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CHARLES: Jeder muss lernen, sich selbst zu verteidigen, allein.

Bernard-Marie Koltès »Quai West«

 

 

 

 

 

 

 

Ich stehe einfach nicht auf Dunkelheit. Das hat mit ner alten Geschichte zu tun, auf die ich nicht weiter eingehe. Ist halt so. Man muss nicht immer in allem rumbohren, ist meine Einstellung. Wenn ich könnte, würde ich der Sonne aber regelmäßig die Fresse polieren, wenn sie auf Untergang macht. Manchmal versuche ich das auch. Ich strecke meine Arme nach oben und drohe ihr. ›Ohne Scheiß‹, rufe ich der Sonne zu, balle die Fäuste, blinzle, ›reiß dich zusammen‹, hole zum Schwinger aus und streife ein, zwei Wolken. Die Wut danach ist so groß, dass mir übel wird. Ich kotz auf Sonnenuntergänge. Ich kotz auf alles.

 

»Hab sie gefickt«, rufe ich, »schöne Stöße.«

Die Jungs grölen. Milan hält die Hand auf. »Kohle her«, sagt er. Die andern protestieren.

»Kohle her«, brülle ich. Milan und ich teilen.

»Alter«, sagt Milan, »du bist definitiv der Beste.«

»Ich bin definitiv der Beste«, wiederhole ich und ziehe mein Shirt hoch, »aber die Kleine war auch nicht schlecht.«

Die andern schauen sich den Abdruck ihrer sauber nebeneinander geparkten Zähne an, den sie mir als Tattoo in Form einer Bisswunde oberhalb der rechten Brustwarze hinterlassen hat.

»Die beißt. Ohne Scheiß. Und wie. Die hat winzige Zähnchen, richtig kleine, und mit denen beißt sie sich durch«, grinse ich.

 

Jenny und die größten Titten der Schule. Schöne, runde. Solche, die nach oben schauen, zum Himmel oder was weiß ich. So kann Gott auch von dort aus gut sehen, was er da Schönes gemacht hat. Wenn sie ne Bluse trägt, spannt das total und klafft auf. Man sieht dann, welchen BH sie anhat. Mit rosa Spitze, Schleifchen und so. Alle Jungs holen sich einen auf sie runter. ALLE. Die Streber genauso wie die Schwänzer. Außer den Schwuchteln holt sich also die ganze Schule auf genau die Möpse einen runter, die ich heute Nachmittag so richtig schön durchgelutscht habe. Ohne Scheiß jetzt: Hätte die da

 

Wir gehen am Bauzaun entlang, ich trete Steinchen vor mir her und pfeife mein Siegerpfeifen. Die andern löchern mich mit Fragen Jennys Muschi betreffend. Ich pfeife weiter und zeige mit den Händen, was sich da alles so abgespielt hat. Außer Milan hat von denen noch keiner gefickt. Die sind so heiß drauf, ein paar nette Einzelheiten fürs Wichsen später aus mir rauszuquetschen, dass sie mir noch mehr Kohle geben wollen. Ich pfeife durch meine, bei den Zungen der Mädels sehr begehrte, Zahnlücke, halte die Hand auf und sage: »Also Jungs, dann passt mal auf …«

Halbe Stunde später sitzen Milan und ich am Fluss und trinken Bier. Ich hab zwei Runden ausgegeben, nachdem die andern ihre Ständer heimgetragen haben, bin ziemlich zufrieden und schaue aufs Wasser.

»Milan«, sage ich.

»Ja, mein Freund?«, sagt Milan.

»Milan«, sage ich, »schade, dass du keine Titten hast.«

Ich grinse und dann bekomm ich eine rein.

»Milan«, rufe ich und halte mir die Hände vors Gesicht, »ich würde dich voll ficken.«

Wir hauen uns ein bisschen, ich kriege seine Haare zu fassen, die für meinen Geschmack gut fünf Zentimeter zu lang sind, und drehe sein Gesicht zu mir.

»Soll ich dir die Zunge reinstecken, soll ich?«

Er boxt mir in den Bauch, aber ich hab ihn weiter an den Haaren. »Na, soll ich dir meine süße, kleine Zunge reinstecken? Vergiss nicht, wo die heute schon war.«

 

Milan ist vier Jahre älter als ich, schon zwanzig. ›Du Twen‹, sage ich und er ›Teenie‹, wenn wir uns auf die Eier gehen. Ein Jahr zurückgestuft worden ist er und anschließend zweimal sitzen geblieben. Aber nicht wegen Dummheit, sondern wegen Polen! Milan wollte nicht hierher und hat deswegen zwei Jahre lang kein Deutsch gesprochen. Obwohl er gekonnt hätte, weil seine Mutter Deutsche ist. Die hat ihm, schon als er ein winzig kleines Baby war, immer deutsche Lieder vorgesungen und so. Aber wenn ihn die Lehrer in der Schule aufgerufen haben, hat er auf Polnisch geantwortet. Einer, der bei ihm in der Klasse war, hat mir das erzählt, und dass die Lehrer das tierisch aufgeregt hat. Ich hab Milan total bewundert, weil er das jeden Tag wieder durchgezogen hat, ohne eine einzige Ausnahme. Willensstärke sagt man dazu, glaub ich. So hab ich das jedenfalls gesehen. Totalverweigerung haben die Lehrer es genannt. Irgendwann hat dann die Kunstlehrerin einen Nervenzusammenbruch wegen ihm gehabt. Die hat das persönlich genommen, dass Milan nur polnisch geredet hat. Das war so eine ganz junge, frisch von der Uni, ich hatte die auch. Schöne, mittelgroße Titten, aber kein Arsch. Ist in der sechsten Stunde kurz vor Schluss komplett ausgerastet und hat mit einem Malbrett so lange auf Milans Pult eingedroschen, bis das Brett Kleinholz war. Sie ist für vier Wochen in die Klapse gekommen und Milan auf die Hauptschule. Noch ein halbes Jahr später auf die Sonderschule. Irgendwann sind ihm die ganzen

 

Milan ist auf jeden Fall der Coolste von allen. Das weiß ich, das wissen die Jungs, und Milan weiß es auch. Aber er macht kein großes Ding draus. Er ist der Chef und hat immer das letzte Wort. So ist das. Und weil alle das akzeptieren, gibt’s nur selten Streit.

»Milan, mein Freund, du hast einfach ein Portiönchen mehr Oberstübchenmaterial als wir alle von oben mitbekommen.« Ich zupfe an seinem Shirt rum.

»Kann dir mein Oberstübchenmaterial direkt bestätigen«, antwortet Milan.

»Aber wie man mit den Jennys und dem dazugehörigen Bluseninventar umgeht, das weiß mein Boxershortsmaterial definitiv besser«, sage ich.

Milan zündet sich eine Zigarette an. Er inhaliert tief und schaut aufs Wasser. Es dauert eine Ewigkeit, bis er den Rauch wieder rauslässt. Dann sagt er: »Luis, mein Freund. Mein Schwanz ist ein Segen für die Menschheit, und ich muss mir seine Freundinnen sehr genau aussuchen.«

Wir trinken unser Bier aus. Ich schmeiße Steinchen ins Wasser und Milan raucht, macht Ringe, die an mir vorbeisegeln und dabei ihre Form verlieren, weitereiern

»Jungs«, rufe ich, »ihr Eier, jetzt macht’s mal gut.«

 

Auf dem Heimweg schlendere ich extra langsam, um noch so viel wie möglich vom Tageslicht abzubekommen. Ich laufe kleine Kurven, wie besoffen muss das aussehen. Aber ich hatte ja nur drei Bier, und drei Bier sind bei mir das Gleiche wie kein Bier. Ich könnte jetzt ohne Probleme nen Mathe-Test schreiben. Also, na ja. Theoretisch. Würde keinen Unterschied machen, ob ich blau wäre oder nicht. Weil Mathe ist mein Hirnleck. Da kommt die Info zwar im Oberstübchen an, verdampft aber sofort. Die Zahlen und die Kurven: nicht mein Ding. Also Kurven grundsätzlich schon, aber halt die Jenny-Kurven, logisch. Hochamtlicher Mathe-Nullblicker, das bin ich. Milan ist Mathe-Durchblicker und Mathe-Nebensitzer in einem. Also bin auch ich Mathe-Durchblicker in der Milan-Verlängerung durch Adlerblick. Capice?

Es dämmert stark, die Sonne kurz vorm Abgang. »Tschüss, du dumme Sau«, sage ich und biege um die Ecke, laufe über den Platz und lasse mich vom hell erleuchteten Flur unseres Blocks einsaugen.

 

 

 

 

Wir pfeifen eine Weile so rum bei uns im Flur, ein richtig kleines Konzert ist das, und ich merke, wie sich mein Bauch mit Wärme füllt, mehr und mehr, bis ich sage: »Ma, ohne Scheiß jetzt, wir kommen ins Fernsehen.«

Dann gibt’s ein bisschen Kleingeld, das Ma aus ihrem Geldbeutel direkt in meine Hand leert. Sie grinst mich an, sagt: »Kauf dir was Schönes zum Abendessen, Meise«, und zieht ihren Anorak über.

Ich zähle nach, stecke das Geld ein. »Alles klar, Täubchen.«

Sie hebt den Anorak hoch, sodass ich ihren immer noch prallen Hintern sehen kann, und öffnet die Tür.

»Bis später und vögel nicht wieder den ganzen Tag rum, du Vogel!«, sagt sie, ohne sich noch mal umzudrehen. Die Tür fällt krachend ins Schloss, und ich mache eine kleine Verbeugung. Diese Frau gilt es zu schlagen, Girls. Diese Frau, nur dass ihr’s wisst.

»Tschüss Ma«, sage ich schließlich, springe hoch und haue mit der flachen Hand an den Lampenschirm wie an einen Basketballkorb: versenkt! Hab ich mal in nem Film gesehen, fand’s ziemlich cool und mach es seitdem auch.

Aus dem Kühlschrank angele ich mir eine eingeschweißte Packung Mortadella, reiße sie mit den Zähnen auf und stecke mir drei Scheiben auf einmal in den Mund. Dann noch eine hinterher, bevor ich die Balkontür öffne und nach draußen trete. Fünfzehnter Stock, letzte Etage, weiter oben geht nicht: Die Stadt liegt mir zu Füßen. Als Kurzer hab ich unglaubliche Angst davor gehabt, da runterzuschauen. Hab mich am Geländer festgehalten und gemerkt, wie mein Atem schneller wurde, mein Herz zu rasen anfing. Höhenangst, die ich HA nenne, was glaubt ihr denn! Hab innerlich gezählt, mich getestet, wie lange ich es aushalte. Am Anfang war ich schlecht, bei zehn spätestens musste ich jedes Mal abbrechen und mit einem riesigen, nicht gerade eleganten Sprung in die Wohnung zurückhechten. Aber ich bin besser geworden! Hab jeden Tag trainiert, immer wenn ich alleine war, manchmal mehrere Stunden lang, sodass ich abends völlig erschöpft war und Ma sich wunderte.

»Was machst du den ganzen Tag, Luis?«

»Lernen«, antwortete ich, und sie pfiff und sagte: »Spaßvogel!«

 

»Das ist der Triumph«, sage ich laut. »Das ist der Triumph!«, brülle ich, und die Stadt unter mir zittert. Die Stadt, das Mädchen. Mein Mädchen. Ich bin der Trainer, und ich bin die Mannschaft. Das ist mein Motto. Wenn ich genug Kohle zusammen habe von den Fickwetten, lass ich mir den Satz auf den Rücken tätowieren. Natürlich auf Englisch. Über die Schultern, wie Flügel, so was in der Art.

Ich schicke eine Scheibe Mortadella über die Brüstung auf die Reise und johle ihr hinterher. Dann stecke ich mir die restlichen Scheiben alle auf einmal in den Mund. Ich kaue, ich lutsche, quetsche schöne Würmchen durch meine Lücke. »Ich hab Wurstbrei im Mund«, sage ich laut und muss lachen. »Ich hab Wurstbrei im Mund«, brülle ich, und es spritzt ordentlich. Ich breite die Arme aus: »Mein Mund hat einen Orgasmus, mein Mund kommt voll«, kreische ich der Stadt entgegen. Und sie antwortet mir wie immer: »Luis«, jault es aus den Motoren der Autos, »ich lieb dich auch!«

 

 

 

 

Ich jogge los, mache nen kleinen Umweg, weil ich Nutella noch besuchen will. Gehe nicht direkt die Hauptstraße runter, die erst am Netto vorbei und dann zur Esso führt. Unsere Esso ist das. Die Jungs und ich hängen da jeden Abend ab. Oder fast jeden. Das Bier kaufen wir aber nicht dort, sondern kurz vor Ladenschluss beim Netto. Ist doch viel zu teuer sonst. Nur ganz selten, wenn wir uns in der Menge verkalkuliert haben, legen wir für nen Sechser aus der Esso zusammen. Ist doof, aber kann passieren. Dann muss man ein finanzielles Opfer bringen. Denn: Der Alk geht über alles. Über Freundschaft würde ich jetzt nicht sagen, aber über Kurven zum Beispiel schon. Also beide, Jennys und die in Mathe. Erklär ich kurz: Auf Promille kann man bauen. Wenn man so und so viel Bier trinkt, kommt der und der Promille-Pegel dabei raus. Klare Sache. Jennys und Mathe sind krass unberechenbar. Die verlieben sich plötzlich in einen oder, wenn Milan mal krank ist,

 

Nutella steht am Zaun und frisst Gras. Nutella ist das Pony vom alten Jablonski. Der ist auch einer, der auf den Alk baut. Aber er hat daraus ›ne Lebensentscheidung gemacht‹, wie er immer sagt. Jablonski, der alte Saufsack. Repariert Karren zum kleinen Preis, wenn ihr wisst, was ich meine. Hat einen vergammelten Schuppen hinter der Hollinger-Siedlung stehen, und da stapeln sich seit Jahrzehnten die Keilriemen und Bremsklötze drin. Die Geschäfte laufen gut für Jablonski. Aus den Siedlungen geht eigentlich jeder zu ihm. Die haben ja alle dicke Autos. Die meisten arbeitslos, aber die Autos dicker, als meine Eier noch werden können. Keine Ahnung, wie die das machen. Obwohl, na klar weiß ich das, aber ich halt lieber die Fresse, was das angeht.

Zu Jablonskis Schuppen gehört ein kleines Grundstück, genauer gesagt eine Apfelbaumwiese. Zwischen der Hollinger- und der Uhland-Siedlung ist die. Ich stehe ja sonst eher auf Fleisch, aber Jablonski-Äpfel sind Legende. Die vom Baum verkauft er vorne im Schuppen, das Fallobst dürfen die Kinder aus den Siedlungen aufsammeln. Seit Jahrzehnten ist das so. Damit hat er uns alle zu großen, starken Männern gemacht, behauptet Jablonski immer, wenn die Jungs und ich ihn besuchen. Und zu Milan sagt er: ›Wärst du mal auch schon früher rüber‹, und lacht. Er schiebt dann meistens was auf Polnisch hinterher, aber Milan reagiert darauf nicht. Kein Wort Polnisch hat er mehr gesprochen seit der Sache mit

Die Apfelbaumwiese ist jedenfalls Nutellas Wohnung. Außer es hagelt oder schneit. Dann stellt Jablonski sie in seinen Schuppen und dort darf sie die Windschutzscheiben der Autos blank lecken, da steht Nutella drauf, und zwar tierisch. Aber eigentlich ist sie fast das ganze Jahr über draußen. Jablonski hat hier schon gewohnt, da gab es die Siedlungen noch gar nicht, die Hollinger nicht, die Uhland nicht und unsere natürlich auch nicht. Das Grundstück hat seinem Vater gehört oder seinem Opa. So genau weiß ich das nicht mehr und er wohl auch nicht. Der Schuppen hat für ihn einen ›symbolischen Wert‹ sagt er und grinst sein berühmtes Jablonski-Grinsen. Vater und Mutter Jablonski haben ihn da drin produziert. Damals wussten sie natürlich noch nicht, dass sie mal seine Eltern werden, haben aber im Schuppen, der zu der Zeit noch so was Ähnliches wie ein Gartenhäuschen und schön lauschig war, den Grundstein für diese Karriere gelegt. Wenn ihr wisst, was ich meine. Keine Ahnung, ob das stimmt und ob es wichtig ist, dass es stimmt. Jablonski grinst jedenfalls so, als ob es stimmt. Man sieht dann seinen schwarzen Schneidezahn, ziemlich eklig ist der. ›Geh doch mal zum Zahnarzt, Jablonski, und lass deine Ruine da abreißen‹, sage ich immer. Aber er schüttelt nur den Kopf. In dem Punkt ist er genauso verbohrt wie mit seinem Grundstück. Das gibt er einfach nicht her. Die haben schon alles versucht. Kohle ohne Ende geboten, anonyme Drohbriefe verschickt, die Wohnung in der Uhland haben sie

Nutella schnaubt ein bisschen. Ich beuge mich über den Zaun und streichele ihre Nase. Sie hat weiches, rötlich-braunes Fell. Keine Flecken oder so, komplett einfarbig. Ich gehe oft hier vorbei. Manchmal auch mit den Jungs, wenn uns die Esso anödet. Aber meistens alleine. Milan und die Jungs wissen nicht, dass Nutella und ich ein gutes Verhältnis haben. Müssen sie auch nicht. Dass man als Typ ein gutes Verhältnis zu einem Pony hat, kann ja auch schwul oder weicheimäßig rüberkommen. Nee, ohne mich. Ich streiche Nutella noch mal über die Mähne, nicke ihr zu und mache mich auf den Weg zum Netto.

 

Marco und ich erledigen den Einkauf. Milan und die Jungs stehen solange draußen und rauchen. Beim Reingehen höre ich Milan »Fresse« sagen, als einer der

 

»Schönen Abend noch, du Schimmel«, sage ich, als sie mir das Wechselgeld in die Hand schüttet, und sie zuckt vor Schreck zusammen. Das hab ich eigentlich gar nicht gewollt. Wenn ich nicht noch im Chef-Modus wäre, würde ich ihr jetzt zulächeln, das Luis-Spezial-Lächeln benutzen, das die Mädels immer direkt so zusammenfaltet, dass ich ihnen anschließend nur noch einen Zungenstups durch meine Lücke geben muss, damit sie die Kleider fallen lassen, als wären nie Knöpfe oder Reißverschlüsse dran gewesen.

Draußen steht Milan und schaut geradeaus. Ich folge seinem Blick, aber da ist nur das Schild, das die Spielstraße ankündigt, und dahinter ein Baum, der Grippe hat oder Pilz, ich hab vergessen, wie das heißt, wenn Bäume krank sind. Der einzige Baum hier in der Straße ist das. Vielleicht fühlt sich Milan deshalb zu ihm hingezogen. Die Jungs stehen im Halbkreis um ihn rum, auf jeder Seite zwei. Sie machen seinen Gesichtsausdruck nach und rauchen Selbstgedrehte. Also alles so wie es sein soll: vier leere Stuben und eine volle!

 

An der Esso lassen sich Milan und die Jungs auf die Bänke fallen. Ich hebe die Flaschen und Dosen einzeln aus den Tüten, und Marco stellt sie nebeneinander auf. Wir haben ein eigenes System, ›Raufdichten‹ genannt. 1. Bier, 2. Wodka-Red Bull, 3. Kurze. Wir arbeiten uns prozentemäßig hoch, Marco ist für’s Öffnen zuständig. Er reicht jedem von uns ein Bier, und wenn die leer sind, die zweite Runde, dann die dritte. Nach Stufe 1 gehen wir gemeinsam pissen, das ist immer so. Dazu marschieren wir den kleinen Weg durchs Gestrüpp hinter der Esso runter zum Fluss. Ist stimmungsvoller da. Die Bäume der Uferallee stehen in gleichmäßigen Abständen nebeneinander. Jeder hat seinen eigenen Baum, die Aufstellung ist immer gleich. Milan und ich jeweils außen, Marco und die Jungs dazwischen. Wer am längsten pisst, bekommt seinen Anteil vom Alkgeld zurück. Marco hat einen guten Strahl, Milan auch, aber in der Regel gewinne ich, weil ich mir die Pisse ab Nachmittag aufspare. Wenn wir uns am Abend treffen, ist meine Blase meistens schon so voll, dass ich mich bis zum dritten Bier extrem konzentrieren muss, damit ich mich nicht einpinkele. Das ist sehr, sehr schmerzhaft, und manchmal frage ich mich, wie lange ich das meinem Schwanz noch zumuten kann. Mein Schwanz ist ja mein Freund, mein Partner. Er holt mir die Kohle rein, egal ob jetzt am Baum, oder in den Mädchen drin.

Zurück auf den Bänken öffnet Marco die Red-Bulls und einer der Jungs die Wodkaflasche. Jeder bekommt eine Dose, und die Flasche wandert im Kreis. Als Marco mir eine Dose hinhält, winke ich ab. An manchen Tagen überspringe ich Stufe 2 und gehe gleich zu den Kurzen über. Ich schraube am Drehverschluss vom Korn, fasse die Flasche am Hals und setze an.

 

Was das Saufen angeht, haben wir ganz klar ein Ranking. Ich an der Spitze, logisch. Obwohl ein paar von den Jungs auch ganz gut was vertragen. Vor allem Marco, aber so richtig zählt der nicht, weil er fett ist. Da haben die Promille ja jede Menge Polster zum Sichreinlegen und Erstmalabhängen, bevor sie in die Blutbahn abwandern. Im Laufe des Abends kommen beim Marco jedenfalls ganz schön viele Kumpels auf seiner hauseigenen

»Das sind meine asiatischen Wurzeln«, sagt Milan.

»Eine Schande«, ich stampfe mit dem Fuß auf. »Wie war das noch mal?«

»Wie war was?«

»Das mit dem Schnaps!«

»Der gute Schnaps von Onkel Jaroslav«, sagen die Jungs im Chor.

»Genau, der gute Schnaps von Onkel Jaroslav im Keller deiner Eltern.« Ich stütze die Arme in die Seiten. »Der, der das Sperma schneller macht. Hat sich dein Vater nicht jede Nacht in den Keller geschleppt? Haben deine Eltern nicht jede Nacht hart an dir gearbeitet? Und jetzt das! Eine Schande.«

Milan hebt seine Hände in die Luft, zuckt die Schultern und schüttelt den Kopf. Ich baue mich vor ihm auf.

»Ich war ja nicht dabei«, sage ich, »aber vielleicht hat dein Vater auf dem Weg vom Keller ins Bett mal nen Zwischenstopp auf der Couch eingelegt, und als er morgens wieder aufgewacht ist, hat er sich gewundert, wo all die Glückskekse auf dem Küchentisch herkommen.«

Milan streicht sich über die Oberschenkel, er schaut an mir vorbei.

»China-Express?«, fragt Marco und balanciert dabei die Wodkaflasche auf seinem Knie.

»Jetzt wird mir alles klar!« Ich deute mit dem kleinen Finger seufzend auf Milans Schoß, halte ihn in die Luft und knicke die Fingerkuppe ein.

»Redest du von dem?«

Ich halte den Atem an, hab ihn schon tausendmal gesehen, aber immer der gleiche Effekt. Groß kann man den nicht nennen, seiner ist ein Riese. Unter mir knackt es. Es riecht nach Ameisenhaufen. »Du gehörst in den Wald, Milan«, sage ich.

Zwei Mädchen gehen an uns vorbei. Sie kichern, als sie Milans Schwanz sehen. Milan lächelt ihnen zu und schiebt ihn seelenruhig in den Schlitz seiner Jeans zurück. Der Geruch von süßem Parfüm steigt mir in die Nase. Kokos! Eins der Mädchen zwinkert mir zu. Sie hat langes hellblondes Haar. Aber gefärbt! Es leuchtet matt neben den krausen Locken der Freundin, die Tankstellenlichter sind wie Scheinwerfer drauf gerichtet, cool sieht das aus. Eine kleine Handtasche hängt über ihre Schulter, rosa und abgewetzt. Ich stelle mir die Schminksachen darin vor, den Lippenstift, den Eyeliner, das drei Hauttöne zu dunkle Make-up, Tampons, Kaugummis dazwischen, Kleingeld, eine Mini-Sprühflasche Deo. Da stehe ich tierisch drauf, auf den Inhalt von Mädchenhandtaschen. Keine Ahnung warum, aber ich bitte die Girls oft, ihre Taschen auszuleeren und auf dem Bett zu

»Jungs«, sage ich, ohne das Mädchen aus dem Blick zu lassen, greife in meine Hosentasche und ziehe einen Zwanziger raus. Ich halte ihn hinter mich in die Runde. Marco rülpst einmal laut und sammelt dann die Kohle ein.

 

Ihr Name ist Kelly.

»Kelly, echt?«, ich verdrehe die Augen: »Bist du ’n Ami, oder was?«

»Nee«, sie grinst und streichelt ihre nackten Arme.

Die Freundin will vor der Tür warten. Sie kichert: »Darf ich zuhören?«

Kelly zieht sich einen schwarzen Kaugummi aus dem Mund. »Klar«, sagt sie und hält ihn ihr hin.

»Was ’n?«

»Kannst kurz nehmen?«

»Ach so«, sagt die Freundin und sperrt den Mund weit auf. Die Kaugummikugel landet auf ihrer Zunge.

»Aber nachher will ich ihn wiederhaben. Klar?«

»Klar.« Die Freundin kaut mit offenem Mund.

Als wir die Tür hinter uns zuziehen, flüstert Kelly mir zu: »Die hat noch nie. Süß, oder? Die muss noch üben. Für ihr erstes Mal.«

»Tankstellenklo, bisschen assi, oder?« Ich setze mein charmantestes Lächeln auf.

»Wieso?«, sagt Kelly und guckt mich mit großen Augen an. Sie streckt mir die Zunge raus. Schwarz ist die.

Draußen das Kaugummischmatzen der Freundin, und

 

Die Jungs johlen, Marco flucht. Milan steht etwas abseits, raucht. Er lächelt zufrieden und nickt mir anerkennend zu. Ich erzähle, bis sich alle im Schritt rumdrücken, einer aufsteht und schnell Richtung Klo läuft.

»Jungs«, sage ich und lasse mich mit einem schweren Seufzer auf die Bank fallen, »das war’s mit Details. Bier her, schnell!«

Sie protestieren. Ich fuchtele mit der Hand in der Luft herum, schüttele den Kopf. »Ich bin zu erschöpft, und meine Lenden schmerzen von Herzen.« Ziehe den Edding aus meiner Hosentasche, beuge mich über die Bank und male mein Zeichen auf eine der Holzstreben: Das T trägt das M auf den Schultern. M für Mannschaft, T für Trainer. Hab ich mir ausgedacht, das kommt in die Mitte vom Tattoo.

Als ich fertig bin, strecke ich meine Hand Richtung Marco aus: »Bier her, Alter!«

Marco sieht mich entgeistert an. »Das geht nicht!«, sagt er.

»Was?«

»Das geht nicht, Luis.«

Ich lege meinen Kopf schief. »Wieso geht das nicht, Marco?«

Er verschränkt die Arme vor der Brust. »Du bist schon bei Stufe 3.«

Marco schaut erst zu Milan, dann zu den Jungs und wieder zu mir.