Die Schule am Meer

Brissago, Tessin, Schweiz 1962

Der erste Hieb ist schmerzhaft. Für mich und wohl auch für den Feigenbaum, der seit Jahren keine Früchte mehr trägt, die Wurzeln kraftlos, der Stamm hohl, die Äste morsch und brüchig. Heute Morgen habe ich meinen kleinen Schreibtisch, der all die Jahre im Schatten des Baumes stand, schweren Herzens von dort weggetragen, dichter ans Haus, das den Hang hinauf liegt. Ohne den Baum wird dies nicht mehr derselbe Ort sein, an dem sich vor vielen Jahren mein Leben entschied, dafür bietet sich beim Schreiben eine bessere Aussicht auf den prächtigen See. Eine ganze Weile habe ich noch da gesessen und das Wasser beobachtet. Dann bin ich aufgestanden und habe die Axt aus dem Schuppen geholt. Mich breitbeinig hingestellt. Die Augen geschlossen. Ausgeholt und blind zugeschlagen.

Die Borke splittert, das Holz darunter leistet keinerlei Widerstand, die Klinge gleitet hinein. Erst jetzt schaue ich hin, um die Kerbe zu treffen, ein Dutzend Mal. Das Fallen geschieht langsam und ächzend, doch ohne Vorwurf. Insekten schwirren auf und ein Vogelpaar, das zu schnell davonflattert, als dass ich erkennen könnte, um welche Art es sich handelt. Gesungen haben sie nie da oben im Baum.

Später werde ich den Klotz holen, um auf ihm den Stamm, die Äste und Zweige zu hellen, feinfaserigen Feuerscheiten zu zerteilen. Die trage ich dann in den Keller, lagere sie in der trockenen Ecke ganz hinten an der Rückwand, bis es Winter wird im Tessin.

 

Früher habe ich mitten unter Menschen gelebt, habe viele Freunde gehabt. Aber die sind gestorben oder nicht mehr meine Freunde oder in alle Welt zerstreut. Zuweilen kommen noch Briefe, und manchmal besucht mich – so wie heute – einer von weit her. Die Kinder leben in der Stadt, ich fahre oft zu ihnen, erzähle meinen Enkeln Geschichten und erfreue mich daran, dass sie auch kein bisschen braver sind, als ihre Eltern es waren.

Ich habe in vielen Ländern gelebt, an vielen Orten: in großen Städten, mitten im Wald und sogar auf einer kleinen Insel im Meer. Ich habe in einem Palast mit vielen Sälen und Zimmern gewohnt und in Baracken, in denen es bei Regen durch das Dach tropfte.

Nun nenne ich das kleine Steinhaus am See mein Zuhause. Tagelang sehe ich niemanden – nur wenn ich das Fernglas zur Hand nehme, erkenne ich die Bootsführer weit draußen, die ihre Segelschiffe und Ausflugsdampfer von einem Ufer zum anderen steuern. Ich weiß die Einsamkeit zu schätzen. Sie birgt keine Gefahr. Genauso wenig wie der Lago Maggiore zu meinen Füßen: keine Welle, keine Strömung, kein Panzer aus Eis.

Im Haus ertönt Musik. Bach. Das Wohltemperierte Klavier. Sprudelnde Klänge, schwarzweiße Kaskaden in C-Dur, tropfender Bass und fließende Höhen. Mein Gast hat sich an den Flügel gesetzt und mich mit nur wenigen Takten zurück an die Nordsee gespült. Ich werde hineingehen und ihn bitten, etwas anderes zu spielen.

Wir wollen uns unsere eigene Welt schaffen.

Martin Luserke, 1. Logbuch der Schule am Meer