Für meine Freunde
CLAIRE: Wenn du weggehst, wie soll ich mich verteidigen, ich, ganz allein?
CHARLES: Jeder muss lernen, sich selbst zu verteidigen, allein.
Bernard-Marie Koltès »Quai West«
Es ist ganz einfach. Du brauchst einen Plan. Wenn du keinen Plan hast, geht alles den Bach runter. Das hab ich gelernt. Und wenn ich mal was gelernt habe, verlern ich es auch nicht wieder, ich bin ja nicht blöd. Wenn du nicht dumm sterben willst, musst du dir Sachen genau anschauen, sie üben, und zwar: bis du sie kannst. Das ist der Ablauf, und wenn du den nicht kapierst, dann wird das mit deinem Plan nix. Ich will nicht dumm sterben. Ich will auch nicht ZU klug sterben, was manchmal passieren kann, ich kenne Leute, denen das passiert ist, und das ist übel, könnt ihr mir glauben. Nur eins weiß ich, Leute: Dumm sterb ich auf keinen Fall.
Wenn die Sonne untergeht, kriege ich keine Luft mehr. Ich bin Sonnenuntergangsasthmatiker, wenn ihr wisst, was ich meine. Ich bekomme dann ein Flattern, so von innen heraus. Als würde ein Vogel in mir drin sitzen und mit den Flügeln schlagen, kurz vorm Abflug sein oder so. Nur kommt er nie los, hängt da fest in meinem Körper und flattert rum wie wild. Das tut ganz schön weh, er stößt ja überall in mir drin an. Voll blutig bin ich dann immer, wenn die Sonne hinterm Horizont verschwindet. Da sehen wir uns eigentlich ziemlich ähnlich, die untergehende Sonne und ich. Könnten Zwillinge sein.
Ich stehe einfach nicht auf Dunkelheit. Das hat mit ner alten Geschichte zu tun, auf die ich nicht weiter eingehe. Ist halt so. Man muss nicht immer in allem rumbohren, ist meine Einstellung. Wenn ich könnte, würde ich der Sonne aber regelmäßig die Fresse polieren, wenn sie auf Untergang macht. Manchmal versuche ich das auch. Ich strecke meine Arme nach oben und drohe ihr. ›Ohne Scheiß‹, rufe ich der Sonne zu, balle die Fäuste, blinzle, ›reiß dich zusammen‹, hole zum Schwinger aus und streife ein, zwei Wolken. Die Wut danach ist so groß, dass mir übel wird. Ich kotz auf Sonnenuntergänge. Ich kotz auf alles.
Die Jungs lehnen am Bauzaun. Ich gehe langsamer und setze mein geschmeidigstes Lächeln auf, öffne den Reißverschluss meiner Jacke, halte sie auf und lass den Wind rein, drehe ein, zwei Kurven.
»Hab sie gefickt«, rufe ich, »schöne Stöße.«
Die Jungs grölen. Milan hält die Hand auf. »Kohle her«, sagt er. Die andern protestieren.
»Kohle her«, brülle ich. Milan und ich teilen.
»Alter«, sagt Milan, »du bist definitiv der Beste.«
»Ich bin definitiv der Beste«, wiederhole ich und ziehe mein Shirt hoch, »aber die Kleine war auch nicht schlecht.«
Die andern schauen sich den Abdruck ihrer sauber nebeneinander geparkten Zähne an, den sie mir als Tattoo in Form einer Bisswunde oberhalb der rechten Brustwarze hinterlassen hat.
»Die beißt. Ohne Scheiß. Und wie. Die hat winzige Zähnchen, richtig kleine, und mit denen beißt sie sich durch«, grinse ich.
Jenny und die größten Titten der Schule. Schöne, runde. Solche, die nach oben schauen, zum Himmel oder was weiß ich. So kann Gott auch von dort aus gut sehen, was er da Schönes gemacht hat. Wenn sie ne Bluse trägt, spannt das total und klafft auf. Man sieht dann, welchen BH sie anhat. Mit rosa Spitze, Schleifchen und so. Alle Jungs holen sich einen auf sie runter. ALLE. Die Streber genauso wie die Schwänzer. Außer den Schwuchteln holt sich also die ganze Schule auf genau die Möpse einen runter, die ich heute Nachmittag so richtig schön durchgelutscht habe. Ohne Scheiß jetzt: Hätte die da Milch drin gehabt, wäre mein Kalziumbedarf für die nächsten drei Jahre gedeckt gewesen.
Wir gehen am Bauzaun entlang, ich trete Steinchen vor mir her und pfeife mein Siegerpfeifen. Die andern löchern mich mit Fragen Jennys Muschi betreffend. Ich pfeife weiter und zeige mit den Händen, was sich da alles so abgespielt hat. Außer Milan hat von denen noch keiner gefickt. Die sind so heiß drauf, ein paar nette Einzelheiten fürs Wichsen später aus mir rauszuquetschen, dass sie mir noch mehr Kohle geben wollen. Ich pfeife durch meine, bei den Zungen der Mädels sehr begehrte, Zahnlücke, halte die Hand auf und sage: »Also Jungs, dann passt mal auf …«
Halbe Stunde später sitzen Milan und ich am Fluss und trinken Bier. Ich hab zwei Runden ausgegeben, nachdem die andern ihre Ständer heimgetragen haben, bin ziemlich zufrieden und schaue aufs Wasser.
»Milan«, sage ich.
»Ja, mein Freund?«, sagt Milan.
»Milan«, sage ich, »schade, dass du keine Titten hast.«
Ich grinse und dann bekomm ich eine rein.
»Milan«, rufe ich und halte mir die Hände vors Gesicht, »ich würde dich voll ficken.«
Wir hauen uns ein bisschen, ich kriege seine Haare zu fassen, die für meinen Geschmack gut fünf Zentimeter zu lang sind, und drehe sein Gesicht zu mir.
»Soll ich dir die Zunge reinstecken, soll ich?«
Er boxt mir in den Bauch, aber ich hab ihn weiter an den Haaren. »Na, soll ich dir meine süße, kleine Zunge reinstecken? Vergiss nicht, wo die heute schon war.«
»Halt’s Maul, Alter«, und dann verpasst er mir noch eine.
Milan ist vier Jahre älter als ich, schon zwanzig. ›Du Twen‹, sage ich und er ›Teenie‹, wenn wir uns auf die Eier gehen. Ein Jahr zurückgestuft worden ist er und anschließend zweimal sitzen geblieben. Aber nicht wegen Dummheit, sondern wegen Polen! Milan wollte nicht hierher und hat deswegen zwei Jahre lang kein Deutsch gesprochen. Obwohl er gekonnt hätte, weil seine Mutter Deutsche ist. Die hat ihm, schon als er ein winzig kleines Baby war, immer deutsche Lieder vorgesungen und so. Aber wenn ihn die Lehrer in der Schule aufgerufen haben, hat er auf Polnisch geantwortet. Einer, der bei ihm in der Klasse war, hat mir das erzählt, und dass die Lehrer das tierisch aufgeregt hat. Ich hab Milan total bewundert, weil er das jeden Tag wieder durchgezogen hat, ohne eine einzige Ausnahme. Willensstärke sagt man dazu, glaub ich. So hab ich das jedenfalls gesehen. Totalverweigerung haben die Lehrer es genannt. Irgendwann hat dann die Kunstlehrerin einen Nervenzusammenbruch wegen ihm gehabt. Die hat das persönlich genommen, dass Milan nur polnisch geredet hat. Das war so eine ganz junge, frisch von der Uni, ich hatte die auch. Schöne, mittelgroße Titten, aber kein Arsch. Ist in der sechsten Stunde kurz vor Schluss komplett ausgerastet und hat mit einem Malbrett so lange auf Milans Pult eingedroschen, bis das Brett Kleinholz war. Sie ist für vier Wochen in die Klapse gekommen und Milan auf die Hauptschule. Noch ein halbes Jahr später auf die Sonderschule. Irgendwann sind ihm die ganzen Mongos dort aber so auf die Nerven gegangen, dass er aufgegeben hat. Und dann war er plötzlich wieder da, nur diesmal in meiner Klasse. Seitdem sitzt er neben mir und schreibt nur Einsen. In allen Fächern. Der könnte aufs Gymnasium, ohne Scheiß jetzt, will er aber nicht. Der hat sich nicht mal die zwei Klassen wieder hoch versetzen lassen. Wenn er was nicht will, hat sich die Sache. Basta.
Milan ist auf jeden Fall der Coolste von allen. Das weiß ich, das wissen die Jungs, und Milan weiß es auch. Aber er macht kein großes Ding draus. Er ist der Chef und hat immer das letzte Wort. So ist das. Und weil alle das akzeptieren, gibt’s nur selten Streit.
»Milan, mein Freund, du hast einfach ein Portiönchen mehr Oberstübchenmaterial als wir alle von oben mitbekommen.« Ich zupfe an seinem Shirt rum.
»Kann dir mein Oberstübchenmaterial direkt bestätigen«, antwortet Milan.
»Aber wie man mit den Jennys und dem dazugehörigen Bluseninventar umgeht, das weiß mein Boxershortsmaterial definitiv besser«, sage ich.
Milan zündet sich eine Zigarette an. Er inhaliert tief und schaut aufs Wasser. Es dauert eine Ewigkeit, bis er den Rauch wieder rauslässt. Dann sagt er: »Luis, mein Freund. Mein Schwanz ist ein Segen für die Menschheit, und ich muss mir seine Freundinnen sehr genau aussuchen.«
Wir trinken unser Bier aus. Ich schmeiße Steinchen ins Wasser und Milan raucht, macht Ringe, die an mir vorbeisegeln und dabei ihre Form verlieren, weitereiern auf ihrem kurzen Weg ins Nichts. Schön sieht das aus, ich winke ihnen hinterher.
»Jungs«, rufe ich, »ihr Eier, jetzt macht’s mal gut.«
Auf dem Heimweg schlendere ich extra langsam, um noch so viel wie möglich vom Tageslicht abzubekommen. Ich laufe kleine Kurven, wie besoffen muss das aussehen. Aber ich hatte ja nur drei Bier, und drei Bier sind bei mir das Gleiche wie kein Bier. Ich könnte jetzt ohne Probleme nen Mathe-Test schreiben. Also, na ja. Theoretisch. Würde keinen Unterschied machen, ob ich blau wäre oder nicht. Weil Mathe ist mein Hirnleck. Da kommt die Info zwar im Oberstübchen an, verdampft aber sofort. Die Zahlen und die Kurven: nicht mein Ding. Also Kurven grundsätzlich schon, aber halt die Jenny-Kurven, logisch. Hochamtlicher Mathe-Nullblicker, das bin ich. Milan ist Mathe-Durchblicker und Mathe-Nebensitzer in einem. Also bin auch ich Mathe-Durchblicker in der Milan-Verlängerung durch Adlerblick. Capice?
Es dämmert stark, die Sonne kurz vorm Abgang. »Tschüss, du dumme Sau«, sage ich und biege um die Ecke, laufe über den Platz und lasse mich vom hell erleuchteten Flur unseres Blocks einsaugen.
Meine Mutter sagt: »Du Spezialist kommst immer, wenn ich gehe!«, und pfeift durch ihre, bei den Zungen der Jungs vom Afro-Shop drei Häuser weiter, sehr beliebte Zahnlücke. Ich pfeife zurück, grinse, sage: »Netter Versuch, Ma, aber deinen Genen sei Dank hab ich auch so eine.«
Wir pfeifen eine Weile so rum bei uns im Flur, ein richtig kleines Konzert ist das, und ich merke, wie sich mein Bauch mit Wärme füllt, mehr und mehr, bis ich sage: »Ma, ohne Scheiß jetzt, wir kommen ins Fernsehen.«
Dann gibt’s ein bisschen Kleingeld, das Ma aus ihrem Geldbeutel direkt in meine Hand leert. Sie grinst mich an, sagt: »Kauf dir was Schönes zum Abendessen, Meise«, und zieht ihren Anorak über.
Ich zähle nach, stecke das Geld ein. »Alles klar, Täubchen.«
Sie hebt den Anorak hoch, sodass ich ihren immer noch prallen Hintern sehen kann, und öffnet die Tür.
»Bis später und vögel nicht wieder den ganzen Tag rum, du Vogel!«, sagt sie, ohne sich noch mal umzudrehen. Die Tür fällt krachend ins Schloss, und ich mache eine kleine Verbeugung. Diese Frau gilt es zu schlagen, Girls. Diese Frau, nur dass ihr’s wisst.
Ich halte mir den Bauch, bis die Wärme komplett raus ist, stehe regungslos im Flur und konzentriere mich auf den Wärmeverlust.
»Tschüss Ma«, sage ich schließlich, springe hoch und haue mit der flachen Hand an den Lampenschirm wie an einen Basketballkorb: versenkt! Hab ich mal in nem Film gesehen, fand’s ziemlich cool und mach es seitdem auch.
Aus dem Kühlschrank angele ich mir eine eingeschweißte Packung Mortadella, reiße sie mit den Zähnen auf und stecke mir drei Scheiben auf einmal in den Mund. Dann noch eine hinterher, bevor ich die Balkontür öffne und nach draußen trete. Fünfzehnter Stock, letzte Etage, weiter oben geht nicht: Die Stadt liegt mir zu Füßen. Als Kurzer hab ich unglaubliche Angst davor gehabt, da runterzuschauen. Hab mich am Geländer festgehalten und gemerkt, wie mein Atem schneller wurde, mein Herz zu rasen anfing. Höhenangst, die ich HA nenne, was glaubt ihr denn! Hab innerlich gezählt, mich getestet, wie lange ich es aushalte. Am Anfang war ich schlecht, bei zehn spätestens musste ich jedes Mal abbrechen und mit einem riesigen, nicht gerade eleganten Sprung in die Wohnung zurückhechten. Aber ich bin besser geworden! Hab jeden Tag trainiert, immer wenn ich alleine war, manchmal mehrere Stunden lang, sodass ich abends völlig erschöpft war und Ma sich wunderte.
»Was machst du den ganzen Tag, Luis?«
»Lernen«, antwortete ich, und sie pfiff und sagte: »Spaßvogel!«
Wie gesagt, mittlerweile bin ich Meister. Ich stehe da, einmal am Tag, und schaue über die Stadt. Das ist der beste Moment des Tages. Immer.
»Das ist der Triumph«, sage ich laut. »Das ist der Triumph!«, brülle ich, und die Stadt unter mir zittert. Die Stadt, das Mädchen. Mein Mädchen. Ich bin der Trainer, und ich bin die Mannschaft. Das ist mein Motto. Wenn ich genug Kohle zusammen habe von den Fickwetten, lass ich mir den Satz auf den Rücken tätowieren. Natürlich auf Englisch. Über die Schultern, wie Flügel, so was in der Art.
Ich schicke eine Scheibe Mortadella über die Brüstung auf die Reise und johle ihr hinterher. Dann stecke ich mir die restlichen Scheiben alle auf einmal in den Mund. Ich kaue, ich lutsche, quetsche schöne Würmchen durch meine Lücke. »Ich hab Wurstbrei im Mund«, sage ich laut und muss lachen. »Ich hab Wurstbrei im Mund«, brülle ich, und es spritzt ordentlich. Ich breite die Arme aus: »Mein Mund hat einen Orgasmus, mein Mund kommt voll«, kreische ich der Stadt entgegen. Und sie antwortet mir wie immer: »Luis«, jault es aus den Motoren der Autos, »ich lieb dich auch!«
Am Wochenende ist Saufen. Immer. Milan sagt ›ERSAUFEN‹ dazu und lächelt dabei gnädig. Wenn wir alle Biere, alle Schnäpse zusammenkippen würden, gäbe das einen schönen See. An vier Wochenenden würden wir es gemeinsam bestimmt auf ein Babybecken bringen.
Ich jogge los, mache nen kleinen Umweg, weil ich Nutella noch besuchen will. Gehe nicht direkt die Hauptstraße runter, die erst am Netto vorbei und dann zur Esso führt. Unsere Esso ist das. Die Jungs und ich hängen da jeden Abend ab. Oder fast jeden. Das Bier kaufen wir aber nicht dort, sondern kurz vor Ladenschluss beim Netto. Ist doch viel zu teuer sonst. Nur ganz selten, wenn wir uns in der Menge verkalkuliert haben, legen wir für nen Sechser aus der Esso zusammen. Ist doof, aber kann passieren. Dann muss man ein finanzielles Opfer bringen. Denn: Der Alk geht über alles. Über Freundschaft würde ich jetzt nicht sagen, aber über Kurven zum Beispiel schon. Also beide, Jennys und die in Mathe. Erklär ich kurz: Auf Promille kann man bauen. Wenn man so und so viel Bier trinkt, kommt der und der Promille-Pegel dabei raus. Klare Sache. Jennys und Mathe sind krass unberechenbar. Die verlieben sich plötzlich in einen oder, wenn Milan mal krank ist, führen zu Sechsern unterm Test und Versetzungsgefahr. Und irgendwas braucht man halt, worauf man bauen kann. So generell.
Nutella steht am Zaun und frisst Gras. Nutella ist das Pony vom alten Jablonski. Der ist auch einer, der auf den Alk baut. Aber er hat daraus ›ne Lebensentscheidung gemacht‹, wie er immer sagt. Jablonski, der alte Saufsack. Repariert Karren zum kleinen Preis, wenn ihr wisst, was ich meine. Hat einen vergammelten Schuppen hinter der Hollinger-Siedlung stehen, und da stapeln sich seit Jahrzehnten die Keilriemen und Bremsklötze drin. Die Geschäfte laufen gut für Jablonski. Aus den Siedlungen geht eigentlich jeder zu ihm. Die haben ja alle dicke Autos. Die meisten arbeitslos, aber die Autos dicker, als meine Eier noch werden können. Keine Ahnung, wie die das machen. Obwohl, na klar weiß ich das, aber ich halt lieber die Fresse, was das angeht.
Zu Jablonskis Schuppen gehört ein kleines Grundstück, genauer gesagt eine Apfelbaumwiese. Zwischen der Hollinger- und der Uhland-Siedlung ist die. Ich stehe ja sonst eher auf Fleisch, aber Jablonski-Äpfel sind Legende. Die vom Baum verkauft er vorne im Schuppen, das Fallobst dürfen die Kinder aus den Siedlungen aufsammeln. Seit Jahrzehnten ist das so. Damit hat er uns alle zu großen, starken Männern gemacht, behauptet Jablonski immer, wenn die Jungs und ich ihn besuchen. Und zu Milan sagt er: ›Wärst du mal auch schon früher rüber‹, und lacht. Er schiebt dann meistens was auf Polnisch hinterher, aber Milan reagiert darauf nicht. Kein Wort Polnisch hat er mehr gesprochen seit der Sache mit der Sonderschule, seit er aufgegeben hat. Jablonski probiert es seit Jahren, aber nix zu machen. Das hat mit seinem EPIDSP zu tun. Was das ist, erkläre ich später.
Die Apfelbaumwiese ist jedenfalls Nutellas Wohnung. Außer es hagelt oder schneit. Dann stellt Jablonski sie in seinen Schuppen und dort darf sie die Windschutzscheiben der Autos blank lecken, da steht Nutella drauf, und zwar tierisch. Aber eigentlich ist sie fast das ganze Jahr über draußen. Jablonski hat hier schon gewohnt, da gab es die Siedlungen noch gar nicht, die Hollinger nicht, die Uhland nicht und unsere natürlich auch nicht. Das Grundstück hat seinem Vater gehört oder seinem Opa. So genau weiß ich das nicht mehr und er wohl auch nicht. Der Schuppen hat für ihn einen ›symbolischen Wert‹ sagt er und grinst sein berühmtes Jablonski-Grinsen. Vater und Mutter Jablonski haben ihn da drin produziert. Damals wussten sie natürlich noch nicht, dass sie mal seine Eltern werden, haben aber im Schuppen, der zu der Zeit noch so was Ähnliches wie ein Gartenhäuschen und schön lauschig war, den Grundstein für diese Karriere gelegt. Wenn ihr wisst, was ich meine. Keine Ahnung, ob das stimmt und ob es wichtig ist, dass es stimmt. Jablonski grinst jedenfalls so, als ob es stimmt. Man sieht dann seinen schwarzen Schneidezahn, ziemlich eklig ist der. ›Geh doch mal zum Zahnarzt, Jablonski, und lass deine Ruine da abreißen‹, sage ich immer. Aber er schüttelt nur den Kopf. In dem Punkt ist er genauso verbohrt wie mit seinem Grundstück. Das gibt er einfach nicht her. Die haben schon alles versucht. Kohle ohne Ende geboten, anonyme Drohbriefe verschickt, die Wohnung in der Uhland haben sie ihm gekündigt, und einmal, vor einem Jahr war das, da haben sie ihn zusammengeschlagen. Der alte Jablonski ist damals gegen zwei Uhr nachts aus dem Haltepunkt rausgewankt. Der Haltepunkt ist die gammlige Kneipe am Eingang zur Hollinger. Ist sein Stammschuppen, die schrumplige Elli hinterm Tresen seine Braut. Jedenfalls ist er in dieser Nacht aus dem Haltepunkt rausgewankt und hat sich auf den Heimweg gemacht. Am Eingang zur Wiese haben sie ihn sich dann geschnappt. Vier Rippenbrüche, Nase zerschmettert, Leber gequetscht. Wochenlang lag der im Krankenhaus. Ich bin mit den Jungs hin, aber da hat er schon wieder sein Jablonski-Grinsen draufgehabt. Kurz darauf wurde sein Schneidezahn schwarz. Aber er ist trotzdem geblieben, er hat nicht verkauft, und den Zahn hat er sich ›als Andenken‹ stehen lassen. So ist er halt, stur wie Sau.
Nutella schnaubt ein bisschen. Ich beuge mich über den Zaun und streichele ihre Nase. Sie hat weiches, rötlich-braunes Fell. Keine Flecken oder so, komplett einfarbig. Ich gehe oft hier vorbei. Manchmal auch mit den Jungs, wenn uns die Esso anödet. Aber meistens alleine. Milan und die Jungs wissen nicht, dass Nutella und ich ein gutes Verhältnis haben. Müssen sie auch nicht. Dass man als Typ ein gutes Verhältnis zu einem Pony hat, kann ja auch schwul oder weicheimäßig rüberkommen. Nee, ohne mich. Ich streiche Nutella noch mal über die Mähne, nicke ihr zu und mache mich auf den Weg zum Netto.
Marco und ich erledigen den Einkauf. Milan und die Jungs stehen solange draußen und rauchen. Beim Reingehen höre ich Milan »Fresse« sagen, als einer der Jungs mit ner Story anfängt, und weiß sofort: Heute ist Milans Ruhetag. Auch das wegen dem EPIDSP, wie gesagt: kommt später. Marco schiebt den Einkaufswagen, und ich lade ein. Vier Sixpacks, sieben Dosen Red Bull, eine Flasche Wodka, eine Korn. Marco will Chips, aber ich schicke ein gepfiffenes ›Nein‹ durch meine Lücke, und er legt die Tüte zurück ins Regal. Wenn Milan nicht dabei ist, teste ich manchmal meine Chef-Qualitäten aus, man weiß ja nie. Manchmal müssen Leute ins Krankenhaus oder auf Beerdigungen. Das sind Termine, die man nicht verschieben kann und auch nicht absagen. Selbst Milan nicht. Wenn seine Oma in Polen abtritt zum Beispiel, fährt er logischerweise da hin. Dann braucht er Vertretung. Die bin, dreimal dürft ihr raten: Die bin ich! Und darauf will ich gut vorbereitet sein. Es geht dann darum, dass ich die Jungs so schnell wie möglich unter Kontrolle kriege, damit kein Chaos ausbricht, keiner von denen auf dumme Gedanken kommt. Generell ist es wichtig, dass die Jungs nicht selber denken. Das hat Milan mir beigebracht, hat mir von Anfang an eingetrichtert, wie wichtig es ist, dass die Angestellten niemals eigenes Denken entwickeln, weil das zu eigenen Entscheidungen führt. ›Und die kann keiner gebrauchen.‹ Sagt Milan. Und ich stimme ihm zu, wie ich ihm immer zustimme, und schaue auf seine Stirn, hinter der sich seine perfekt ausgestattete Oberstube befindet, auf die auch ich mich verlassen kann, wenn ich mal nicht weiterweiß. Wäre ich ein Sessel, richtig aus Leder und so, ich würde gern in Milans Stube stehen und nirgends sonst.
Schlange, weil Feierabend. Marco macht den Weg frei, schiebt die Leute einen nach dem anderen zur Seite. Die Kassenlady ist erstens zu alt und zweitens zu schlecht gefärbt für ne Anmache. Sie schaut mich aus trüben Augen an, und ich überlege, wie sie wohl ausgesehen hat, als sie in meinem Alter war. Aber ich kann mir das einfach nicht vorstellen. Leute um die fünfzig finde ich widerlich. Mitte ist scheiße. Ich steh drauf, wenn’s extrem ist. Entweder richtig jung sein oder richtig alt, richtig frisches Gemüse oder richtig durchgefaultes. Dieses Rumgeschimmele von den Fünfzigjährigen hält doch kein Schwein aus.
»Schönen Abend noch, du Schimmel«, sage ich, als sie mir das Wechselgeld in die Hand schüttet, und sie zuckt vor Schreck zusammen. Das hab ich eigentlich gar nicht gewollt. Wenn ich nicht noch im Chef-Modus wäre, würde ich ihr jetzt zulächeln, das Luis-Spezial-Lächeln benutzen, das die Mädels immer direkt so zusammenfaltet, dass ich ihnen anschließend nur noch einen Zungenstups durch meine Lücke geben muss, damit sie die Kleider fallen lassen, als wären nie Knöpfe oder Reißverschlüsse dran gewesen.
Draußen steht Milan und schaut geradeaus. Ich folge seinem Blick, aber da ist nur das Schild, das die Spielstraße ankündigt, und dahinter ein Baum, der Grippe hat oder Pilz, ich hab vergessen, wie das heißt, wenn Bäume krank sind. Der einzige Baum hier in der Straße ist das. Vielleicht fühlt sich Milan deshalb zu ihm hingezogen. Die Jungs stehen im Halbkreis um ihn rum, auf jeder Seite zwei. Sie machen seinen Gesichtsausdruck nach und rauchen Selbstgedrehte. Also alles so wie es sein soll: vier leere Stuben und eine volle!
Ich pfeife einmal kurz, und Milans Blick schwenkt vom Baum auf mich. Ich lächle und halte eine Plastiktüte hoch. Milan nickt langsam. »Los«, sagt er, und wir setzen uns in Bewegung.
An der Esso lassen sich Milan und die Jungs auf die Bänke fallen. Ich hebe die Flaschen und Dosen einzeln aus den Tüten, und Marco stellt sie nebeneinander auf. Wir haben ein eigenes System, ›Raufdichten‹ genannt. 1. Bier, 2. Wodka-Red Bull, 3. Kurze. Wir arbeiten uns prozentemäßig hoch, Marco ist für’s Öffnen zuständig. Er reicht jedem von uns ein Bier, und wenn die leer sind, die zweite Runde, dann die dritte. Nach Stufe 1 gehen wir gemeinsam pissen, das ist immer so. Dazu marschieren wir den kleinen Weg durchs Gestrüpp hinter der Esso runter zum Fluss. Ist stimmungsvoller da. Die Bäume der Uferallee stehen in gleichmäßigen Abständen nebeneinander. Jeder hat seinen eigenen Baum, die Aufstellung ist immer gleich. Milan und ich jeweils außen, Marco und die Jungs dazwischen. Wer am längsten pisst, bekommt seinen Anteil vom Alkgeld zurück. Marco hat einen guten Strahl, Milan auch, aber in der Regel gewinne ich, weil ich mir die Pisse ab Nachmittag aufspare. Wenn wir uns am Abend treffen, ist meine Blase meistens schon so voll, dass ich mich bis zum dritten Bier extrem konzentrieren muss, damit ich mich nicht einpinkele. Das ist sehr, sehr schmerzhaft, und manchmal frage ich mich, wie lange ich das meinem Schwanz noch zumuten kann. Mein Schwanz ist ja mein Freund, mein Partner. Er holt mir die Kohle rein, egal ob jetzt am Baum, oder in den Mädchen drin. Mein liebster, größter, steilster Schwanz, auf den ich bauen kann, der mich nie im Stich lässt. Okay, einmal, aber das war sein erster Einsatz überhaupt. Manchmal schmiere ich ihn zur Belohnung mit Mas Gesichtscreme ein, die nach irgendeiner Blume riecht, keine Ahnung, welche das ist. Die Girls lieben die Creme jedenfalls und schlecken sie von ihm ab, als wäre er aus Schoko. Und trotzdem, der Trick mit dem Pissesparen ist eine Qual für ihn. Wenn wir aber wie jetzt mit blanken Ärschen in einer Reihe jeder an unserem Baum stehen, Milan laut zählt ›EINS, ZWO, GO!‹, und ich meine Pisse hart wie eine Axt in den Baum schlage, weiß ich, unsere Arbeit, die von meinem Schwanz und mir, hat sich gelohnt: Mit diesem Strahl könnten wir in ner Autowaschanlage arbeiten!
Zurück auf den Bänken öffnet Marco die Red-Bulls und einer der Jungs die Wodkaflasche. Jeder bekommt eine Dose, und die Flasche wandert im Kreis. Als Marco mir eine Dose hinhält, winke ich ab. An manchen Tagen überspringe ich Stufe 2 und gehe gleich zu den Kurzen über. Ich schraube am Drehverschluss vom Korn, fasse die Flasche am Hals und setze an.
Was das Saufen angeht, haben wir ganz klar ein Ranking. Ich an der Spitze, logisch. Obwohl ein paar von den Jungs auch ganz gut was vertragen. Vor allem Marco, aber so richtig zählt der nicht, weil er fett ist. Da haben die Promille ja jede Menge Polster zum Sichreinlegen und Erstmalabhängen, bevor sie in die Blutbahn abwandern. Im Laufe des Abends kommen beim Marco jedenfalls ganz schön viele Kumpels auf seiner hauseigenen Fettcouchgarnitur zusammen. Bei Milan aber ist nach drei Bier Schluss, Schnäpse gehen gar nicht, da geht er gleich zum Klo.
»Das sind meine asiatischen Wurzeln«, sagt Milan.
»Eine Schande«, ich stampfe mit dem Fuß auf. »Wie war das noch mal?«
»Wie war was?«
»Das mit dem Schnaps!«
»Der gute Schnaps von Onkel Jaroslav«, sagen die Jungs im Chor.
»Genau, der gute Schnaps von Onkel Jaroslav im Keller deiner Eltern.« Ich stütze die Arme in die Seiten. »Der, der das Sperma schneller macht. Hat sich dein Vater nicht jede Nacht in den Keller geschleppt? Haben deine Eltern nicht jede Nacht hart an dir gearbeitet? Und jetzt das! Eine Schande.«
Milan hebt seine Hände in die Luft, zuckt die Schultern und schüttelt den Kopf. Ich baue mich vor ihm auf.
»Ich war ja nicht dabei«, sage ich, »aber vielleicht hat dein Vater auf dem Weg vom Keller ins Bett mal nen Zwischenstopp auf der Couch eingelegt, und als er morgens wieder aufgewacht ist, hat er sich gewundert, wo all die Glückskekse auf dem Küchentisch herkommen.«
Milan streicht sich über die Oberschenkel, er schaut an mir vorbei.
»China-Express?«, fragt Marco und balanciert dabei die Wodkaflasche auf seinem Knie.
»Jetzt wird mir alles klar!« Ich deute mit dem kleinen Finger seufzend auf Milans Schoß, halte ihn in die Luft und knicke die Fingerkuppe ein.
Milan schaut mich an. Unter seinen Augen dunkle Schatten, wie hingemalt sehen die aus. Er greift hinter sein Ohr, schnappt sich die Vorgedrehte, die da wie immer steckt, zündet sie an, zieht einmal, stößt den Rauch aus, zieht noch mal und lässt mich dabei nicht aus den Augen. Dann öffnet er mit der rechten Hand seine Hose, zieht den Reißverschluss auf und holt mit einer unglaublich lässigen Bewegung seinen Schwanz raus.
»Redest du von dem?«
Ich halte den Atem an, hab ihn schon tausendmal gesehen, aber immer der gleiche Effekt. Groß kann man den nicht nennen, seiner ist ein Riese. Unter mir knackt es. Es riecht nach Ameisenhaufen. »Du gehörst in den Wald, Milan«, sage ich.
Zwei Mädchen gehen an uns vorbei. Sie kichern, als sie Milans Schwanz sehen. Milan lächelt ihnen zu und schiebt ihn seelenruhig in den Schlitz seiner Jeans zurück. Der Geruch von süßem Parfüm steigt mir in die Nase. Kokos! Eins der Mädchen zwinkert mir zu. Sie hat langes hellblondes Haar. Aber gefärbt! Es leuchtet matt neben den krausen Locken der Freundin, die Tankstellenlichter sind wie Scheinwerfer drauf gerichtet, cool sieht das aus. Eine kleine Handtasche hängt über ihre Schulter, rosa und abgewetzt. Ich stelle mir die Schminksachen darin vor, den Lippenstift, den Eyeliner, das drei Hauttöne zu dunkle Make-up, Tampons, Kaugummis dazwischen, Kleingeld, eine Mini-Sprühflasche Deo. Da stehe ich tierisch drauf, auf den Inhalt von Mädchenhandtaschen. Keine Ahnung warum, aber ich bitte die Girls oft, ihre Taschen auszuleeren und auf dem Bett zu verstreuen, bevor ich sie flachlege. Ich lächle zurück, und sie erwidert es, hält meinem Blick stand. Ich wusste es! Eine von denen: eine Gute.
»Jungs«, sage ich, ohne das Mädchen aus dem Blick zu lassen, greife in meine Hosentasche und ziehe einen Zwanziger raus. Ich halte ihn hinter mich in die Runde. Marco rülpst einmal laut und sammelt dann die Kohle ein.
Ihr Name ist Kelly.
»Kelly, echt?«, ich verdrehe die Augen: »Bist du ’n Ami, oder was?«
»Nee«, sie grinst und streichelt ihre nackten Arme.
Die Freundin will vor der Tür warten. Sie kichert: »Darf ich zuhören?«
Kelly zieht sich einen schwarzen Kaugummi aus dem Mund. »Klar«, sagt sie und hält ihn ihr hin.
»Was ’n?«
»Kannst kurz nehmen?«
»Ach so«, sagt die Freundin und sperrt den Mund weit auf. Die Kaugummikugel landet auf ihrer Zunge.
»Aber nachher will ich ihn wiederhaben. Klar?«
»Klar.« Die Freundin kaut mit offenem Mund.
Als wir die Tür hinter uns zuziehen, flüstert Kelly mir zu: »Die hat noch nie. Süß, oder? Die muss noch üben. Für ihr erstes Mal.«
»Tankstellenklo, bisschen assi, oder?« Ich setze mein charmantestes Lächeln auf.
»Wieso?«, sagt Kelly und guckt mich mit großen Augen an. Sie streckt mir die Zunge raus. Schwarz ist die.
Draußen das Kaugummischmatzen der Freundin, und Kelly streichelt meinen Schwanz, als wäre er ein kleines Meerschweinchen. Sie schaut hoch und lacht: Ihr ganzer Mund ist schwarz. Ich beuge mich vor, stecke meine harte Zunge da hinein. Und was dann passiert, kann sich jeder denken. Beziehungsweise: ist der Knaller.
Die Jungs johlen, Marco flucht. Milan steht etwas abseits, raucht. Er lächelt zufrieden und nickt mir anerkennend zu. Ich erzähle, bis sich alle im Schritt rumdrücken, einer aufsteht und schnell Richtung Klo läuft.
»Jungs«, sage ich und lasse mich mit einem schweren Seufzer auf die Bank fallen, »das war’s mit Details. Bier her, schnell!«
Sie protestieren. Ich fuchtele mit der Hand in der Luft herum, schüttele den Kopf. »Ich bin zu erschöpft, und meine Lenden schmerzen von Herzen.« Ziehe den Edding aus meiner Hosentasche, beuge mich über die Bank und male mein Zeichen auf eine der Holzstreben: Das T trägt das M auf den Schultern. M für Mannschaft, T für Trainer. Hab ich mir ausgedacht, das kommt in die Mitte vom Tattoo.
Als ich fertig bin, strecke ich meine Hand Richtung Marco aus: »Bier her, Alter!«
Marco sieht mich entgeistert an. »Das geht nicht!«, sagt er.
»Was?«
»Das geht nicht, Luis.«
Ich lege meinen Kopf schief. »Wieso geht das nicht, Marco?«
Er verschränkt die Arme vor der Brust. »Du bist schon bei Stufe 3.«
Ich glotze ihn an. »Ja, und?«
Marco schaut erst zu Milan, dann zu den Jungs und wieder zu mir.