Val McDermid

Abgekupfert

Crime Stories

Aus dem Englischen von Doris Styron

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Val McDermid

Val McDermid wuchs in Schottland auf und lebt heute in Manchester. Sie gehört international zu den profiliertesten Autorinnen von Spannungsromanen. Längst ist ihr Name auch in Deutschland ein Begriff für Spannung mit dem gewissen Etwas. Seit sie mit Das Lied der Sirenen 1995 den Gold Dagger Award gewann, widmet sich die ehemalige Literaturdozentin und Journalistin nur noch dem psychologischen Nervenkitzel.

Besuchen Sie auch die Homepage der Autorin:

www.val-mcdermid.de

Impressum

Copyright © 2002 by Val McDermid

Copyright © 2002 der deutschsprachigen Ausgabe bei Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: Rob Talb

ISBN 978-3-426-55571-2

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Wen es trifft …

Die Frau ging gemächlich durch den Supermarkt und suchte sich hier und da etwas für ihren Wagen aus. Als sie zu dem Regal mit Saucen, eingelegten Gurken und Gemüse kam, spannten sich die Muskeln an ihrem Kinn. Sie sah sich um und bemühte sich, ganz lässig auszusehen. Schnell nahm sie ein Glas mit eingelegten Tomaten aus ihrer großen Ledertasche und stellte es auf das Regal. Dann ging sie weiter zur Tiefkühltruhe mit dem Fleisch.

Ein paar Minuten später kam sie wieder an demselben Regal vorbei und blieb stehen. Sie wiederholte die Aktion, stellte aber diesmal zwei Gläser auf das Regal. Als sie zur Kasse ging, spürte sie, wie die Anspannung nachließ, und fühlte sich erleichtert und beschwingt.

Sie stand in der Schlange, eine Unbekannte zwischen den anderen Kunden, die heute früh einkauften, eine gepflegte Frau wie viele andere in einem gut geschnittenen Wintermantel, mit einem leichten Lächeln auf den Lippen und einem merkwürdig abwesenden Blick in den hellblauen Augen.

 

Sarah Graham lag auf dem Sofa und las die Stellenangebote in den Burnalder Evening News, als sie den Wagen vorfahren hörte. Sie seufzte, ließ die Zeitung sinken und ging in die Küche. Bis sie den Korken aus der Flasche Holunderblütenwein gezogen und zwei Gläser eingeschenkt hatte, war die Haustür bereits auf- und wieder zugegangen. Sarah stand auf und wandte sich, beide Gläser haltend, der Küchentür zu.

Detective Sergeant Maggie Staniforth kam in die Küche, nahm das ihr angebotene Glas und gab Sarah einen flüchtigen Kuss. Sie ging ins Wohnzimmer, ließ sich in einen Sessel fallen und rief ihr über die Schulter zu: »Und wie war dein Tag heute?«

Sarah folgte ihr und zuckte mit den Schultern. »Wieder ein beschissener Tag im Paradies. Frag mich lieber nicht nach der Liste meiner langweiligen Unternehmungen.«

»Du langweilst mich nie. Und außerdem tut es mir gut, daran erinnert zu werden, dass es im Leben noch etwas anderes als Verbrechen gibt.«

»Ich bin um neun Uhr aufgestanden, bis dahin hast du wahrscheinlich bereits ein halbes Dutzend Schurken festgenommen. Dann hab ich die Stellenanzeigen im Guardian durchgeblättert und bin zur Bücherei gegangen, um in die anderen Zeitungen zu sehen. Nach dem Mittagessen habe ich das Schlafzimmer geputzt, ein bisschen gebügelt und die Esszimmermöbel auf Hochglanz gebracht. Dann schnell zum Kiosk und die Abendzeitung geholt. Jede Minute ein prickelndes Vergnügen. Und du? Hast du das Verbrechen des Jahrhunderts aufgeklärt?«

Etwas gequält sagte Maggie: »So was Aufregendes nicht. ’n paar Einbrüche, Papierkram zu dem Vergewaltigungsfall im Blues Club. Nächste Woche ist Gerichtstermin.«

»Wenigstens wirst du dafür bezahlt.«

»Es wird sich bestimmt bald was finden, Schatz.«

»Und in der Zwischenzeit lasse ich mich von dir aushalten.«

Maggie sagte nichts. Es gab dazu nichts zu sagen. Die beiden waren zusammen, seit sie sich als Studentinnen vor elf Jahren heftig ineinander verliebt hatten. Alles war in Ordnung gewesen, solange beide mit dem Erklimmen ihrer Karriereleiter beschäftigt waren. Aber Sarahs Karriere als Personalleiterin hatte ein jähes Ende gefunden, als die Firma, für die sie tätig war, vor neun Monaten Pleite gemacht hatte. Diese Krise hatte ihrer Beziehung eine Wunde beigebracht, die sich nun schnell weiterfraß. Maggie hatte jetzt oft Angst, etwas zu sagen, weil sie keine weitere bittere Auseinandersetzung heraufbeschwören wollte. Schweigend trank sie ihren Wein.

»Also keine Neuigkeiten, die mich amüsieren könnten?«, wollte Sarah wissen. »Keine netten kleinen Tratsch-Geschichten aus der Unterwelt?«

»Eine könnte dich vielleicht interessieren«, sagte Maggie vorsichtig. »Hast du in den Nachrichten gestern abend die Meldung über eine Frau bemerkt, die wegen Verdacht auf Lebensmittelvergiftung ins Krankenhaus kam?«

»Hab ich gesehen. Und alles in der Zeitung darüber gelesen. Hab damit eine Stunde totgeschlagen.«

»Tja, sie ist gestorben. Die Nachricht kam gerade rein, als ich wegging. Und offenbar hat’s auch noch zwei Familien erwischt. Das Merkwürdige daran ist, dass man anscheinend nicht von einer gemeinsamen Ursache ausgehen kann. Jim Bryant von der Unfallstation hat’s mir erzählt.«

Sarah verzog das Gesicht. »Bist du sicher, dass dir meine Spaghetti Carbonara heute abend bekommen werden?«

Maggies Lächeln wurde vom Läuten des Telefons unterbrochen. Sie ging rasch hinüber und nahm beim dritten Klingeln ab. »DS Staniforth am Apparat … Hi, Bill.« Sie hörte gespannt zu. »Oh Gott!«, rief sie aus. »Ich bin in zehn Minuten dort. In Ordnung?« Sie stand da und hielt den Hörer in der Hand. »Sarah, die Frau, über die wir gerade gesprochen haben. Es war keine Lebensmittelvergiftung. Es war eine hohe Dosis Arsen, und zwei der anderen Fälle mit der sogenannten Lebensmittelvergiftung sind auch gestorben. Bei ihnen vermuten sie ebenfalls Arsen. Ich muss los, um Bill in der Klinik zu treffen.«

»Dann machst du dich wohl besser auf die Socken. Soll ich dir was zu essen aufheben?«

»Hat keinen Zweck. Und warte nicht auf mich, es wird bestimmt spät.« Maggie ging zu Sarah hinüber und umarmte sie kurz. Dann eilte sie aus dem Zimmer, und schon Sekunden später fiel die Haustür ins Schloss.

 

Die Neonleuchten ließen die Küche hell, aber kalt wirken. Die Frau machte einen der Einbauschränke auf und holte ein Glas mit einem grauweißen Pulver ganz hinten aus dem Fach.

Sie nahm ein Filetiermesser mit sehr scharfer Klinge und schob sie vorsichtig unter die Lasche eines Puddingpulverpäckchens aus Pappe. Mit fünf weiteren Päckchen verfuhr sie genauso. Anschließend öffnete sie vorsichtig die Papiertütchen in jedem Päckchen und vermischte den Inhalt mit einem Esslöffel des Pulvers aus dem Glas.

Die grauen Strähnen in ihrem kastanienbraunen Haar glänzten im Licht. Sie faltete die Papiertütchen peinlich genau wieder zusammen und klebte die äußeren Pappschachteln mit einem Tropfen Klebstoff zu. Dann legte sie alle in eine Einkaufstasche und trug sie auf die Veranda hinter dem Haus.

Das Glas stellte sie wieder in den Schrank und ging ins Wohnzimmer, wo der Fernseher laut plärrte. Ihr Gesichtsausdruck war seltsam triumphierend.

 

Es war schon nach drei Uhr, als Maggie Staniforth die Haustür hinter sich schloss. Sie hängte ihren Schaffellmantel an die Garderobe und bemerkte im Flurspiegel die Falten um ihre Augen, die von der Überarbeitung kamen. Sarah stand plötzlich in der Küchentür. »Ich weiß, du bist wahrscheinlich zu müde, um Hunger zu haben, aber ich habe Suppe gemacht, wenn du was möchtest«, sagte sie.

»Du hättest nicht aufbleiben sollen. Es ist schon spät.«

»Ich hab ja nichts anderes zu tun. Und außerdem hab ich jede Menge Zeit, um den Schlaf nachzuholen.«

Ach du lieber Gott, bitte nicht jetzt, dachte Maggie. Als ob die Arbeit nicht schon stressig genug war, ohne dass Sarah beim Heimkommen Zoff machte.

Aber sie hatte sich geirrt. Sarah lächelte und sagte:

»Also, möchtest du was essen?«

»Kommt drauf an.«

»Worauf?«

»Ob Higham’s Continental Tomato Pickles drin sind.«

Sarah sah verwirrt aus. Maggie fuhr fort: »Drei Leute scheinen an Arsen gestorben zu sein, das in Higham’s Continental Tomato Pickles enthalten war und in einem Fastfare Supermarkt gekauft wurde.«

»Du machst wohl Witze!«

»Ich wollte, es wäre so.« Maggie ging in die Küche. Sie goss sich ein Glas Orangensaft ein, und Sarah stellte ihr einen dampfenden Teller Linsensuppe mit ein paar Butterbroten hin. Maggie setzte sich, griff zu und erstattete ihrer Freundin beim Essen einen Bericht, der hin und wieder durch Kauen unterbrochen wurde.

»Opfer Nummer eins: May Scott, siebenundfünfzig, Witwe, wohnte in der Warburton Road. Nummer zwei und drei: Gary Andrews, fünfzehn, und sein Bruder Kevin, dreizehn, aus der Priory-Farm-Siedlung. Der Zustand ihres Vaters ist ernst, ebenso der von zwei weiteren Personen, Thomas und Louise Foster aus Bryony Grange. Zwischen ihnen gibt es keinen Zusammenhang, außer eben, dass sie alle eingelegte Tomaten aus Gläsern aßen, die sie am selben Tag bei Fastfare gekauft hatten.

Es könnte jemand sein, der auf Erpressung aus ist, weißt du. So nach dem Motto, gib mir eine Million Pfund, sonst tu ich’s wieder. Es könnte auch jemand sein, der ’ne Wut auf Fastfare hat. Oder auf Higham’s. Du kannst Gift drauf nehmen, dass sie uns bei diesem Fall zur Sau machen. Wir sind jetzt schon unter Beschuss.«

Maggie aß zu Ende. Sie ließ den Kopf in die Hände sinken. »Was für ein Scheißjob.«

»Besser als gar kein Job.«

»Meinst du?«

»Das solltest du mich lieber nicht fragen.«

»Komm mit ins Bett, Sarah. Damit ich für ein paar Stunden dieses Schlachtfeld vergessen kann, hm?«

 

Musik im Hintergrund lullte die Kunden in Pinkerton’s Hypermarket ein und versetzte sie unterschwellig in Kauflaune. Die Frau, die ihren Wagen vor sich her schob, war unempfänglich für die einschmeichelnden Töne und Einflüsterungen. Als sie das Regal mit den Fertigmischungen für Nachspeisen erreichte, blieb sie stehen und sah sich um, ob die Luft rein war.

Rasch legte sie drei Päckchen Pudding zu den anderen Packungen im Regal und entfernte sich. Einige Minuten später kam sie zurück und sah sich mehrere Backmischungen für Kuchen an, während sie wartete, bis der Gang leer war. Dann vollendete sie ihre Mission und erledigte seelenruhig ihre Einkäufe.

An der Kasse plauderte sie munter mit dem gelangweilten Teenager, der mechanisch ihre Einkäufe eintippte. Leise das Lied aus den Lautsprechern mitsummend, verließ sie das Geschäft.

Drei Tage später platzte Maggie Staniforth mitten am Nachmittag ins Wohnzimmer, wo Sarah gerade eine Bewerbung tippte.

»Alarmstufe fünf, Schatz«, verkündete sie. »Ich bin nur kurz nach Hause gekommen, um ein Bad zu nehmen und mich umzuziehen. Könnte ich vielleicht ein Sandwich haben?«

»Ich hab mich schon gefragt, ob du noch hier wohnst«, murmelte Sarah finster. »Wenn du eine Affäre hättest, wüsste ich wenigstens, was ich dagegen unternehmen kann.«

»Nicht jetzt, Liebste, bitte.«

»Willst du was Warmes? Suppe? Omelette?«

»Suppe, bitte. Und ein überbackenes Käsesandwich?«

»Kommt sofort. Was für ein Notfall ist es diesmal?«

Maggies Augen wurden trübe. »Unser verrückter Mörder hat wieder zugeschlagen. Acht Menschen liegen in kritischem Zustand im Krankenhaus. Diesmal war es Arsen in Garrat’s Pudding aus Pinkerton’s Hypermarket. Bill fordert im Fernsehen gerade die Leute zur Rückgabe aller Päckchen auf, die sie im Lauf dieser Woche gekauft haben.«

»Anderer Hersteller, anderer Supermarkt. Hört sich eher an wie ein Verrückter statt wie jemand, der sich rächen will, oder?«

»Und deshalb lässt sich der nächste Schlag unmöglich voraussagen. Ich nehme jetzt jedenfalls ein Bad. In fünfzehn Minuten bin ich wieder unten.« Maggie blieb an der Küchentür stehen. »Ich meine es ernst, Sarah. Kauf nichts im Supermarkt. Metzger, Gemüseläden, das ist okay. Aber keine Selbstbedienung und keine abgepackten Lebensmittel. Bitte.«

Sarah nickte. Sie hatte bei Maggie in den acht Jahren, die sie bei der Polizei war, noch nie erlebt, dass sie Angst hatte, und dies mit ansehen zu müssen, war nicht dazu angetan, Sarahs Stimmung zu heben.

 

Diesmal waren es Gläser mit Mincemeat, der klassischen Füllung für Weihnachtsgebäck. Selbst die Kapelle der Heilsarmee, die vor den Nationwide Stores Weihnachtslieder spielte, konnte die Frau nicht dazu bringen, von ihrer Mission abzulassen. Als sie den Supermarkt betrat, hatte sie sechs Gläser in ihrer Einkaufstüte, deren Inhalt mit todbringendem weißen Pulver vermischt war.

Als sie wieder hinausging, war keines davon mehr übrig. Sie steckte 50 Pence in die Sammelbüchse, als sie an der Kapelle vorbeikam, weil gerade »In the Bleak Midwinter«, ihr Lieblingsweihnachtslied, gespielt wurde. Ohne innezuhalten, um die weihnachtlichen Auslagen zu betrachten, ging sie langsam zum Parkplatz zurück. Sie sah keiner frohen Weihnacht entgegen.

 

Sarah kehrte mit der Abendzeitung vom Kiosk zurück und las im Gehen die Titelseite. Der Burnalder Giftmischer machte inzwischen überall Schlagzeilen, aber aus den Artikeln der Lokalzeitung schien eine besonders nervöse Angst zu sprechen. Die Berichte waren gründlich recherchiert und spürten zwischen den drei großen Lebensmittelgiganten, bei denen vergiftete Waren aufgetaucht waren, alle möglichen geschäftlichen Verbindungen auf. Man spekulierte auch über die Gründe der einwöchigen Pausen zwischen den Anschlägen und machte bis in die Einzelheiten hinein die drastische Wirkung der Giftanschläge auf die finanzielle Situation der Betriebe deutlich, die Lebensmittel verarbeiteten. Und die Artikel wiesen auf die Paradoxie hin, dass die Menschen zwar hysterisch auf die Vergiftungen reagierten, sich aber trotzdem in Erwartung der Feiertage ihre Einkaufswagen voll luden.

Der neueste todbringende Stoff war Univex Mincemeat. Sarah schauderte, als sie von den drei jüngsten Todesfällen las, die die Gesamtzahl auf zwölf erhöhten. Als sie um die Ecke bog, sah sie Maggies Wagen in der Einfahrt stehen und beschleunigte ihre Schritte. Beim Lesen des langen Berichts hatte sich ein schrecklicher Gedanke in ihrem Kopf festgesetzt.

Als sie ihre Jacke aufhängte, rief Maggie ihr schon aus der Küche etwas zu. Sie ging langsam hinein, wo Maggie genüsslich einen Teller mit Speck und Eiern, aber ohne den sonst üblichen großen Klecks Ketchup verspeiste. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, und ihre Gesichtshaut war grau und schlaff. Die letzten zwei Nächte hatte sie nicht zu Hause geschlafen. Nie zuvor hatte die Arbeit sie so beansprucht. Sarah dachte kurz darüber nach, ob die gespannte Stimmung zwischen ihnen vielleicht auch ihren Teil dazu beigetragen hatte, dass Maggie sich mit solch verbissenem Engagement an dieser mühseligen Ermittlung beteiligte.

»Wie läuft es?«, fragte sie besorgt.

»Überhaupt nicht«, sagte Maggie. »Wir haben praktisch keine Anhaltspunkte. Können keine Verbindungen finden. Und wir haben nicht einmal richtige Spuren, die wir verfolgen könnten. Ich bin nach Hause gekommen, um mal Pause zu machen. Wir haben nur herumgesessen, einander angestarrt und uns gefragt, was als nächstes zu tun ist. Was können wir machen – außer jeden zu durchsuchen, der in einen Supermarkt geht. Und diese verdammten Reporter scheinen sich auf dem Revier häuslich eingerichtet zu haben. Von allen Seiten werden wir bedrängt. Wir müssen diese Sache bald lösen, sonst werden wir fertiggemacht.«

Sarah setzte sich. »Ich hab mir mal Gedanken gemacht. Die Rachetheorie lässt sich nicht halten, weil ihr kein Bindeglied zwischen den Firmen finden könnt, stimmt das?«

»Ja.«

»Hast du schon mal darüber nachgedacht, welche Auswirkungen Arbeitslosigkeit auf die Kriminalität hat?«

»Einbruch, Ladendiebstahl, Raubüberfälle, Vandalismus, Drogen, das ja. Aber doch sicher nicht Giftanschläge, Schatz.«

»Es gibt so viel Verbitterung, Maggie. So viel Hass. Ich habe oft das Gefühl gehabt, ich würde diese unfähigen Trottel, die Liddell’s kaputtgemacht und mich zum alten Eisen geschmissen haben, am liebsten umbringen. Habt ihr mal an Menschen gedacht, denen gekündigt worden ist?«

»Haben wir. Aber nur ein halbes Dutzend Leute hat für alle drei Firmen gearbeitet. Und keiner davon hat einen Grund für Rachegelüste. Und niemand hat irgendeine Verbindung zu Burnalder.«

»Da gibt es noch etwas anderes, Maggie. Es ist mir erst eingefallen, als ich vorhin Zeitung gelesen habe. Die News brachte einen großen Artikel über die Muttergesellschaften, die die drei Produkte herstellen. Also, ich könnte schwören, dass sie alle in den letzten zwei Monaten Stellenanzeigen für Führungskräfte geschaltet hatten. Ich weiß es, weil ich mich auf zwei dieser Stellen beworben habe. Ich bin nicht einmal zum Vorstellungsgespräch eingeladen worden, weil ich keine Erfahrung in der Lebensmittelbranche habe, nur in der Kunststoffproduktion. Es muss andere Leute geben, die in einer ähnlichen Situation und vielleicht labiler sind als ich.«

»Mein Gott!« Maggie holte tief Luft. Sie schob ihren Teller weg. Ihr Gesicht bekam wieder Farbe, und sie schien neue Energie zu verspüren. Sie stand auf und umarmte Sarah heftig. »Du hast mich auf den ersten klaren Anhaltspunkt in diesem ganzen beschissenen Fall gebracht. Du bist ein Genie!«

»Ich hoffe, du wirst dich daran erinnern, wenn sie dich zur Oberkommissarin befördern.«

Maggie grinste und war schon fast aus der Tür. »Du hast einen Punkt gut bei mir. Bis später.«

Als die Haustür zuschlug, sagte Sarah mit ironischem Unterton: »Hoffentlich ist es nicht schon zu spät, Schätzchen.«

Detective Inspector Bill Nicholson arbeitete seit zwei Jahren mit Maggie Staniforth zusammen. Sein anfängliches Misstrauen gegen eine weibliche Mitarbeiterin wurde durch ihre große Kompetenz entkräftet. Jetzt sprach er von ihr des öfteren als einer »verdammt guten Polizistin, obwohl sie eine Frau ist«, so, als sei das seine ureigene Entdeckung, die sich direkt aus der Zusammenarbeit mit ihm ergeben hätte. Als sie Sarahs Vorschlag erklärte und dazu Fotokopien von Zeitungsanzeigen vorlegte, die sie aus dem Archiv der Lokalzeitung herausgesucht hatte, wurde ihm zum ersten Mal klar, dass sie ihn wahrscheinlich in nicht allzu ferner Zukunft auf der Karriereleiter überholen würde. Der Gedanke gefiel ihm nicht, aber er wollte sich dadurch nicht von seiner Aufgabe abhalten lassen.

Sie fingen mit einer umfassenden Suchaktion an und sprachen direkt mit den Personalbüros der drei Firmen. Das hieß, sie mussten die Ermittlungen auf das ganze Land ausdehnen und unter sich aufteilen, und es war ihnen klar, dass die Zeit drängte. Eine Ermittlungsgruppe direkt in Burnalder rief Firmen an, die ähnliche Stellen ausgeschrieben hatten, und verlangte die Bewerberlisten. Die schwerfällige Polizeimaschinerie hatte sich in Gang gesetzt.

 

Am Abend des zweiten Tages kam Maggie erschöpft nach Hause. Tausend Kilometer im Wagen hatten ihr einiges abverlangt, und sie sah fertig und um Jahre gealtert aus. Sarah half ihr aus dem Mantel und goss ihr schweigend einen starken Drink ein.

»Du hattest recht«, seufzte Maggie. »Wir haben den Namen und die Adresse eines Mannes, der von allen drei Firmen nach dem ersten Vorstellungsgespräch abgelehnt wurde. Heute abend werden wir ihn einkreisen, denn wenn er sein Muster beibehält, wird er versuchen, morgen wieder zuzuschlagen. Mit etwas Glück werden wir ihn auf frischer Tat ertappen.« Sie klang grimmig und mitleidslos. »So ein Wahnsinn. Zwölf Menschen mussten sterben, weil er es nicht schafft, so ’nen beschissenen Job zu kriegen.«

»Ich kann es verstehen«, sagte Sarah plötzlich und ging in die Küche.

Maggie sah ihr starr und schockiert nach, aber sie begriff. Wieder spürte sie den leisen Groll gegen ein System, das von ihr verlangte, Menschen zu verfolgen, die es so oft selbst zu Opfern gemacht hatte. Wenn Sarah ihre gut bezahlte Arbeit nicht verloren hätte, dann hätte Maggie inzwischen ihren Job bei der Polizei hingeschmissen, das wusste sie genau. Aber sie brauchten ihr Gehalt, um sich über Wasser zu halten. Der Job selbst war unangenehm genug. Aber die zusätzliche Qual, ihre Beziehung zu Sarah ständig verborgen halten zu müssen, belastete sie allmählich mehr, als sie ertragen konnte. Sarah war nicht die einzige, deren Möglichkeiten durch ihre Arbeitslosigkeit drastisch eingeschränkt wurden.

 

Um neun Uhr fünfundfünfzig war ein Dutzend Kripobeamte um ein adrettes Einfamilienhaus in einer ruhigen Vorortstraße postiert. Im Garten ragte ein Schild mit der Aufschrift ZU VERKAUFEN zwischen den Rosenbüschen hervor. In der Küche und im Wohnzimmer brannte Licht.

Im Auto vergewisserte sich Bill noch einmal, dass er den Durchsuchungsbefehl dabeihatte. Nach einer letzten Durchsage über das Funksprechgerät gingen Maggie und er die kurze Einfahrt hoch.

»Jetzt bist du dran«, sagte er und klingelte. Ein großer kräftiger Mann Mitte vierzig machte auf. Um die Augen hatte er Falten, die von der Anspannung herrührten, und seine Kleidung war zu weit, so, als hätte er in letzter Zeit abgenommen.

»Ja?«, sagte er freundlich und leise.

»Mr. Derek Millfield?«, fragte Maggie.

»Das bin ich. Was kann ich für Sie tun?«

»Wir sind von der Polizei, Mr. Millfield. Wir würden gern mit Ihnen sprechen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

Er schien ratlos. »Natürlich, gern. Aber ich verstehe nicht, was …« Er verstummte. »Kommen Sie doch am besten rein.«

Sie betraten das Haus, und Millfield führte sie in ein überraschend geräumiges Wohnzimmer. Es war geschmackvoll und aufwändig eingerichtet. Eine Frau saß vor dem Fernseher.

»Meine Frau Shula«, stellte er vor. »Shula, diese Leute sind Polizisten, Entschuldigung, Miss, ich meine, Polizeibeamte.«

Shula Millfield stand auf und sah sie an. »Jetzt kommen Sie mich also holen«, sagte sie.

Es war schwierig zu sagen, wer am meisten überrascht war. Dann lachte sie plötzlich, weinte und schrie – alles durcheinander.

 

Maggie streckte sich auf der Couch aus. »Es war entsetzlich. Es muss bei ihr seit Wochen auf Messers Schneide gestanden haben, bevor sie endlich ausflippte. Er ist seit sieben Monaten arbeitslos. Sie haben die Kinder aus der Privatschule nehmen müssen, mussten das Auto und ihren Besitz verkaufen. Er hatte keine Ahnung, was sie da anrichtete. Ich habe noch nie jemanden so durchdrehen sehen. Alles wegen eines angenehmen, gutbürgerlichen Lebensstils.

Ihre Schuld steht außer Frage. Ihre Fingerabdrücke waren überall auf dem Glas mit dem Arsen. Sie hat das Fläschchen vor einem Monat gestohlen. Sie hatte eine Teilzeitstelle in der Apotheke des Kreiskrankenhauses von Kingcaple. Aber dort hat man nicht mal gemerkt, dass es fehlte. Weiß der Himmel, wie das möglich war. Da werden wohl Köpfe rollen«, fügte sie bitter hinzu.

»Was geschieht mit ihr?«, fragte Sarah reserviert.

»Sie wird vor Gericht gestellt, wenn sie schuldfähig ist. Aber ich bezweifle, dass sie das ist. Ich fürchte, sie wird für den Rest ihres Lebens in einer Anstalt landen.« Als sie den Blick hob, sah sie Tränen auf Sarahs Gesicht. Sie stand auf und legte den Arm um sie. »He, wein doch nicht, Schatz. Bitte nicht.«

»Ich kann nicht anders, Maggie. Ich weiß, wie es ist, verstehst du. Ich kenne diese grenzenlose Hoffnungslosigkeit. Ich kenne diesen Hass, diesen Frust und die Sinnlosigkeit. Du kannst nichts dagegen tun. Sie werden damit leben müssen, Detective Sergeant Staniforth, dass ich es genausogut hätte sein können. So leicht hätte ich es selbst sein können.«

Weihnachten nach alter Väter Sitte

Gestern nacht träumte mir, ich sei nach Amberley gefahren. Neuschnee war gefallen, er lag tief und gleichmäßig und glitzerte in der Sonne wie Girlanden auf den Zweigen, als wir durch die hohen Eisentore den Weg hinauffuhren. Diana saß am Steuer, ihre behandschuhten Hände lagen trotz der gefährlichen, nur teilweise geräumten Straßendecke ruhig und sicher auf dem Steuerrad. Wir kamen um ein Wäldchen herum, und da lag das Haus wunderschön wie auf einem Foto vor uns und die Sonne schien dem gelben Stein aus den Cotswolds Leben einzuhauchen. Amberley House war eines von Vanbrughs kleinen Anwesen, die er so nebenbei schuf, nachdem er das Handwerk beim Bau seines Meisterstücks, Blenheim Palace, gelernt hatte.

Diana hielt vor der Säulenhalle an und hupte. Sie drehte sich mit glänzenden Augen zu mir um, und ihr Lächeln war betörend wie eh und je. »Hier fängt Weihnachten an«, sagte sie. Und wie auf Kommando ging die Haustür auf und Edmund stand auf der Schwelle, zwischen seiner und Dianas Mutter und seiner Frau Jane, die alle heiter wie Wanderer auf einem Tagesausflug lächelten. Da erwachte ich, wie gelähmt vor Schreck und starrte in die Dunkelheit. Es war einer dieser Träume, die einem noch so lebhaft vor Augen stehen, dass man beim Erwachen gar nicht ganz glauben kann, was da gerade geschehen ist. Aber ich wusste, dass es ein Traum war, oder vielmehr ein Alptraum. Denn Edmund, der sechste Baron Amberley von Anglezarke, war schon seit drei Monaten tot. Ich muss es wissen, denn ich habe seine Leiche gefunden.

Diana neben mir schlief noch. Ich hätte mich am liebsten an sie geschmiegt und vor der schrecklichen Erinnerung Trost gesucht, aber ich wollte nicht so rücksichtslos sein. Eine Nacht, in der sie ruhig schlafen konnte, war immer noch ein Luxus für sie, und die nächsten zwei Wochen würden auch nicht gerade geruhsam werden. Ich schlüpfte aus dem Bett und ging in die Küche, um mir eine Tasse Kamillentee zu machen.

Während ich zusammengekauert vor dem Gasherd saß, zwang ich mich, über Weihnachten nachzudenken. Es war das vierte Jahr, in dem Diana und ich uns aufmachten, um in ihrem Elternhaus zu feiern. Als für uns das erste gemeinsame Weihnachtsfest näherrückte, machte ich mir Sorgen darüber, was wir tun sollten. Für Beziehungen wie die unsrige gibt es keine vorgegebenen Regeln. Ganz sicher war nur, dass ich mir wünschte, wir könnten das Fest zusammen verbringen. Und ich wusste, dass es nicht in Frage kam, meine Eltern zu besuchen. Solange sie nicht mit der körperlichen Anwesenheit ihrer lesbischen Tochter konfrontiert werden, können sie damit umgehen. Aber zu Weihnachten eine Frau in ihre Glasgower Mietwohnung mitzubringen, wäre unangenehm. Mit der Tochter eines Barons zu erscheinen, wäre unmöglich gewesen.

Als ich nervös das Thema anschnitt, hatte Diana erstaunt die Augenbrauen gehoben und den Mund zu einem leichten Lächeln verzogen. »Ich habe angenommen, dass du mit mir nach Amberley fahren möchtest«, sagte sie. »Man erwartet dich dort.«

»Bist du sicher?«

Diana legte herzlich die Arme um mich. »Natürlich. Willst du nicht an Weihnachten mit mir zusammen sein?«

»Blöde Frage«, brummte ich. »Ich dachte, wir könnten vielleicht ganz für uns feiern, nur wir zwei. Romantisch und innig vereint.«

Diana schien sich nicht sicher. »Können wir nicht auch auf Amberley romantisch sein? Ich kann mir Weihnachten sonst nirgends vorstellen. Es ist so … so traditionell. So englisch.«

Jetzt war es an mir, die Augenbrauen hochzuziehen.

»Bist du sicher, dass ich zu euch passe?«

»Du weißt doch, dass meine Mutter sehr viel von dir hält. Sie besteht darauf, dass du kommst. Was Traditionen betrifft, da ist sie ganz fanatisch, besonders in Bezug auf Weihnachten. Du wirst begeistert sein«, versprach sie.

Und so war es auch. Es mag unwahrscheinlich klingen, aber ich als Kind der schottischen Arbeiterklasse, lesbische Feministin und Homöopathin, begeisterte mich voll und ganz für die englische Landhausidylle. Ich fuhr am Weihnachtstag sehr gern mit Diana hin. Wir ließen die Autobahn mit dem Verkehr hinter uns und fuhren über kleine Landstraßen mit hohen Hecken durch das Dorf Amberley mit seinen Lebkuchenhäuschen und den festlichen Lichtern auf dem Gemeindeanger und schließlich am Dower House vorbei, wo ihre Mutter wohnte, bis in die Einfahrt zum Gut. Ich war begeistert von Sherry und Mince Pies, traditionellem Weihnachtsgebäck, das zusammen mit den Nachbarn verzehrt wurde, auch wenn diese mich mit den Schilderungen ihrer Gebrechen beglücken wollten. Ich fand das große Festessen wunderbar, das Dianas Mutter am Weihnachtsabend zubereitete, und ich genoss den kurzen Marsch durch den Wald zur Christmette in der Dorfkirche. Und vor allem freute ich mich darüber, wie alle mich ganz selbstverständlich und herzlich in ihr Ritual einbezogen.