Was mich jetzt zum Schreiben drängt

Lieber hätte ich dieses Buch nicht geschrieben. Es ist nicht angenehm, der Kirche, die meine geblieben ist, eine solch kritische Veröffentlichung widmen zu müssen. Ich meine die katholische Kirche, die größte, mächtigste, internationalste, in etwa auch älteste Kirche, deren Geschichte und Geschick aber auch alle anderen Kirchen beeinflusst.

Lieber hätte ich freilich meine Zeit anderen dringenden Fragen und Projekten gewidmet, die auf meiner Agenda stehen. Aber der Restaurationskurs der letzten drei Jahrzehnte unter den Päpsten Karol Wojtyla und Joseph Ratzinger mit seinen fatalen und für die gesamte christliche Ökumene zunehmend dramatischen Auswirkungen drängt mir erneut die mir keineswegs angenehme Rolle des Papstkritikers und Kirchenreformers auf, eine Rolle, die oft die mir wichtigeren Aspekte meines theologischen Œuvres verdeckt.

Die große Kirchenkrise

In der gegenwärtigen Situation kann ich es nicht verantworten zu schweigen: Seit Jahrzehnten habe ich auf die große Krise der katholischen Kirche, faktisch eine Kirchenleitungskrise, die sich da entwickelte, aufmerksam gemacht – mit wechselndem und in der katholischen Hierarchie mäßigem Erfolg. Erst mit der Enthüllung der zahllosen Missbrauchsfälle im katholischen Klerus, die über Jahrzehnte hin von Rom und den Bischöfen weltweit vertuscht worden waren, ist diese Krise als Systemkrise für die ganze Welt sichtbar geworden und erfordert eine fundierte theologische Antwort. Alle noch so groß inszenierten Papstmanifestationen und Papstreisen (je nachdem als »Pilgerreise« oder »Staatsbesuch« inszeniert), alle die Rundschreiben und Kommunikationsoffensiven können über die anhaltende Krise nicht hinwegtäuschen. Diese äußert sich in Hunderttausenden von Kirchenaustritten allein in der Bundesrepublik Deutschland während der letzten drei Jahre und in einer zunehmenden Ferne der Bevölkerung zur kirchlichen Institution überhaupt.

Nochmals: Ich hätte dieses Buch lieber nicht geschrieben. Nicht geschrieben hätte ich dieses Buch:

1. wenn sich die Hoffnung erfüllt hätte, Papst Benedikt würde unserer Kirche und der gesamten Christenheit im Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils einen Weg nach vorne weisen. Diese Hoffnung war in mir gekeimt in der vierstündigen freundschaftlichen persönlichen Unterredung mit meinem früheren Tübinger Kollegen in Castel Gandolfo 2005. Aber: Benedikt ging den zusammen mit seinem Vorgänger eingeschlagenen Weg der Restauration stur weiter, distanzierte sich in wichtigen Punkten vom Konzil und von großen Teilen des Kirchenvolkes und versagte angesichts des weltweiten Sexualmissbrauchs von Klerikern;

2. wenn die Bischöfe die ihnen vom Konzil zugesprochene kollegiale Verantwortung für die Gesamtkirche wirklich wahrgenommen und sich in Wort und Tat dazu geäußert hätten. Aber: unter der Herrschaft Wojtyla/Ratzinger wurden die meisten wieder linientreue Befehlsempfänger des Vatikans, ohne eigenes Profil und Verantwortung zu zeigen: auch ihre Antworten auf die neuesten kirchlichen Entwicklungen waren zögerlich und wenig überzeugend;

3. wenn die Theologenschaft sich wie früher kraftvoll, gemeinsam und öffentlich zur Wehr gesetzt hätte gegen neue Repression und den römischen Einfluss auf die Auswahl des wissenschaftlichen Nachwuchses in Fakultäten und Seminarien. Aber: die meisten katholischen Theologen haben begründete Angst, tabuisierte Themen in Dogmatik und Moral unvoreingenommen kritisch zu behandeln und deshalb zensuriert und marginalisiert zu werden. Nur wenige wagen die weltweite reformerische »KirchenVolksBewegung« zu unterstützen. Und von evangelischen Theologen und Kirchenführern erhalten sie auch nicht genug Unterstützung, da viele von ihnen Reformfragen als binnenkatholische Probleme abtun und manche in der Praxis die guten Beziehungen zu Rom der Freiheit eines Christenmenschen bisweilen vorziehen. Wie in anderen öffentlichen Diskussionen spielte die Theologie selbst in den jüngsten Auseinandersetzungen um die katholische und die anderen Kirchen eine geringe Rolle und verpasste die Chance, die notwendigen Reformen entschieden einzufordern.

Woran die Kirche leidet

Von den verschiedensten Seiten wurde ich immer wieder mündlich und schriftlich gebeten und ermuntert, klar Stellung zu beziehen zu Gegenwart und Zukunft der katholischen Kirche. So habe ich mich schließlich entschlossen, statt einzelner Kolumnen und Artikel eine kompakte zusammenfassende Schrift zu verfassen, die darlegt und begründet, was sich als meine überprüfte Einsicht in den Kern der Krise herausstellt: Die katholische Kirche, diese große Glaubensgemeinschaft, ist ernsthaft krank, sie leidet unter dem römischen Herrschaftssystem, das sich im Lauf des zweiten Jahrtausends gegen alle Widerstände etabliert und bis heute durchgehalten hat. Es ist, wie zu zeigen sein wird, charakterisiert durch ein Machtund Wahrheitsmonopol, durch Juridismus und Klerikalismus, Sexualund Frauenfeindschaft sowie geistlichungeistliche Gewaltanwendung. Dieses System trägt zwar nicht die alleinige, aber doch die Hauptverantwortung an den drei großen Spaltungen der Christenheit: die erste zwischen Westund Ostkirche im 11. Jahrhundert, die zweite in der Westkirche zwischen katholischer und protestantischer Kirche im 16. Jahrhundert und schließlich im 18./19. Jahrhundert die dritte Spaltung zwischen römischem Katholizismus und aufgeklärter moderner Welt.

Doch sei sofort angemerkt: Ich bin ökumenischer Theologe und keineswegs papstfixiert. In »Das Christentum. Wesen und Geschichte« (1994) habe ich auf gut tausend Seiten die verschiedenen Perioden, Paradigmen und Konfessionen in der Geschichte des Christentums analysiert und dargestellt, und da lässt sich nun einmal nicht bestreiten, dass das Papsttum das zentrale Element des römisch-katholischen Paradigmas ist. Ein Petrusamt, wie es sich aus den Ursprüngen entwickelte, war und bleibt für viele Christen eine sinnvolle Institution. Aber seit dem 11. Jahrhundert wurde daraus immer mehr ein monarchisch-absolutistisches Papsttum, das die Geschichte der katholischen Kirche beherrschte und zu den genannten Spaltungen der Ökumene führte. Die trotz aller politischen Rückschläge und kulturellen Niederlagen ständig zunehmende innerkirchliche Macht des Papsttums stellt das entscheidende Merkmal der Geschichte der katholischen Kirche dar. Die neuralgischen Punkte der katholischen Kirche sind seither nicht so sehr die Probleme der Liturgie, der Theologie, der Volksfrömmigkeit, des Ordenslebens oder der Kunst, sondern es sind die in der traditionellen katholischen Kirchengeschichte zu wenig kritisch herausgearbeiteten Probleme der Kirchenverfassung. Gerade diese werde ich hier, auch wegen ihrer ökumenischen Sprengkraft, mit besonderer Sorgfalt behandeln müssen.

JOSEPH RATZINGER, der jetzige Papst, und ich waren die beiden jüngsten offiziellen Berater des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–65), das versuchte, dieses römische System in wesentlichen Punkten zu korrigieren. Dies aber gelang wegen des Widerstands der römischen Kurie leider nur teilweise. In der nachkonziliaren Zeit machte Rom die Erneuerung dann auch mehr und mehr rückgängig, was in den letzten Jahren zum offenen Ausbruch der schon längst wuchernden bedrohlichen Erkrankung der katholischen Kirche führte.

Die Skandale um Sexualmissbrauch im katholischen Klerus sind nur das jüngste Symptom. Sie haben einen solchen Umfang angenommen, dass in jeder anderen großen Organisation eine intensive Erforschung der Gründe für eine derartige Tragödie eingesetzt hätte. Nicht so in der römischen Kurie und im katholischen Episkopat. Zuerst gestanden sie ihre eigene Mitverantwortung für die systematische Vertuschung dieser Fälle nicht ein. Dann zeigten sie – von wenigen Ausnahmen abgesehen – auch kein großes Interesse daran, die tieferen historischen und systemischen Gründe für eine derartig verheerende Fehlentwicklung herauszufinden.

Die bedauerliche Uneinsichtigkeit und Reformunwilligkeit der gegenwärtigen Kirchenleitung zwingt mich dazu, die historische Wahrheit von den christlichen Ursprüngen her gegen all die gängigen Vergesslichkeiten, Verschleierungen und Vertuschungen offen darzustellen. Dies wird gerade für historisch wenig informierte und traditionelle katholische Leser und vielleicht auch Bischöfe desillusionierend wirken. Wer sich bisher noch nie ernsthaft mit den Tatsachen der Geschichte konfrontiert sah, wird bestimmt manchmal darüber erschrecken, wie es da allenthalben zuging, wie viel an den kirchlichen Institutionen und Konstitutionen – und an der zentralen römisch-katholischen Institution des Papsttums ganz besonders – »menschlich, allzu menschlich« ist. Gerade dies bedeutet jedoch positiv: diese Institutionen und Konstitutionen – auch und gerade das Papsttum – sind veränderbar, grundlegend reformierbar. Das Papsttum soll also nicht abgeschafft, sondern im Sinn eines biblisch orientierten Petrusdienstes erneuert werden. Abgeschafft werden aber soll das mittelalterliche römische Herrschaftssystem. Meine kritische »Destruktion« steht deshalb im Dienst der »Konstruktion«, der Reform und Erneuerung, alles in der Hoffnung, dass die katholische Kirche im dritten Jahrtausend gegen allen Anschein doch lebensfähig bleibe.

Therapeut, nicht Richter

Manche Leser werden sich darüber wundern, dass in diesem Buch vorwiegend eine medizinische Metaphorik verwendet wird. Das hat seinen Grund darin, dass sich einem bezüglich Gesundheit und Krankheit sofort Ähnlichkeiten zwischen der sozialen Körperschaft Kirche und dem menschlichen Organismus aufdrängen. Dazu kommt, dass ich in der Sprache der Medizin besser als etwa in der juristischen Sprache zum Ausdruck bringen kann, dass ich mich in diesem kritischen Buch über den Stand der Kirche nicht als Richter verstehe, sondern – in einem umfassenden Sinn – als eine Art Therapeut.

Meine Fundamentalkritik am römischen System wiegt schwer, und ich muss sie selbstverständlich Punkt für Punkt begründen. Nach bestem Wissen und Gewissen werde ich mich deshalb in diesem Buch durchgängig um eine ehrliche Diagnose wie um wirksame Therapievorschläge bemühen. Oft eine bittere Medizin, zweifellos, aber eine solche braucht die Kirche, wenn sie überhaupt wieder genesen soll. Dies ist eine spannende, aber, wie meistens bei Krankheiten, keine vergnügliche Geschichte. Nicht aus Rechthaberei oder gar Streitsucht also formuliere ich so deutlich, sondern um der Gewissenspflicht zu genügen, meiner Kirchengemeinschaft, der ich ein Leben lang zu dienen versuchte, diesen – vielleicht letzten? – Dienst zu leisten.

Von Rom aus wird man erfahrungsgemäß alles tun, um ein derart unbequemes Buch, wenn schon nicht zu verurteilen, so doch möglichst zu verschweigen. Ich hoffe deshalb auf die Unterstützung aus der Kirchengemeinschaft und der breiteren Öffentlichkeit, von Theologen und hoffentlich auch dialogbereiten Bischöfen, um die ideologisch fixierte und juristisch und finanziell zumeist abgesicherte römische Kirchenhierarchie aufzuwecken: die hier vorgelegte Pathogenese, diese Erklärung von Entwicklung und Folgen der Krankheit, unter der die katholische Kirche leidet, zur Kenntnis zu nehmen und den sich aufdrängenden unbequemen Therapien nicht weiter Dialogverweigerung und Widerstand entgegenzusetzen. Gibt es Hoffnung, zumindest für die Kirche in Deutschland?

Agenda für ein »Zukunftsgespräch«

Vom obersten katholischen Laiengremium, dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK), aufgefordert, hat die Deutsche Bischofskonferenz im Herbst 2010 in einem Brief an alle Katholiken nach der schockierenden Aufdeckung jahrzehntelanger Vertuschung sexualisierter Gewalt ein zweijähriges kirchliches »Zukunftsgespräch« angekündigt. Diese späte Dialoginitiative – etwa fünfzig Jahre nach dem Zweiten Vatikanum – ist zu begrüßen; ist sie doch Ausdruck dafür, dass die Bischöfe sich schließlich doch beunruhigt zeigen über die Frustration, Opposition und Abwanderung im katholischen Kirchenvolk infolge der Missbrauchskrise und des enormen Reformstaus. Der Dialog soll die Bischofskonferenz, die Bistümer, die Gemeinden und auch Fernstehende einbeziehen.

Aber: um die Jahreswende 2010/2011 war festzustellen, dass die Dialoginitiative schon wieder ins Stocken geraten war. Denn die deutschen Bischöfe sind uneins. Manche erkennen nicht einmal das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) als Dialog- und Kooperationspartner an – ganz zu schweigen von der mit weit über einer Million Unterschriften beglaubigten KirchenVolksBewegung »Wir sind Kirche«, einer unabhängigen »Stimme des Kirchenvolkes«. Nicht einmal auf ihren für Ende November 2010 angekündigten Brief an die Gemeinden konnten sich die Bischöfe einigen. Die Gläubigen wurden auf das Frühjahr 2011 vertröstet.

Aber diese Gläubigen erinnern sich sehr wohl, dass schon ähnliche Gesprächsinitiativen – auch im Zusammenhang mit Befragungen vor Bischofsernennungen – praktiziert wurden, die aber für die Gläubigen nichts als Enttäuschungen brachten, wie ja auch schon die Ergebnisse der »Würzburger Synode« (1971–1975) und vieler Diözesansynoden von der Hierarchie »schubladisiert« und von Rom schlicht nicht akzeptiert wurden. Daher haben auch jetzt manche Katholiken den Verdacht, die Bischöfe möchten durch ein »Gespräch« in erster Linie den großen Druck vom Kessel nehmen, um weiterhin Reformen hinauszuschieben.

Nicht weniger begründet ist der Verdacht, dass, wie schon oft, die übliche vatikanische Geheimdiplomatie auf die deutschen Bischöfe – wie früher auf die österreichischen anlässlich ihres hoffnungsvoll begonnenen »Dialogs für Österreich« (1997) – Druck ausgeübt hat, um das Dialogunternehmen möglichst abzubremsen, wenn nicht gar zu stoppen. Diese neue Dialogoffensive des deutschen Episkopats würde ohnehin mehr überzeugen, wenn sie mit Entscheidungen für bestimmte Reformen verbunden wäre, über die schon seit Jahren und Jahrzehnten »Gespräche« geführt werden. Die katholischen Laien wollen jedenfalls einen verbindlichen Dialog mit konkreten Resultaten, wovor sich mancher Bischof aber fürchtet.

Das ist erstaunlich angesichts des Befundes, dass nach dem von der Bischofskonferenz selber in Auftrag gegebenen Trendmonitor »Religiöse Kommunikation 2010« nur noch 54 % der Katholikinnen und Katholiken sich der Kirche verbunden fühlen, mehr als zwei Drittel davon in kritischer Weise. Ja, im Jahre 2010 dürften insgesamt 250 000 Menschen aus der katholischen Kirche der Bundesrepublik ausgetreten sein, ungefähr doppelt so viele wie im Vorjahr; es gab auch mehr Übertritte zur evangelischen Kirche (Angaben des Religionssoziologen Michael Ebertz, Katholische Hochschule Freiburg).

Wie auch immer: Ich stelle mich dem Dialog und lege hier eine sorgfältig ausgearbeitete und auf jahrzehntelanger theologischer Arbeit und kirchlicher Erfahrung gegründete Agenda für ein solches Zukunftsgespräch und entsprechende Entscheidungen vor. Vor fünfzig Jahren habe ich Ähnliches nach der Ankündigung des Zweiten Vatikanischen Konzils mit dem Buch »Konzil und Wiedervereinigung. Erneuerung als Ruf in die Einheit« (1960) getan. »Agenda« (lat.: »was zu tun ist«): nicht zu verstehen nur als Notizbuch, in das die zu erledigenden Dinge pro memoria eingetragen sind, sondern als Aktionsprogramm dringend anzupackender Aufgaben. Wie schön wäre es doch, wenn dieses Buch allen Widrigkeiten zum Trotz einen ähnlichen Erfolg hätte wie das damalige, dessen kühne Vorschläge zuallermeist durch das Konzil in Erfüllung gegangen sind. Auch heute brauchen wir nicht noch jahrelange Diskussionen und Reflexionen, sondern kühne Entscheidungen und mutige strukturelle Reformen, wie sie im letzten Kapitel dieses Buches mit aller Deutlichkeit formuliert und ausführlich begründet sind.

Sollte das gegenwärtige »Zukunftsgespräch« aber ergebnislos bleiben, so wird, davon bin ich überzeugt, diese Agenda auf der Tagesordnung der katholischen Kirche bleiben. Und dafür hat sich für mich die Mühe gelohnt.

Tübingen, 1. Februar 2011

II. Diagnostik des römischen Systems

 Anamnesen und Diagnosen

Der Kirchenkritik, der gelehrten ebenso wie der populären, fehlt oft die historische Tiefenschärfe. Da wird manchmal etwas als »wesentlich katholisch« erklärt, was eine spätere Entwicklung ist, und umgekehrt etwas als ganz und gar »unkatholisch«, was ursprünglich durchaus katholisch war. Es bedarf deshalb dringend der historisch fundierten Analyse, um hier Klarheit zu schaffen.

Jede ernsthafte Diagnose einer Krankheit wird nicht nur die Symptome berücksichtigen, sondern auf die Ursachen zurückfragen. Dabei wird sie alle Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung so weit wie möglich einbeziehen. Was nun die Kirche betrifft, so haben die Kirchenhistoriker Berge von Forschung aufgetürmt und zahllose unbestreitbare Ergebnisse erbracht. Diese waren jedoch für die römische Kurie des öfteren unbequem und wurden deshalb schlicht ignoriert, und dies nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis – angesichts der vielen historisch begründeten Reformforderungen. Eine kirchenhistorische Anamnese, ein Erfassen der Lebens- und Krankheitsgeschichte ist also dringend geboten. Ohne sie ist an keine Heilung zu denken.

Ich habe in meinen römischen Studienjahren eine recht brave römisch-katholische Kirchengeschichte gehört, die mich unbefriedigt ließ. Seit meinen jungen Jahren als Professor habe ich immer wieder neu die Kirchengeschichte studiert. Dieser lange Prozess der Anamnese, der Erinnerung, hat sich auch in vielen meiner Bücher niedergeschlagen. Dort findet sich eine Fülle von Referenzen und Konkretisierungen, auf die ich in diesem Buch hier zurückgreifen kann: »Konzil und Wiedervereinigung« (1960), »Strukturen der Kirche« (1962), »Die Kirche« (1967), »Unfehlbar? Eine Anfrage« (1970), »Fehlbar? Eine Bilanz« (1973), »Katholische Kirche – wohin? Wider den Verrat am Konzil« (mit Norbert Greinacher, 1980), »Die Hoffnung bewahren: Schriften zur Reform der Kirche« (1990), »Das Christentum. Wesen und Geschichte« (1994), »Die Frau im Christentum« (2001), »Kleine Geschichte der katholischen Kirche« (2001).

»Doch wo bleibt das Positive?«, werden manche konservative Kritiker nach Lektüre dieses kritischen Buches hier fragen. Das Positive können sie in genannten Büchern finden, breit dargelegt. Besonders die umfassende Synthese »Die Kirche« wird in vielen Sprachen als unüberholter Klassiker bis heute im Studium benutzt. Aber in diesem Buch hier geht es nun einmal nicht um die allgemeine Geschichte, sondern um die Krankengeschichte dieser Kirche und ihre Ursachen. Wie schon in der Vorrede begründet, konzentriere ich meine Diagnostik im folgenden auf die Probleme der Kirchenverfassung und die zentrale römische Herrschaftsinstitution, das Papsttum. Eine lange und wechselhafte Geschichte ist hier aufzuarbeiten. Beginnen wir mit dem Anfang.

1. Petrus – der erste Papst?

Anamnese: Rom, auch das päpstliche Rom, ist nicht an einem Tage erbaut worden. Zweifellos spielte die Kirche der Reichshauptstadt – schon immer ausgezeichnet durch gute Organisation und karitative Tätigkeit – von Anfang an eine gewichtige Rolle. Als Hort der Rechtgläubigkeit gegen Gnosis und Häretiker hatte sie ein entscheidendes Gewicht: bei der Formulierung des Taufbekenntnisses, bei der Begrenzung des Kanons der neutestamentlichen Schriften und schließlich – als Stadt der Gräber der beiden Hauptapostel Petrus und Paulus – bei der Herausbildung der apostolischen Tradition der Sukzession.

Aber was lässt sich historisch verifizieren? Dass Petrus in Rom war, davon liest man im Neuen Testament kein Wort. Von einem Nachfolger des Petrus (und auch noch in Rom) erst recht nichts. Der Christus-Glaube des Petrus und nicht irgendein Nachfolger soll nach der Matthäus-Tradition der »Fels«, das ständige Fundament der Kirche, sein und bleiben (Mt 16, 18).

Andererseits: von einem Aufenthalt und Martyrium des Petrus in Rom zeugen schon der »Klemensbrief« um 96 sowie die Briefe des Ignatius von Antiochien. Diese Tradition ist also alt und vor allem konkurrenzlos. Selbst in Antiochien, wo ein Aufenthalt des Petrus bezeugt ist, erhebt man keinen Anspruch auf sein Grab. Ein Grab des Petrus unter der jetzigen vatikanischen Basilika ließ sich archäologisch nicht verifizieren. Auch gibt es kein zuverlässiges Zeugnis dafür, dass Petrus – im Vergleich zum perfekt griechisch sprechenden römischen Bürger Paulus ein ungebildeter jüdischer Fischer namens Simon – der Kirche von Rom je als Oberhaupt oder »Episkopos« vorstand. Er war Sprecher von Jesu Jüngerkreis, aber alles andere als ein »Apostelfürst«. Der monarchische Episkopat wurde in Rom ohnehin relativ spät eingeführt. Um 160 errichtete man Gedenkmale für Petrus und für Paulus, der vermutlich ebenfalls in Neros Christenverfolgung umgebracht wurde. Die Gräber der beiden Hauptapostel sind der ausschlaggebende Grund für eine bestimmte Vorrangstellung der Kirche Roms.

Doch deswegen ist Rom keineswegs »die Mutter aller Kirchen«, wie noch heute die pompöse Aufschrift auf der Lateranbasilika, der ursprünglichen römischen Bischofskirche, suggeriert: »Caput et mater omnium ecclesiarum urbis et orbis – Haupt und Mutter aller Kirchen der Stadt und des Erdkreises«? Nein, Haupt und Muttergemeinde der ersten Christenheit ist unbestreitbar nicht Rom, sondern Jerusalem. Und apostolische Gründungen sind völlig unabhängig von Rom verschiedene Kirchen des Ostens wie: Antiochien, Ephesus, Thessaloniki, Korinth … Darauf legen diese Kirchen bis heute Gewicht.

Von einem Rechtsprimat – gar einer biblisch begründeten Vorrangstellung – der römischen Gemeinde oder des römischen Bischofs kann in den ersten Jahrhunderten keine Rede sein. Die für die heutigen römischen Bischöfe ständig in Anspruch genommene Petrusverheißung aus dem Matthäusevangelium – »Du bist Petrus, und auf diesem Felsen will ich meine Kirche bauen« (in den anderen Evangelien nicht bezeugt!) – ziert in riesigen schwarzen Lettern auf goldenem Grund das Innere der Peterskirche. Aber in der ganzen christlichen Literatur der ersten Jahrhunderte wird sie kein einziges Mal in vollem Wortlaut zitiert – abgesehen von einem Text bei Tertullian, der diese Stelle jedoch nicht bezogen auf Rom, sondern auf Petrus zitiert. Erst in der Mitte des 2. Jahrhunderts beruft sich ein römischer Bischof namens Stephan im Streit mit anderen Kirchen um die bessere Tradition auf diese Petrusverheißung – aber ohne Erfolg. Schon damals lehnte man die Herrschaft einer Kirche über die anderen Kirchen strikt ab.

Kein Rechtsprimat also, und das ist auch verständlich: Denn der Rechtsprimat gehörte allein dem Kaiser, der als »Pontifex maximus«, als Oberpriester, das Gesetzgebungsmonopol auch in kirchlichen Dingen (»ius in sacris«) besaß. Er war durch all die Jahrhunderte höchste rechtliche Instanz. Er hatte die oberste administrative Aufsicht selbstverständlich auch über die römische Christengemeinde und ihren Bischof. Ohne Rückfrage bei irgendeinem Bischof beruft KAISER KONSTANTIN, der Große genannt, 325 das Erste Ökumenische Konzil in seine neue Residenz Nikaia, östlich von Byzanz, ein und erlässt Kirchengesetze für Glaube und Kirchenordnung. Er macht Konzilsbeschlüsse durch Bestätigung zu Reichsgesetzen und passt zugleich die Kirchenorganisation der Staatsorganisation an (auch in der Kirche »Diözesen« mit einem Metropoliten an der Spitze).

Doch später verbreitet man im Westen die Mär von einer Übertragung der Herrschaft über die Stadt Rom und die Westhälfte des Reiches an den römischen Bischof: die sogenannte »Konstantinische Schenkung«. Das war die erste von mehreren folgenreichen Fälschungen, mit der der Aufstieg der römischen Gemeinde und ihres Bischofs bis hin zu einer monarchischen Vormachtsstellung im Westen begründet wurde. Für den Osten, wo der Kaiser residierte, war dieser Prozess von vornherein unverständlich.

Erste Diagnose: Eine zentrale Stellung der römischen Kirche und später auch ihres Bischofs in der frühen Christenheit ist unbestreitbar. Ein funktionierendes Zentrum im Dienst der Einheit, gegründet auf die Tradition der beiden Hauptapostel Petrus und Paulus, könnte auch für die Christenheit des 21. Jahrhunderts – wenn im evangelischen Geist ausgeübt – von Nutzen sein. Aber ein Herrschafts- oder Rechtsprimat des Apostels Petrus, der römischen Gemeinde oder gar ihres Bischofs lässt sich weder aus dem Neuen Testament noch aus der frühen Kirchengeschichte erweisen. Er führte denn auch faktisch – wie wir im folgenden sehen werden – nicht zur Einheit, sondern zur Spaltung der Kirche. Im 21. Jahrhundert lässt er sich weniger denn je in der Christenheit durchsetzen. Da hilft auch keine ständige Repetition und Zelebration der auf Sand gebauten römischen Herrschaftsideologie. Helfen kann nur eine selbstkritische Besinnung auf die bescheidene Rolle des (vielfach fehlbaren) Petrus und auf den unprätentiösen Dienst der frühen römischen Kirche im »Vorsitz der Liebe« (Ignatius von Antiochien). Also ein Petrusdienst, keine Petrusherrschaft.

2. Römischer Herrschaftsanspruch – schon früh proklamiert

Anamnese: Keine »Konstantinische Schenkung« fand statt, wohl aber eine Verlagerung der Hauptstadt von Alt-Rom nach Neu-Rom am Bosporus durch Kaiser Konstantin. Und zugleich die Wanderung der germanischen Völker, die schließlich im Jahre 410 zur erstmaligen Eroberung des unbesiegten »ewigen Rom« führte. Diese beiden Entwicklungen schufen im Westen ein Machtvakuum. Die römischen Bischöfe des 4. und 5. Jahrhunderts nutzten dieses zielstrebig und machtbewusst, um ihre Amtsbefugnisse in Richtung eines universalen Herrschaftsprimats auszuweiten.

Nur in Stichworten sei erwähnt, was, wiewohl ohne biblisches und theologisches Fundament, doch per viam facti in das bis heute gültige Kirchenrecht einging:

– Rom erklärt sich zur allgemeinen Appellationsinstanz (Bischof Julius in der Mitte des 4. Jhs. mit falscher Berufung auf das Konzil von Nikaia).

– Das Felsenwort aus Mt 16,18, rein juristisch verstanden, wird jetzt für Machtansprüche bemüht und das Wort vom »Apostolischen Stuhl« (»Sedes apostolica«) exklusiv für Rom in Anspruch genommen, wie wenn es keine anderen apostolischen Sitze gäbe (Bischof Damasus im 4. Jh.).

– Der römische Bischof nennt sich jetzt »Papst«: »Papa«, vom griechischen »pappas«, ist ein ehrwürdiger, liebevoller Name für Vater, der im Osten schon lange für sämtliche Bischöfe gebraucht wurde, nun aber im Westen nur noch vom Bischof von Rom. Seine eigenen »Statuta« nennt er kurzerhand »apostolische«. Zugleich wird der römische Amts- und Kanzleistil übernommen: auf Anfragen von Bischöfen erfolgen nur knappe »Decreta« und »Responsa« (Bischof Siricius, Ende des 4. Jhs.).

– Jede wichtige Angelegenheit soll nach ihrer Behandlung auf einer Synode dem römischen Bischof zur Entscheidung vorgelegt werden (Bischof Innozenz zu Beginn des 5. Jhs.).

– Jede weitere Appellation ist ausgeschlossen; die Entscheidungen des römischen Bischofs sind letztverbindlich (Bischof Bonifaz im 5. Jh.).

So begann der bis heute anhaltende Prozess der römischen Monopolisierung von Titeln und Rechtsansprüchen, die ursprünglich vielen Kirchen und Bischöfen gehörten. Doch man beachte: dies alles waren zunächst nur Ansprüche. Besonders in Konstantinopel, wo man abschätzig auf Rom als heruntergekommene alte Hauptstadt blickte und allein der Kaiser das Sagen hatte, nahm man solche Ansprüche überhaupt nicht ernst. Daher scheiterten auch alle Versuche der römischen Bischöfe des 4. und 5. Jahrhunderts, aus dem Felsenwort über Petrus Schlüsse für eine gottgewollte römische Herrschaft (»iurisdictio«) über die gesamte Kirche zu ziehen und praktisch durchzusetzen.

Auch der geniale Zeitgenosse dieser Bischöfe, der durchaus romfreundliche Nordafrikaner AURELIUS AUGUSTINUS, Bischof von Hippo und bedeutendster Theologe des Wes-tens, hält, wie schon CYPRIAN, der große Metropolit von Carthago, nichts von einem universalen Rechtsprimat des römischen Bischofs. Der Papst spielt in seinem letzten großen Werk, dem »Gottesstaat«, keine Rolle. Für Augustin sind ohnehin alle Bischöfe grundsätzlich gleich. Dem Papalismus leistet er keinen Vorschub, so sehr für ihn Rom das Zentrum des Reichs und der Kirche ist. An einen Herrschafts- oder Jurisdiktionsprimat Roms denkt er gar nicht. Denn nicht Petrus als Person (oder gar sein Nachfolger) ist Fundament der Kirche, sondern Christus und der Glaube an ihn – was auch der junge JOSEPH RATZINGER in seiner Dissertation über Augustinus überzeugend herausgearbeitet hat. Nicht der römische Bischof ist für Augustin die höchste Autorität in der Kirche, sondern – wie auch für den ganzen christlichen Osten – das ökumenische Konzil. Doch selbst diesem schreibt er keine unfehlbare Autorität zu.

Zweite Diagnose: Rom vertritt im eigenen westlichen Herrschaftsbereich zunehmend eine Sondertradition: Kirche wird vor allem rechtlich verstanden als eine monarchischabsolutistisch-zentralistische Einheitskirche, die sich vorwiegend auf dem römischen Kirchenrecht und auf im Osten völlig unbekannten (großenteils gefälschten) römischen Dekreten gründet. Dagegen herrscht in den übrigen Kirchen, in denen des Ostens ebenso wie denen Nordafrikas (Tertullian, Cyprian, Augustin) das auf dem Neuen Testament gründende Verständnis von Kirche als »koinonia«, »communio«: eine »Gemeinschaft« von Glaubenden, von Ortskirchen und ihren Bischöfen, eine kollegial geordnete Föderation von Kirchen, die auf gemeinsamen Sakramenten, liturgischen Ordnungen und Glaubenssymbolen gründet. Diese Auffassung hat sich außerhalb des römischen Herrschaftsbereiches bis heute durchgehalten.

3. Der erste wirkliche Papst und seine romzentrierte Ideologie

Anamnese: In der Generation nach Augustin ist es Papst Leo I. (440–461), ein solider Theologe und Jurist, ein eifriger Prediger und Seelsorger und ein fähiger Staatsmann, welcher »der Große« genannt wird. Ihm haben die Historiker als erstem den Titel »Papst« im eigentlichen Sinn beigelegt.

Ganz erfüllt vom römischen Sendungsbewusstsein vermag Leo die klassische Synthese der römischen Primatsidee zusammenzuschmieden: Die neutestamentlichen Petrus-Stellen versteht er anders als im biblischen Text rein juristisch – im Sinn einer dem Petrus geschenkten »Fülle der Macht« (»plenitudo potestatis«), also eines Herrschaftsprimats zur Leitung der gesamten Kirche. Eine Nachfolge Petri durch den Bischof von Rom sieht Leo in einem (gefälschten) Brief des Papstes Klemens an den Herrenbruder Jakobus in Jerusalem: Demzufolge habe Petrus in einer letzten Verfügung Klemens zu seinem alleinigen legitimen Nachfolger gemacht. Die juristische Position des Nachfolgers Petri bestimmt Leo genauer mit Hilfe des römischen Erbrechts. Der Nachfolger erbe zwar nicht die persönlichen Eigenschaften und Verdienste Petri, wohl aber die von Christus übertragene amtliche Vollmacht und Funktion. Selbst ein unwürdiger Papst sei demnach ganz legitim Nachfolger Petri und amtiere als solcher. Als erster römischer Bischof schmückt Leo sich mit dem Titel des heidnischen Oberpriesters »Pontifex Maximus«, den der byzantinische Kaiser gerade abgelegt hatte. 451 gelingt es ihm mit einer römischen Delegation, die Hunnen Attilas in Mantua von der Eroberung Roms abzuhalten. Vier Jahre später jedoch kann er die Eroberung und Plünderung Roms durch die Vandalen nicht verhindern.

So erfolgreich Leo der Große mit seiner römischen Theologie und Politik im Westen ist, so wenig Akzeptanz findet er in der – noch immer viel gewichtigeren – Kirche des Ostens. Eklatant zeigt sich dies in seiner bitteren Niederlage auf dem Vierten Ökumenischen Konzil von Chalkedon (451): Seinen drei Legaten wird der beanspruchte Vorsitz glatt verweigert. Trotz seines ausdrücklichen Verbotes wird sein Sendschreiben vom Konzil zuerst nach den Normen der Orthodoxie überprüft, bevor seine christologische Formel Beifall findet. Es werden ihm keine Vorrechte über die gesamte Kirche eingeräumt, ja, der kirchliche Rang einer Stadt wird von ihrem zivilen Status abhängig gemacht und so konsequenterweise dem Bischofssitz von Neu-Rom (Konstantinopel) derselbe Primat zuerkannt wie der alten Reichshauptstadt. Ungehört verhallt der Protest der römischen Legaten auf diesem großen Konzil mit seinen sechshundert Mitgliedern, ungehört schließlich Leos Protest nach dem Konzil. Alles in allem wird vom römischen Bischof zwar ein Rechtsprimat proklamiert, aber von der Gesamtkirche wird er nicht akzeptiert.

Als erster römischer Bischof wird Leo in der Peterskirche begraben. Seine Nachfolger operieren weithin auf seiner theologischen und politischen Linie. Vorläufiger Höhepunkt des römischen Machtanspruchs ist der Pontifikat von GELASIUS I. am Ende des 5. Jahrhunderts. Nur weil er ganz unter der Herrschaft des arianischen Gotenkönigs Theoderich steht, kann er es sich leisten, ungestraft gegen Byzanz (auf der Linie der Zwei-Reiche-Lehre Augustins) den Anspruch einer von der kaiserlichen Gewalt völlig unabhängigen kirchlichen Gewalt zu entwickeln: Kaiser und Papst hätten verschiedene Funktionen in ein und derselben Gemeinschaft; der Kaiser habe nur weltliche, der Papst nur priesterliche Autorität. Aber die geistliche Autorität sei der weltlichen Autorität des Kaisers übergeordnet, da sie für die Sakramente zuständig und vor Gott auch für die weltlichen Machthaber verantwortlich sei. Diese Lehre löst die Geistlichkeit völlig aus der weltlichen Ordnung und Gerichtsbarkeit heraus. Insofern hat man die Leonisch-Gelasianische Lehre die Magna Charta des mittelalterlichen Papsttums genannt (Walter Ullmann).

Dritte Diagnose: Die Primatsauffassung Papst Leos I. stellt die klassische Ausformung des römischen Herrschaftsprimats dar, der von da an in Rom ständig wiederholt, verteidigt, in kirchenrechtliche Kanones gegossen und schließlich 1500 Jahre später auf dem Ersten Vatikanischen Konzil 1870 feierlich definiert wird. Aber wahr bleibt: die massive juristische Deutung einer »Fülle der Macht« (»plenitudo potentiae«) des Apostels Petrus über die Gesamtkirche hat keinen Anhalt im neutestamentlichen Text und in der großen gemeinsamen Tradition des ersten Jahrtausends. Eine »Fülle der Macht« des römischen Bischofs erst recht nicht. Der von Leo I. zitierte Brief eines Papstes Klemens an den Herrenbruder Jakobus in Jerusalem ist eine Fälschung des 2. Jahrhunderts, die erst im 4./5. Jahrhundert (zu Leos Zeiten) ins Lateinische übersetzt wurde.

Die symbolische Lehre von den beiden Gewalten (»Schwertern«), die später aufgrund der Doktrin der Päpste Leo und Gelasius formuliert wurde, blieb Jahrhunderte lang Ausdruck eines römischen Wunschdenkens. Aber später sollte sie ihre historische Dynamik entwickeln. Auf ihr gründet sich die Forderung nach einem »katholischen Staat«, die bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts als herrschende römische Lehre galt. Andere Aspekte blieben in der römischen Sicht der Dinge unterbelichtet:

4. Irrende Päpste, päpstliche Fälschungen und Papstprozesse

Anamnese: Auf jene Phase der päpstlichen Machtexpansion in der Völkerwanderungszeit des 4./5. Jahrhunderts folgten im 6./7. Jahrhundert herbe Rückschläge. Im 6. Jahrhundert herrschte Kaiser Justinian, der das Imperium Romanum von Byzanz aus machtvoll erneuerte. Er erbaute die Hagia Sophia als die größte Kirche der Christenheit und setzte das Staatskirchentum wieder voll durch. Er ließ die römischen Bischöfe den Rechtsprimat des Kaisers deutlich spüren. Das Zweite Rom ist dem alten nicht nur gleichgestellt, sondern eindeutig übergeordnet. Die östlichen Patriarchen und Metropoliten betrachten den Papst gewiss als Bischof der alten Reichshauptstadt und einzigen Patriarchen des Westens. Doch ist er Erster unter Gleichen. Und dies nicht wegen einer biblischen Verheißung, auch nicht wegen einer ihm verliehenen juristischen Vollmacht, sondern wegen der Gräber der beiden Hauptapostel Petrus und Paulus.

An eine »Unfehlbarkeit« der römischen Bischöfe hätte damals selbst im alten Rom kein Mensch gedacht. Zu offensichtlich waren die Irrtümer der Päpste. Zwei berühmte Fälle von irrenden Päpsten wurden sogar noch auf dem Ersten Vatikanischen Konzil 1870 heftig diskutiert. Besonders vom Tübinger Konzilienhistoriker und späteren Bischof von Rottenburg Carl Joseph von Hefele wurden sie auf dem Konzil als Argument gegen Unfehlbarkeit ins Spiel gebracht, aber von der übermächtigen kurialen Mehrheit schließlich schlicht ignoriert. Da war einmal der Fall des Papstes VIGILIUS, der auf dem Fünften Ökumenischen Konzil in Konstantinopel (553) durch widersprüchliche theologische Stellungnahmen seine Glaubwürdigkeit völlig verlor, nicht einmal in Sankt Peter beigesetzt wurde und durch Jahrhunderte auch im Westen geächtet blieb. Und da war vor allem der Fall des Papstes HONORIUS I., der auf dem Sechsten Ökumenischen Konzil von Konstantinopel (681) als Häretiker verurteilt wurde, was das Siebte und Achte Ökumenische Konzil und auch nachfolgende römische Päpste bestätigten. Irrende Päpste also, Irren ist auch päpstlich!

Gleichzeitig aber erweiterten die Päpste ihre Macht entschieden durch drei Großfälschungen:

– Die »Konstantinische Schenkung«, von der bereits die Rede war: Eine schon im 5./6. Jahrhundert frei erfundene Legende von einem Papst SILVESTER bildete im 8. Jahrhundert die Grundlage für diese höchst einflussreiche Fälschung. Ihr zufolge habe Kaiser Konstantin dem Papst Silvester Rom und die Westhälfte des Reiches überlassen, ihm die kaiserlichen Insignien und Gewänder (Purpur) und einen entsprechenden Hofstaat gestattet, ja, ihm den Primat über alle anderen Kirchen, besonders die von Antiochien, Alexandrien, Konstantinopel und Jerusalem verliehen. Und was war die historische Wahrheit? Tatsächlich hatte Konstantin dem Bischof von Rom nur den Lateranpalast und die von ihm gebauten Lateran- und Petersbasilika überlassen.

– Fälschungen aus dem Umkreis des Papstes SYMMACHUS, des zweiten Nachfolgers des Gelasius im 5./6. Jahrhundert. Unter anderem erfanden sie den folgenschweren Satz »Prima sedes a nemine iudicatur«: der Papst (»der erste Stuhl«) dürfe von keiner Instanz, nicht einmal vom Kaiser, gerichtet werden. Und die historische Wahrheit? Tatsächlich wurde über die Päpste immer wieder von der weltlichen Autorität gerichtet. Der Ostgote Theoderich der Große etwa, ein arianischer Christ, ließ Papst JOHANNES I., den er zu einer Vermittlungsaktion nach Konstantinopel geschickt hatte, wegen Misserfolgs nach der Rückkehr kurzerhand in den Kerker werfen, wo er starb. Kaiser Justinian ließ unter seiner vierzigjährigen absolutistischen Herrschaft die römischen Bischöfe wann immer nötig an seinen Hof kommen, wo ihre Rechtgläubigkeit überprüft wurde. Und seit seinem Dekret von 555 musste für jede Wahl eines römischen Bischofs das kaiserliche »Fiat« (»So geschehe es«) eingeholt werden, was auch bis in die Zeit der Karolinger befolgt wurde. Ja, im 6./7. Jahrhundert kam es zu einer ganzen Reihe von Papstprozessen – durch den Kaiser oder durch Klerus und Volk von Rom, die ja auch den Papst wählten. Diese Verfahren endeten oft mit der Absetzung des Papstes. Es gab sie noch bis ins 15. Jahrhundert.

– Die Pseudo-isidorischen Dekretalen, einem sonst unbekannten Isidor Mercator zugeschrieben, wurden im 9. Jahrhundert, in der Zeit des Niedergangs des Karolingerreichs in Frankreich, von einer Gruppe höchst kundiger, wohl geistlicher Fälscher angefertigt. In der verbreiteten Ausgabe umfassten sie über siebenhundert eng bedruckte Seiten: 115 ganz und gar gefälschte Dokumente römischer Bischöfe aus den ersten Jahrhunderten, 125 authentische Dokumente, gefälscht durch spätere Interpolationen und Veränderungen. Es ging ihnen darum, die übermächtige Autorität der Erzbischöfe über die Bischöfe zu schwächen, was faktisch eine ungeheuere Stärkung der übergeordneten Autorität des Papstes zur Folge hatte.

Zur Zeit KARLS DES GROSSEN findet sich allerdings auch im Westen noch keine Spur eines päpstlichen Rechtsprimats. Der Rechtsprimat gehörte wie früher dem byzantinischen so jetzt dem fränkischen Kaiser, der sich ganz theokratisch als Herr der Kirche fühlte und entsprechend handelte. Aber schon ein halbes Jahrhundert nach Karl dem Großen trat ein Papst namens Nikolaus I. auf, der in vollmundigem »petrinischem« Amtsbewusstsein und äußerster Kühnheit versuchte, die bisher übliche Selbstverwaltung der Landeskirchen zugunsten einer römischen Zentralverwaltung zu beenden. Gerade dieser Papst war es, der sich – wohl kaum in gutem Glauben – mit der Konstantinischen Schenkung auch die berühmt-berüchtigten pseudo-isidorischen Dekretalen zu eigen gemacht hat.

Vierte Diagnose: Gefährlich sind die Fälschungen vor allem, weil sie den fatalen Eindruck erwecken, schon die alte Kirche sei bis in alle Einzelheiten ihres Lebens durch Dekrete der Päpste regiert gewesen. Eine unerhörte Steigerung der Macht des Papstes, der als »Haupt des ganzen Erdkreises« bezeichnet wird, wird hier mit zahllosen Vorschriften konstruiert und zementiert! Konkret: Das bisher vom Kaiser ausgeübte Recht, Synoden abzuhalten und zu bestätigen, wird allein dem Papst zugesprochen. Angeklagte Bischöfe können an den Papst appellieren. Überhaupt sind alle »schwerer wiegenden Angelegenheiten« dem Papst zur endgültigen Entscheidung vorbehalten. Ja, Staatsgesetze, die mit den Kanones und Dekreten des Papstes im Widerspruch stehen, gelten als nichtig. So wird einerseits die absolute Herrschaft des Papstes innerhalb der Kirche begründet, andererseits das Eigenrecht und die Eigengerichtsbarkeit der Kirche gegenüber dem Staat. Diese Fälschungen aus dem 9. Jahrhundert geben allen erst seit Mitte des 5. Jahrhunderts erhobenen päpstlichen Ansprüchen die Aura des Uralten und den Glorienschein des Gottgewollten. Sie sind nicht nur »Kuriositäten von damals«, sondern sie verschaffen den Machtansprüchen jene theologisch-juristische Legitimation, die ihnen bisher gefehlt hat. Kirchenbild und Kirchenrecht sind ab jetzt ganz auf die römische Autorität konzentriert.

Pseudo-Isidors amtliches Nachschlagewerk verbreitete sich schon bald im ganzen westlichen Europa. Erst in der Reformationszeit weisen die »Magdeburger Centurien« die Unechtheit der Dekretalen auf. Dabei wäre die päpstliche Kanzlei durchaus fähig gewesen, Fälschungen aufzuspüren. Warum tut sie dies bestenfalls dann, wenn es in ihrem Interesse liegt? Weil sie nicht an der historischen Wahrheit interessiert ist, sondern an der römischen Macht. Die römische Kurie bemühte sich auch in der Folge nie um die Untersuchung der zu ihren Gunsten sprechenden Großfälschungen, auch nicht, als schon um die Wende vom ersten zum zweiten Jahrtausend Kaiser OTTO III. zum ersten Mal die Konstantinische Schenkung als Fälschung erklärte. Auch der von Johannes Paul II. im Jahr 1983 promulgierte Codex Iuris Canonici ist historisch betrachtet ein höchst zweifelhaftes Produkt. Eine künftige Kirchenrechtsrevision müsste die gefälschten Kanones entweder ausmerzen oder als solche kennzeichnen.

5. Unheilige Väter und aufgezwungene Reformen

Anamnese: »Heiliger Vater« (»Seine Heiligkeit«) ist heute Ehrentitel und Anredeform des Papstes. Und man gibt sich im Vatikan Mühe, alles Päpstliche mit einer Aura der Heiligkeit zu umgeben. Man kann gar nicht genügend Behörden, Gegenstände, Personen als »heilig« bezeichnen, um diesen damit etwas vom Glanz der Ewigkeit zu verleihen. Wer das alles wörtlich nimmt, muss freilich daran erinnert werden, dass manche Päpste recht unheilige Menschen waren und das ganze Leben am Hof des Papstes auch nicht immer einen sehr heiligen Eindruck erweckte. Gerade jener machthungrige Nikolaus I., der den römischen Primat so laut einforderte, hatte schwache und zum Teil völlig korrupte Nachfolger.

Ja, das 10. Jahrhundert gilt in der Kirchengeschichte als das »Saeculum obscurum«ORMOSUSAROZIA