Dani Atkins
Roman
Aus dem Englischen von
Sonja Rebernik-Heidegger
Knaur eBooks
Die englische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »While I was sleeping« bei Simon & Schuster UK.
© 2019 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
© 2018 Dani Atkins
© 2019 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Gisela Klemt; lüra – Klemt & Mues GbR
Covergestaltung: Franzi Bucher, München
Coverabbildung: Franzi Bucher unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com und iStockphoto
ISBN 978-3-426-45519-7
Für Bev,
deren Geschichte mich zu diesem Buch inspirierte.
Und deren Mut jeden inspiriert, der sie kennenlernt
Achtunddreißig Likes. Nicht schlecht, schließlich war es mitten am Tag, und die meisten Menschen sollten im Büro und nicht auf Facebook sein. Ich lehnte mich zurück und nahm einen Schluck von meiner Buttertoffee-Latte. Die zusätzlichen Kalorien waren mir mittlerweile egal – was für eine Braut vier Tage vor der Hochzeit vermutlich eher ungewöhnlich war.
Ich scrollte zu dem Bild zurück, das ich vorhin gepostet hatte, und grinste. Ich saß darauf beim Friseur, um meine Hochzeitsfrisur zur Probe stecken zu lassen. Die Stylistin hatte die Hälfte meiner Haare nach hinten gekämmt, als sie einen dringenden Anruf erhielt und mich auf meinem Stuhl neben dem Fenster allein zurückließ. Ich sah aus wie Wurzel, die Vogelscheuche, an einem Bad Hair Day. Ich konnte nicht widerstehen, machte ein Spiegel-Selfie und postete es.
Auf der Suche nach dem perfekten Hochzeits-Look. Was meint ihr dazu?
Ich wischte über das Display, um das Bild zu vergrößern, und runzelte die Stirn. Ich hätte die Praktikantin ausschneiden sollen, die gerade mit einer Tasse Kaffee auf mich zukam, und auch den stämmigen Glatzkopf mit der schwarzen Lederjacke, der durch das Fenster zu mir hereinstarrte. Aber egal. Das Foto war witzig.
»Dir ist schon klar, dass du besessen bist, oder?«, hatte mich Ryan einige Monate nach unserem ersten Date gefragt.
»Von dir?«, fragte ich und klimperte mit meinen langen schwarzen Wimpern.
»Ja, das hoffe ich doch«, antwortete er liebevoll und verschränkte seine Finger mit meinen. »Aber eigentlich meinte ich das Posten von jedem einzelnen Moment deines Lebens.«
Ich betrachtete ihn eingehend, denn ich war mir nicht sicher, ob er in Wahrheit verärgert war. Doch er sah mich mit diesem sanften, zärtlichen Blick an, den er nur für mich reserviert hatte.
»Ich poste doch nicht alles«, erwiderte ich vielsagend, und Ryans Augen blitzten spitzbübisch auf. »Aber ich arbeite immerhin in einem Medienunternehmen«, fuhr ich fort. »Und da kann es an beruflichen Selbstmord grenzen, wenn man sich nicht auf den sozialen Netzwerken einbringt.«
Er hatte gelacht und mir das Telefon aus der Hand genommen. »Aber es gibt Dinge, die bleiben besser privat«, hatte er geflüstert und mich an sich gezogen.
Ich lächelte in mich hinein, als ich jetzt daran zurückdachte. Die Junisonne fiel durch das Fenster ins Café, und langsam wurde es unangenehm warm. Ich bereute, dass ich mich für einen Fensterplatz entschieden hatte. Aber mittlerweile waren alle Tische besetzt, und die Schlange, die auf ihr Take-away-Mittagessen wartete, wurde immer länger.
Ich schluckte den letzten Bissen meines Panino hinunter, und plötzlich stieg Übelkeit in mir hoch. Nein! Ich würde nicht zulassen, dass sie mir den Tag versaute! Es gab eine lange To-do-Liste, die ich abarbeiten wollte, und obwohl mir mein Verlobter Hilfe angeboten hatte, musste ich mich um den Großteil selbst kümmern.
»Es ist süß, dass du mich unterstützen willst, aber ich werde sicher nicht zulassen, dass du mich vor Samstag in meinem Hochzeitskleid zu Gesicht bekommst. Immer vorausgesetzt, dass sie die Nähte noch auslassen konnten«, hatte ich gesagt und kaum merklich die Stirn gerunzelt. »Sonst muss ich in Jeans und T-Shirt heiraten.«
»Und du wärst trotzdem die bezauberndste Braut aller Zeiten«, hatte Ryan erwidert und seine Hand zu meinem kleinen, aber sichtbar gewölbten Bauch gleiten lassen. Als ich mein Hochzeitskleid in Auftrag gegeben hatte, war er noch flach gewesen, und ich hoffte, dass die Schneiderinnen im Brautmodengeschäft meines Vertrauens Zauberkräfte besaßen und mir für Samstag ein paar zusätzliche Zentimeter schenken würden. Meine Familie wusste noch nichts von den Neuigkeiten, wir wollten es ihnen erst nach der Hochzeit sagen.
Ich warf einen Blick auf die Uhr. Das Brautmodengeschäft befand sich am anderen Ende der Stadt, und die U-Bahn-Station war ganz in der Nähe. Es gab also keinen Grund, mir ein Taxi zu rufen, obwohl ich es Ryan heute Morgen versprochen hatte. Er hatte leicht besorgt gewirkt, als er sich mit einem Kuss von mir verabschiedete. Er hatte eine dringende Besprechung im Büro, die er nicht schwänzen konnte, sonst hätte er mich vermutlich nicht allein gehen lassen. Ich bin von Natur aus blass, doch an diesem Tag war meine Haut weiß wie Alabaster. Entgegen der allgemeinen Behauptung brachte mich die Schwangerschaft nicht zum Strahlen. In den letzten vierzehn Wochen erinnerte ich eher an eine Statistin in einem Vampirfilm.
»Vielleicht solltest du es heute lieber langsam angehen lassen und dich noch mal hinlegen?«, hatte Ryan sanft vorgeschlagen.
Das war der Moment – der einzige Moment –, an dem ich das Schicksal vielleicht noch hätte abwenden können. Aber da war nichts. Keine böse Vorahnung, kein Gefühl der drohenden Gefahr. Ich hatte keine Ahnung, dass mein Leben schon in ein paar Stunden vollkommen unkontrollierbar werden und aus der Bahn geraten würde.
»Nein, ich habe viel zu viel zu tun«, erwiderte ich und schlang meine Arme um ihn. »Schlafen kann ich auch, wenn ich tot bin.«
Genau das habe ich gesagt.
Obwohl ich meine Wohnung noch nicht aufgegeben hatte, verbrachte ich mehr oder weniger jede Nacht bei Ryan, und nach den Flitterwochen wollten wir uns nach etwas Neuem umsehen und zusammenziehen. Ich träumte von einem Haus mit Garten, wo wir auf dem Rasen saßen, während eine Miniaturausgabe von uns beiden vor uns auf einer karierten Decke lag und mit den pummeligen Beinchen strampelte. Dieser Moment gehörte dann auf alle Fälle auf Facebook.
Der Tag hatte im Grunde begonnen wie jeder andere auch. Ich war in Ryans Bett aufgewacht, seine Arme fest um mich geschlungen, als hätte er Angst, dass ich in der Nacht verloren gehen könnte. Ich öffnete die Augen. Die ersten Sonnenstrahlen fielen ins Zimmer, und Staubkörnchen tanzten im Licht, doch ich konnte die Wärme nicht genießen. Ich sprintete bereits ins Bad und stoppte in Gedanken die Zeit. Das hatte ich mir vor einiger Zeit angewöhnt, und heute legte ich mit beeindruckenden acht Sekunden eine neue persönliche Bestzeit hin. Ich hätte mir ja selbst gratuliert, aber ich war zu sehr damit beschäftigt, mich zu übergeben.
Sekunden später spürte ich Ryans kühle Hand auf meinem Nacken, während er mir die langen schwarzen Haare aus dem Gesicht hielt. In der anderen Hand hatte er ein Glas eiskaltes Wasser, das ich dankbar nahm, als ich endlich fertig war. Spülen, spucken, schlucken – das war mein neues Morgenmantra. Ich sah von unten zu ihm hoch, und seine blauen Augen musterten mich besorgt.
»Es tut mir so leid, Maddie.«
Er streckte mir die Hand entgegen und zog mich hoch. Es ging mir bereits besser.
»Warum? Es ist doch nicht deine Schuld, dass ich mich übergeben muss.«
»Nein, aber es ist meine Schuld, dass du schwanger bist.«
Ich rückte ein Stück näher an ihn heran und warf ihm einen zärtlichen Blick zu. »Ich denke, es gehören zwei dazu.«
Ryans Lächeln war wie ein Leuchtfeuer, das mir den Weg wies – es war auch das Erste, das mir an ihm aufgefallen war, als ich ihn bei einem langweiligen Firmenevent auf der anderen Seite des Saales stehen sah. Unsere Blicke trafen sich, und er kam mir unerklärlicherweise so bekannt vor, dass ich ihm beinahe zugewinkt hätte. Doch stattdessen warf ich verlegen einen Blick über die Schulter, denn ich war mir sicher, dass er jemanden anlächelte, der direkt hinter mir stand. Als ich niemanden entdecken konnte, lächelte ich zurück.
Das war mittlerweile achtzehn Monate her, und seitdem hatte ich nicht mehr aufgehört zu lächeln.
Kurz darauf trat Ryan zu mir unter die Dusche. Ich hatte die Augen geschlossen und ließ mir das Wasser auf den Kopf prasseln, doch ich spürte einen kühlen Luftzug, als er die Duschtür öffnete und wieder schloss. Ich öffnete blinzelnd die Augen, und alles, was ich sah, war er: groß, breitschultrig und immer noch leicht gebräunt von unserem Urlaub in Spanien, von dem wir ein unerwartetes Souvenir mit nach Hause gebracht hatten. Meine Hände wanderten unbewusst zu der kleinen Wölbung, die ich nicht länger verstecken konnte. Ryan verschränkte seine Finger mit meinen und ließ seine Hand über meinen seifigen Bauch gleiten.
»Hast du vielleicht Zeit, noch einen weiteren wichtigen Punkt auf deine Liste zu setzen?«, fragte er und zog mich sanft an sich.
Man erinnert sich ein Leben lang an das erste Mal mit der Person, mit der man den Rest seines Lebens verbringen will. Aber das letzte Mal passiert einfach so und zerrinnt wie Sand zwischen den Fingern, bis es schließlich den Abfluss hinuntergespült wird.
Auf dem Weg zum Brautladen. Hoffentlich passt das Kleid!, twitterte ich eilig, während ich aufstand und meine Strickjacke und die Einkaufstaschen zusammenraffte, die sich bereits angesammelt hatten. Vermutlich war das der Grund, weshalb ich meine Handtasche vergaß, die an der Stuhllehne baumelte. Ich war erst etwa hundert Meter weit gekommen, als ich es bemerkte, und mir wurde beinahe so übel wie am Morgen nach dem Aufwachen.
In der Tasche befand sich ein Umschlag mit so viel Bargeld, wie ich es in meinem ganzen Leben noch nie in der Hand gehalten hatte. Noch bevor der Bankangestellte seine Bedenken äußerte, hatte mich bei dem Gedanken, mit einer solchen Summe herumzulaufen, ein mulmiges Gefühl beschlichen. Diese Aufgabe hätte ich wirklich Ryan überlassen sollen. Man sollte keiner Frau, die ganz offensichtlich unter Schwangerschaftsdemenz litt, so viel Geld anvertrauen.
Ich machte also kehrt und rannte zurück, wobei ich mir bereits das Worst-Case-Szenario ausmalte. Wie sollten wir den Caterer, den Saal und den Restbetrag für mein Kleid bezahlen, wenn das Geld gestohlen worden war? Der Bürgersteig, der mir noch vor einer Minute leer erschienen war, war plötzlich voller Mütter mit Kinderwagen, dahinschlendernder Touristen, die eifrig Fotos machten, und Passanten beim Schaufensterbummel. Ich senkte den Kopf und stürmte wie ein Footballspieler beim Angriff durch sie hindurch, und in meiner Panik stieß ich mit einem Mann zusammen, der gerade aus einem Hauseingang trat. Ich geriet ins Straucheln, und plötzlich waren meine Gedanken an die Tausende Pfund, die an einer Stuhllehne baumelten, wie weggeblasen, und ich konnte nur noch an mein Baby denken. Was, wenn ich jetzt hinfiel? Glücklicherweise fand ich gleich darauf das Gleichgewicht wieder. Ich warf einen schnellen Blick auf den Mann, der in mich hineingelaufen war – oder ich in ihn? Egal. Er hatte es jedenfalls nicht für notwendig gehalten, stehen zu bleiben, um sich zu entschuldigen oder zu prüfen, ob mit mir alles in Ordnung war. Ich sah nur noch die breiten Schultern in der schwarzen Lederjacke, die in einer Nebenstraße verschwanden.
Die Tasche hing noch genau dort, wo ich sie zurückgelassen hatte. Und auch wenn das junge Paar, das sich gerade an den Tisch setzen wollte, ein wenig überrascht aussah, als ich mit rotem Kopf und außer Atem auf sie zustürzte, lächelten beide freundlich und reichten mir meine Handtasche.
Auf dem Weg zur U-Bahnstation kribbelten meine Beine immer noch von dem unerwarteten Sprint, und auf der Rolltreppe drückte ich die Handtasche fest an mich.
Es waren nur acht Stationen, und es war eine der angenehmsten Tageszeiten, um im Sommer mit der U-Bahn zu fahren. Denn die Züge waren halb leer, und es bestand die Chance, dass man nicht unter der Achsel eines anderen Passagiers klebte, der am Morgen sein Deo vergessen hatte.
Wäre mehr los gewesen, hätte ich ihn sicher nicht gesehen. Hätte ich ein Buch – oder meinen Kindle – dabeigehabt, hätte ich mich sicher nicht gelangweilt umgesehen. Er saß auf dem letzten Platz neben der Tür und so weit entfernt von mir, wie es in dem engen U-Bahn-Waggon überhaupt möglich war. Beim ersten Mal glitt mein Blick über ihn hinweg, doch plötzlich wurde in meinem Gehirn ein Schalter umgelegt, und ein Lämpchen begann zu blinken. Diesen Mann kenne ich doch, oder?
Er war in den Vierzigern, breit und stämmig, aber es war schwer zu sagen, ob er zu viele Stunden im Fitnesscenter oder doch im Pub verbracht hatte. Er trug schwere Doc Martens, die makellos sauber waren. Genau wie seine Jeans und das weiße T-Shirt. Beide Unterarme waren tätowiert, aber ich saß zu weit entfernt, um ein Motiv auszumachen. Woher kannte ich diesen Mann bloß?
Ich überlegte. Von der Arbeit? Ich lernte viele verschiedene Menschen kennen und besuchte viele Events, aber irgendwie passte er nicht in diese Kategorie. Er wirkte »roher« als die Männer, mit denen ich beruflich in Kontakt kam. Oder vielleicht aus dem Fernsehen? Er hatte zumindest eine gewisse Ähnlichkeit mit Grant Mitchell aus EastEnders. Plötzlich richtete er sich auf und hob den Blick, als habe er gespürt, dass ich ihn anstarrte. Er sah an den Passagieren, die zwischen uns saßen, vorbei und fixierte mich. Ich lächelte unsicher. Falls ich ihn wirklich kannte und vergessen hatte, woher, wäre es ziemlich peinlich, wenn er mich jetzt wiedererkannte. Aber er sagte nichts, nickte mir nicht zu und hob auch nicht die Hand zum Gruß. Seine Augen waren dunkel und ausdruckslos, aber daran war vermutlich nur die seltsame Beleuchtung im Waggon schuld. Er musterte mich auf eine unangenehme Art, dann wandte er sich ab. Offensichtlich war er nicht an mir interessiert. Er nahm eine liegen gebliebene Zeitung vom Platz neben ihm und schlug sie auf.
Ich zwang mich, nicht mehr in seine Richtung zu sehen, denn ich wollte auf keinen Fall, dass sich unsere Blicke erneut trafen. Das erste Mal war schon unangenehm genug gewesen. Stattdessen verbannte ich ihn aus meinen Gedanken.
Ich sah ihn erst wieder, als ich mit der Rolltreppe nach oben fuhr. Er stand einige Meter vor mir. Es war eine gut besuchte U-Bahnstation, also war es nichts Ungewöhnliches, dass wir beide hier ausgestiegen waren. Doch in diesem Moment warf er seine schwarze Lederjacke über die Schulter, und da wurde mir plötzlich klar: Er war der Mann, den ich vorhin beim Friseur unabsichtlich fotografiert und dessen Bild ich anschließend auf Facebook gepostet hatte. Ich klopfte mir in Gedanken lobend auf die Schulter, weil ich ihn endlich zuordnen konnte. Von wegen Schwangerschaftsdemenz! Mein Gehirn arbeitete immer noch auf Hochtouren. Zumindest beinahe.
Ich war bereits auf halbem Weg über die Straße und sah das Brautmodengeschäft schon vor mir, als mir der Gedanke kam, dass es in einer Großstadt wie London ziemlich seltsam war, einem Fremden an einem Tag gleich zwei Mal über den Weg zu laufen.
Dreißig angsterfüllte Minuten später, in denen ich so gut wie eben möglich den Bauch eingezogen und die Luft angehalten hatte, ohne ohnmächtig zu werden, ging der Reißverschluss meines Hochzeitskleides endlich zu.
Kurz darauf verließ ich beschwingt das Brautmodengeschäft, obwohl ich einen ziemlich großen Batzen meines Geldes dort gelassen hatte. Der Asphalt unter meinen Sandalen war mittlerweile brennend heiß und die Sonnenbrille eine Notwendigkeit und kein modisches Statement. Ich hatte es nicht sehr eilig, deshalb beschloss ich, nicht gleich mit der U-Bahn weiterzufahren, sondern ein Stück zu Fuß zu gehen und anschließend den Bus zu nehmen.
Ich hätte mir die Portion Eis mit den knusprigen Schokoflakes sicher besser verkneifen sollen, aber ich kaufte sie mir trotzdem.
Mit der tropfenden Waffel setzte ich mich auf eine freie Bank abseits der Straße, holte mein Handy heraus und sah mir das letzte Foto aus dem Ankleidezimmer des Brautmodengeschäftes noch einmal an. Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Das Kleid sah sogar noch traumhafter aus, als ich es in Erinnerung hatte, und die champagnerfarbene Seide passte sehr viel besser zu meiner blassen Haut und den schwarzen Haaren als reines Weiß. Ich vergrößerte das Bild und riss erstaunt die Augen auf. Die Schwangerschaft tat mir anscheinend doch gut – mein Dekolleté war so üppig wie nie. Ich warf einen Blick auf den Ausschnitt meines T-Shirts und lächelte. »Ihr beide dürft gern länger bleiben«, sagte ich und lachte, als mir ein Passant einen verwunderten Blick zuwarf. Natürlich ist es ein bisschen verrückt, auf einer Parkbank sitzend mit seinen Möpsen zu reden, aber egal. Endlich war alles so, wie es sein sollte. Es war einer dieser seltenen vollkommen ungetrübten Glücksmomente.
Mehrere japanische Touristen schlenderten vorbei und bewunderten lautstark eine Besonderheit, die meinen Augen verborgen blieb, und ich lächelte ihnen zu. Mein Lächeln gefror jedoch, als mein Blick auf einen Kopf auf der anderen Seite der Reisegruppe fiel. Die dazugehörende Person wurde beinahe vollständig von den Touristen verdeckt, ich sah nur eine glänzende Glatze. Es gab also keinen Grund anzunehmen, dass es sich um denselben Kerl handelte, der mir an diesem Tag bereits zwei Mal über den Weg gelaufen war. Um Himmels willen, es gab sicher Tausende Glatzköpfe in dieser Stadt! Trotzdem war meine gute Laune mit einem Mal dahin. Die Eiscreme war plötzlich zu süß und klebrig, und die geschmolzenen Schokoflakes sahen unappetitlich aus. Ich warf die Waffel in den Abfalleimer. Mir war der Appetit vergangen.
Das Telefon in meiner Hand begann so unerwartet zu läuten, dass ich es beinahe fallen ließ. Ich warf einen Blick auf die Nummer und zwang mich, wieder zu lächeln. Er würde selbst die kleinste Unsicherheit in meiner Stimme sofort hören.
»Hi, Dad. Alles klar?«
»Ja, mir geht es gut, Liebling. Ich wollte dich nur schnell mal anrufen. Deine Mum macht gerade ein Nickerchen.«
Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter. Mum ständig im Auge zu behalten und gleichzeitig so zu tun, als würde er es nicht tun, nahm seine ganze Zeit und Energie in Anspruch. Er tat praktisch nichts anderes. Die Tatsache, dass er dieses Telefonat nur führte, weil sie schlief und er sich ein wenig entspannen konnte, war bereits die Antwort auf meine nächste Frage, aber ich stellte sie trotzdem.
»Wie geht es ihr?«
»Um einiges besser, glaube ich.«
Ich biss mir auf die Lippe und beobachtete eine blaugraue Taube, die vor meinen Füßen hin und her lief und nach Sandwichkrümeln Ausschau hielt. Es war offensichtlich ziemlich anstrengend, und sie würde ewig brauchen, um satt zu werden, aber sie machte einfach weiter – genau wie mein Vater. Er schluckte auch immer nur kleine Bröckchen, denn der volle Umfang der Katastrophe wäre zu viel für ihn gewesen.
»Das neue Medikament wird ihr sicher helfen. Das spüre ich«, erklärte er überzeugt.
»Ich hoffe es, Dad«, erwiderte ich leise. Immerhin machten die Forscher tatsächlich laufend Fortschritte bei der Behandlung von Alzheimer im Frühstadium.
»Wie geht es voran mit den Hochzeitsvorbereitungen? Hast du schon alles erledigt?«
»Ja, fast«, erwiderte ich mit bewusst fröhlicher Stimme und dachte an die letzten Punkte auf meiner Liste, die ich nun wirklich langsam in Angriff nehmen sollte, anstatt auf einer Parkbank in der Sonne zu sitzen und Eis zu essen.
»Wenn Mum und ich dir etwas abnehmen können, dann sag Bescheid, okay, Maddie?«
Ich nickte und räusperte mich. In meinen Augen standen Tränen. Mum und ich hatten uns früher sämtliche Reality-Hochzeitsshows angesehen und uns darüber ausgelassen. Wir konnten stundenlang über die zur Auswahl stehenden Brautkleider und die unvorteilhafte Aufmachung der Brautjungfern diskutieren und auch darüber, wie viele Stockwerke eine Hochzeitstorte haben durfte, ohne kitschig auszusehen. Wir waren uns einig, dass wir bei meiner Hochzeit sämtliche Missgeschicke und Fehler vermeiden würden. Wir waren richtiggehende Expertinnen – doch als es schließlich Zeit wurde, meinen großen Tag zu planen, war Mum nicht mehr dazu in der Lage.
In der ersten Zeit war sie nur ein wenig vergesslich, und wir hatten darüber gelacht, doch irgendwann war es nicht mehr lustig gewesen. Vor allem nicht, nachdem der Arzt der Krankheit einen Namen gegeben hatte.
»Ihr beide checkt im Hotel ein und entspannt euch. Und an meinem großen Tag darf Mum dasitzen und ein paar Tränen vergießen, während du deine Tochter mit zitternden Knien zum Altar führst.«
»Deine Knie zittern bestimmt nicht«, sagte er überzeugt. »Ich habe noch nie erlebt, dass du dir einer Sache so sicher warst wie bei deiner Hochzeit mit Ryan.«
Ich dachte lächelnd an die bissigen Kommentare zurück, mit denen er meine Exfreunde im Laufe der Jahre bedacht hatte. Ich hatte zahlreiche Frösche geküsst, bevor mir mein Prinz begegnet war. Meine Eltern liebten Ryan beinahe so sehr wie ich, und das war wie der Zuckerguss auf meiner Hochzeitstorte – die im Übrigen drei Stockwerke hatte. Mit dieser Zahl war auch meine Mutter einverstanden. Oder besser gesagt: Sie wäre einverstanden gewesen.
Dads Anruf hatte mich in eine nachdenkliche Stimmung versetzt, und ich beschloss, noch ein Stück zu Fuß zu gehen, um sie zu vertreiben. Ich wollte nicht über die Dinge in meinem Leben nachdenken, die ich gern geändert hätte. Ich wollte das Leben feiern, das ich bald führen würde – als Mrs Ryan Turner. Obwohl es nur noch vier Tage dauerte, erschien mir selbst diese Zeit furchtbar lang. Ich war mehr als bereit für mein zukünftiges Leben, und es konnte gar nicht schnell genug beginnen.
Plötzlich hörte ich in einiger Entfernung ein vertrautes Rumpeln, und die Leute an der Bushaltestelle begannen, in ihren Taschen nach den Fahrscheinen zu kramen, und traten unruhig von einem Fuß auf den anderen. Ich sprintete die letzten paar Meter zur Haltestelle, und gerade als ich ankam, hielt der Bus mit zischenden Bremsen neben mir. Ich ließ mich auf einen freien Platz am Fenster sinken und war in Gedanken schon bei der Druckerei, wo ich die Tischkärtchen abholen wollte.
Der Bus reihte sich in den Verkehr ein, allerdings ging es nur schleppend voran. Ich fragte mich, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, mich für den Bus zu entscheiden, und zuckte zusammen, als ein Radfahrer sich vor ein Taxi drängte, dessen Bremsen lautstark quietschten. Der Taxifahrer streckte wütend die Faust aus dem Fenster, während der Radfahrer bloß den Mittelfinger zeigte und weiterfuhr.
Im nächsten Moment fiel mir auf, dass wir uns gerade in Sichtweite der U-Bahnstation befanden, an der ich zuvor ausgestiegen war. Ich sah den jungen Mann mit den feuerroten Haaren neben dem Zeitungsstand, der den Pendlern eine Gratiszeitung in die Hand drückte, und den kleinen Kiosk mit den überteuerten Äpfeln auf einem Bett aus grünem Kunstgras. Daneben stand jemand im Schatten. Der Mann achtete sorgsam darauf, den Eingang nicht zu blockieren, und über seinem tätowierten Unterarm hing eine schwarze Lederjacke.
Ich bekam kaum noch Luft. Er wartet auf dich! Der Gedanke hatte kaum Gestalt angenommen, als ich ihn schon wieder verwarf. Natürlich wartete der Mann nicht auf mich. Ich kannte ihn doch gar nicht, und er kannte mich nicht. Es war bloß einer dieser seltsamen, unheimlichen Zufälle, die immer wieder mal vorkamen. Die Vernunft riet mir, Ruhe zu bewahren, obwohl ich kurz davorstand, in Panik zu geraten. Hunderte, vielleicht sogar Tausende Menschen stiegen pro Tag an dieser Station aus, und es war durchaus logisch, dass der Mann mittlerweile ebenfalls alles erledigt hatte und zurückgekommen war, um nach Hause zu fahren.
Der Verkehr bewegte sich immer noch quälend langsam voran, und bevor ich mich vom Fenster abwenden oder mir einen neuen Sitzplatz suchen konnte, kam der Bus genau gegenüber der U-Bahnstation zum Stehen. Der Mann hatte den Blick auf sein Telefon gerichtet, doch als er das Zischen der Bremsen hörte, sah er auf. Es war, als hätte er genau gewusst, hinter welchem Fenster er mich finden würde, denn eine Sekunde später sah er mir direkt in die Augen. Dieses Mal kam es mir vor, als würde er mich ebenfalls wiedererkennen. Er setzte sich in Bewegung, und ich riss entsetzt die Augen auf, als hätte er eine Waffe gezogen. Ich warf einen hektischen Blick auf die Autos vor uns, während der Mann in Richtung der nächsten Bushaltestelle eilte, die sich mehrere Hundert Meter die Straße hinunter befand. Noch war die Haltestelle verwaist, und der Bus würde nur stehen bleiben, wenn ein Fahrgast den Halteknopf drückte. Wenn keiner der anderen Passagiere aussteigen wollte, würden wir weiterfahren und den unheimlichen Mann mit der Lederjacke hinter uns lassen. Aber wenn er die Bushaltestelle vor uns erreichte und seinen Arm ausstreckte, würde der Bus genau vor ihm anhalten.
Ich saß angespannt auf meinem Platz, und eine irrationale Panik ergriff von mir Besitz. Fahr weiter! Fahr weiter!, flehte ich stumm. Doch dann stand eine Frau mit einem Kinderwagen auf und machte sich schwankend auf den Weg zur Tür. Der Fahrer hob den Blick und entdeckte sie im Rückspiegel. Die Frau wirkte unsicher. Sie wandte sich an einen älteren Mann und fragte ihn etwas, doch er zuckte bloß mit den Schultern. Danach versuchte sie es bei einem Teenager mit weißen Kopfhörern, der sie entweder nicht hörte oder ihr schlichtweg nicht antworten wollte.
Der Fahrer sah erneut in den Rückspiegel und setzte den Blinker. Ich warf einen Blick über die Schulter. Mehrere Gäste waren gerade aus einem Pub herausgetreten und blockierten die Sicht auf die anderen Fußgänger. War der Mann mit der Lederjacke in der Nähe?
»Ist Haltestelle von Krankenhaus?«, fragte die junge Frau mit starkem Akzent, während der Bus immer langsamer wurde. Bald würde der Fahrer anhalten und die Türen öffnen – und der Mann würde in den Bus steigen.
»St. Margaret’s?«, wollte der Fahrer wissen.
Die junge Frau nickte.
»Nein. Das ist erst die nächste Haltestelle. Setzen Sie sich ruhig wieder hin, ich sage Ihnen dann, wenn es so weit ist.«
Wir reihten uns wieder in den Verkehr ein, der sich auf zauberhafte Weise gelichtet hatte, und fuhren direkt an der Bushaltestelle vorbei.
Erst jetzt hatte ich den Mut, einen weiteren Blick über die Schulter zu werfen. Der Glatzkopf hetzte dem Bus hinterher, aber es war zu spät. Sein Gesicht war wutverzerrt, als er erkannte, dass er es nicht mehr rechtzeitig schaffen würde. Er hatte den Bus verpasst. Und mich auch.
Ich überlegte hin und her, ob ich die Nachricht wirklich abschicken sollte. Sie klang so albern, dass ich sie im letzten Moment doch noch löschte, bloß um kurz darauf mein Handy erneut hervorzuholen und etwas Unverfänglicheres zu tippen.
Bist du noch in dem Meeting?
Ich wusste, dass Ryan das Telefon lautlos gestellt hatte und es eine Weile dauern würde, bis er die Zeit fand, einen diskreten Blick darauf zu werfen. Dennoch verging kaum eine Minute, bevor das Handy in meiner schweißnassen Hand vibrierte.
Ja leider. Es ist verdammt langweilig. Wie läuft’s bei dir? Sollen wir durchbrennen?
Ich lächelte, als ich den letzten Satz las, und bewunderte ihn für seine Fähigkeit, mich zu beruhigen, auch wenn er kilometerweit entfernt war und gar nichts von meinem Stress wusste. Wahrscheinlich waren ohnehin nur die Schwangerschaftshormone an meinem Zustand schuld. Es musste einfach so sein. Normalerweise war ich nicht so überspannt, und außerdem kannte ich London. Ich lebte seit Jahren hier und war auch oft allein in der Nacht unterwegs, ohne mir Gedanken zu machen. Deshalb war diese Reaktion wohl auf eine Kombination aus Schwangerschaftshormonen und der Nervosität vor der Hochzeit zurückzuführen – eine gefährliche Mischung, die selbst eine normale und vernünftige Achtundzwanzigjährige in eine Verrückte verwandelte.
Mir war durchaus klar, dass diese Verrückte immer noch am Ruder saß, als meine Finger über das Telefon flogen und ich Ryan die Nachricht schickte, die mein vernünftiges Ich vorhin gerade erst gelöscht hatte.
Jemand folgt mir.
Quälende zwei Minuten und neunundvierzig Sekunden später kam die Antwort.
Ich weiß. Beim letzten Mal hattest du 1775 Follower.
Ich vertippte mich ständig, bis die Antwort fertig war.
Nicht auf Twitter! In echt. Ich werde von einem fremden Mann verfolgt.
Es folgte eine weitere, schrecklich lange Pause. Glaubte er, dass ich Witze machte? Hatte meine Nachricht auch nur im Entferntesten witzig geklungen? Ich wurde schon wütend, als mein Telefon plötzlich klingelte.
»Wer verfolgt dich?« Ryan hielt sich gar nicht erst mit einer Begrüßung auf. Es war ihm deutlich anzuhören, dass er meine Nachricht ernst nahm. Seltsamerweise linderte seine Sorge um mich meine Angst ein wenig.
»Sprichst du in dem Raum, wo ihr das Meeting habt?« Ich stellte mir vor, wie etliche Menschen – von denen nicht wenige am Samstag zu unserer Hochzeit kommen würden – mitbekamen, wie Ryans Verlobte langsam, aber sicher den Verstand verlor.
»Nein, ich bin kurz raus. Wo bist du denn?«
»Linie 73. Wir sind gerade in die Lincoln Street eingebogen.«
»Sitzt der Mann bei dir im Bus? Hat er dich angequatscht? Was hat er denn getan?«
Ja, was hat er eigentlich getan?, fragte ich mich, und die Verrückte in mir versank vor Scham im Erdboden. Ich hatte den Feueralarm ausgelöst und zu spät bemerkt, dass es gar nicht brannte.
»Er war einfach da«, erwiderte ich und hörte selbst, wie lahm das klang. Ich konnte eigentlich gut mit Worten umgehen, aber jemandem ein vages, irrationales Gefühl zu erklären war sehr viel schwieriger, als konkrete Fakten zu vermitteln.
Und was hatte der Mann mir getan? Er hatte sich auf mein Selfie beim Friseur geschummelt, hatte in derselben U-Bahn wie ich gesessen, war an derselben Station ausgestiegen, hatte einige Zeit später vor dem Eingang der Station auf jemanden (aber nicht zwangsläufig auf mich) gewartet und war dann meinem Bus hinterhergelaufen. Ich konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob er auch der Mann gewesen war, in den ich vorhin auf dem Weg zurück ins Café hineingelaufen war. Und ebenfalls nicht, ob er sich hinter den japanischen Touristen versteckt hatte. In meinem Kopf hatte sich die Bedrohung sehr real angefühlt, doch jetzt, wo ich meinen Verdacht laut aussprechen sollte, kam mir alles albern vor.
»Nein, er hat gar nichts getan«, wiederholte ich. »Es tut mir leid, Schatz. Ich bin offenbar ein bisschen durchgedreht. Ignorier meine Nachricht und geh wieder in dein Meeting«, sagte ich, und es war mir durchaus klar, dass mehrere Fahrgäste unser Gespräch belauschten.
»Wohin bist du denn gerade unterwegs?«
»Zur Druckerei, aber …«
»Okay, wir treffen uns dort.«
»Nein, Ryan! Ist schon okay. Es war dumm von mir. Du musst dein Meeting nicht sausen lassen. Du hast doch gesagt, dass es wichtig ist.«
»Du bist mir wichtig«, korrigierte er mich, und es war ihm anzuhören, dass ich ihn nicht mehr von seinem Entschluss abbringen konnte. In diesem Moment verliebte ich mich noch einmal in ihn.
»Fahr zur Druckerei und warte dort auf mich«, drängte er und legte auf, bevor ich mich bei ihm bedanken oder – noch wichtiger – ihm sagen konnte, dass ich ihn liebte. Aber wahrscheinlich war ihm das ohnehin klar.
Obwohl ich wusste, dass Ryan bereits unterwegs war, rutschte ich unruhig auf meinem Sitz hin und her, während sich der Bus durch den Verkehr quälte. Ich drehte mich immer wieder um und versuchte, einen Blick auf die Straße hinter uns zu erhaschen, doch wir wurden von einem anderen Bus verfolgt, der so nahe an uns dran war, dass sich die Stoßstangen beinahe berührten. Er fuhr anscheinend dieselbe Route.
Ich sah, dass es ebenfalls ein Bus der Linie 73 war, und verfiel erneut in Panik. Wenn mich der Mann immer noch verfolgte, war er vermutlich nur wenige Meter hinter uns. Ich wandte mich wieder nach vorn. Für mich bestand inzwischen kein Zweifel mehr, dass er im zweiten Bus saß, und wenn ich in etwa zehn Minuten aus dem Bus stieg, würde er dasselbe tun. Ich wusste es einfach.
Ich stand auf und ging zur Tür, lange bevor der Bus überhaupt langsamer wurde. Ich war mir nicht mehr ganz sicher, wie weit die Druckerei von der Bushaltestelle entfernt lag, denn ich war erst einmal dort gewesen. Aber wenn ich mich beeilte, konnte ich vielleicht einen kleinen Vorsprung herausholen, bevor der zweite Bus anhielt.
Ich sprang auf den Bürgersteig und schlängelte mich durch die Passanten. Ich stieß dauernd mit jemandem zusammen und wagte es nur ein einziges Mal, mich umzudrehen. Der zweite Bus hatte gerade angehalten, und die Passagiere strömten auf den Bürgersteig. Mein Herz klopfte, und ich legte an Tempo zu. Kurz darauf stand ich erleichtert vor der Glastür der Druckerei.
Leider sah ich den Zettel, der von innen auf dem Glas klebte, nicht gleich und verschwendete mehrere wertvolle Sekunden damit, an der versperrten Tür zu rütteln. Dann sah ich die handgeschriebene Nachricht. Komme gleich wieder.
Ich wandte den Kopf ab – und sah, wie sich der Mann, der mich schon den ganzen Tag verfolgte, durch die Menschenmenge in meine Richtung schob. Ich legte eine Hand auf meinen Hals. Mein Puls machte mir langsam Sorgen. Ich drängte mich näher an die Glastür. Links und rechts neben dem Eingang standen in großen Terrakottatöpfen zwei Zwergkoniferen, und es bestand die winzig kleine Möglichkeit, dass mich der Mann noch nicht gesehen hatte. War es besser, hierzubleiben und darauf zu hoffen, dass er vorbeiging, oder sollte ich lieber weitergehen?
Mein Entschluss – der sich im Nachhinein als der größte Fehler meines Lebens erwies – war unüberlegt und übereilt, was irgendwie seltsam ist, weil ich alles in Zeitlupe sehe, wenn ich daran zurückdenke. Ich beschloss weiterzugehen. Ein Stück weiter auf der anderen Straßenseite befand sich ein Restaurant mit großen Schaufenstern, wo ich auf Ryan warten konnte.
Erst als ich wieder auf den Bürgersteig trat, wurde mir klar, wie sehr ich die Geschwindigkeit meines Verfolgers unterschätzt hatte, denn zwischen uns lagen plötzlich nur noch ungefähr fünf Meter. Ich schnappte nach Luft und erkannte zu spät, dass ich einen Fehler gemacht hatte.
»Hey, Sie!«, rief er, und es war das erste Mal, dass ich seine Stimme hörte. Sie war überraschend wohlklingend und tief. »Warten Sie!«
Ja klar!, dachte ich, machte auf dem Absatz kehrt und begann zu laufen.
»Hey!«, rief er erneut, aber ich drehte mich nicht mehr um. Ich glaubte, schwere Schritte auf dem Bürgersteig hinter mir zu hören, aber vermutlich war das bloß Einbildung.
Ich warf einen Blick auf das Restaurant auf der anderen Seite der vierspurigen Straße und blinzelte, als hätte ich eine Fata Morgana gesehen. Ein schwarzes Taxi hatte am Randstein gehalten, und daneben stand Ryan. Er bezahlte gerade und hatte mich noch nicht entdeckt. Es herrschte starker Verkehr, und ich bezweifelte, dass er mich hören konnte, aber ich rief trotzdem nach ihm.
Ein Windstoß wehte Ryan einen Geldschein aus der Hand, und er flatterte in den Rinnstein. Er bückte sich, um ihn aufzuheben, und weitere wertvolle Sekunden verstrichen. Aus dem Augenwinkel sah ich eine Gestalt, die immer näher kam. Gleich würde der Mann auf offener Straße und direkt vor den Augen meines Verlobten über mich herfallen, und Ryan konnte absolut nichts tun, um es zu verhindern.
»Hey!«, rief der Mann ein weiteres Mal und klang mittlerweile richtig wütend. Trotzdem wollte ich nicht stehen bleiben, um ihm die Sache einfacher zu machen. Ich entdeckte eine kleine Lücke zwischen zwei Autos, zögerte kurz und sprang dann auf die Straße. Der Fahrer des einen Wagens starrte mich überrascht und wutentbrannt an, ehe er mit voller Wucht auf die Bremse trat. Auf der Nebenspur erklang wütendes Hupen, und ich machte einen Satz zur Seite. Das Auto war mir so nahe gekommen, dass ich die Wärme der Motorhaube spüren konnte. Der Glatzkopf stand am Bürgersteig und brüllte mir etwas Unverständliches zu. Ich hörte auch Ryan, der auf der anderen Straßenseite stand und meinen Namen rief.
»Maddie!« Ich lief auf ihn zu. Er war mein sicherer Hafen.
»Maddie!« Dieses Mal klang seine Stimme irgendwie anders. Panischer. Er hatte den Mund weit aufgerissen und brüllte, und seltsamerweise machte der glatzköpfige Mann hinter mir genau dasselbe. Und da er sehr viel näher war als Ryan, verstand ich ihn besser.
»Passen Sie auf, um Himmels willen! Passen Sie auf!«
Ich wandte mich zu ihm um. Ich erinnere mich, dass ich überlegte, was er da in der Hand hielt. Es sah aus wie meine Strickjacke, dabei war mir gar nicht aufgefallen, dass ich sie verloren hatte.
In diesen letzten Sekunden starrte ich direkt in die ausdruckslosen schwarzen Augen des Glatzkopfes, und wenn ich nur eine einzige Sekunde an diesem ganzen Tag hätte ändern können, hätte ich mich zu Ryan umgedreht. Es wäre um einiges leichter zu ertragen gewesen, wenn ich ihm in die Augen gesehen hätte.
Es dauerte nur einen Sekundenbruchteil. Eben noch stand ich mitten auf der Straße, und im nächsten Moment wurde ich durch die Luft geschleudert. Ich sah den Himmel, die Fahrbahn und dann seltsamerweise wieder den Himmel. Ich sah eine riesige weiße Wand – die Motorhaube des Vans, der mich umgefahren hatte. Ich spürte keinerlei Schmerzen, als ich wie ein nasser Sack auf dem Autoblech landete. Ich merkte nicht, wie ich gegen die Windschutzscheibe geschleudert wurde, hörte nicht, wie das Sicherheitsglas brach. Ich hatte Brüche an Armen und Beinen erlitten, und ich schlitterte zurück auf die Straße, ohne irgendwo Halt zu finden. Ich sah erneut in den Himmel, und einen Augenblick später tauchten mehrere Gesichter über mir auf, doch ich konnte niemanden erkennen, denn sie waren voller Blut. So viel Blut. Jemand brüllte meinen Namen, aber es klang, als würde er hinter einer Wand aus Watte stehen. Die Welt wurde immer kleiner und die Gesichter immer undeutlicher. Ich blinzelte, als noch mehr Blut in meine Augen rann, und dann wurde alles ruhig und sehr, sehr dunkel.