Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Februar 2017
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ISBN Printausgabe 978-3-499-63189-4 (1. Auflage 2017)
ISBN E-Book 978-3-644-57171-6
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ISBN 978-3-644-57171-6
«Was haben Sie gemacht?»
«Nix!»
Diese Antwort kommt immer als Erstes. Häufig so schnell, da habe ich das Wort «gemacht» noch gar nicht ausgesprochen. Die Kunden klingen dann wieder wie Schüler, die vom Lehrer beim Rauchen erwischt wurden und so tun, als wäre nichts gewesen, während ihnen die Wölkchen aus Nase und Ohren puffen.
Sogar Herr Grütering benimmt sich so, mein Stammkunde am anderen Ende der Leitung. Dass er die Schulbank gedrückt hat, ist sicher locker vierzig Jahre her. Heute gilt der tüchtige Hüne als einer der erfolgreichsten Familienunternehmer des Münsterlandes. Sein kleines Imperium für Brennholz und Heizöl führt er mit eisernem Regiment. Vor dem Rechner allerdings, da ist er wieder der sich verteidigende Neuntklässler.
«Ehrlich», sagt er, «ich hab nix gemacht!»
Mein Kollege Wulf trottet von der Werkstatt zum Empfang und zieht sich einen Kaffee an unserem Vollautomaten, dem ganzen Stolz des Büros. Wulfs Sorte ist bereits voreingestellt, aber er dreht trotzdem ein wenig am Regler. Im Graphik-Display der Maschine erscheinen die verschiedenen Getränke und Tassengrößen. Wulf schmunzelt. Er muss gar nicht hören, was der alte Grütering gerade sagt. Er weiß es auch so.
«Herr Grütering», sage ich, «wissen Sie noch, was Sie mir mal über Ihr Geschäft erklärt haben?»
Grütering stutzt.
«Über den Erfolg», helfe ich ihm auf die Sprünge.
«Ach so», erinnert sich der alte Grütering, und es knirscht, als er sich daheim in seinem alten Bürostuhl aufrichtet. «Ja, sicher, mein Junge. Erfolg ist das Ergebnis von Handlungen, nicht von frommen Wünschen. Deswegen heißt es auch Händler und nicht Wünscher.»
«Genau», stachele ich ihn an, «es ist wie in der Physik, haben Sie gesagt, wissen Sie noch?»
«Ursache und Wirkung!», ruft er.
«Sehen Sie», atme ich erleichtert aus, tatsächlich wie ein Lehrer, der seinem Schüler die binomische Formel aus der Nase zieht. «Und genauso ist das auch bei Computern. Die gehen nicht von alleine kaputt. Ursache und Wirkung.»
«Hm», brummt der alte Grütering, kurz und heftig. Es klingt, als sei ein Motorboot ohne Poller vor den Steg gefahren.
«Also, überlegen Sie noch mal. Was haben Sie gemacht?»
Grütering überlegt.
Er hat mich verstanden.
Hole den Kunden immer dort ab, wo er steht. Sprich in den Bildern und Gleichnissen seiner Lebenswelt.
In seinem braun vertäfelten Büro ruckt Herr Grütering seinen mächtigen Leib zurecht. Ich kenne den Kellerraum, weil ich dem Mann dort damals seinen Arbeitsplatz eingerichtet habe. Der riesige Landmarkt mit dem Holzverkauf und der Tankstelle, an der man mit dem Lkw oder dem Trecker sowohl Heizöl als auch Diesel tanken kann, liegt nur eine Wiese weit von seinem rustikalen Wohnhaus entfernt. Sein Büro hat er bis heute nicht in den Betrieb verlegt.
«Und?», hake ich behutsam nach. «Wissen Sie jetzt, was Sie gemacht haben?»
Der alte Grütering schnauft.
Räuspert sich …
… und sagt?
«Nix!»
Jede Wirkung hat eine Ursache. Definitiv. Glauben Sie es mir. Lassen Sie den Gedanken zu. Sie müssen nicht aus Prinzip dagegen sein. Sie sind nicht mehr in der Schule. Ihr IT-Berater ist Ihr Dienstleister, nicht Ihr Lehrer. Sie sind Kunde und König, nicht Schüler und Prüfling. Lehnen Sie sich daher bei Computerproblemen zurück, atmen Sie tief durch und erinnern Sie sich daran, was Sie gemacht haben, bevor der Fehler auftrat. Es wird auch keine Strafarbeiten geben.
Da Gottfried Grütering mir bis heute nicht erlaubt hat, meine Software für die Fernwartung auf seinem Rechner zu installieren, verabreden wir uns für 14 Uhr in seinem Büro. Den Rest des Tages kann ich somit knicken. Denn selbst, wenn das Problem an sich nur eine Viertelstunde beanspruchen sollte, verlässt niemand die heiligen Hallen des Gottfried Grütering unter zwei Stunden Plauderei über den neuesten Klatsch und Tratsch im Dorf. Männlicher Klatsch und Tratsch selbstverständlich. Es geht um die Jagd, den Schützenverein und die erschütternde Tatsache, dass der lokale Fußballverein tatsächlich «den Hockenkamp» aus Bockum-Hövel geholt hat für unglaubliche 7500 Euro Ablöse, wo man doch eigentlich einen neuen Torwart bräuchte.
Ich nicke dann immer brav und trinke literweise Kaffee. Zwar verfolge ich grob, was die Nationalmannschaft so treibt und ob irgendein Verein den Bayern in der Bundesliga noch mal das Wasser abgraben kann, aber von Amateurfußball habe ich nun wirklich überhaupt gar keine Ahnung.
Um 14 Uhr beim Grütering, das heißt um 13 Uhr 30 losfahren. Jetzt haben wir zehn vor zwölf. Das wird knapp. Es ist noch viel zu tun. Sogar ohne Mittagspause, die Wulf und ich eh nie machen. Selbst zum beiläufigen Brötchenessen kommen wir selten. Meistens ernähren wir uns von Gummibärchen, dem ausgewogenen Haribo Color-Rado-Mix sowie den Nahrungsmolekülen aus den Essensresten, die wir in den Rechnern unserer Kunden vorfinden und aus Versehen einatmen. Wie heißt es so schön? Wo lagert der Deutsche sein Essen ein? 5 Prozent Speisekammer. 10 Prozent Auto. 25 Prozent Kühlschrank. 60 Prozent Computertastatur. Daher auch unsere Vorliebe für Haribo – Gelatine krümelt nicht.
Wulf fragt: «Was abnehmen?»
Eigentlich heißt dieser Satz: «Kann ich dir aufgrund der Tatsache, dass du nachher den halben Tag beim störrischen Grütering verbringen musst, hier noch etwas abnehmen?» Aber das wäre des Aufwands wahnwitzig zu viel. Wulf spricht nicht mehr als zwanzig Worte am Tag. Das ist nicht so dahergesagt. Das zähle ich, seit er in meiner IT-Firma als Partner und leidenschaftlicher Fachmann arbeitet.
Weil Wulf so wortkarg wie ein Wombat ist, arbeitet er die meiste Zeit in der Werkstatt an Rechnern, Laptops, Servern und Smartphones, während ich hinter der Empfangstheke mit dem Headset telefoniere. Ich bin die Stimme von PSC Drensteinfurt, der Kontaktmensch, die Plaudertasche. Dafür kann Wulf ohne zitternde Hand in ein hauchzartes Ultrabook Schräubchen eindrehen, die ich nicht mal mit bloßem Auge sehen kann.
Mit Computern beschäftigt er sich, seit er vier Jahre alt war. Als Junge besaß er den ersten Bausatz von Apple. Im Kaufhof seiner Heimatstadt ging er als Teenager freiwillig putzen, nur um die erworbenen Geldstücke noch vor Ort in den Videospielautomaten Space Invaders zu werfen, den der Besitzer damals in einer Ecke neben den Aufzügen aufgestellt hatte. Denkt Wulf an das Jahr 1986 zurück, fällt ihm nicht das Herzschlagfinale Deutschland gegen Argentinien bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Mexiko ein, sondern die Ankunft des im Winter 1985 erschienenen Windows 1.0 in seinem Leben. Die fünf original 5,25-Zoll-Disketten, auf denen das Betriebssystem ausgeliefert wurde, besitzt er heute noch.
Ich sortiere mich. Auf meinem Schreibtisch liegen noch fünf dringende Aufträge. Zwei stehen auf einem karierten Block, zwei kleben in Form gelber Post-its am Bildschirm und einen habe ich auf die Rückseite eines Briefumschlags geschrieben. Trotz meines Berufs notiere ich Aufgaben am liebsten auf echtem Papier. Das Gefühl, sie als «erledigt» zu zerreißen, ist einfach unersetzbar. Heute muss ich also noch ganze fünf Aufträge in 100 Minuten schaffen. Da darf absolut gar nichts mehr dazwischen kommen.
Ich nehme mir den ersten To-do-Zettel zur Hand, als die Tür aufspringt.
«So, da ist er wieder!», ruft der junge Mann, der mit seinem Laptop in der Hand hereinstürmt. Er wedelt mit dem schmalen Gerät, als sei es eine Sonderausgabe der Tageszeitung mit besonders skandalösen Nachrichten. Der junge Mann heißt Jonas und ist Stammgast in unserem Büro. Stammgast, wohlgemerkt, nicht Stammkunde. Er hat keine Aufträge für uns, er hat Theorien. Die meiste Zeit verbringt er am Glastisch im Empfangsbereich.
Das ist natürlich kein Zustand. Doch jedes Mal, wenn Wulf und ich uns vornehmen, Jonas endgültig zu vertreiben, bringt er neue Haribo-Großpackungen mit. Oder Pizza. Ungefragt, aber genau zum richtigen Zeitpunkt. Man kann sagen: Ohne Jonas bekämen wir niemals etwas Warmes zwischen die Zähne. Jetzt ist Jonas jedenfalls da, und das bedeutet: Sämtliche zu erledigenden Aufgaben, die ich bis 13 Uhr 30 geschafft haben könnte, lösen sich mit einem «Puff!» in Luft auf.
Jonas stellt den Laptop auf den Glastisch und winkt mich heran. «Hallo, Wulf!», ruft er in den Nebenraum. Mein Kollege nickt stumm und zieht an seiner elektrischen Zigarette. Vor neun Monaten haben wir beide mit dem Rauchen aufgehört. Also, mit dem Tabakrauchen. Seitdem liegen im Büro die Duftschwaden der E-Liquids in der Luft, und zwar in den Geschmacksrichtungen Pfirsich-Eistee und Vanille.
«Pass auf, Philipp», sagt Jonas, «jetzt zeige ich ihn dir! Du wirst schon sehen, da bin ich gespannt, was du dazu sagst …»
Seit einem Jahr erklären wir Jonas, dass nicht sein kann, was er immer noch glaubt. Aber es hilft nichts. Jonas bleibt überzeugt davon, den Staatstrojaner auf seinem Rechner zu haben, die Spähsoftware der Behörden.
Jonas spricht immer noch vom «Bundestrojaner», aber das ist falsch. Was vor einiger Zeit als «Bundestrojaner» über die Computer erschrockener Nutzer geisterte, sie wegen «ungesetzlicher Tätigkeiten» sperrte und nur gegen eine Zahlung von 100 Euro wieder freigab, war natürlich keine Erpressungssoftware des Bundes, sondern eine raffinierte Malware privater Betrüger.
Das offizielle Programm der Bundesregierung zur Ausspähung von Rechnern heißt «Staatstrojaner» oder auch «Remote Forensic Software». Da es heimlich spionieren soll, öffnet es selbstverständlich keine blinkenden Fenster, die für seine eigene Entfernung Geld verlangen. Installiert werden darf es nur auf höchstrichterliche Anordnung und bei klaren Hinweisen auf drohende Terroranschläge oder Geiselnahmen.
Von Jonas geht allerdings keine Terrorgefahr aus. Und Geiseln zu nehmen, wäre ihm viel zu stressig. Jonas arbeitet als Schwimmaufsicht für Kleinkinder und hat keine Hobbys außer dem gepflegten Abhängen in unserem Büro und einer Menge haltloser Verschwörungstheorien. Das Schlimme an diesen Weltbildern ist, dass sie sich wie Kletten an einige echte Tatsachen hängen können. Das macht es so schwer, gegen sie zu argumentieren. Kein Virus dieser Welt kann sich so hartnäckig in einem Rechner verbeißen wie eine Verschwörungstheorie im Kopf eines Menschen.
Im Falle des Staatstrojaners besteht das Quäntchen Wahrheit, das Jonas gerne betont, darin, dass die amerikanische NSA beim Quellcode die Finger mit im Spiel hatte. Zumindest indirekt. Die US-Regierung hat die Entwicklung der Quellen-TKÜ-Software an die Firma CSC delegiert, deren Mutterfirma wiederum ein IT-Dienstleister der NSA ist. Sozusagen eine Art Philipp Spielbusch Computer der USA. CSC hat das Projekt geleitet, die Softwarearchitektur erstellt und den Quellcode geprüft, aber nicht geschrieben. Doch wenn Jonas einmal in Rage ist, gehen die Feinheiten oft unter.
TKÜ steht für «Telekommunikationsüberwachung». Bei einer Quellen-TKÜ darf der Staat nur eine Sorte von Daten beim beobachteten Bürger erheben, zum Beispiel nur die Mails mitlesen oder nur das Telefon abhören. Diese Minimalversion der Überwachungssoftware kann allerdings jederzeit durch das Nachladen weiterer Module ausgeweitet werden.
Ich gehe zum Glastisch. Jonas’ Rechner ist hochgefahren. Er drückt gleichzeitig Steuerung, Alt und Entfernen und öffnet so den Taskmanager, der anzeigt, welche Programme und Prozesse gerade im Computer ablaufen.
Ich sage: «Jonas. Wir haben den Rechner siebzehn Mal überprüft. Wir haben sämtliche Tools durchlaufen lassen, alle Analysen, die es gibt. Du hast keinen Staatstrojaner.»
«Und was ist dann bitte das?»
Jonas zeigt auf die Liste der laufenden Prozesse. Sein Finger ist recht schmal dafür, dass er sich nur von Junkfood ernährt. Von der Pizzeria Luigi bringt er für uns drei grundsätzlich sieben bis acht Gerichte mit. Die siebzehn Suchdurchläufe auf seinem Rechner hat er uns nicht mit Geld, sondern mit Peperoni-Pizza, Tagliatelle in Schinkensahnesoße und Gnocchi mit Spinat und Gorgonzola bezahlt.
Seine Fingerspitze tippt auf einen Prozess namens ElbServer.exe.
«Da!», sagt er.
Ich zeige auf den Dateipfad des Programms, von dem Jonas glaubt, es würde seinen Rechner ausspionieren. Er lautet: C:\ProgramFiles\Sony\MediaGallery.
Wenn Sie den Task-Manager geöffnet haben und wissen wollen, was ein Prozess macht, hilft ein Blick auf die vierte Zeile namens «Abbildpfadname». Dort steht, wo auf dem Rechner die Datei genau liegt. Der Name des angezeigten Ordners gibt schon in 90 Prozent der Fälle einen sicheren Hinweis auf die Art des Programms.
«Jonas. Was steht denn da? Da steht Sony. Das Programm gehört zur Systemsoftware deines Laptops. Nicht zur Regierung.»
«Das habe ich wohl auch schon herausbekommen», antwortet er. «Aber die Frage ist doch: Was tut das Programm? Philipp?»
Ich habe den leisen Verdacht, dass er auch dies bereits selber nachgeschlagen hat. Er will, dass ich ihn beruhige. Ihm plausible Argumente dafür liefere, dass sich hinter der Datei keine geheime Verschwörung von BKA, NSA und dem Weltkonzern Sony versteckt.
«Ja nun, was macht es?», sage ich, wenig hilfreich. Ich kenne das Programm. Und ich weiß: Alles, was man zu ElbServer.exe sagen kann, wird Jonas’ Paranoia nicht lindern.
«Es macht Probleme!», ruft Wulf aus dem Nebenraum, und ich merke mir, dass er inklusive seiner Frage von vorhin, ob er mir Aufgaben abnehmen kann, somit fünf seiner zwanzig Wörter für diesen Tag verbraucht hat.
«Danke für die Hilfe!», rufe ich in Wulfs Richtung zurück.
«Gerne!»
6 von 20. Langsam wird die Luft dünn für ihn.
Jonas runzelt die Stirn. Er liest viel, das muss man schon zugeben. Vor allem über Weltpolitik und Geschichte. In seine Stirnfurchen sind sämtliche amerikanischen Verbrechen eingraviert. Der Krieg in Vietnam. Die Förderung des Diktators Pinochet in Chile. Die Atombombentests im Bikini-Atoll. Die Folterungen in Abu-Ghuraib. Gerne betont er, dass Donald Rumsfeld und George W. Bush in Europa mittlerweile rechtskräftig verurteilt seien und daher nicht mehr einreisen können, ohne vor Gericht zu landen. Stets nehme ich mir vor, es nach Feierabend nachzuschlagen. Aber ich habe Frau, Kinder und einen Beruf. Entweder man pflanzt sich fort oder man pflegt seine Paranoia.
«ElbServer macht im Grunde gar nix», sage ich, um das Ganze abzukürzen.
«Aha!», sagt Jonas, als habe er mich erwischt. «Das habe ich nämlich nachgeguckt, mein lieber Philipp, genau das! In der Tat. ElbServer macht absolut gar nichts! Es wird vom Betriebssystem nicht benötigt, ist unsichtbar und hat kein Impressum. Trotzdem startet es bei jedem Hochfahren des Computers!»
«Stimmt», pflichte ich ihm bei.
«Und es ist für nichts gut, richtig?», sagt Jonas.
«Richtig.»
«Es läuft und läuft und läuft ungefragt, hat aber keine Funktion?»
«Ja.»
«So», sagt Jonas, «und jetzt verrate ich euch Freunden des Tauchsports und der Schmetterlingskunde mal, was ich herausgefunden habe.»
Wulf steht auf und schlendert aus der Werkstatt rüber zu uns an den Glastisch. Seine E-Zigarette gibt ihr typisches Geräusch von sich. Ein kaum hörbares gluckerndes Knistern, wie das Flüstern einer Maus. Es ist unsagbar leise und klingelt dennoch kristallklar in meinen Ohren.
Jonas sagt: «Das Programm mag kein Impressum haben, aber es besitzt eine digitale Signatur. Und die stammt von welcher Firma? Na?»
Ich zucke mit den Schultern.
Wulf blubbert Pfirsich-Liquid.
«Von Verisign!»
Wir sehen Jonas an. Ich weiß nicht, worauf er hinauswill.
Wulf schon. Er nickt und sagt: «USA.»
7 von 20 Worten.
«Genau», sagt Jonas. «Verisign ist eine Tochtergesellschaft der RSA Security. Sitz in Reston, Virginia. Die haben Aktien im NASDAQ und gehören zu den 500 reichsten Unternehmen der Welt. Und ausgerechnet von denen prozessiert hier gemütlich ein Programm im Hintergrund, das angeblich zu meiner Sony-Systemsoftware gehört und nichts macht?»
Wulf zieht an seiner E-Zigarette. Die Maus flüstert. Jonas fuchtelt mit den Händen herum.
Ich sage: «Will jemand Haribo?»
«Ich sage es euch, Leute. Dieses Nichts, das ElbServer.exe macht, ist der Bundestrojaner! Passt auf, was ich noch herausgefunden habe: Der CEO von Verisign, Jim Bidzos, ja? Der Mann ist ein geborener Grieche, der perfekt Deutsch spricht und auch ausreichend Japanisch. Na? Was sagt ihr dazu? USA, Deutschland, Japan, Griechenland. NSA, BKA, Sony Corporation und das Land, dem wir Geld überweisen, obwohl seine Regierung ebenso wie ElbServer.exe als Gegenleistung gar nix macht! Was sagt ihr jetzt? Was sagt ihr jetzt???»
Wulf schmunzelt.
Ich setze mich vor den Laptop, entferne den Prozess aus dem Startmenü und sage: «So. Jetzt springt das böse Programm beim Starten des Rechners schon mal nicht mehr von selber an. Wenn es ganz runter soll, muss ich allerdings die Media Gallery deinstallieren.»
«Ja, weg mit dem Scheiß», ruft Jonas, «zeig es dem Syndikat, Philipp!»
Ich rolle mit den Augen, werfe das Programm zur Fotoschau von der Platte, reinige das Gerät in ein paar Minuten von sämtlichen Spuren der unnützen Dateien.
«Fertig», sage ich.
«Ja, wie?»
«Ist weg.»
«Das ist doch nicht weg, hör mir auf!», schimpft Jonas.
«Doch», sage ich. «Habe ich nicht zum ersten Mal gesehen. Ist weg!»
Ich denke an meine eigentlichen Aufgaben auf den Zetteln. An meinen Termin beim alten Grütering.
Jonas setzt sich an seinen Rechner, startet ihn neu, tippt sein Passwort ein, öffnet den Task-Manager und wirkt enttäuscht darüber, dass ElbServer sich tatsächlich nicht wieder von selber in die Prozessliste gesetzt hat, wie man es von einem hartnäckigen Schadprogramm erwarten würde.
«Ich sage doch: Ist weg. Weil’s kein Verschwörungstrojaner ist. Ist nicht mal Malware. Die kann sich manchmal in solchen Dateien einnisten, aber dann hat der Rechner ganz andere Symptome.»
«Das kann nicht sein», sagt Jonas. «Die Gefahr ist nicht gebannt. Sie tarnt sich jetzt nur besser. So macht es der Amerikaner doch immer!»
Ich schüttele den Kopf.
Wulf setzt sich wieder in der Werkstatt an den großen Desktop-Rechner, den er gerade zusammenbaut. Früher nannte man uns Computerfritzen auch «Schrauber». Heute passt das nicht mehr so gut, denn es gibt kaum noch etwas zu schrauben. Der Verkauf klassischer Kästen und Türme geht zurück. Immer mehr Menschen nutzen wie Jonas einen Laptop als Hauptcomputer und das Tablet oder Smartphone als Zweitgerät. Die Tatsache, dass Wulf noch genug zu schrauben hat, liegt zum einen an ein paar wenigen Gamern, die Hochleistungstürme brauchen, um ihre Armeen bei World of Warcraft oder Battlefield zu befehligen, und zum anderen daran, dass wir hier genau inmitten der letzten Region leben, in der die Menschen noch «echte» Computer benutzen, weil das ländliche Westfalen dem Rest der Republik sowieso fünf bis zehn Jahre hinterherhinkt. Hier, wo mancher Schreibwarenhändler noch frisch verschweißte 3,5-Zoll-Disketten in der Büroabteilung hat und die Dorfvideothek noch ein Kontingent von 75 Leihfilmen auf VHS bereithält.
«Jonas, ich muss heute noch was anderes machen», sage ich und kehre hinter meinen Empfangstresen zurück. Unser Stammgast reibt sich an der Nase, hinter dem Ohr, am Hals.
«Gut», sagt er, «aber was ist mit listener.exe? Der Name sagt doch schon alles! Da tarnen die das Abhörprogramm ganz clever, indem sie mit dem Finger drauf zeigen, damit wir denken: Nein, eine Spionage-Software würde die Regierung niemals ganz offen unter dem Namen ‹Zuhörer› mitlaufen lassen.»
Ich hebe streng den Zeigefinger. Jetzt muss der väterliche Modus greifen, der meistens funktioniert, auch wenn Jonas nur zehn Jahre jünger ist als ich.
«Worauf haben wir uns geeinigt, Jonas?», sage ich.
Er lässt die Ohren hängen.
Es ist unglaublich, wie gut das funktioniert.
Einmal den alten Herrn in seinem Kopf aktiviert, reagiert er wie ein kleiner Junge. Es mag nicht fair sein, diese Schwäche bei ihm auszunutzen, aber irgendwann muss man auch mal zum Arbeiten kommen.
«Na?», ziehe ich es ihm aus der Nase. «Was haben wir gesagt?»
Jonas antwortet schmollend: «Nur eine Theorie pro Tag.»
Ich nicke gütlich und nehme den Deckel vom Haribo-Glas. Jonas steht auf und fischt sich sämtliche Himbeeren heraus. Das ist uns recht so, mit den Dingern können weder Wulf noch ich viel anfangen.
Jonas kaut, geht zum Glastisch zurück und klappt seinen Laptop zu.
Wulf sagt nebenan: «Oh.»
Das sagt er immer, wenn ihm eine dieser winzigen Schrauben heruntergefallen ist.
Und wie immer frage ich mich, ob «Oh!» als Wort zählt, und nehme den ersten To-do-Zettel zur Hand.
«Blau!», ruft Wulf aus der Werkstatt, doch ich höre es kaum. Also, ich höre es schon, aber ich ziehe keine Schlüsse aus dem Wort. Meine Gedanken kleben an der Frage, wie viele Stunden ich dem alten Grütering unterm Strich tatsächlich berechnen soll. Ganze drei Stunden habe ich gestern in seinem dunkel vertäfelten Heimbüro hinterm Holzmarkt verbracht. Zwanzig Minuten davon brauchte ich, um sein Computerproblem zu beheben. Der Rest war Small Talk über die Dorfgemeinschaft und den Fußballverein. Herr Grütering hat ein sehr einnehmendes Wesen.
Beate kommt mit dem Putzeimer aus der Werkstatt und geht quer durch den Empfang Richtung Tür. Unsere Toilette samt Waschbecken und Spüle befindet sich auf dem Flur. Im Flur selber stehen große Regale, in denen sich ausgemusterte Rechner und Laptops sammeln. Die Brüder Josip und Milan holen sie einmal im Monat ab und schlachten sie in einer Scheune ordnungsgemäß zwecks Kupferrecycling aus.
Unsere Firma belegt die ganze obere Etage dieses Hauses am Kreisverkehr. Unten betreibt Volker Claßen seine Druckerei für Flugblätter, Speisekarten, Serienpost oder Bücher in Kleinstauflage. Auch das lohnt sich noch auf dem Land, während der Städter sein Druckwerk längst im Internet bestellt.
Bevor Beate die Tür öffnet, um neues Putzwasser zu holen, zeigt sie Richtung Werkstatt zurück: «Hast du gehört? Wulf sagt, der Bildschirm ist schon wieder blau.»
Ich hebe den Kopf von Herrn Grüterings schwer kalkulierbarer Rechnung.
Beate ist die Reinigungskraft unserer kleinen beruflichen Männer-WG. Die Geduld in Person. Hier zu putzen ist wahrlich kein Spaß. Freie Flächen existieren im Grunde nicht. Deswegen putzt Beate vor allem jede Woche die Fenster. Wenn das Fenster klar ist, ist das Leben klar, sagt sie immer. Dann stimmt der Durchblick.
Unsere Küche, diesen Horror hinter der Tür neben meiner Theke im Foyer, muss sie nicht mehr putzen. Darauf haben wir uns geeinigt. Eigentlich war die Küche dafür gedacht, in ihr zu frühstücken oder gar Mittag zu essen und würdevoll am Tisch Pause zu machen. Mit Tellern, Messern, Gabeln und dem Blick auf das alte Wohnhaus am Ende des Rasens, dessen gusseisernes, verziertes Geländer am acht Meter langen Balkon so aussieht, als könne jeden Augenblick eine Baronin im wallenden Kleid hinaustreten und über ihre Ländereien blicken.
Das war der ursprüngliche Plan für die Küche. Das Ideal. In der Wirklichkeit muss jeder, der diese Tür öffnet, denken: Aha! Der Philipp und der Wulf glauben also, dass eine Küche nicht zum Kochen und Essen geschaffen wurde, sondern dafür, bis an die Decke mit alten Kartons vollgestellt zu werden. Mit Plastikkisten von IKEA. Mit Leergut. Brettern. Isomatten. Defekten Stehlampen. Abgelaufenen Lebensmitteln, leeren Bierkästen. Mit Spiegeln. Fahrradreifen. Teppichen.
Wer diese Tür öffnet, kommt zu der Überzeugung: Der Philipp und der Wulf, die wollen mit ihrer Küche überhaupt nicht glücklich sein, um 12 Uhr 30 wie die Spießer am Tisch sitzen und beim Essen die Baronin auf dem Balkon beobachten. Nein. Die wollen, dass man seinen Körper nur noch gerade so in den Raum hineinmanövrieren kann, dass man klettern und staksen und mit spitzem Finger tasten muss, bis einem die Bewegungen in dem Wimmelbild in Fleisch und Blut übergehen und man jeden Schritt dieser Besteigung bis ins Kleinste beherrscht.
Deswegen darf kein Kunde jemals diese Küche betreten und deswegen soll Beate darin erst wieder putzen, wenn wir sie richtig aufgeräumt haben. So lautete neulich die Vereinbarung. Vor rund vierzehn Monaten. Seither ist es hinter der Tür zur «Teeküche», wie wir sie liebevoll-nostalgisch nennen, nur noch schlimmer geworden.
Ich danke Beate für die Information darüber, was Wulf gerade macht, wuchte mich aus dem Schreibtischstuhl und gehe nach nebenan. Auf einem Tisch bearbeitet Wulf gerade einen großen, aufgemotzten Gamer-PC. Der Kunde ist kein Teenager, sondern 47 Jahre alt, ledig, Jurist. Wann immer er vom Gericht nach Hause kommt, taucht er ins Schlachtengetümmel ab, in dem er die Schurken einfach so erledigen darf und kein Schuldiger der eigenen Kanone entfliehen kann. Wulf darf also guten Gewissens schrauben, ohne die Schuld auf sich zu laden, die Sucht eines jungen Menschen zu fördern, der durch die ganze Zockerei seine Ausbildung vergeigt.
Neben dem Turm liegen die geöffneten Verpackungen der Komponenten. Wulf hat das Gerät mit der allerneuesten Hardware gefüllt, die es auf dem Markt der Sound- und Graphikkarten gibt. Ihn bei der Arbeit zu beobachten, ist beruhigend. Wenn Wulf klassisch schraubt, wirkt das wie eine Übung in Versenkung und Gleichmut. Das Buch Zen oder Die Kunst, ein Motorrad zu warten hätte auch Wulf oder Die Kunst, einen Computer zu warten heißen können.
Der andere Rechner, der auf dem Tisch unter der Dachschräge steht, macht uns allerdings schon seit Tagen Sorgen.
Wulf zieht am Pfirsich und sagt erneut: «Blau.»
Würden ganze Sätze CO2-Ausstoß verursachen, könnte er das Weltklima im Alleingang retten.
«Das gibt es doch nicht», sage ich.
Wulf kratzt sich hinterm Ohr.
Noch nie hat uns ein Computer so ratlos gemacht wie dieser wunderschöne Tower einer sehr solventen Kundin, den wir vor rund einem Jahr individuell für sie zusammengebaut haben. Schwarzes Gehäuse aus gebürstetem Stahl, verchromte Rollen, die Schrauben elegant versenkt. Ein Prachtstück. Doch jetzt friert jedes Mal das Betriebssystem ein und zeigt einen blauen Bildschirm mit traurigem Smiley, obwohl die Analyseprogramme, die wir bislang laufen ließen, behaupten, dass die Festplatte, physikalisch betrachtet, vollkommen in Ordnung sei.
Ich sage: «Gib ihm noch mal den Stick.»
Das klingt versaut, ich weiß. Analyseprogramme, die das Dateisystem auf einer Platte aufs Genaueste analysieren können, ohne dass dafür das Betriebssystem hochfahren muss, sind auf USB-Stäbchen gespeichert. Es gibt sehr viele davon. Noch haben wir nicht alle ausprobiert.
Wulf geht zu der winzigen Steckleiste, die er selbst gebastelt hat und in der sämtliche USB-Sticks mit den mächtigen Programmen stecken. Fein säuberlich nebeneinander, wie ein winziger Messerblock. Wir Computermänner können ordentlich sein. Wenn’s um Computer geht.
«Philipp!», ruft Beate aus dem Badezimmer. So nenne ich es, obwohl das für einen nicht beheizten, eiskalten Raum mit altem Linoleumfußboden in der Farbrichtung Nasenpopel-Gelbbraun natürlich ein Euphemismus ist.
Wulf zieht die Augenbrauen hoch. Er ahnt, was Beates Tonfall bedeutet. Jetzt gibt’s Ärger. Denn wie jeder weiß: Eine gute Putzfrau erkennt man daran, dass sie sich benimmt wie früher die eigene Mutter.
Ich gehe zum Bad.
Beate steht vor der Spüle und zeigt auf den Siphon.
Ich gucke.
Einst Stahl und Schraube, sieht man jetzt nur noch Krümel und Haar. Beate sagt: «Das musst du mir jetzt mal erklären, Philipp.»
Ich stülpe die Lippen vor und wechsle jede Sekunde das Standbein.
Beate sagt: «Nun?»
«Das war ein Kunde!»
«Ein Kunde?»
«Ja, auch Kunden dürfen hier aufs Klo.»
«Ein Kunde hat also seine ganzen Haare hier in eure Spüle gerieselt und noch eine alte Schale Haferflocken mit dicker Milch drübergeschüttet?»
«Du glaubst nicht, was wir hier erleben, Beate.»
«Ein Kunde kam, holte seinen reparierten Rechner, trug ihn ins Auto und dachte sich: Ach komm, gehe ich wieder rauf und rasiere mich mal heimlich in Philipp Spielbuschs Firmenbad? Ich habe ja sowieso meinen Kulturbeutel dabei?»
«Ich habe schon Männer am Waschbecken bei McDonald’s sich rasieren sehen.»
Beate schüttelt den Kopf und zieht sich mit angewidertem Blick gelbe Latexhandschuhe über.
Ich denke mir: Eigentlich müsste ich arbeiten.
Beate sagt: «Ich bin eine gütige Frau.»
Am Tresen klingelt das Telefon.
Gottlob. Dankbar eile ich zum Hörer.
«Philipp Spielbusch Computer, Spielbusch am Apparat, was kann ich für Sie tun?»
«Das Netz ist weg!»
Die Stimme poltert aus dem Hörer wie eine Gerölllawine im Sauerland. Sie gehört Dieter. Dieter ist ebenfalls Dauerkunde, wie Herr Grütering. Zwanzig Jahre jünger als der Brennholz-Mogul, aber dafür noch zwei Köpfe größer. Ein Riese mit dem Kopf eines Boxers und seltsam seitwärts flüchtenden Augen, die so weit auseinanderstehen wie bei einem Reptil. Er betreibt die unabhängige Autowerkstatt der Gegend. Wer wenig Geld hat, nur Gebrauchtwagen fährt und daher nicht zu einem Vertragshändler geht, bringt seinen Wagen zu Dieter. Dort wird er dann beschimpft und beleidigt, verspottet und aufgezogen. Wie damals auf dem Schulhof. Trotzdem geht jeder zu Dieter, diesem Golem, den man statt aus Lehm aus alten Motorteilen zusammengesetzt hat.
Wenn Leute mit ihren Autos zu ihm in die Werkstatt kommen, erwartet er von ihnen eine exakte Beschreibung der Fehler samt korrekt benannter Lokalisierung im Motor. Weiß ein Kunde nicht, was Nocken, Zylinder, Ventile oder Steuerketten überhaupt sind und wo sie sich befinden, können sie sich seiner Verachtung sicher sein. Er kann nicht begreifen, wie jemand ein Auto bewegen kann, «ohne auch nur das Geringste über diese geniale Maschine wissen zu wollen». Leider ist Dieter noch niemals auf die Idee gekommen, diese Ansprüche auf sich selbst und die geniale Maschine zu übertragen, die im Büro seiner Werkstatt steht und ein paar Billionen Berechnungen in der Minute anstellen kann.
«So eine Scheiße!», schimpft er wiederholt so laut, dass man es rauf bis nach Münster hören kann. «Das Netz ist weg!»
«Das Netz ist noch da», sage ich besänftigend, während ich mein Headset zurechtrücke, mit dem ich telefoniere, um die Hände frei zu haben, «es kommt nur nicht mehr bei dir an.»
«Was denken die sich eigentlich dabei? Hä? Wie stellen die sich das bitte schön vor?»
Das ist Dieters zweite Schwäche neben seiner Ungeduld mit der Kundschaft. Immer, wenn er sich aufregt, richtet er seine Wut gegen die. Wer genau die sind, kann er mir bis heute nicht erklären. Zumindest in dieser Hinsicht hat unser Verschwörungstheoretiker Jonas ihm etwas voraus. Dieter ist kein Rassist oder so was. Die sind nicht als Volksgruppe zu fassen. Auch nicht als Klasse, Berufsstand oder Institution. Die sind einfach alle, die Dieter aufhalten und «keine Ahnung» haben.
«Die haben doch keine Ahnung!», blafft Dieter dann auch in den Hörer, vorhersehbar wie der Laufweg einer Spielfigur in einem uralten Computerspiel.
«Keiner von denen weiß doch, wie es ist, eine Werkstatt zu leiten. Der Mittelstand wird immer nur ausgenommen! Bis Juni arbeite ich im Grunde vollständig für den deutschen Staat. Und ab Juni dann für Griechenland. Früher ist man im Juni nach Griechenland geflogen, um sich an den Strand zu legen. Heute fängt man ab Juni an, für die Griechen zu malochen. Und im Herbst dann für Spanien und Zypern. Im Grunde verdiene ich nur noch im Dezember!»
Dieter muss man bremsen. Maßlos schweift er stets ins Allgemeine ab.
Dieter hat Bluthochdruck. Dieter hat Rücken.
«Dieter!», unterbreche ich seine Tirade, «zieh den Stecker von der Fritz!Box ab und warte dreißig Sekunden.»
«Wieso dreißig?», fragt er.
«Dreißig ist besser als die fünfzehn Sekunden, die sonst immer empfohlen werden», sage ich. «Nur dann ist wirklich der ganze Reststrom aus der Box. Denk’s dir wie einen Motor, der erst mal abkühlen muss. Den packst du auch nicht sofort an, wenn der Kunde hundert Kilometer Anfahrt hatte.»
In jedem Gerät verbleibt nach der Trennung von der Stromquelle eine gewisse Menge Reststrom in Form von Spannung, die sich erst langsam abbaut. Nimmt man den Router vom Strom, ist es wichtig, dass die temporären Daten darin durch den Neustart auch tatsächlich verschwinden, damit die Box frisch und «leer» wieder hochfahren kann. Reststrom verhindert das. Die Spannung reicht aus, um das Kurzzeitgedächtnis des Geräts noch mindestens 15 Sekunden aktiv zu halten, bevor es wie gewünscht die Daten vergisst. Wer den Stecker vor lauter Ungeduld nach wenigen Sekunden wieder einsteckt, kann sich den Neustart auch gleich schenken.
Dieter grummelt und mosert, doch es klingt, als würde er unter den Schreibtisch kriechen. Etwas rumpelt, fällt um. Dieter stößt sich den Kopf, der nur noch einen gräulichen, kurzen Mönchshaarkranz hat.
«Mann!», poltert er dumpf unter dem Holz. Der Hörer liegt wohl noch oben auf dem Schreibtisch. Ich zähle mit. Dieter hat die Geduld für 18 Sekunden. Immerhin. Es rappelt. Es raschelt. Seine Stimme kehrt zurück in den Hörer.
«So, ganze 36 Sekunden! Jetzt zufrieden?»
«Ja, Dieter …», seufze ich.