv zu beteiligen? Beispielsweise durch ein Call-and-Response-Element, das zwischen Liturg*in und Gemeinde abwechselnde Sprechen, das sich bei einigen wenigen Kurzgottesdiensten findet?
Gibt es bei Kurzgottesdiensten andere Möglichkeiten, das erste Kriterium des Evangelischen Gottesdienstbuches deutlich zu machen: „Der Gottesdienst wird unter der Verantwortung und Beteiligung der ganzen Gemeinde gefeiert“2? Im vorliegenden Buch finden sich immer wieder Ideen, die Teilnehmenden zur aktiven Teilnahme einzuladen. Dazu kann man durchaus die bewusst gesetzten Augenblicke der Stille zählen. Sie sind nur scheinbar passive, in Wirklichkeit hochgradig aktive Phasen eines Gottesdienstes, in denen das Gehörte verarbeitet und um eigene Gedanken ergänzt wird.
Die Lesung hat im protestantischen Gottesdienst traditionell ein hohes Gewicht. Dennoch wird in den 25 Entwürfen fast durchgängig auf eine über den Predigttext hinausgehende Lesung verzichtet. Ist das ein beklagenswerter Verlust? Oder ist es eine bewusste Fokussierung und Pointierung? Bekommt der eine biblische Text, der zugleich Grundlage der Predigt ist, vielleicht sogar eine neue Funktion als Glutkern des gesamten Gottesdienstes?
Auffällig ist auch, dass in kaum einem der Entwürfe das Apostolische Glaubensbekenntnis gesprochen wird. Es wird fast immer weggelassen, nur einmal wird es durch ein Credolied ersetzt, einmal ist es als Option gekennzeichnet. Noch ist offen, ob sich aus dieser Tendenz ein genereller Trend für die kurze Gottesdienstform ablesen lässt.
Anders als beim Credo gibt es bei allen Entwürfen eine große Einigkeit bei den Gebeten: Eingangs-, Fürbittengebet und Vaterunser finden sich fast durchgängig. Teilweise auch noch ein Psalm oder ein Psalmgebet. Gehört das öffentliche Gebet zu den unabdingbaren liturgischen Elementarstücken?
Bei der Liedauswahl fällt bei den in diesem Buch versammelten Entwürfen die ausgesprochene Vielfalt auf. Vom klassischen Choral bis hin zu Liedgut aus dem begonnenen 21. Jahrhundert – wie „In einer fernen Zeit“ oder „Dieses Kreuz“ aus den Jahren 2010 und 2015 – reicht die Spanne. Eindrücklich ist die Vielfalt der verwendeten, teilweise regionalen Liederhefte. An einigen Stellen wird angeregt, zeitgenössische Popsongs einzuspielen. Was bedeutet eine solche Liedauswahl für das Format Kurzgottesdienst? Sind sie eher dem Spektrum der klassischen Gottesdienste am Sonntagmorgen zuzuordnen oder den alternativen Formaten, bei denen eher neues Liedgut bevorzugt wird?
Aufgrund der Vorgaben für die Autorinnen und Autoren ist es wenig verwunderlich, dass fast alle Entwürfe eine Predigt haben. Ohne diese Vorgabe hätte es vielleicht auch Kurzgottesdienste ohne Ansprache gegeben – wie den am Gründonnerstag. Braucht es in Kurzgottesdiensten eine Predigt? Oder ist sie entbehrlich?
Unstrittig dürfte sein, dass ein Gottesdienst mit dem Segen endet. Hier herrscht bei den 25 Entwürfen vollkommene Einigkeit. Im Blick auf die Zielgruppe der ehrenamtlich Verkündigenden, stellt sich allerdings eine entscheidende Frage: Gibt es Alternativen, wenn es Ehrenamtlichen schwerfällt, den Segen der Gemeinde im Namen Gottes zuzusprechen? Werden die Teilnehmenden enttäuscht sein, wenn der Gottesdienst mit einem Segensgebet oder einem Segenslied endet?
leicht und stimmig
Es wäre zu einfach, das Wesen eines Kurzgottesdienstes auf die Kürze zu reduzieren. Er muss natürlich kurz sein – es wäre fatal, wenn die erwartete Zeitspanne unter der Hand über ٣٠ Minuten gedehnt würde. Aber das Adjektiv kurz macht einen Gottesdienst nicht zu einer defizitären Veranstaltung, bei der das eine oder andere schmerzlich vermisst wird. Es geht nicht um Vollform versus Kurzform. Darum schlage ich als Kennzeichen des Kurzgottesdienstes die beiden Begriffe Stimmigkeit und Leichtigkeit vor.
Ein kurzer Gottesdienst muss in sich stimmig sein. Es reicht nicht, nur an einer Stelle kurz zu sein. Nur bei der Liturgie beispielsweise oder nur bei der Predigt. Oder gar auf Musik und Lieder zu verzichten. Es gehört zum Wesen eines Kurzgottesdienstes, dass die Proportionen stimmen. Aus Sicht der Teilnehmenden muss das Gleichgewicht des Hörens, Mitbetens, Singens bewahrt werden.
Noch gibt es keine feste Form von Kurzgottesdiensten. Etliche Fragen sind längst nicht beantwortet. Diejenigen, die sich darauf einlassen, befinden sich im Stadium des Experimentierens und Entdeckens. Das macht es ja gerade so reizvoll, das Format Kurzgottesdienst auszuprobieren. Aber schon jetzt scheint klar zu sein, dass es innerhalb der Liturgie Bereiche gibt, wo das Weglassen sinnvoller erscheint als anderswo. Bei den 25 Entwürfen wurde häufig in der Eingangsliturgie und bei der Zahl der biblischen Lesungen gekürzt. Auch die Predigt ist kürzer. Sie greift sinnvollerweise nur einen Gedanken oder einen Aspekt aus dem Predigttext auf. Die homiletische Gattung der Homilie ist in einer Kurzpredigt kaum möglich. Stattdessen darf die Predigt eine Story haben oder kann die biblische Erzählung narrativ vertiefen. Hier kommt der Aspekt der Leichtigkeit ins Spiel. Ein Kurzgottesdienst und eine Kurzpredigt dürfen etwas Spielerisches und Experimentelles haben. Wortlastigkeit sollte – wenn irgend möglich – vermieden werden. Lieder als eine etablierte Form, die Gemeinde zu beteiligen, sollten unbedingt gesungen werden. Sie wirken der sprichwörtlichen Nüchternheit protestantischer Gottesdienste entgegen. Und sie wecken zusammen mit anderen musikalischen Elementen Emotionen auf eine Weise, die Worte kaum schaffen können.
Die Sprache im Kurzgottesdienst verzichtet auf stereotype Formulierungen oder vorhersehbare Allgemeinplätze. Was für jeden Gottesdienst gilt, bekommt bei einem Gottesdienst im Espressoformat noch einmal besonderes Gewicht. Ungewohnte und kurzweilige Formulierungen sind gewollt. Die Predigten sind vorzugsweise anschaulich und narrativ. Sie dürfen durchaus einen offenen Schluss haben. Oder können zum Weiterdenken anregen. Bei einer Podiumsdiskussion auf dem Dortmunder Kirchentag verwendete einer der Gäste die für die Homiletik weiterführende Metapher der Rosamunde-Pilcher-Predigt. Eine solche Predigt besitzt ein hohes Maß an Vorhersehbarkeit. In einem Kurzgottesdienst haben Rosamunde-Pilcher-Predigten mit erwartbarem Happy End keinen Platz.
Ein wichtiges Experimentierfeld bei Kurzgottesdiensten scheint die Frage der Beteiligung der Gemeinde zu sein. Die 25 Entwürfe dieses Buches zeigen, wie das gehen kann. Vielleicht können die Möglichkeiten aber noch weiter ausgeschöpft und noch mutiger ausprobiert werden, wie die Teilnehmenden kreativ eingebunden werden. Beispielsweise durch gemeinsam oder im Wechsel gesprochene Gebete und Psalmen, durch überraschende, kreative Momente und durch bewusst gesetzte Stille-Phasen.
berührend und begeisternd
Der Kurzgottesdienst ist nicht das „neue Normal“. Vor allem geht es bei den Kurzgottesdiensten nicht darum, sich ein für alle Mal zu entscheiden. Der Kurzgottesdienst ist ein Format neben anderen. So wie mal ein Espresso an der Bar getrunken wird und dann wieder mit viel Zeit und Genuss ein Latte macchiato im Café.
Ein guter Kurzgottesdienst begeistert. Weil er in die Zeit passt, in die To Go-Gesellschaft, bei der der Genuss im Vorübergehen mitgenommen wird. Weil die Zeit ein kostbares Gut ist. Weil der Vormittag oder der Abend anschließend noch viele Möglichkeiten bereithält. Der kurze Gottesdienst bietet kurz und intensiv alles, was einen guten Gottesdienst auszeichnet. Er berührt Herz und Seele, stärkt den Glauben, spricht den Verstand an, regt zum Weiterdenken an. Und er verwandelt die Teilnehmenden zu einer Gemeinschaft.
Darüber hinaus gibt es weitere Aspekte, warum ein stimmiger Kurzgottesdienst begeistert:
· er ist pointiert;
· er besitzt eine große Leichtigkeit;
· die anschauliche Sprache spricht Herz und Verstand an;
· es kommt keine Langeweile auf;
· es gibt keine Missstimmung über eine endlos lange Predigt;
· oder über eine unverständliche Liturgie;
· die Teilnehmenden sind mehr Beteiligte als „Zuschauer“;
· Leib, Seele und Geist werden gleichermaßen angesprochen.
Stephan Goldschmidt
2 Evangelisches Gottesdienstbuch, Leipzig/ Bielefeld ²2020, 17.