Für Marie
Für die Roma-Familie, der ich
im Winter 2014 auf der Rue du
Faubourg Saint-Antoine in Paris
begegnet bin.
Ich danke Marc Ballandras für
die (kurze, aber notwendige)
Einführung in die überaus
stille Welt der Schachturniere.
Ich hoffe, er kann mir meine
Ungenauigkeiten verzeihen!
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Eines Morgens ist Mică gestorben.
Mică war unser Wagen.
Oben auf einem Hügel entfuhr ihm plötzlich ein ohrenbetäubender Knall und dann blieb er schlagartig stehen. Gămans Käfig prallte gegen den Wohnwagen und mein Vater fluchte. Nur noch das Gezwitscher der aufgescheuchten Vögel und Mammadas Schnarchen waren zu hören. Wenn Großmutter schlief, konnte nichts sie wecken.
Mică war ein Pannenspezialist und ließ uns nicht zum ersten Mal im Stich. Als Daddu, mein Vater, die Motorhaube öffnete, glichen Micăs Innereien einem ölverschmierten Klumpen Schrott, eine dunkle Flüssigkeit tropfte auf die Straße, und der Motor rauchte. Daddu schaute uns unglücklich an.
»Diesmal ist es schlimm«, verkündete er.
Für Mică kam jede Hilfe zu spät.
M’ma schwieg wie immer und meine Schwester überprüfte ihr Make-up im Rückspiegel. Seit ein paar Monaten schien Vera nichts wichtiger zu sein als die Länge ihrer Wimpern oder die Farbe ihrer Lippen. Mein Bruder Dimetriu drehte sich eine Zigarette und Mammada blinzelte schläfrig. In seinem winzigen Käfig drehte sich Găman knurrend um sich selbst. Der Aufprall hatte ihn aus seinem Schläfchen gerissen, und Bären mögen es nun mal nicht, abrupt geweckt zu werden.
Wir schauten uns um: Auf der einen Seite befanden sich regendurchweichte Felder, auf der anderen ein Wald, der sich die Hänge hinaufzog. Unten im Tal, am Ende der Straße, sah man die riesigen Schornsteine einer im Nebel versteckten Stadt.
Gleich neben der Stelle, an der Mică den Geist aufgegeben hatte, führte ein schlammiger Weg in den Wald.
»Sollen wir schieben?«, fragte Dimetriu.
»Wir schieben«, grummelte Daddu.
Wir halfen alle mit. Auch meine Schwester mit ihrem Make-up und die uralte Mammada.
Zuerst schoben wir das Auto bis zum Waldrand, danach den Wohnwagen und zuletzt Gămans Käfig. Danach hieß es abwarten.
Normalerweise mussten wir nicht lange warten, denn die Leute mochten uns nicht besonders, uns, also die Ursari, die Bärenführer.
Sie unterstellten uns immer die übelsten Absichten. Behandelten uns wie Dreck. Sahen in uns Landstreicher, Kriminelle, Kindesentführer und was weiß ich noch alles. Egal, wo wir uns niederließen, schlug uns sofort die Feindseligkeit der Nachbarn entgegen. Wenn Blicke töten könnten, hätten sie keine Sekunde gezögert, aber meistens riefen sie nur die örtliche Polizei. Jedes Mal eilten die Polizisten, bis auf die Zähne bewaffnet, herbei und forderten uns auf, uns doch zum Teufel zu scheren.
»Los, verschwindet! Das ist verboten.«
Daddu hüllte sich dann in seinen löchrigen Mantel und musterte sie abschätzig. Er erklärte, dass wir Söhne des Windes waren, Fürsten der Welt und die letzten Nachfahren der ägyptischen Pharaonen. »Vor Jahrhunderten hat Kaiser Sigismund, König von Böhmen, von Ungarn und Kurfürst von Brandenburg, uns höchstpersönlich seinen Schutz ausgesprochen1«, verkündete er Mal für Mal. »Wer uns angreift, greift auch ihn an.«
Die Polizisten grinsten immer hämisch. Sie kannten Kaiser Sigismund nicht. Hatten noch nie von ihm gehört. Er war schon so lange tot, dass alle ihn vergessen hatten. Aber sie hatten Anweisungen von ihrem Vorgesetzten, und mehr brauchten sie nicht, um uns zu vertreiben.
Es gab keinen Grund, warum es an Micăs Todestag anders hätte sein sollen. Also warteten wir auf die Polizei.
Dimetriu entfernte sich in Richtung Stadt und es fing an zu regnen. So ein heftiger Herbstschneeregen mit Windböen, die die letzten Blätter von den Bäumen rissen. Bestimmt kam die Polizei deshalb nicht: Ihre Dienstmützen waren nicht wasserdicht.
Der Boden war so matschig und von Wasser durchtränkt, dass Micăs Reifen immer tiefer einsanken, als ob sie mit der Erde verwachsen würden. Als Nächstes sackte unser Wohnwagen ein und dann Gămans Käfig.
Nach nur zwei Stunden waren wir zu unbeweglichen Nomaden geworden, die am Waldrand im Schlamm feststeckten – wie angewurzelt.
11417 stellte Sigismund I., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, den Anführern der Sinti und Roma einen Schutzbrief aus, der ihnen erlaubte, frei durch sein Reich zu reisen.
Am späten Nachmittag kam Dimetriu mit Neuigkeiten zurück.
»Die Stadt heißt Tămăsciu. Die Fabriken sind Stahlwerke. Sie laufen Tag und Nacht, und alle Leute hier arbeiten dort. Also haben sie Geld.«
Er zündete sich eine Zigarette an.
»Ach, und es gibt jeden Tag einen Markt.«
Die Stahlwerke waren uns egal, aber das Geld und der Markt, das waren gute Nachrichten.
»Ich habe gleich mal eingekauft«, fügte mein Bruder hinzu.
Aus seiner Jacke zog er ein Kaninchen, ein paar Kartoffeln und ein großes Stück Speck für Găman. Mammada klatschte in die Hände. Sie war zwar steinalt, hatte aber immer einen Mordsappetit.
Später, in Frankreich, als ich zum ersten Mal im Leben zur Schule ging, hat Madame Schönauge mir erklärt, dass Dimetriu nicht einkaufte, sondern klaute. Ich habe versucht, ihr klarzumachen, dass sie sich irrte. Dimetriu bezahlte nie die mitgebrachten Waren, das ist wahr. Aber bezahlen ist etwas für Reiche. Und wir waren arm. Als Schutzbefohlene von Kaiser Sigismund konnten wir uns doch schließlich nicht verhungern lassen!
Was hätte sie an unserer Stelle getan? Madame Schönauge schüttelte etwas verunsichert den Kopf. Auf diese Frage fand sie nie eine richtige Antwort.
Dimetriu sagte, er würde die Sachen nur ausleihen und alles zurückzahlen, sobald er einen Weg gefunden hätte, Geld zu verdienen. Die Verkäufer und die Polizisten sahen das zwar anders, doch Dimetriu hatte zwei Talente: Erstens ließ er sich selten ertappen und zweitens rannte er viel schneller als die dickbäuchigen Polizisten und wohlgenährten Verkäufer. Zu den wenigen Vorteilen von Armut gehört, dass man dünn ist.
M’ma briet das Kaninchen am Spieß über dem Tannenholzfeuer, das sie trotz des Regens angezündet hatte. M’ma war eine Meisterin des Feuers: Sie konnte bei Wind und Wetter Feuer machen.
»Denkst du, wir können morgen mit Găman zum Markt?«, fragte Daddu, während er einen Knochen abnagte.
Dimetriu rülpste leise.
»Klar! Ich habe eine gute Stelle hinter der Brücke gleich beim Markt entdeckt. Es gibt dort einen Baum.«
Als ob Găman ihn verstanden hätte, stieß er ein zufriedenes Bärenbrummen aus und verschlang ein riesiges Stück Speck.
Danach legten wir uns, eingemummelt in warme Decken, in unseren Wohnwagen und hörten zu, wie der Regen auf das Dach trommelte. Mammada und der winzige Ofen schnarchten um die Wette, die Polizisten hatten uns noch nicht verjagt, unsere Bäuche waren voll, und Daddu würde am nächsten Tag auf dem Stadtplatz von Tămăsciu mit Găman seine Nummer vorführen.
Eigentlich liefen die Dinge gar nicht so schlecht.
Am nächsten Tag stellten wir uns auf dem Platz von Tămăsciu zwischen Fluss und Markt auf. Ich hielt ein Stück Speck in den Händen, das wir unauffällig bei einem Fleischer auf dem Markt »ausgeliehen« hatten, und rieb damit den Rücken, die Brust und die Schultern meines Vaters ein.
»Schmier ordentlich was drauf, Ciprian. Überall.«
»Wenn ich es übertreibe, frisst Găman dich mit Haut und Haaren.«
Daddu lachte kurz auf, als ob das komplett abwegig wäre.
Dabei war es schon ein paar Mal ziemlich knapp gewesen.
Găman mochte der friedlichste aller Bären sein, aber er war trotzdem ein Bär. So groß und so stark, dass er mit einem einzigen Tatzenhieb einen Mann töten könnte. Zumindest sagte Daddu das den Zuschauern immer am Anfang seiner Nummer.
Noch döste Găman, die Schnauze zwischen den Pranken. Er trug einen Nasenring. Der Ring war an eine Kette geschweißt, die wiederum am einzigen Baum weit und breit festgebunden war. Wenn Găman anfing, Faxen zu machen, reichte ein Ruck an der Kette. Der Ring zerrte dann an seiner Nase, und die Schmerzen bändigten ihn sofort. Man muss wissen, wie man sich Gehorsam verschafft. Aber dazu kam es selten. Meistens war Găman so zahm wie ein Lamm.
Ein riesiges Lamm mit Tigerklauen, übermenschlicher Kraft und den Reißzähnen eines Menschenfressers.
Alle, die den Markt besuchten, waren von Gămans Größe eingeschüchtert und machten einen weiten Bogen um ihn. Doch sobald sie an ihm vorbei waren, warfen sie uns verächtliche Blicke zu.
Ich legte den Speck beiseite: »Ich glaube, diesmal habe ich ganze Arbeit geleistet.«
Daddu zurrte die Schutzarmbänder um seine Handgelenke fester. Die tätowierten Bärenkrallen auf seinen Fingern wirkten täuschend echt. Er überprüfte, ob das Messer mit dem Elfenbeingriff auch richtig am Gürtel befestigt war. Daddus Messer war scharf wie eine Rasierklinge und eine gefährliche Waffe. Gleich einer Harpune war es eigens dafür gemacht, sich ins Fleisch zu bohren und schreckliche Verletzungen zuzufügen. Er hatte es von seinem Vater, der es von seinem Vater hatte, der es von … So schilderte Mammada es jedenfalls. Wir waren schon lange vor Kaiser Sigismunds Zeit Bärenführer gewesen, und nur Ursari besaßen solche Messer. »Das ist für den Notfall«, sagte Daddu immer. »Falls mit Găman etwas schieflaufen sollte.« Aber seit Menschengedenken hatte niemand aus unserer Familie dieses Messer je gegen einen Bären gerichtet. Ein geheimer Pakt schweißte uns seit Jahrhunderten zusammen. Wir waren dafür geschaffen zusammenzuleben.
»Los, bereite Găman vor.«
Als Găman seinen Namen hörte, blinzelte er träge. Er setzte sich auf den dicken pelzigen Hintern und beobachtete, wie ich näherkam.
Găman und ich waren gleich alt. Zehn. Na ja … so ungefähr zehn. Vielleicht auch neun oder elf. Oder sogar zwölf … Bei uns spielen solche Sachen keine große Rolle. Vera war ungefähr alt genug für einen Verlobten. Dimetriu war ungefähr alt genug fürs Gefängnis, falls die Polizei ihn erwischte. Mammada war ungefähr alt genug, um zu sterben, und ich war ungefähr alt genug, um mich um Găman zu kümmern, auch wenn er hundertmal schwerer, größer, stärker und verfressener war als ich.
Das hatte Daddu, mein Vater, eines Tages beschlossen, als er mitbekam, dass die Leute lachten, wenn sie uns zusammen sahen. Ich war bloß ein Strich in der Landschaft, und der Anblick von einem schmächtigen Kerlchen wie mir, der so einen riesigen Fell- und Muskelberg an der Nase führte, belustigte die Zuschauer. Es war ja auch zum Lachen.
Găman witterte den Speckgeruch auf Daddus Haut.
»Kujé, Găman! Ganz ruhig!«
Ich zog ein bisschen am Nasenring, nur um ihn daran zu erinnern, wer hier der Boss war.
Er brummte. Sein Blick verriet mir, dass er einen guten Tag hatte. Es war schwieriger, wenn er sich querstellte.
Ich schnallte den Maulkorb enger. Nicht zu eng. Schließlich sollten alle die beeindruckende Größe seiner Fangzähne sehen. Ich sage es noch mal: Găman war nicht böse. Er war einfach nur groß, schwer, stark und schrecklich gefräßig. Wenn er hungrig war, also so ziemlich immer, konnte nichts ihn aufhalten. Er streckte erst die eine Tatze aus, dann die andere, und ich schnürte seine dicken Rindslederfäustlinge fest. Sie sollten Daddu vor den Tatzen schützen, aber sogar gefeilt blieben Gămans Krallen regelrechte Dolche, die jedes noch so dicke Leder durchbohrten. Der Rücken meines Vaters war völlig vernarbt. Vielleicht wäre, ich weiß auch nicht, das Leder von Elefanten, Walen oder Mammuts die Lösung gewesen.
Ich gab Daddu ein Zeichen. Găman war bereit. Das Spektakel konnte beginnen.
Vera machte unter den ersten vereinzelten, flaumig-zarten Schneeflocken den Anfang. Laut Daddu zieht ein hübsches Mädchen immer Zuschauer an. Sie sang:
Podul de piatră sa dărâmat
A venit apa şi la luat
Vom face altul pe riu, în jos …
Die Brücke aus Stein stürzte ein
Das Wasser kam und nannte sie Mein
Lasst uns eine neue bauen über’m Fluss …
Vera wirbelte im Kreis, während sie über ihrem Kopf das Tamburin schlug. Ein paar Leute blieben stehen und schauten zu, unfreiwillig angezogen von ihrer Anmut und Schönheit.
Mit einer letzten schwungvollen Drehung zog Vera sich zurück. Als Daddu durch die Schneeflocken auf den Platz schritt, glänzte sein nackter Oberkörper speckig. Er holte ein Stück Kreide aus der Tasche, zeichnete einen großen Kreis auf den Boden und richtete sich wieder auf.
»Kommen Sie näher, meine Damenunherrn, Laidiesängäntelmänn! Kommen Sie und applaudieren Sie diesem weltweit einmaligen Spektakel: Ein Mann kämpft mit bloßen Händen gegen einen Bären! Ganz genau! Sie haben richtig gehört. Gegen einen Bären! Und nicht etwa ein mickriges Bärenjunges, Laidiesängäntelmänn, sondern ein wahres Raubtier, unzähmbar und wild, aus den Tiefen der undurchdringlichsten Wälder; eine furchterregende Naturgewalt, die einen Mann mit einem einzigen Tatzenhieb töten kann. Kommen Sie näher! Kommen Sie näher! Das absolut gewagteste, das wunderfabelhafteste und einzigaußergewöhnlichste Spektakel, das Sie hier auf Erden erleben können, beginnt jetzt!«
Er fing ein paar herabwirbelnde Schneeflocken, wobei er darauf achtete, dass seine Fingertätowierungen gut zur Geltung kamen.
»Sehen Sie das?«, rief er und öffnete die Hand. »Sie denken vielleicht, das ist Schnee. Aber da liegen Sie falsch, meine Damenunherrn, Laidiesängäntelmänn! Es sind die Flaumfedern der Engel im Himmel, die sich gerade am Wolkenrand drängen, um keine einzige Sekunde dieses Spektakels zu verpassen. Kommen Sie näher, meine Damenunherrn! Kommen Sie näher, Laidiesängäntelmänn!«
Daddu war das »Laidiesängäntelmänn« sehr wichtig. »Falls ausländische Zuschauer im Saal sind«, sagte er immer.
Allerdings gab es weder einen Saal noch ausländische Zuschauer.
Daddu wartete einen Augenblick. Diejenigen, die für Vera stehen geblieben waren, suchten das Weite. Nur ein paar Kinder waren nähergekommen. So kleine Rotznasen, fünf oder sechs Jahre alt.
Nun trat ich mit Găman an der Kette nach vorne. Seine großen Pranken steckten in den Fäustlingen, und so spazierte er hinter mir her. Er kannte seinen Part. Er ging allein zur Mitte des Kreidekreises, richtete sich vor meinem Vater zur vollen Größe auf und beschnupperte ihn. Die Luft roch zwar nach Schnee, Daddus Haut jedoch nach Speck, und Găman war wie üblich hungrig. Daddu bekreuzigte sich, stieß einen Kampfschrei aus und stürzte sich auf Găman. Er griff mit beiden Händen in das borstige Fell, während die großen Bärenpranken ihn umschlangen. So ineinander verkeilt verharrten sie eine Weile fast bewegungslos, die Muskeln angespannt und darauf bedacht, nicht der Kraft des anderen nachzugeben.
Gămans Schnauze war an die Brust meines Vaters gepresst, und da der Bär dem Speckgeruch einfach nicht widerstehen konnte, versuchte er, Daddu abzuschlecken. Der schwitzte und keuchte fast so laut wie Găman, während er sich in dessen Fell krallte und die Bärenklauen seinen Rücken aufschürften.
Die ganze Zeit über hielt ich die Kette fest in den Händen. Sollte Găman ein bisschen zu aggressiv werden, war es meine Aufgabe, ihn mit einem heftigen Ruck am Nasenring an seine guten Manieren zu erinnern.
Daddu und der Bär drehten sich im Kreis. Găman hielt meinen Vater fest, der ihn seinerseits mit aller Kraft von sich stoßen wollte. Daddus Muskeln traten hervor, sein Gesicht triefte vor Schweiß und lange rote Schnittwunden zierten bereits seinen gesamten Rücken.
Die in sicherer Entfernung versammelten Knirpse klatschten in die Hände und feuerten den Bären an, es meinem Vater mal so richtig zu zeigen. Am liebsten hätte ich Găman auf diese kleinen Satansbraten gehetzt.
Plötzlich schrie Daddu durchdringend auf, und, wie von seinem Gegner bezwungen, ging er in die Knie. Mit der Schnauze voran und gefletschten Zähnen schubste der massige Bär ihn um wie eine Puppe. Daddu hielt den Arm schützend vor sein Gesicht und wehrte Găman so gut wie möglich ab. Die Rotznasen traten, schwer beeindruckt, ein paar Schritte zurück. Endlich kamen auch ein paar Schaulustige näher, um zuzusehen, wie ein Mann vor ihren Augen von einem Bären zerfleischt wurde.
Ich wusste als Einziger, dass alles nur Theater war. So köderte Daddu die Zuschauer. Es war Teil der Show.
Er warf mir einen Blick zu und ich zog diskret an der Kette. Găman zuckte augenblicklich zurück. Daddu sprang auf und stürmte mit dem Kopf voran auf ihn zu. Der Bär steckte den Zusammenprall weg, ohne mit der Wimper zu zucken. Das Gekreische der Kinder wurde noch lauter. An Daddus Hals traten die Adern hervor. Mit aller Kraft versuchte er, den Bären aus dem Kreidekreis zu drängen. Dann knurrte Găman scheinbar wütend. Ein paar Zuschauer schrien auf. Doch wer Găman kannte, wusste, dass es bloß ein leicht ungeduldiges Brummen gewesen war. Er war das Spiel leid und wollte nur noch eines: endlich den Speck verschlingen, der ihm schon viel zu lange den Mund wässrig machte.
Es wurde Zeit, den Kampf zu beenden.
Gerade als der Bär ihn erneut mit seinen riesigen Pranken packen wollte, trat Daddu einen Schritt zur Seite. In seinem Elan schoss Găman über die Kreidelinie hinaus. Er hatte verloren. Unter vereinzeltem Applaus riss Daddu die Arme in die Luft, als hätte er gerade einen olympischen Wettkampf gewonnen. Trotz der Kälte mischte sich Schweiß unter das Blut auf seinem Rücken. Găman war seine Niederlage vollkommen egal. Er hatte ein riesiges Stück Speck gewonnen, das er nun genüsslich schnaufend verputzte.
Bevor sie sich davonmachen konnten, ging Daddu zu den wenigen Zuschauern und hielt ihnen seinen Hut hin. Ein paar armselige Münzen klingelten. Während ich seine Wunden abtupfte, zählte er zähneklappernd, was er gerade verdient hatte.
Fünfzehn Leiki. Daddu spuckte in den Schnee.
»Diese verdammten Gadje!«
Das reichte kaum, um Găman zwei Tage durchzufüttern!
Natürlich »borgte« Dimetriu Essen aus und das bezahlten wir nicht, aber trotzdem.
Um uns herum gingen die Leute wieder ihren Tätigkeiten nach. Sie kamen und gingen und mieden unseren Blick. Sie machten einen weiten Bogen um Găman, der sich nun das Maul abschleckte, dabei laut schnaufte und die Schnauze andauernd neugierig zu ihren frisch gefüllten Einkaufskörben reckte.
»Da sind sie!«, brüllte plötzlich jemand.
Ein bulliger Fleischer deutete mit dem Finger auf uns. Mehrere Polizisten begleiteten ihn und ein von zwei Beamten flankierter Dimetriu in Handschellen bildete das Schlusslicht. Das passierte nicht alle Tage: Er war nicht schnell genug gerannt.
Daddu zog seinen löchrigen Mantel über und seinen Hut tief in die Stirn. Vera und ich flüchteten zu Găman, der sich immer noch sauberschleckte.
»Dieser Abschaum da hat mir meinen ganzen Speck geklaut!«, keifte der Fleischer.
Einer der Polizisten – der mit den meisten Silbersternen auf der Schulter – musterte Daddu.
»Wie heißt du?«
»Zidar. Lazar Zidar, Nachfahre der ägyptischen Pharaonen und Schutzbefohlener von Kaiser Sigismund.«
»Genug Gerede! Wir wollen dich hier nicht mehr sehen. Ist das klar?«
»Und auch sonst nirgendwo«, fügte der Fleischer hinzu.
»Ich sage es nur ein Mal«, fuhr der Polizist fort. »Und jetzt verschwinde!«
»Ich verdiene mein Brot ehrlich«, merkte Daddu an und schaute dem Polizisten fest in die Augen.
»Indem du auf dem Markt klaust?«
»Wir klauen nicht, Herr Leutnant, wir leihen aus. Ist es etwa meine Schuld, wenn die Leute nicht für eine Aufführung bezahlen, die sie doch angeschaut haben? Ein weltweit einzigartiges Spektakel, Herr General! Ein Mann kämpft mit bloßen Händen gegen einen Bären. Ganz genau, gegen einen Bären! Du hast richtig gehört, Herr General. Schau!«
Daddu zeigte auf Găman.
»Und kein mickriges Bärenjunges, sondern ein wahres Raubtier, unzähmbar und wild, aus den Tiefen der undurchdringlichsten Wälder; eine furchterregende …«
»Klappe! Wie viel hast du heute Morgen verdient?«
»Fünfzehn Leiki.«
Der Polizist streckte die Hand aus. Seufzend übergab Daddu ihm die Münzen.
»Reicht das?«, fragte der Polizist den Fleischer.
»Muss wohl«, stöhnte der Dicke.
In Wahrheit war Gămans Speck höchstens halb so viel wert gewesen.
Der Polizist wandte sich wieder meinem Vater zu. »Wo ist dein Lager?«
Daddu machte eine vage Geste in Richtung Berge.
»Lass dich hier nicht mehr blicken. Morgen bist du mit deinem Bären, deiner ganzen Sippe und deinen Siebensachen weg. Verschwunden, auf Nimmerwiedersehen. Ist das klar?«
»Geht nicht, Herr General, Mică ist gestern gestorben.«
»Mică? Wer soll das denn sein?«
»Unser Auto. Wir hatten gestern oben auf dem Hügel einen Motorschaden.«
»Das ist nicht mein Problem. Dein Sohn verbringt die Nacht auf dem Revier. Du bekommst ihn erst zurück, wenn du dich auf den Weg machst.«
»Aber wir können doch nicht zu Fuß losziehen«, protestierte Daddu.
»Warum nicht? Dann hast du zumindest keine Autopannen mehr.«
Als wir den Stadtplatz von Tămăsciu verließen, fiel der Schnee in großen Flocken. Die Menschen ließen uns nicht aus den Augen und Găman musste zu jedem Schritt erst überredet werden. Es war Winteranfang, und da wollen Bären nun mal schlafen. Sobald er wieder in seinem Käfig war, rollte Găman sich zusammen und schlief inmitten der Schneeböen ein. Schon nach ein paar Sekunden hörten wir ihn schnarchen.
M’ma hatte einen Igel unter einem Holzhaufen entdeckt und daraus eine Suppe gekocht, deren köstlicher Duft nun den Wohnwagen erfüllte. Daddu erzählte ihr, was geschehen war, und wie üblich sagte meine Mutter nichts dazu. Eigentlich gab es ja auch nichts zu sagen. Ich aß kaum etwas. Ich liebe Igelsuppe, aber diesmal bekam ich sie fast nicht runter.
Mammada wirkte als Einzige völlig sorglos. Sie schlürfte die Suppe, legte sich auf ihre Matratze und begann, mit Găman um die Wette zu schnarchen. Vera saß auf ihrem Schlafplatz und bemalte sich die Nägel neu. Sie hob den Blick zum kaputten Fenster.
»Wir bekommen Besuch«, verkündete sie.
»Polizei?«, wollte Daddu wissen.
»Nein, sieht nicht so aus.«
Wir schauten hinaus. Ein kleiner Trupp stapfte den Hügel herauf. Knapp dreißig Leute. Mehr nicht. Obwohl der Schnee fast alle Geräusche verschluckte, konnten wir es hören: das Grölen von Betrunkenen. Ein paar von ihnen hatten Fackeln dabei.
Daddu spuckte auf den Boden.
»Ciprian, weck Găman auf. Man weiß ja nie.«
Einen Bären aus dem Schlaf zu reißen, ist keine leichte Aufgabe. Găman stellte sich taub. Erst als die Gruppe schließlich unseren Wohnwagen erreichte, bewegte er sein dickes Hinterteil.
Der Fleischer mit der blutverschmierten Schürze führte die Gruppe an. Alle anderen blieben hinter ihm. Die Fackeln flackerten wild im Wind und ließen die Schneeflocken in ihrer Nähe zischend verdampfen. Die meisten Männer trugen Armbinden mit einem schwarzen Kreuz darauf. Keiner von uns hatte eine Ahnung, was das bedeutete, aber wir wussten auch so, dass die uns noch weniger leiden konnten als die anderen. Daddu versperrte ihnen den Zugang zum Wohnwagen.
»Wir wollten nur sichergehen, dass du auch wirklich deine Koffer packst«, behauptete der Fleischer.
»Ich habe bis morgen Zeit«, antwortete Daddu.
»Je früher, desto besser. Ich würde dir sogar empfehlen, jetzt sofort loszuziehen, du hast noch zwei, drei Stunden Tageslicht. Nutz sie!«
»Ich habe bis morgen Zeit«, beharrte Daddu.
Găman wurde vom Fleischgeruch angezogen, der von dem dicken Mann ausging, er tapste näher und streckte ihm die Schnauze entgegen. Der Fleischer machte einen Satz nach hinten.
»Halt dein Biest im Zaum, Junge! Sonst …«
Einer aus der Gruppe richtete ein Gewehr auf Gămans Kopf.
Die Waffe klickte. Niemand rührte sich. Weder ich noch Găman, der den Gewehrlauf vor seiner Nase beschnüffelte, noch der Fleischer und seine Begleiter und auch nicht Daddu. Das sanfte Rauschen des zu Boden rieselnden Schnees verschmolz mit unseren Atemzügen.
»Wir werden dir einen Denkzettel verpassen«, fuhr der Fleischer nach einer Weile fort, »damit du verstehst, dass wir dich hier nicht mehr sehen wollen, dich, deine verlotterten Bälger und deinen Bären.«
Und plötzlich geschah alles unglaublich schnell. Er schleuderte seine Fackel kurzerhand auf Mică. Trotz des Schnees entzündete sich die dunkle Flüssigkeit, die aus dem Motor tröpfelte, sofort. Die Flammen sausten über den Boden und kletterten das Auto hinauf. Wie trockenes Holz fing Mică auf einen Schlag Feuer, die anderen warfen nun ebenfalls ihre Fackeln in das Flammenmeer. Als wäre das noch nicht genug, schoss der Gewehrmann in die Luft.
Mică brannte. Aus Angst vor dem Feuer hatte sich Găman wie ein kleines, verängstigtes Tier in eine Ecke seines Käfigs zurückgezogen.
Der Fleischer zeigte mit dem Finger auf Daddu: »Wenn du morgen noch da bist, ist dein Wohnwagen dran. Kapiert? So, los jetzt, alle Mann. Wir sollten abhauen, bevor wir hier noch festfrieren!«
Die Brandstifter salutierten vor dem Fleischer mit einem einfältigen Gruß, indem sie einen ausgestreckten Arm zu seinem blutverschmierten Kittel hoben, dann marschierten sie im Schneetreiben davon; unterdessen verschwand Mică hinter schwarzen Rauchschwaden. Die Flammen leckten an den Ästen der Tannenbäume, und von Zeit zu Zeit fiel ein großer Brocken Schnee herab und verwandelte sich in eine kochend heiße Dampfwolke. Die Luft roch nach Teer und überhitztem Metall.
Daddu zuckte mit den Achseln.
»Mică war ohnehin genauso wertlos wie diese Idioten.«
Es war der Tag der Besuche.
Am späten Nachmittag parkte eine lange schwarze Limousine neben den rauchenden Überresten unseres alten Mică. Ein BMW mit dunkel getönten Scheiben. Ein Auto für Reiche.
»Schicker Schlitten!«, lachte Daddu. »Glaubt ihr, dieser blutverschmierte Trottel schickt uns einen Ersatz für Mică?«
Zwei Männer stiegen aus; in den schicken Anzügen, warmen Mänteln und Filzhüten sahen sie aus wie Gadje, also ganz anders als wir. Der Jüngere trug trotz der Dämmerung eine Sonnenbrille. Viel sehen konnte er in diesem Schneetrubel sicher nicht. Der andere trug seine weißen Haare zu einem langen Pferdeschwanz gebunden.
Schnee wehte in den Wohnwagen, als sie, ohne anzuklopfen, eintraten. Sie schauten uns einen nach dem anderen an, wobei ihre Blicke einen Moment an Vera hängen blieben.
»Wir haben gehört, du hast Probleme«, begann Sonnenbrillenmann.
Daddu versuchte einzuschätzen, wen er da vor sich hatte. Der Ältere spielte pausenlos mit seinem klobigen Siegelring. Der Jüngere kaute Kaugummi. Siegelringmann und Sonnenbrillenmann waren jedenfalls keine Polizisten.
»Ich? Probleme?«, fragte Daddu überrascht. »Nicht mehr als sonst auch. Warum?«
»Probleme mit den Stadtbewohnern, mit der Nationalistischen Liga und sogar mit den Bullen.«
»Wir haben immer Probleme«, seufzte Daddu. »Mit der Polizei genauso wie mit den anderen. Hier oder anderswo. Wir kennen das.«
»Aber diesmal ist es schlimm.«
»Woher willst du das denn wissen?«
»Dein Sohn sitzt im Gefängnis, dein Auto ist ein Haufen Asche, und wenn du morgen nicht weg bist, zünden die Trottel dir den Wohnwagen an. Die Polizei wird keinen Finger rühren. Also, was willst du machen?«
»Wir gehen eben woanders hin. Das ist unser Schicksal. Wir sind die Söhne des Windes und die letzten Nachfahren der Pharaonen. Die Welt ist unser Zuhause.«
»Ein Haus, in dem es überall zieht«, lachte Siegelringmann hämisch. »Und du hättest nicht einmal mehr den Wohnwagen.«
Daddu schüttelte den Kopf. Sonnenbrillenmann zündete sich eine Zigarette an, ohne meinem Vater eine anzubieten.
»Wir möchten dir ein Angebot machen«, setzte Siegelringmann erneut an.
»Ein Angebot?«
»Weißt du noch, was der Bulle heute Morgen gesagt hat? Er will dich hier nicht mehr sehen. Und ich vermute mal, das Gleiche gilt für so einige Städte in der Gegend. Egal, wo du hingehst, niemand will dich haben. Warum also nicht ganz woanders hingehen?«
»Und was heißt ganz woanders?«
»Ein anderes Land. Deutschland zum Beispiel. Oder vielleicht Frankreich, Paris …«
Daddu betrachtete die beiden, dann holte er seinen Tabak hervor, um sich eine Zigarette zu drehen. M’ma stand regungslos wie eine Statue neben dem Ofen und Vera starrte die Männer an. Paris … Schon allein das Wort klang wie ein Traum.
Wir hörten Mammada und Găman schnarchen, den Wind zwischen den Brettern des Wohnwagens pfeifen und den Schnee auf dem Dach rascheln.
»Unmöglich«, sagte Daddu schließlich. »Wir haben nichts. Keine Papiere, kein Geld …«
»Wir kümmern uns drum.«
Siegelringmann rückte mit seinem Stuhl etwas näher heran.
»Hör mir gut zu, Lazar.«
Daddu zuckte zusammen. Woher kannte der Typ seinen Namen?
»Mein Freund hier und ich sind bereit, jedem von euch zehntausend Leiki für die Reise vorzustrecken. Ihr zahlt es uns zurück, sobald ihr in Frankreich seid.«
Daddu zündete seine Zigarette an.
»Du machst dich über uns lustig«, lachte er gequält, »aber die Scherze von euch Reichen sind nicht lustig, mein Freund. Tausend, zehntausend, hunderttausend Leiki … Wovon redest du da? Ich habe noch nie so viel Geld gesehen. Ich weiß nicht einmal, ob es überhaupt so viel Geld gibt. Mit der Alten sind wir zu sechst und ich bin blank. Wie soll ich dir eine solche Summe zurückzahlen? Das könnte ich nicht, auch wenn ich eine Million Leben hätte.«