C. Bernd Sucher
Suchers Welt:
LITERATUR
49 leidenschaftliche Empfehlungen
Knaur e-books
C. Bernd Sucher ist seit 1996 Professor an der Hochschule für Fernsehen und Film in München und leitet an der Theaterakademie August Everding den Ergänzungsstudiengang Theater-, Film- und Fernsehkritik. Er ist PEN-Mitglied und hat zahlreiche Bücher verfasst. Mit seiner Veranstaltungsreihe Suchers Leidenschaften begeistert er seit fast 20 Jahren das kulturinteressierte Publikum in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Zuletzt erschienen: Suchers Welt: Musik, Suchers Welt: Film undSuchers Welt: Theater.
© 2018 der eBook-Ausgabe Droemer eBook
© 2018 Droemer Verlag
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Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
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ISBN 978-3-426-45069-7
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Für A.
»Ja! eine Sonne ist der Mensch, allsehend,
allverklärend, wenn er liebt,
und liebt er nicht, so ist er eine dunkle Wohnung,
wo ein rauchend Lämpchen brennt.«
Friedrich Hölderlin
Hyperion
Leidenschaftliche Literaturempfehlungen von Homer bis Houellebecq, von Dante Alighieri bis Nádas: Epen, Romane, Gedichte, Erzählungen, Lebensberichte, Essays, ein Manierenbuch. Sogar Goethe ist vertreten, den ich als Dramatiker weniger schätze; als Erzähler ist er indes famos. Bücher, Texte, die meine Welt verändert haben.
Als Kind war ich kein begeisterter Leser; ich liebte es, wenn meine Mutter mir vorlas – immer dieselben Geschichten. Sie musste sich aber, damit ich zufrieden war, jedes Mal Varianten einfallen lassen, also etwas falsch machen, damit ich sie verbessern konnte. Schon als Vierjähriger kritisierte ich am liebsten, meine Berufswahl war wohl ein genetischer Defekt. Die Leseleidenschaft begann erst nach der Musikleidenschaft, also mit Beginn meines Studiums der Germanistik und Romanistik. Diese Fächerwahl bestimmt bis heute meine Lektüre: Ich mag die Franzosen. Später, als ich als Gastdozent am Moskauer Gitis-Institut, einer Theaterakademie, lehrte und einmal monatlich eine Woche in der Stadt lebte, in einer gemieteten Wohnung, lernte ich die Russen lieben: Bulgakow, Nabokov, Tolstoi. Tschechow, den Dramatiker, schätzte ich zuvor schon.
Während ich über Opern- und Theateraufführungen Kritiken schrieb, hielt ich mich als Rezensent von fiktionalen Büchern sehr zurück. So gern ich meine musikalischen, filmischen und theatralen Entdeckungen und Erlebnisse teilte und auch Warnungen formulierte: Meine literarischen Vorlieben behielt ich weitgehend für mich. Nun also erstmals meine Lieblingsbücher. Eine absolut subjektive Auswahl. Dass unter den 49 nur zwei Autorinnen sind – Ingeborg Bachmann und Virginia Woolf –, beweist keineswegs eine misogyne Haltung. Allein, ich kann mit vielen, vor allem zeitgenössischen Autorinnen nicht allzu viel anfangen. Da ich aber nicht den Ehrgeiz habe, politisch korrekt zu lavieren, sondern wirklich nur jene Bücher nennen möchte, die ich einmal, zweimal, dreimal gelesen habe und auf jede unbewohnte Insel mitnehmen würde, sind eben nur die zwei geblieben. Dass ich sieben Lyriker gewählt habe, zeigt, dass meine Lehrerinnen und Lehrer im Hamburger Gymnasium gute Arbeit geleistet haben. Dass so viele glückliche und unglückliche Liebesgeschichten dabei sind, offenbart, dass ich Begehren für den Motor des Lebens halte.
Weil ich 50 als zu wenig begehrliche Zahl empfand, umfasst meine Auswahl 49 Texte, die Begehren nach Literatur wecken, die zum Neu- und Wiederlesen verführen möchten.
München, August 2018
Die Göttliche Komödie
Um Die Göttliche Komödie, dieses große Gedicht, zu verstehen und zu schätzen, braucht es dreierlei: Geduld bei der Lektüre, eine übermäßige Bildung und Lust an der Mathematik. Nur wer rechnen kann, hat wirklich Vergnügen an diesem Buch. Das Rechnen muss man auch beherrschen bei allen anderen Werken Dantes. Und man muss rechnen auch, wenn man herausbekommen möchte, wann dieser Dante Alighieri geboren wurde und wo – all das ist kunstvoll versteckt in diesem Text.
Das Werk, das ich in Gänze erst sehr spät zu schätzen lernte, als ich gebeten wurde, darüber einen Vortrag zu halten, schildert des Dichters Reise durch die Hölle – »Inferno« – zum Läuterungsberg – »Purgatorio« – bis hin ins Paradies – »Paradiso«. Es umfasst 14233 Verse in 100 Gesängen. Das »Inferno« hat 34 Gesänge mit insgesamt 4720 Versen, das »Purgatorio« 33 Gesänge mit 4755 Versen und das »Paradiso« gleichfalls 33 Gesänge mit 4758 Versen. Die Commedia ist der Bericht des Jenseitsreisenden Dante; er ist der zentrale Protagonist der Dichtung. Der Bericht wird in der ersten Person vorgetragen, eine große Ich-Erzählung. Die Göttliche Komödie ist jedoch keine Autobiografie, sondern eine Selbststilisierung. Schließlich gelingt dem Dichter Dante das Allerhöchste. Er gelangt in den Himmel und sieht die Dreieinigkeit und die Muttergottes. Auf seiner Höllen-Läuterungs-Paradies-Reise begegnen wir Geistesgrößen wie Vergil, der dem Erzähler zunächst Führer ist; daneben trifft der Leser auf Ovid, Cicero, Aristoteles, auf Denker der mittelalterlichen Scholastik und auf Philosophen anderer Kulturkreise. Dante schafft ungeheure Assoziationsräume und verblüffende Weltbezüge. Die Liebe ist das zentrale Motiv. Dantes Führer sind neben der Geliebten Beatrice und Vergil unter anderen Cato und der heilige Bernhard.
Die Reise beginnt in der Hölle mit ihren neun Ringen. Hier büßen die Verdammten. Im ersten Höllenkreis befinden sich zum Beispiel die ungetauften Kinder, schuldlose Nichtchristen, antike und heidnische Dichter wie Horaz, Homer und Ovid. Im siebenten Ring büßen die Mörder, die Räuber, die Wucherer und die Sodomiten, also die Homosexuellen. Die Strafe in der Hölle folgt dem Prinzip: Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Dem Dieb wird die Hand abgehackt, dem Verleumder die Zunge abgeschnitten, Kuppler werden ausgepeitscht, Schmeichler und weibliche Prostituierte stecken bis zum Kopf in Kot.
Dantes nächste Station: der Läuterungsberg. Auch hier haben wir Stufen oder Terrassen. Neun, wenn man den untersten Bereich des Vorpurgatoriums und den obersten des Paradieses mitzählt. Dante kommt, aus der Hölle steigend, zu einer Insel – dafür muss er einen Gang aufsteigen, der von Luzifers Reich zum Inselstrand führt. Hier lagern Seelen, die erst kurz vor ihrem Tod Buße taten und deshalb warten müssen, bis sie den Läuterungsberg ersteigen dürfen. Je höher die Seelen steigen, desto leichter wiegen die Vergehen: Hochmut, Neid, Zorn, Verschwendung, Geiz, Schlemmerei – um nur einige zu nennen. Auf der ersten Terrasse büßen die Stolzen. Sie müssen riesige Steine auf dem Rücken tragen und können sich niemals aufrichten. Das heißt: Sie müssen immer zu Boden sehen, und dort sind historische und mythologische Beispiele für Stolz eingraviert. Immer wieder müssen sie diese ansehen und studieren. Die Neider werden auf der zweiten Terrasse geläutert. Ihre Augen sind zugenäht. Den Zornigen begegnet Dante – und mit ihm der Leser – auf der dritten Terrasse. Sie stehen in saurem Rauch, damit sie lernen, dass Zorn blind macht. Auf der vierten Terrasse treffen sich die Trägen, und die müssen – ein grandioser Einfall von Dante – ständig umherrennen. Wer fehlt? Die Habsüchtigen, die Verschwender, die Maßlosen und die Wollüstigen. Sie werden besonders perfide gereinigt von den Sünden der Ausschweifung: Gefangen in einer Flammenwand, brennen sie.
Neben Liebe und Moral behandelt Dante – im »Purgatorio« weit häufiger als im Höllenteil – politische Themen. Es gibt Diskurse über Kirche und Staat; er beklagt den Niedergang Italiens, er spricht von der Verderbnis in seiner Heimatstadt Florenz, und er hält, auch dies, die Kirche für entartet. Im 27. Gesang verabschiedet sich sein Führer Vergil. Drei Gesänge später begegnet Dante wieder seiner Beatrice, mit der zusammen er in den Himmel, ins Paradies, aufsteigen wird.
Das Paradies gilt mir als das langweiligste der drei Bücher. Wieder 33 Gesänge, und im Unterschied zu den zuvor geschilderten Reichen des Jenseits gibt es zehn Stufen. Es werden mehrere Himmel gezeichnet: der Sternenhimmel als der Sitz der Weisheit, wo Thomas von Aquin und Bonaventura sich aufhalten; der Marshimmel mit den Glaubenskämpfern. Im achten schließlich residiert Christus mit den erlösten Seelen und den Aposteln. Beim Aufstieg zum höchsten Himmel geschieht Beatrices letzte Verklärung. Mit einem großen Lobpreis schließt dieses Riesengedicht, das neben dem Liebeshymnus auf seine Beatrice – so, wie er es in einem frühen Werk, der Vita nova, versprochen hatte – viel Größeres geworden ist: ein Lehrgedicht, in dem es um die letzten und tiefsten Gedanken der Menschheit geht. Es ist ein geschichtlicher, ein politischer, ein theologischer, ein politischer und literaturhistorischer, ein kosmologischer Diskurs und ein fulminanter, höchst geistreicher Beitrag zu den Diskussionen, was die Welt im Innersten zusammenhält und den Menschen Hoffnung geben kann. Ein dichterischer Beitrag zur Eschatologie, also zu der Lehre von der jenseitigen Welt. Es ist eine Lehre vom Anbruch einer neuen Welt – jener, die nicht nur im Christentum das Reich Gottes genannt wird.
Malina
Ich schätze die Gedichte von Ingeborg Bachmann, aber ihren Roman Malina halte ich für ihr eigentliches Meisterwerk. Er ist der erste Text des unvollendeten Romanzyklus Todesarten, ein kompliziertes und erschütterndes Werk. Irritierend ist bereits der Titel, denn im ersten Teil des Romans und auch danach berichtet die Ich-Erzählerin von einem Mann namens Ivan, der ihr Geliebter und übrigens jünger ist als sie selbst. Im zweiten Teil steht der Vater der Erzählerin im Zentrum: ein gewalttätiger Vernichter, den sie in einem fürchterlichen Gaskammer-Alb imaginiert. Wenngleich hier schon Malina auftritt – der Erzählerin diskreter, zurückhaltender Lebensgefährte –, spielt er noch keine große Rolle. Die erhält er erst im dritten Teil des Buches, als Zuhörer mehr denn als Dialogpartner oder gar als Handelnder. Alle drei Männer verlassen die Frau und lassen sie unbeschützt und verstört zurück. Der junge Lover trennt sich, da ihm fad wird und die Zeit um ist. Das ist der normalste Abschied, die schofeligste Trennung. Der Vater – der wie im Krimi »der dritte Mann« heißt – zerstört ihr Innenleben, weil er, inzestuös und gewaltbereit, die Frau als Opfer missbraucht. Malina versagt, weil er ihr es unmöglich macht, ihm Frau zu sein. Malina erträgt nämlich stoisch die Ivan-Romanze der Erzählerin, den Betrug; aber er schafft es nicht, sich seiner Frau anzunehmen, sich ihr zu stellen.
Das Ende des Romans ist nicht fehlzuinterpretieren: »Ich sehe Malina unverwandt an, aber er sieht nicht auf. Ich stehe auf und denke, wenn er nicht sofort etwas sagt, wenn er mich nicht aufhält, ist es Mord, und ich entferne mich, weil ich es nicht mehr sagen kann. Es ist nicht mehr ganz furchtbar, nur unser Auseinandergeraten ist furchtbarer als jedes Aneinandergeraten. Ich habe in Ivan gelebt, und ich sterbe in Malina. Malina trinkt noch immer seinen Kaffee. Es ist ein ›Holla‹ zu hören vom anderen Hoffenster herüber. Ich bin an die Wand gegangen, ich gehe in die Wand, ich halte den Atem an. Ich hätte noch auf einen Zettel schreiben müssen: Es war nicht Malina. Aber die Wand tut sich auf, ich bin in der Wand, und für Malina kann nur der Riss zu sehen sein, den wir schon lange nicht gesehen haben. Er wird denken, dass ich aus dem Zimmer gegangen bin.« Ein letztes Mal ruft Ivan an. Malina nimmt den Anruf entgegen und sagt: »Hier ist keine Frau.« Am Ende dann stehen drei Worte nur: »Es war Mord.«
Tod und Verrat sind Ingeborg Bachmanns Themen. In ihrem Prosawerk, das ein Klagegesang ist – und keine Abrechnung mit den Männern, wie Feministen gern behaupten –, kommen nur die Mörder mit dem Leben davon. Die Bachmann erzählt vom Schmerz der Frauen und von ihren (Selbst-)Auslöschungen. Sie tut es in Prosa mit den Formen und dem Reichtum ihrer Lyrik. Formale Grenzüberschreitungen also: experimentelle Übergänge, Dialoge wie in den Gedichten, Rhythmen; selbst die heute antiquiert anmutenden Genitiv-Metaphern gibt es. Auch hier erlebt der Leser Ingeborg Bachmanns lebenslange Suche nach der utopischen Sprache, die Flucht vor der schlechten.
Noch etwas fasziniert mich an diesem Roman: die chiffrierte Wirklichkeit der Dichterin. Denn gewiss ist Malina auch eine Auseinandersetzung mit Max Frisch, der einige Jahre ihr Lebensgefährte war. Die Beziehung begann am 3. Juli. So steht es in Malina. Die Erzählerin greift aus einem Packen alter Zeitschriften und Zeitungen eine heraus und bemerkt – »bestürzt«, wie sie schreibt – ein Datum: den 3. Juli 1958. »Was für eine Anmaßung! Auch an diesem Tag, der längst vergangen ist, haben sie uns überflüssigerweise drogiert mit Nachrichten, mit Meinungen zu Nachrichten.« Sie erinnert sich an den Tag, der ihr zum Rätsel wird: »Ein leerer oder ausgeraubter Tag, an dem ich älter geworden bin, an dem ich mich nicht gewehrt habe und etwas geschehen ließ.«
Was am 3. Juli 1958 begann, endete vielleicht am 19. September 1962, liest man Max Frischs Erzählung Montauk richtig. Was war geschehen zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch? Er hatte für sein Werk Mein Name sei Gantenbein, so sah es die Frau, sie selbst benutzt, ihre Liebesgeschichte veröffentlicht, Ingeborg Bachmann zur Schauspielerin Lila komponiert und sie mitsamt den privaten Beziehungen, die sie unterhielten, indiskret dem Literaturbetrieb vorgeworfen – zum Fraß. Das war für die Bachmann höchste Indiskretion und Hochverrat am anderen. Immer wieder hat sich Frisch, auch nach Bachmanns Tod, literarisch mit dieser Beziehung auseinandergesetzt. In Mein Name sei Gantenbein (1964) zuerst, später 1975 in der Erzählung Montauk, im Triptychon mit Dame (1981) und in dem Text Blaubart von 1982.
Was die beiden Schriftsteller in der gemeinsamen Beziehung erlebten, was sie einander antaten – er las heimlich die Briefe, die an sie adressiert waren, und fühlte sich hörig, in die Eifersucht getrieben, weil sie sich die Freiheit nahm, in der Gesellschaft zu glänzen. Seine Unfreiheit erschien ihm also als der Preis für ihre Freiheit – das lässt sich im Gantenbein nachlesen. Die Bachmann fühlte sich getäuscht und verraten. Malina ist ihre Antwort auf Gantenbein. »Mein Name? Malina« ist Antwort auf Mein Name sei Gantenbein. Ingeborg Bachmann variiert Frischs fiktionales Spiel.
Frischs Aufarbeitung dieser Beziehung ist bis zur Peinlichkeit indiskret, die Erzählung ein chiffriertes Tagebuch. Bachmanns Antwort ist es nicht. Sie handelt nicht von Frisch und behandelt nicht die Zeit dieser Liaison, redet nicht über Versäumnisse und Betrügereien, sondern, viel größer, von Verbrechen, die üblicherweise kaum wahrgenommen und begriffen werden. Sie beschreibt die Morde, die Männer an Frauen verüben, als die vielen unterschiedlichen Methoden zu töten. Deshalb sollte der Zyklus Todesarten heißen.
Die Ich-Erzählerin, die in der Wand verschwindet – und ihren Weggang, ihre Selbstauslöschung bemerkt Malina nicht einmal –, ist ein Verbrechen, lebenslang begangen, kontinuierlich; es ist ein privates Verbrechen, ein unbemerktes und – wichtiger noch – ein ungesühntes.
Giovannis Zimmer
Dieser Roman bestimmte meine Pubertät! Er war sogar eine Zeit lang mein Lieblingsbuch. Ich hatte es geschenkt bekommen von meiner ersten richtigen Freundin. Richtig heißt in diesem Kontext: Sie war die Erste, mit der ich geschlafen habe. Und von der ich mich trennte, weil ich mich verguckt hatte in einen Klassenkameraden – und er sich in mich. Sie hieß Silke, er hieß Thomas.
Silke also legte ein nicht sehr dünnes rororo-Bändchen zu all den Geschenken, die ich ihr gemacht hatte und die sie nun nicht mehr wollte und zurückgab; sie deponierte sie auf den Stufen vor der Haustür. Ich musste nur den Rückseitentext lesen, um zu verstehen: »Der Amerikaner David, der die reizvolle Hella heiraten will, erliegt in Paris der Anziehungskraft des jungen Italieners Giovanni, der ihm leidenschaftliche Zuneigung entgegenbringt.«
Dass James Baldwin von sich schrieb, war mir klar, bevor ich die Lektüre dieses zweiteiligen Romans begann. Zum einen durch die Widmung »Für Lucien«; zum anderen durch ein Bekenntnis, das der amerikanische Autor seinem zweiteiligen Werk voranstellte, er zitiert seinen homosexuellen Landsmann Walt Whitman: »Ich bin Mensch, ich habe gelitten, ich war dabei«. Der erste Satz beginnt mit einem starken Ich. Danach: ein Rückblick. Auf Seite 28 tritt er endlich auf: Giovanni. David trifft ihn in einer Schwulenbar, in die er mit seinen zwielichtigen Freunden gegangen war: »Jacques und ich steuerten auf eine Theke zu; und es war, als seien wir in ein magnetisches Feld geraten, denn wir waren uns beide der Anwesenheit eines neuen Barmanns bewusst. Da stand er, anmaßend, dunkelhaarig, löwenhaft, den Ellbogen lässig auf die Registrierkasse gestützt, die Finger am Kinn, und betrachtete die Gäste, als schaue er von einem Vorgebirge aufs Meer.«
Baldwins Roman erschien 1956, 13 Jahre nach Jean Genets Notre-Dame-des-Fleurs, neun Jahre nach Querelle. Die Bücher des Franzosen lösten Skandale aus – nicht zuletzt, weil darin Sexualität und Verbrechen nicht angedeutet, sondern gefeiert werden. Genet heiligt Mörder, Stricher und zeigt schwules Begehren mit einer nie zuvor in der europäischen Literatur ähnlich offen beschriebenen Direktheit. Baldwin ist weit diskreter. Sehr vorsichtig, geradezu furchtsam stellt er das Coming-out seines Ich-Erzählers dar, der am Abend der ersten Begegnung mit Giovanni in dessen Zimmer während der Fahrt im Taxi sich bewusst wird, dass er in der Klemme sitzt: »Ganz gleich, wie ich mich drehte und wendete, die Stunde des Bekennens stand bevor, und ich konnte mich nicht entziehen; es sei denn, ich sprang aus dem Taxi, was die unangenehmste Beichte von allen gewesen wäre.« Wir werden nie Zeugen von Liebesakten.
Es gibt in diesem Werk, Baldwins zweitem Roman, wunderbare Sätze, die mich jungen, seiner Sexualität noch unsicheren Mann beeindruckten und mich bestärkten, eine Liebe zu leben, die nicht erlaubt war. Zum Beispiel diesen Gedanken: »Irgendjemand hätte uns darüber aufklären müssen, dass nur die wenigsten Menschen an zu viel Liebe sterben. Aus Mangel an Liebe dagegen gehen täglich, stündlich – und an den seltsamsten Orten – unzählige Menschen zugrunde.« So auch Giovanni, der, von David verlassen, im Leben strauchelt, einen Mord begeht und unter dem Fallbeil der Guillotine stirbt. David geht gleichfalls unter. Hella, die ihn erwischt mit einem Matrosen, verlässt ihn und Europa. Was aus ihm wird? Wir erfahren es nicht. Das Wort gay, also schwul, verwendet Baldwin nur ein einziges Mal bei der Beschreibung Giovannis, der ihm nach der Trennung begegnet als ausgehaltener Lover eines alten reichen Mannes.
James Baldwin war es also, der mir – wie wenig später Jean Genet – die Angst nahm vor der Neigung, Jungens zu mögen – ein Verlangen, das die Franzosen, so Baldwin, »mit einem hart an Zynismus grenzenden Zartgefühl ›les goûts particuliers‹ nennen«.
Verlorene Illusionen
Klar, dass mich Honoré de Balzacs Kritikerroman fasziniert. Ich habe ihn zur Pflichtlektüre meiner Studenten erkoren, die alle Kulturjournalisten werden wollen. Ich kenne kein anderes Werk, das so schonungslos beschreibt, wie es in (manchen) Redaktionen zugeht. Verlorene Illusionen entstand zwischen 1837 und 1843 und gehört zu Balzacs monumentalem Zyklus Die menschliche Komödie, und zwar dort zu den »Szenen aus dem Provinzleben«.
Balzac beschreibt – durchaus zynisch – den Aufstieg und Fall eines Kritikers. Er heißt Lucien Chardon, ist auffallend schön und noch dazu talentiert, Sohn eines kleinbürgerlichen Apothekers und einer Hebamme aus dem angesehenen Geschlecht der de Rubempré. Diesen Namen nimmt der Sohn an, nachdem er Angoulême verlassen und sich Zutritt zu der feinen Gesellschaft in Paris verschaffen hat. Anhand dieses ehrgeizigen und durchaus korrupten Menschen macht Balzac die Leser bekannt mit den üblen Mechanismen des Journalismus, mit Verleger- und Redakteursintrigen, mit Neid, Missgunst und vielen anderen menschlichen Unzulänglichkeiten. Balzac wusste, worüber er schrieb, denn er kannte den Journalistenbetrieb und hatte die miesen Maschen von Redakteuren, Chefredakteuren und Verlegern durchschaut. Er arbeitete eine Zeit lang in diesem Beruf.
Ungefähr in der Mitte des Romans schreibt Balzac eine Kritik, kreiert für seinen Lucien de Rubempré einen Text, der den unbekannten, ehrgeizigen Provinzjüngling mit einem Schlag in Paris berühmt macht. Diese Rezension wird sofort von seinen Konkurrenten verrissen – so funktioniert die Missgunst unter Kritikern, auch heute. Überschrift der langen Veröffentlichung: »Panorama dramatique – Erste Vorstellung des ›Alkalden in der Klemme‹, Imbroglio in drei Akten.« Sehr schnell wird klar, dass Rubempré das Stück überhaupt nicht interessiert und er die Schauspieler verachtet. Mit einer Ausnahme, die Schauspielerin Coralie imponiert ihm. An ihr hat er aber kein intellektuelles oder künstlerisches Interesse, sondern ein erotisches. Um einen guten Start für seine Eroberung hinzukriegen, drechselt er ihr mit vielen Worte einen Hymnus. Er schreibt, was er sich – wäre er professionell und integer – hätte verbieten müssen. Balzac wird später sehr ähnlich seinen Geliebten den Hof machen – immer eine Spur zu dick auftragen, was deren Schönheit, deren Charme, deren Witz angeht und auch sein Begehren übertreiben, aus dem Wunsch, geliebt zu werden.