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Für Justus, Josefine und Carl.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright 2022 Verlag Die Werkstatt GmbH

Siekerwall 21, D-33602 Bielefeld

www.werkstatt-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Foto Umschlagseite 1: IMAGO/Xinhua

Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, Göttingen

ISBN 978-3-7307-0604-6

Inhalt

Vorwort

Prolog

Kapitel 1 Die Lüge eines kleinen Jungen

Kapitel 2 Dijana und Srdjan

Kapitel 3 Unschlagbares Duo aus den Bergen

Kapitel 4 Die Bomben – Nächte voller Angst

Kapitel 5 „Nole“ in Oberschleißheim

Kapitel 6 Die Erlösung

Kapitel 7 Andere Welten: Die Jugend seiner Rivalen

Kapitel 8 Die Rakete startet. Oder: Der Soldat zieht in den Krieg

Kapitel 9 Italienische Sehnsucht

Kapitel 10 Marjan Vajda

Kapitel 11 Der Zorn des Maestros

Kapitel 12 2007 – Bereit zum Abheben

Kapitel 13 Krönung Down Under

Kapitel 14 Auf der Suche nach Kraft

Kapitel 15 Aus sehr reich wird verdammt reich

Kapitel 16 Wissenschaft made in Austria

Kapitel 17 Dr. Igor: Erfolg geht durch den Magen

Kapitel 18 Ruhe vor der Ewigkeit

Kapitel 19 Ein Jahr für die Geschichtsbücher

Kapitel 20 Vergoldeter Thron

Kapitel 21 Tod. Verlobung. Boris Becker

Kapitel 22 Mr. and Mrs. Djokovic

Kapitel 23 „Der rote Baron“ tritt ab. Das Missverständnis Agassi

Kapitel 24 Zurück in die Zukunft

Kapitel 25 Kobe und Zlatan – Superstarfreunde

Kapitel 26 „Djoker“ unter Beschuss

Kapitel 27 Die Tränen von New York

Kapitel 28 Drama Down Under

Anhang Rekorde von Novak Djokovic

Zeit, Danke zu sagen

Vorwort

Die spektakulärste Niederlage im Leben von Novak Djokovic ist am 16. Januar 2022 um 7.52 Uhr mitteleuropäischer Zeit besiegelt. Sie endet nicht mit einem Handshake am Netz, sondern mit einem handfesten Rauswurf. Aufgrund eines einstimmigen Richterspruchs am Bundesgericht Melbourne muss der Serbe Australien umgehend verlassen. Er darf nicht an den Australian Open 2022 teilnehmen. Nicht versuchen, bei seinem Lieblingsturnier seinen 21. Grand-Slam-Titel zu gewinnen und damit Rafael Nadal und Roger Federer auch in diesem Ranking hinter sich zu lassen. Stattdessen wird der Weltranglistenerste wie ein Straftäter von australischen Grenzpolizisten zum Flughafen in Melbourne eskortiert und mit einer Maschine außer Landes geflogen.

Spiel, Satz – und Sieg Australien. Flugzeug statt Rod Laver Arena.

Doch es kommt sogar noch schlimmer: Gut zwei Wochen später gewinnt Rafael Nadal das Turnier. Der Spanier geht damit mit seinem 21 Grand-Slam-Titel im Rennen der großen drei in Führung. Djokovic will, darf jedoch nicht – Nadal triumphiert. Der Anfang des Jahres als sportlicher Super-GAU für den Serben. Dazu noch die riesigen Kratzer an seinem ohnehin schon ramponierten Image. Tage zum Vergessen, die niemals vergessen werden.

Wie es so weit kommen konnte?

Es ist ein Schauspiel in mehreren Akten, das die Welt so noch nicht gesehen hat. Ein bisweilen bizarr anmutender Kampf des weltbesten Tennisspielers um ein Einreisevisum, der im Januar 2022 von Australien aus die ganze Welt beschäftigt. Ein Kampf, der sich im Laufe des Jahres 2021 bereits angekündigt hat. Seitdem die ersten amtlich zugelassenen Vakzine gegen das Corona-Virus zur Verfügung stehen, hat sich Novak Djokovic einer Impfung verweigert und sich damit auch auf Kollisionskurs mit den Australian Open begeben. Deren Veranstalter haben frühzeitig angekündigt, einen strikten Kurs für die Teilnahme am ersten Grand-Slam-Turnier des Jahres 2022 zu fahren: Starterlaubnis nur für gegen Covid-19 geimpfte Spieler.

Lange hat Djokovic öffentlich offengehalten, ob er in Australien aufschlagen wird. Kurz nach dem Jahreswechsel überschlagen sich dann die Ereignisse. Über seine Social-Media-Kanäle Twitter und Instagram teilt der Serbe mit, dass er eine Ausnahmegenehmigung von den Turnierveranstaltern sowie dem Bundesstaat Victoria, in dem der Austragungsort Melbourne liegt, erhalten hat und nun voller Vorfreude nach Down Under reise. Noch während der „Djoker“ über den Wolken schwebt, entbrennt eine auch außerhalb Australiens geführte Debatte über Pandemieprivilegien für Superstars und Superreiche. Am Flughafen in Melbourne wird Djokovic zunächst die Einreise verwehrt. Seine Anwälte legen umgehend Einspruch ein. Die Regierung setzt den Tennisspieler in einem Hotel in der Stadt fest. Nach mehreren juristischen Wendungen muss Djokovic letztlich das Land verlassen und die Heimreise binnen fünf Stunden nach dem Urteilsspruch antreten. Elf Tage nach seiner versuchten Einreise hat Novak Djokovic den härtesten Kampf seiner Karriere verloren.

Wer ist dieser Mann, der nicht nur die Tenniswelt Anfang 2022 spaltet? Die einen brandmarken Djokovic als Impfgegner, Querdenker und serbischen Nationalisten. Die anderen stilisieren ihn zum Justizopfer, Spielball der Politik oder gar Kämpfer für die Freiheit.

Novak Djokovic ist ein Eindringling. Er hat sich Zutritt zu einem exklusiven Kreis verschafft. Nicht mit Bitcoin, Messer oder Sprengstoffgürtel. Sondern mit seinem 645-quadratzentimetergroßen Tennisschläger. Roger Federer und Rafael Nadal dominieren das Geschehen auf beiden Seiten des Netzes. Aus dem Sieger-Duo Federer-Nadal formt der Serbe mit seiner Waffe ein Trio. Er verdrängt die Widersacher Schlag für Schlag, Sieg auf Sieg aus fast jeder Rekordstatistik.

Anfang des neuen Jahrtausends funktioniert die Welt zwischen Topspin und Return im friedlichen Zweiklang. Nadal beherrscht die rote Asche wie keine „Sandplatzwühlmaus“ zuvor. Besonders die French Open in Paris, das prestigeträchtigste Sandplatzturnier der Welt. Roger Federer wiederum dominiert den heiligen Rasen von Wimbledon. Den Center Court in London, das ehemalige „Wohnzimmer“ von Boris Becker, baut der „Maestro“ zu seiner fast uneinnehmbaren Festung aus.

Zwischen 2005 und 2007 geht entweder Federer oder Nadal bei elf von zwölf Grand-Slam-Turnieren als Sieger hervor. Das Duo präsentiert den Fans ein simples Szenario: Hier der elegant auftretende Schweizer, der mit seiner perfekten Technik über den Platz gleitet. Dort der malochende Mallorquiner, der jede Vorhand und jede Rückhand über das Netz prügelt. Seine unbändige Kraft mit lautstarkem Stöhnen befeuert.

„Gehörst du zum Lager Federer oder zum Lager Nadal?“ Lediglich diese Frage müssen Tennisfans in jenen Tagen beantworten. Danach können sie genüsslich die Rekordjagd der beiden Ausnahmeathleten beobachten. Die Tennisweltspitze ist eine geschlossene Gesellschaft zweier Spieler, die seit ihrer Kindheit als große Versprechen für die Zukunft gegolten haben. Federer hat die Jugendweltrangliste souverän angeführt. Nadal steigt gleich bei den Herren ein und beschränkt seine Auftritte bei Jugendturnieren lediglich auf ein Minimum.

Dann kommt Novak Djokovic wie aus dem Nichts.

Will man die Karriere von Novak Djokovic und auch den Menschen dahinter verstehen, muss man in dessen Kindheit abtauchen. Eine Kindheit zwischen der serbischen Hauptstadt Belgrad und den Bergen von Kopaonik. Zwischen Tennis und Bomben. Zwischen sportlichem Talent und dem Kampf ums finanzielle Überleben. Das sind die Bausteine seiner Jugend. Ohne den Blick auf die Jahre als kleiner Junge in einer von der Nato zerbombten Stadt ist die Person Novak Djokovic nicht zu entschlüsseln.

Der Mann, der drauf und dran ist, die Rekorde von Federer und Nadal zu pulverisieren, erntet nicht annähernd die gleiche Form an Liebe, Verehrung und Bewunderung, wie sie dem Schweizer oder dem Spanier zuteilwird. In den direkten Duellen ergreifen Zuschauer bisweilen offen Partei für Djokovics Kontrahenten. Sie buhen den serbischen Eindringling aus. In den sozialen Medien wird er angefeindet. Es scheint, als liege nur die Heimat ihrem „Nole“ – Djokovics Spitzname in Serbien – bedingungslos zu Füßen: Wir gegen den Rest der Welt!

„Nicht alle Tennis-Champions kommen aus den Country-Clubs der Reichen“, schreibt Novak Djokovic einmal im Rückblick auf seine Herkunft und den Start seiner Karriere. Eine klare Kampfansage an Roger Federer und Rafael Nadal, die für ihn Produkte dieser Country-Clubs und damit des Tennis-Establishments sind. Unterschiede lassen sich in der Tat ausmachen.

In seiner Biografie gibt Rafael Nadal zu, dass er bis heute mit Einschlafschwierigkeiten zu kämpfen hat. Auch als erwachsener Mann in den Dreißigern lässt der Sandplatzkönig jede Nacht das Licht an. Dunkelheit mache ihm Angst, sagt er, der als Kind seine Mama Ana Maria bittet, das Licht im Zimmer zum Einschlafen anzulassen. Demgegenüber weckt Dijana Djokovic ihren Sohn, weil die Nato-Kampfpflugzeuge Bomben auf die Hochhäuser von Belgrad abwerfen. Eine Kindheit im Krieg trifft auf eine Kindheit in warm erleuchteter Kuschelatmosphäre. Weder Nadal noch Djokovic sind für ihre Herkunft verantwortlich. Aber die Erfahrungen zweier maximal unterschiedlicher Lebensgeschichten in jungen Jahren hinterlassen Spuren für ein ganzes Leben. Der Kriegsjunge, der in die friedliche Welt der Country-Club-Boys eindringt.

Und Djokovic spielt nicht einfach nur mit. Er setzt neue Maßstäbe. Kein Spieler steht länger an der Spitze der Weltrangliste. Im März 2021 kassiert Djokovic die bisherige Bestmarke von Roger Federer – 310 Wochen als Nummer eins – und baut sie Woche für Woche aus. Mit inzwischen 34 Jahren liegen noch einige gute Jahre vor dem Modellathleten, in denen er seine Titelsammlung erweitern wird. Der zweifache Familienvater hat seinen Lebenswandel derart dem Profitennis untergeordnet, dass er problemlos noch mit 40 Jahren auf allerhöchstem Niveau spielen kann. Sein Umfeld kolportiert gern, dass Ärzte nicht glauben können, einen Mittdreißiger vor sich zu haben, wenn sie die Werte und Röntgenbilder des Rekordmanns analysieren. Nadal und Federer haben auch noch den ein oder anderen Sieg im Arm, allerdings mangelt es ihnen an der früheren Konstanz. Ihre Körper streiken öfters, was die beiden zu längeren Pausen zwingt. Die Uhr tickt eindeutig für den „Djoker“. In den kommenden Jahren wird er noch viele Rekorde brechen und neue aufstellen können.

Über Djokovics sportliche Einmaligkeit herrscht schnell Einigkeit. So gut wie jeder, der in diesem Buch zu Wort kommt, hebt dessen außergewöhnliche Fähigkeiten hervor. Es sind nicht Ballgefühl oder Technik. Es ist seine Einstellung. Seine Disziplin. Seine mentale Stärke. Davor gehen die Gegner in die Knie. Und mit diesen Waffen zieht Novak Djokovic Turnierwoche für Turnierwoche weiter. In seinen ganz persönlichen Krieg.

„Sport ist wie Krieg –
nur ohne Waffen“

GEORGE ORWELL

Prolog

Mai 2016, Kopaonik

Plötzlich versagt ihm die Stimme. Novak Djokovic muss absetzen, tief schlucken. Die Reise in die Vergangenheit hinterlässt Spuren. Seine Augen werden feucht. Aus dem Englischen wechselt er in seine serbische Muttersprache – sein Zufluchtsort in diesem Moment, in dem der beste Tennisspieler der Welt seine Emotionen nicht kontrollieren kann.

Der seltene Blick in die Seele des Serben entstammt einem Video, das Djokovic aufgenommen und via „Facebook Live“ im Mai 2016 mit der Welt geteilt hat. Gemeinsam mit seinen beiden jüngeren Brüdern Marko und Djordje sowie seiner Ehefrau Jelena kehrt er darin an jenen Ort zurück, der seine Liebe zum Tennis entfacht hat: Kopaonik. Etwa 260 Kilometer südlich von Belgrad gelegen und für den Sportler und Menschen Novak Djokovic bedeutsamer als seine Geburtsstadt Belgrad. Hier, an der Grenze zum Kosovo, verbringt er große Teile seiner Kindheit, seine Eltern führen in dem Skigebiet eine Pizzeria. In Kopaonik steht Novak das erste Mal auf einem Tennisplatz. Und hier trifft er Jelena Gencic. Seine erste Trainerin, die zu einer der einflussreichsten Personen in seinem Leben wird.

An diesem sonnigen Maitag im Jahr 2016 wandert Novak Djokovic mit den Brüdern und seiner Ehefrau knapp vier Stunden vom Tal hinauf zu dem ehemaligen Tennisresort. Gute sechs Kilometer, 700 Höhenmeter legen sie zurück. Ein Klacks für das sportliche Quartett. Mit im Gepäck: ein Tennisschläger. „Nole“ will ein paar Bälle gegen jene Wand spielen, die an den Nachmittagen seiner frühen Kindheit stundenlang ein unbarmherziger, fehlerfreier Gegner gewesen ist.

Das Facebook-Video beginnt als launiges Urlaubsfilmchen. „Hallo, ich begrüße euch. Wir sind live“, heißt Djokovic seine Follower im Ausflugslook willkommen: Funktionskleidung, Rucksack, Dreitagebart. Um ihn herum sieht man den grünen dicht bewachsenen Wald, der Himmel strahlt blau. Keine Touristen weit und breit. Traumhafte Bedingungen für die kleine Wandertruppe. Jelena Djokovic huscht noch schnell durchs Bild, dann schwenkt „Nole“ auf die Hauptdarstellerin seines Videos: die Tenniswand. Man benötigt Fantasie, um die Wand ihrer ursprünglichen Funktion zuordnen zu können. Sträucher klettern an ihr hoch. Braune, rostfarbene Streifen fräsen sich von der einen auf die andere Seite. In der Mitte dann etwas, das den langen Kampf mit der Natur überstanden hat: eine in weiß gezogene Linie, die das Netz symbolisieren soll. Vermutlich hat seit Jahren hier niemand mehr einen Ball geschlagen.

„Dies ist meine Lieblings-Tenniswand auf der ganzen Welt“, sagt Novak Djokovic, tritt zur Seite und erklärt, dass er und seine Brüder an diesem Ort ihre Kindheit verbracht haben. Das letzte Mal seien sie 1998 hier gewesen. „Nur ein Jahr bevor die schrecklichen Bombardierungen so viele Ruinen hinterlassen haben.“

Die Berge um Kopaonik, einem der beliebtesten Wintersport-Orte Jugoslawiens, werden im Frühsommer 1999 zum Ziel der Nato-Kampfflieger. Deren Bomben zerstören das Naturidyll. Djokovic dreht die Smartphone-Kamera und sagt: „Das war unsere Lounge. Dort haben wir als Kinder viel Zeit verbracht, hatten großartige Momente. Haben mit der Familie, mit Freunden gegessen und getrunken. Und bei einem Lagerfeuer einfach die Zeit genossen.“ Man sieht nicht mehr als einen Baumstamm, verwilderte Büsche. Dann die Tenniswand. „Sie hat überlebt. Trotz vieler Einschläge. Die Löcher in der Wand sind durch die Bomben entstanden. Auf der einen Seite ist es traurig, die Wand in so einem Zustand zu sehen. Auf der anderen Seite ist es jedoch schön zu sehen, dass die Wand noch steht. Genau hier habe ich meine ersten Bälle geschlagen“, fährt Djokovic fort. „Sonne. Kein Lärm. Nur Natur. Ein wunderschöner Tag in Kopaonik, Serbien. Was will man mehr?“

Djokovic blickt nun direkt in die Sonne, er schließt seine Augen. Zunächst wirkt es, als irritierten ihn die hellen, blendenden Strahlen. Seine Stimme gerät ins Stocken. Als er die Augen wieder öffnet, sieht man, dass sie feucht sind. Er kratzt sich am Kopf. Eine Übersprunghandlung, mit der er von seinen Gefühlen ablenken will. Djokovic wechselt ins Serbische. Als brauche er das Gefühl von Geborgenheit. Von Sicherheit. Die gibt ihm die Sprache seiner Eltern, Großeltern, die Sprache seiner Landsleute, die ihn wie einen Heiligen verehren.

Sein Weg im Facebook-Video führt ihn nun zu einer Art Baumhaus. Auch hier lässt die Gegenwart glücklich spielende Kinder allenfalls noch erahnen. Djokovics Nase läuft. Immer noch auf Serbisch erinnert er seine Brüder daran, wie viel Spaß sie damals hier gehabt haben. Nach einer knappen Minute fängt sich der Tennisstar wieder und erklärt – wieder auf Englisch: „Meine Eltern haben diesen Tennisklub einige Jahre geführt. Er gehört für mich zu den drei wichtigsten Tennisklubs in der Welt. Weil er eine ganz besondere Bedeutung für mich hat, allerdings auch weil er in dieser einzigartigen Umgebung liegt.“

Nur einer der drei Plätze der Anlage besitzt überhaupt noch einen Netzpfosten. Doch auch der verschwindet nahezu komplett in hoch geschossenem Unkraut. „Nach den Nato-Bomben“, sagt Djokovic, „ist jahrelang niemand an diesem Ort in Kopaonik gewesen. Viele Bomben sind nicht explodiert und lagen lange als stille Bomben auf dem Gelände.“ Im Spätsommer 2012 sind in der Gegend zunächst zwei Soldaten, kurz darauf dann der Mitarbeiter einer Spezialfirma für Kampfmittelbeseitigung ums Leben gekommen.

Novak Djokovic greift zum Tennisschläger, lässt aber seiner Frau und Bruder Djordje zunächst den Vortritt. Nicht ohne ein paar Frotzeleien über deren Tenniskünste von sich zu geben. Seiner Frau rät er grinsend: „Du musst über die weiße Linie schlagen!“ Dann schwingt Djokovic selbst das Racket und lobt die alte, verwitterte Wand: „Der beste Trainingspartner, den ihr haben könnt, Leute. Glaubt mir, dieser Trainingspartner verschlägt keinen Ball.“

Noch ein kleiner Kunstschuss durch die Beine, einer hinter dem Rücken – dann verabschiedet sich der serbische Volksheld lächelnd. „Ich hoffe, ihr hattet Spaß“, sagt er. „Ich wollte diesen besonderen und emotionalen Moment mit euch teilen.“ Sieben Minuten und vierundfünfzig Sekunden lang ist das Video. Fast acht Minuten im Eiltempo durch das Leben von Novak Djokovic. Fast acht Minuten, in denen man tief in die Welt der Familie Djokovic eintaucht. Und mitbekommt, welch tragende Rolle darin Kopaonik spielt.

Kapitel 1

Die Lüge eines kleinen Jungen

Die Karriere des Tennisspielers Novak Djokovic beginnt mit einer Lüge. Es ist Anfang Juni 1993. Der Frühsommer in Kopaonik bietet perfekte Bedingungen für das erste Tennistrainingscamp der 56-jährigen Jelena Gencic. Eine im ehemaligen Jugoslawien bekannte Ex-Sportlerin und Trainerin. 32 nationale Titel hat sich die Enkelin des prominenten jugoslawischen Mediziners Lazar Gencic im Tennis erspielen können. Auch für die jugoslawische Handball-Nationalmannschaft läuft sie über Jahre auf. Gencic ist eine Allroundsportlerin, die nach der aktiven Karriere ihre Erfüllung in der Arbeit mit jungen Tennistalenten gefunden hat. Bis im Sommer 1993 ein kleiner Junge namens Novak Djokovic in ihr Leben tritt, ist Monica Seles ihre berühmteste Entdeckung. Wie groß der Einfluss von Gencic auf die im Sommer 1993 von Steffi Graf an der Weltranglistenspitze abgelöste Seles gewesen ist, darüber existieren heute unterschiedliche Interpretationen. Manche bezeichnen Gencic als Ex-Trainerin von Seles, was aus dem Umfeld der großen Steffi-Graf-Rivalin bestritten wird. Fest steht, dass Gencic für die Jugendförderung der jugoslawischen Tennistalente verantwortlich ist, als die Teenagerin Seles ihre ersten Turniere bestreitet. Auch mit dem jungen Goran Ivanisevic, der heute Trainer von Novak Djokovic ist, tourt Gencic über die Tennisplätze Europas – oder besser gesagt: dorthin, wohin es das kommunistische Regime erlaubt.

Jelena Gencic hat ihren Sport im ehemaligen Jugoslawien als Amateurin betreiben müssen. Nun erwartet man von der einstigen Vorzeigeathletin, dass sie ihrem Land etwas zurückgibt. Schon mit Anfang 30 beginnt Gencic, mit talentierten Jugendlichen zu arbeiten. Es wird ihre große Leidenschaft. Wobei sie nie eine Ausbildung zur Tennistrainerin absolviert hat. Kunstgeschichte hat Jelena Gencic studiert, einen Uni-Abschluss in Psychologie besitzt sie. Aber es ist die Arbeit mit den jungen, talentierten Kindern auf dem Tennisplatz, in der sie vollkommen aufgeht. Die Kids folgen ihr, weil sie als Trainerin und Mensch gleichermaßen Respektsperson ist. Als Jelena Gencic ihre Trainerkarriere in den späten 1960er-Jahren startet, ist sie eine Exotin. Eine Frau in einer solchen Position ist im patriarchisch-kommunistischen Jugoslawien des gestrengen Ministerpräsidenten Josip Broz Tito die totale Ausnahme.

Doch Gencic, die hauptberuflich als Fernsehproduzentin für das Staatsfernsehen arbeitet, lässt sich nicht von ihrem Weg abbringen, Anfang der 1990er-Jahre landet sie schließlich in Kopaonik. Der Bergort an der Grenze zum Kosovo ist ein beliebtes Winterurlaubsziel. Mit Schneesicherheit, Lifts, Hotels und gut präparierten Pisten. Im Sommer herrscht dagegen Flaute. Mit einem Tenniscamp für Kinder will Gencic Familien auch zu dieser Zeit in die Region locken. Für die veranschlagten neun Wochen täglicher Arbeit auf dem Tennisplatz erhält sie kein Honorar, Gencic reicht es, wenn der jugoslawische Verband ihr das Essen und die Unterkunft stellt. Von ihrem Arbeitgeber, dem Sender Radio Television Belgrad, erhält sie Extraurlaub für das Camp in den Bergen von Kopaonik.

Schon am ersten Tag fällt ihr dort ein kleiner Junge auf, der das Training von der anderen Seite des Zauns aus genau beobachtet, geradezu zu studieren scheint. Vom Morgen an spaziert der stille Zuschauer Stunde um Stunde um die Anlage herum. Ehe sie die Kinder um kurz nach zwölf Uhr zur Mittagspause ruft, geht Jelena Gencic zu dem kleinen Jungen hinüber.

„Hallo, weißt du denn, was die hier spielen“, fragt sie.

„Ja, klar. Das ist Tennis“, antwortet der Zaungast.

„Wie alt bist du denn?“, will Gencic wissen.

„Sechs.“

„Hast du Lust heute Nachmittag mit uns zu spielen?“

„Ja. Ich habe die ganze Zeit gewartet, dass Sie mich das fragen.“

„Okay. Dann kannst du heute Nachmittag um 14 Uhr mit uns spielen. Wie ist denn dein Name?“

„Novak Djokovic.“

Der erste Dialog zwischen Jelena Gencic und Novak Djokovic ist beendet. Dem britischen Journalisten und Tennishistoriker Chris Bowers hat es Jelena Gencic so im März 2013 in den Block diktiert, zwei Monate vor ihrem Tod. Sie habe, sagte Gencic Bowers im Gespräch, den anderen Trainern sofort von diesem Jungen am Zaun berichtet: „Schaut ihn euch nachher genau an. Besonders seine Augen. Andere Jungs in seinem Alter wandern mit den Augen hin und her, wenn man sie anschaut. Er nicht. Er konnte meinen Blick aushalten. Das erlebt man ganz selten. Er war hier ganz allein. Ohne Eltern. Ohne irgendjemand. Das ist außergewöhnlich.“

Auch Novak Djokovic hat diese folgenschwere Begegnung mit Gencic sehr ähnlich in Erinnerung. In einer Dokumentation des serbischen Fernsehens besucht der inzwischen zum Superstar aufgestiegene Djokovic seine erste Trainerin im Jahr 2021 wieder einmal in Belgrad. Auf dem Sofa im wenig feudalen Wohnzimmer von Gencic erzählt Djokovic die Geschichte vom ersten Kennenlernen, er hat seiner Gastgeberin ein kleines Präsent mitgebracht: eine Miniaturausgabe des Wimbledon-Pokals, den er im Jahr zuvor erstmals hat gewinnen können.

Im Juni 1993 ist Wimbledon noch weit weg. In Kopaonik kann es ein kleiner Junge kaum erwarten, am Nachmittag mit den anderen Kindern des Tenniscamps auf dem Platz zu stehen. Eine halbe Stunde vor dem vereinbarten Treffen blickt Jelena Gencic aus dem Fenster ihres Appartements. Am Eingang zu den drei Sandplätzen steht schon der kleine Junge vom Vormittag. Mit einer Sporttasche in der Hand.

„Was hast du eingepackt?“, fragt Jelena Gencic den Jungen, als sie ihm wenige Minuten später gegenübersteht. „Einen Schläger. Eine Flasche Wasser. Zwei Schweißbänder. Ein Handtuch. Eine Banane. Und drei saubere T-Shirts“, sagt Djokovic.

„Woher wusstest du, was du alles brauchst?“

„Das habe ich im Fernsehen gesehen. Bei Sampras, Agassi und Edberg.“

Anfang Juni 1993 läuft die zweite Woche in Wimbledon, dem prestigeträchtigsten Turnier der Tenniswelt. Die Spiele werden vom jugoslawischen Staatsfernsehen übertragen. Der kleine „Nole“ sitzt vor dem Fernseher. Fasziniert verfolgt er die Duelle auf dem heiligen Rasen. Vor allem ein junger Amerikaner begeistert ihn: Pete Sampras, der im Endspiel seinen Landsmann Jim Courier in vier Sätzen regelrecht in die Knie zwingt und den ersten seiner sieben Wimbledon-Titel gewinnt. Erst viele Jahre später wird Novak Djokovic einräumen, dass die Anekdote von der selbst gepackten Tasche nicht ganz der Wahrheit entspricht. Seine Mutter Dijana, gibt er im Dezember 2012 zu, habe die Tasche für sein erstes Tennistraining gepackt, allerdings habe er ihr genaue Anweisungen gegeben, was sie ihm mitgeben müsse. Auch nicht selbstverständlich für einen Sechsjährigen, der Tennis bis dahin nur aus dem Fernsehen kennt.

Es folgt die erste Trainerstunde im Leben von Novak Djokovic. Gencic beschreibt diese rückblickend als ein Aha-Erlebnis, wie sie es davor nur bei Monica Seles gehabt habe. Allerdings ist gut möglich, dass Gencic diese erste Einheit mit „Nole“ verklärt. Zumindest gibt es viele Wegbegleiter, die zwar eine besondere Begabung des jungen Djokovic erkannt haben – aber eine Weltkarriere hat ihm deswegen keiner zugetraut. Gencic jedenfalls lässt den Jungen, der sich noch am Vormittag die Nase am Zaun plattgedrückt hat, nicht mehr gehen. Bleibt die Frage, weshalb die Trainerin in Kopaonik überhaupt auf Novak Djokovic hat treffen können? Der Ort an der Grenze zum Kosovo liegt schließlich 280 Kilometer von Belgrad entfernt, der Heimat der Familie Djokovic.

Kapitel 2

Dijana und Srdjan

Novak Djokovic kommt am 22. Mai 1987 in Belgrad zur Welt. Er ist das erste Kind von Dijana und Srdjan Djokovic. Vater Srdjan ist zum Zeitpunkt der Geburt 26, seine Frau drei Jahre jünger. Das junge Paar versucht, sich im kriselnden Jugoslawien eine Existenz aufzubauen. In Belgrad betreiben die Djokovics ein Restaurant. Wobei der aus dem Kosovo stammende Srdjan sich in der Millionenstadt nie wirklich wohlfühlt, er sehnt sich nach der Natur seiner Heimat. Doch in dem immer weiter auseinanderfallenden Jugoslawien sieht er nur in Belgrad die Chance, seine Familie durchzubringen. Dijana hingegen ist gebürtige Belgraderin. Sie entstammt einer Militärfamilie, wächst in patriarchalischen Strukturen auf, die ihr Gatte Srdjan fortführt.

Zu den sportlichen Qualitäten von Dijana und Srdjan Djokovic gibt es widersprüchliche Angaben. Manche Artikel aus seiner Heimat behaupten, Srdjan sei ein hervorragender Skifahrer gewesen und habe an einigen Rennen teilgenommen, andere führen ihn als ehemaligen Fußballspieler des FC Trepca auf, einem Klub aus dem Kosovo nahe Mitrovica. Der Name Srdjan Djokovic findet sich allerdings in keinen Statistiken. Weder im Ski noch im Fußball. Der Verdacht liegt nahe, dass Djokovic senior im Angesicht der späteren unglaublichen Erfolge seines Sohnes die eigenen sportlichen Leistungen posthum aufpoliert hat. Verbürgt ist immerhin seine Arbeit als Skilehrer – und hier schließt sich der Kreis: als Skilehrer in Kopaonik.

Mama Dijana ist eine ehemalige passable Volleyballerin und ausgezeichnete Turnerin. Seine einzigartige Beweglichkeit und Flexibilität glaubt Novak Djokovic von ihr „vererbt“ bekommen zu haben: „Ich bin ein Champion dank meiner Mutter, nicht wegen meines Vaters.“ Mit Tennis haben allerdings weder Dijana noch Srdjan irgendetwas am Hut.

Entsprechend spielt der weiße Sport auch am 22. Mai 1987 noch keine Rolle im Hause Djokovic. Die kleine Familie wohnt zu dieser Zeit in einem Häuserblock im Zentrum Belgrads. In den Wintermonaten gibt Familienoberhaupt Srdjan Skistunden in Kopaonik. Für jugoslawische Verhältnisse ein feudaler Ort. Im Prinzip trifft man dort nur treue Parteikader oder Zivilisten mit besten Beziehungen nach oben. Auf diese Klientel setzen Srdjan und sein Bruder Goran, als sie im Jahr 1999 eine Pizza in Kopaonik eröffnen, die sie „Red Bull“ nennen. Vom österreichischen Getränkehersteller gleichen Namens werden die Gebrüder Djokovic nicht auf Markenrechtsverletzung verklagt. Das Unternehmen ist erst zwei Jahre zuvor gegründet worden und mehr damit beschäftigt, den Kunden im Westen Europas Flügel zu verleihen.

Die Umgebung Kopaoniks lässt Novak Djokovic bis heute nicht los, sie hat einen ganz speziellen Platz in seinem Herzen: „Ehrlicherweise denke ich, dass die Seele Serbiens in den Dörfern des Südens liegt. Belgrad ist eine moderne Metropole, die dir alles geben kann. Das wahre Serbien ist aber der Süden. Ich bewundere jedes Mal den Ausblick von den Bergen Kopaoniks.“

Man könnte meinen, dass der Ort an der Grenze zum Kosovo für die Familie Djokovic der angenehme Gegenpol zum Leben in den Plattenbauten Belgrads gewesen sei. Aber was auf den ersten Blick nach einer Auszeit für die Seele klingt, ist vor allem eins: knallharte Arbeit. Sechs Tage die Woche. Ohne Pause. Den Gästen die Wünsche von den Augen ablesen. Höflich, freundlich bleiben. Das Los des Gastronomen. Und zwischen den unentwegt schuftenden Eltern wuselt der kleine Novak herum.

Beim Pendeln zwischen den Bergen im Winter und der Hauptstadt bleibt die junge Familie nicht lange zu dritt. Im August 1991 kommt Sohn Marko auf die Welt. Im Juli 1995 Djordje, der dritte Sohn. Der Versuch, die drei Jungen gleich zu behandeln, scheitert früh. Spätestens seit der ersten Tennisstunde mit Jelena Gencic nimmt Novak eine Sonderrolle in der Familie ein.

Nachdem sie mit ihm ein paar Bälle geschlagen und der kleine Junge jede Anweisung sofort umgesetzt hat, will die aufgeregte Tennislehrerin umgehend dessen Eltern sprechen. Novak soll sie zu ihnen führen. Ein kurzer Weg. Das „Red Bull“ liegt gegenüber der Tennisanlage. „Sie haben einen Goldjungen“, hält sich die berühmte Trainerin nicht mit Vorreden auf. Srdjan und Dijana Djokovic können mit dem Besuch von der anderen Straßenseite wenig anfangen. Tennis? Sie haben hier ein Restaurant zu führen, müssen viel und hart arbeiten. Von den frühen sportlichen Eruptionen, die die von Gencic trainierte Weltklassespielerin Monica Seles auslöst, haben sie nichts mitbekommen. Völlig euphorisiert platzt es aus Gencic heraus: „Ich habe kaum jemals ein größeres Talent gesehen wie Ihren Sohn. Ich verspreche Ihnen: Wenn er siebzehn ist, gehört er zu den fünf besten Tennisspielern auf der Welt.“ Srdjan und Dijana Djokovic sind sprachlos.

Novak, der sich bis dahin hinter dem Rücken seiner Mutter versteckt hat, tritt nach den Lobpreisungen hervor und schmiegt sich an Gencic. Seine Eltern sind skeptisch. Als Gencic das „Red Bull“ verlässt, wissen sie nicht, was sie von dieser Frau halten sollen. Sie holen sich Informationen ein. Jeden und jede, die sie rund um Kopaonik fragen, schwärmt in höchsten Tönen von der Tennistrainerin. Srdjan und Dijana Djokovic beginnen, den Worten der zigfachen jugoslawischen Tennismeisterin zu trauen. Novak darf bei ihr trainieren. Kostenlos. Gencic verzichtet auf eine Vergütung für die Arbeit mit dem Ausnahmetalent. Sie weiß aber, dass auch ohne ihr Honorar auf Familie Djokovic erhebliche finanzielle Belastungen einprasseln werden.

Kleidung, Bälle, Schläger – all das kann sich die Familie kaum leisten. Geschweige denn die Kosten für die Reisen zu den anstehenden Jugendturnieren. Schon hier merkt Vater Srdjan, dass er nur einem seiner drei Söhne eine solche Ausbildung wird bieten können. In einem ihrer wenigen Interviews beschreibt Mutter Dijana in der serbischen TV-Sendung „Sport Klub“ Jahre später, wie schwierig der zunehmende Erfolg des ältesten Sohnes für die beiden jüngeren Brüder gewesen ist. So hätte sie Marko und Djordje nach großen Siegen ihres Bruders immer wieder aufgefordert, mit auf das Siegerfoto zu kommen. „Nein, das ist nicht unser Pokal. Wir haben ihn nicht gewonnen“, hätten ihre Söhne dann erwidert. Die völlige Fokussierung auf Novak ist und bleibt ein wunder Punkt, sie bedroht den Familienfrieden damals wie heute; was kein Djokovic öffentlich zugeben würde. Der sportliche Erfolg mag diese Risse materiell und temporär überdecken. Aber die weit weniger spektakulären Lebensläufe von Marko und Djordje sprechen eine deutliche Sprache. Anfang der Neunziger in Kopaonik ist das spätere Ausmaß des Problems noch nicht auszumachen. Das Talent Novak fängt ja gerade erst an.

Kapitel 3

Unschlagbares Duo aus den Bergen

Jelena Gencic vergeudet keine Zeit. Nach dem ersten Gespräch mit Srdjan und Dijana Djokovic steht für sie fest: Dieser „Goldjunge“ ist ab sofort meiner. Sie arbeitet ein detailliertes Trainingsprogramm aus. Nicht nur für die Wochen im Camp in Kopaonik, sondern gleich für die kommenden fünf Jahre. Sie spricht mit Lehrern, Vereinstrainern und immer wieder mit Novaks Eltern. Betont jedes Mal die Einmaligkeit des Jungen. Eines der größten Probleme auf dem Weg nach oben ist schnell ausgemacht: die Schulpflicht. Novak geht in Belgrad zur Schule. Gencic hingegen gibt aufgrund der hohen Nachfrage immer mehr Tenniscamps in Kopaonik. Zunächst versucht die Familie, eine Schule für Novak in den Bergen zu finden. Doch es gibt keine in unmittelbarer Nähe. Also besucht Novak weiterhin seine Belgrader Schule, während die Eltern große Teile des Jahres im „Red Bull“ verbringen und in ihrer Boutique, die sie in der Zwischenzeit in dem Wintersportort zusätzlich eröffnet haben. Während seine Eltern in Kopaonik das Geld für die Tenniskarriere verdienen, lebt Novak bei Großvater Vlado, dem Vater von Srdjan Djokovic. So hart und unnahbar Srdjan oft wirkt, so einfühlsam und offen wird Vlado Djokovic von denen charakterisiert, die ihn persönlich kannten. Er lebt in einem Plattenbau etwa sieben Kilometer südlich vom Zentrum Belgrads entfernt, im Stadtteil Banjica.

Damals lebte hier die Mittelschicht des kommunistischen Jugoslawiens, heute ist Banjica ein sozialer Brennpunkt. Die Suche nach der Wohnung von Vlado Djokovic gestaltet sich einfach. An der Außenwand des Hauses prangt direkt unter der Wohnung im ersten Stock ein nicht zu übersehendes Graffiti, das Novak Djokovic zwischen Jelena Gencic und seinem Opa Vlado zeigt. Etwa drei mal zehn Meter groß ist das Kunstwerk. Gencic hat stets nur in den besten Tönen von Opa Vlado gesprochen: „Ich wusste, dass er dort in den besten Händen ist“, fasst sie im Buch von Chris Bowers ihr Gefühl gegenüber dem Belgrader Ziehvater ihres Schülers zusammen. Über ihre guten Verbindungen in Regierungskreise schafft es Gencic, dass Novak beim einstigen Armeesportklub Partizan Belgrad trainieren darf. Immer an ihrer Seite, sofern sie nicht andernorts Tennis-Camps geben muss. Jelena Gencic gelingt es regelmäßig, eine Woche Extra-Schulurlaub für ihren Musterschüler zu verhandeln, damit Novak länger am Stück mit ihr in den Bergen trainieren kann.

Bei Opa Vlado spielt indes nicht nur Tennis eine große Rolle. Zwischen den gigantischen Plattenbauten liegt ein Fußballplatz – ebenfalls aus Beton. Dort bolzt Novak nach der Schule mit seinen Freunden. Oder er spielt eine Runde Basketball, denn einen Korb gibt es dort ebenfalls. Für die Kinder von Banjica ist es der Sport-Himmel in einer zusehends tristeren Welt, und „Nole“ gehört in jeder Sportart zu den Besten. Er lernt aber auch, dass es im Mannschaftssport nicht auf den Einzelnen ankommt. Freunde berichten heute noch von seinem großen Einsatz fürs Team. Der Beton um ihn herum hat zudem den Vorteil, dass er nahezu jede Ecke des Wohnblocks in eine Tenniswand verwandeln kann.

Die meiste Zeit ist allerdings für das Training mit Jelena Gencic reserviert. Sie wohnt am Rande von Banjica und steht den ganzen Tag auf den Ascheplätzen des Geländes von Partizan. Am liebsten mit „Nole“. Dabei bringt Gencic ihrem Schützling nicht nur den richtigen Vorhandschwung und korrekten Ballwurf bei. Sie weiß: Will es dieser Junge auf die Profitour schaffen, muss er auch abseits des Platzes bestehen. Er muss Sprachen beherrschen, damit er nicht als verschlossene „Balkan-Maschine“ wahrgenommen wird. Heute spricht Djokovic fünf Sprachen fließend: Serbisch, Englisch, Italienisch, Französisch und Deutsch. Nicht jede dieser Sprachen hat er von Gencic gelernt. Aber sie schafft bei ihm das Bewusstsein für Kommunikation auf Augenhöhe. Auch als Zeichen des Respekts für das Gegenüber. Djokovic freut sich übrigens bis heute, wenn er auf Deutsch angesprochen wird. Aus seiner Zeit in München bei Trainerlegende Niki Pilic beherrscht er die Sprache noch gut. Auch als Boris Becker später als Trainer an seiner Seite ist, kommuniziert er mit dem gebürtigen Leimener auf Deutsch. In Serbien macht er sich mit seinem Sprachtalent gleichwohl nicht nur Freunde. Weil er im Ausland auf seine serbische Muttersprache verzichtet, unterstellen ihm einige seiner Landsleute fehlenden Patriotismus, bezeichnen den Tennisstar als anbiedernd und unterwürfig. Novaks Eltern sprechen trotz ihrer inzwischen vielen Reisen um die Welt wenig Englisch. Auch ein Grund, warum sie – allen voran Srdjan – nicht-serbischen Medien äußert selten Interviews geben.

Jelena Gencic beschränkt ihre Erziehung abseits des Platzes nicht ausschließlich auf Sprachen. Sie hat die Etikette umfänglich im Blick. Bei den gemeinsamen Mahlzeiten erklärt sie „Nole“, welche Gabel für den Salat und welche für den Hauptgang gedacht ist. Er bekommt Dinge beigebracht, die ihm seine hemdsärmeligen Eltern – nicht nur aus Zeitgründen – nicht vermitteln können. Jelena Gencic kann es. Jelena Gencic macht es. Zur Entspannung hört sie oft klassische Musik. Und spielt sie auch Novak vor. Der Junge im Kindergartenalter lauscht den Klängen zunächst ungern, im Laufe der Zeit jedoch bemerkt die Klassik-Liebhaberin, wie Novak immer wieder vor der Tür stehen bleibt, wenn sie ihre Musik spielt. Sie erklärt ihm die Hintergründe zu einzelnen Passagen, Nole hört ihr einfach nur zu. Speichert ab. Wie immer, wenn Gencic mit ihm spricht. Er saugt alles auf, was sie ihm zu sagen hat. Es bleibt eine jener Eigenschaften, die bis heute jeder herausstellt, der mit ihm näher zu tun hat. Vom Physiotherapeuten bis zum Manager.

„Er machte so unglaublich schnelle Fortschritte“, erinnert sich Gencic an die gemeinsamen Anfangsjahre zwischen Belgrad und Kopaonik. Während die Geldprobleme der Familie im Hintergrund wachsen, ist es für die Trainerin und ihren Schützling eine unbeschwerte Zeit. In Blockbuster-Filmen wie „Rocky“ oder „Karate Kid“ sind das jene Passagen, in denen die Stars zu opulenter Musik ihre Trainingseinheiten bis zur Perfektion absolvieren. Rocky Balboa stapft durch den Schnee Sibiriens, räumt Baumstämme aus dem Weg. Oder Karate-Tiger Daniel-san, der nach den eindringlichen Worten seines Lehrmeisters Mister Miyagi erkennt, dass er mit dem Waschen eines Autos seine Technik für den perfekten Kampfmoment verfeinert. Momente totaler Fokussierung. Hollywood-Kitsch. So nah an der Wahrheit wie die Boxkämpfe von Rocky Balboa.

Die Erzählungen von Gencic und Djokovic ähneln diesen filmischen Inszenierungen. Und auch wenn sie sich nur in den Köpfen der beiden so abgespielt haben, ihren Anteil an der Karriere des erfolgreichsten Tennisspielers aller Zeiten haben sie. Gencic bringt Djokovic schon früh mit einer Technik in Verbindung, die heute Standard im mentalen Training von Spitzensportlern ist: dem Visualisieren. „Stell dir vor, wie du den Wimbledon-Pokal in der Hand hast. Was siehst du?“, fragt sie ihn immer und immer wieder. Und es reicht ihr nicht, dass Novak antwortet: „Einen Pokal.“ Sie fordert ihn auf, die Trophäe detailliert zu beschreiben. Fragt ihn, welches Bild er im Kopf hat. Was hat er an? Was hat der Schiedsrichter an? Wer sitzt in seiner Box? Wie riecht das Gras? Jede noch so kleinste Nuance muss der Junge in Worte fassen und mit allen Sinnen vorfühlen.

Aus dieser Zeit stammen auch die ersten öffentlichen Videos von Novak Djokovic. Eines zeigt ihn als Sechsjährigen auf dem Tennisplatz von Kopaonik. In grelle Neonfarben gehüllt kann der kleine „Nole“ gerade mal über das Netz blicken. Er spielt ein paar Bälle mit Vater Srdjan. Beide sind auf dem gleichen Niveau. Novak feiert jeden Punktgewinn mit lautem Geschrei und ballt dabei die Faust. Bei einem Punktverlust sinkt er vor Enttäuschung auf die Knie.

Eine andere Sequenz zeigt ihn in einem Match mit einem Jungen, der mindestens vier, fünf Jahre älter ist. Novak kann immer noch nur gerade so über das Netz schauen, den Aufschlag beherrscht er schon außergewöhnlich gut. Doch einem langen Return seines körperlich klar überlegenen Gegners har er nichts entgegenzusetzen. Nach einem Vorhandfehler ist das Match beendet. Novak hat verloren. Nach dem obligatorischen Handshake am Netz bricht der Verlierer in Tränen aus. Novak muss von Freunden getröstet werden. Schon damals trifft großer Ehrgeiz auf großes Talent.

In einem dritten Video sitzt er mit umgedrehter Baseballkappe und einem Tennisschläger in der Hand an einem Netz in einer Art Fernsehstudio und wird von einem anderen Kind interviewt.

„Was liebst du am Tennis am meisten“, will der Fragesteller wissen.

„Die Vorhand. Die Rückhand. Und die Volleys. Weil ich damit meine Gegner besiege.“

„Wie oft spielst du?“

„Die ganze Nacht. Tagsüber habe ich Schule. Dann habe ich Training am Nachmittag. Spiele aber danach weiter bis in die Nacht.“

„Und was ist dein Ziel im Tennis?“, beschließt der etwas ältere Junge das Interview.

„Die Nummer eins der Welt zu werden.“

Djokovic sagt es mit einer beiläufigen Selbstverständlichkeit, die diesen siebenjährigen Jungen schlagartig unsympathisch erscheinen lässt. Ähnlich einem übereifrigen Teenager, der im Cluburlaub sofort aufspringt, sobald nach einem Freiwilligen für den Musical-Abend gefragt wird, und, ohne mit der Wimper zu zucken, zu trällern beginnt. Nicht jedes dieser Kinder wird ein musikalischer Weltstar und nicht jedes Tennistalent, das die Nummer eins der Welt als Ziel ausgibt, hält Wort. Novak Djokovic schon. Weil er sich nicht aufs Träumen beschränkt. Weil er seinen Traum mit Leben füllt. Und mit schier unmenschlichem Einsatz. Sein großes Glück: Um ihn herum sind Menschen, die den unbändigen Ehrgeiz dieses Kindes in die richtigen Bahnen lenken. Allen voran Jelena Gencic.

Doch die Idylle zwischen Gencic und „Nole“ wird nicht lange währen. Schon bald bestimmen Bomben den Alltag der meisten Serben. Auch den von Jelena Gencic und Novak Djokovic. Und nichts ist mehr wie zuvor. Nie mehr.