Mein neues Leben als Mensch
Illustriert von Larissa Bertonasco
Die Salzstange ist das Baguette des kleinen Mannes. Des sehr kleinen Mannes. In diesem Fall ist der kleine Mann sechs Jahre alt, heißt Nick, hockt neben mir am Schreibtisch und krümelt meine Tastatur voll. Eigentlich mag ich es nicht, wenn er neben mir sitzt, während ich arbeite. Er behauptet zwar immer, dass er ganz still bliebe und gar nichts mache, aber er hält sich nicht daran, zieht Schubladen auf und beschwert sich darüber, dass meine Arbeit langweilig sei. Ob man nicht etwas am Computer spielen oder wenigstens ein paar Filme bei Youtube ansehen könne. Dann schmeißt er irgendwas runter, wird des Zimmers verwiesen und heult, worauf ich väterliche Schuldgefühle entwickle und zum Ausgleich eine halbe Stunde lang mit ihm Fußball spiele. Schließlich möchte ich nicht, dass er später Banken überfällt oder welche gründet und zu seiner Verteidigung anführt, sein Vater habe sich nicht um ihn gekümmert. Also Fußball. Und wer macht währenddessen meine Arbeit? Niemand.
Auch eben gerade kam Nick wieder rein und machte eine Geste, der zufolge er seinen Mund mit einem Schlüssel verriegle. Ich gab ihm eine Chance und zeigte auf den Besucherstuhl neben meinem Schreibtisch. Er nahm Platz und zog eine Tüte Salzstangen hervor, die er geräuschvoll öffnete. Dann schaute er mir stumm dabei zu, wie ich schrieb, und krümelte Laugengebäck in meine Tastatur.
Das «k» und das «ä» knistern bereits. Zum Glück brauche ich das «ä» nicht sehr oft, außer heute, ausgerechnet in diesem Text, denn da kommt «Knäckebrot» drin vor. Auch dies krümelt beträchtlich und ist eine der Leibspeisen meiner Frau Sara. Ich kann dieser Art von Brotgenuss nichts abgewinnen.
Knäckebrot essen ist wie Krieg. Es bringt die schlechtesten Eigenschaften der Menschen zum Vorschein. Krcks. Knusper. Raspel. Unsere ansonsten geradezu enervierend harmonische Ehe gerät in marianengrabentiefe Krisen, sobald Sara Knäckebrot isst. Krck. Sie liebt das Zeug. Für mich ist das Ersatzbrot für nach dem Atomschlag oder den zweiten Weihnachtstag. (Diese beiden Ereignisse haben miteinander gemein, dass kein richtiges Brot mehr da ist.) Knäckebrot erinnert mich an furnierte Pressspanmöbel und pikt ins Zahnfleisch und macht Radau. Sara stört das wenig. Sie sitzt gern abends auf der Couch, knackt Knäcke und fragt alle fünf Minuten, was der Typ in dem Film gerade gesagt hat. Ich habe es aber genauso wenig verstanden wie sie, ich habe nur sie gehört. Und ihr Knäckebrot. Krcks.
Meine Frau krümelt sich durchs Leben wie eine löchrige Zwiebacktüte. Außer im Kino. Dort krümelt sie kaum, denn da schläft sie ein. Die schummrige Beleuchtung dort führt bei ihr zwangsläufig zum Einpennen, ganz egal, wie tumultuös die Veranstaltung ist. Einmal waren wir in einem Film mit Tom Hanks. Er spielte den Angestellten einer Transportfirma, der eines Tages mit dem Flugzeug abstürzt, jahrelang auf einer einsamen Insel lebt und schließlich gerettet wird. Sara pennte ein, noch bevor Tom Hanks auf dem Eiland strandete. Wenige Momente vor dem Ende des Films – der vom jahrelangen Überlebenskampf ausgezehrte Hanks war in die Zivilisation zurückgekehrt – erwachte Sara ruckartig und fragte: «War der Typ nicht eben noch viel dicker?» Also erzählte ich ihr den ganzen Film und verpasste den Schluss. Aber wie gesagt: Normalerweise, wenn sie nicht schläft, krümelt sie.
Das sind die Gene, glaube ich. Sara ist die Tochter eines in den Sechzigern nach Deutschland eingewanderten Gastarbeiters. Ich glaube, ich habe das schon einmal irgendwann erwähnt. Ihr Vater heißt Antonio Marcipane, und meine Kinder nennen ihn seit Jahren «Das Krümelmonster». Wie für die meisten Italiener bedeutet Abendessen für ihn: Weißbrot in Atome spalten, die anschließend auf dem Tisch, unter dem Tisch sowie in der Atemluft verstreut werden.
Seine italienischen Krümelgene hat er an seine Tochter und auch an seine beiden Enkelkinder weitergegeben, was nicht nur unsere Tochter Carla beim Frühstück, sondern auch und besonders Nick jederzeit eindrucksvoll zur Schau stellen.
Wie in diesem Augenblick: Die Tüte mit den Salzstangen ist leer, meine Tastatur ist voll. Er beginnt sich zu langweilen und biegt Büroklammern auf. So kann ich nicht arbeiten. Also muss ich ihn rausschmeißen, was ihn wie immer empört. Ich setze mich wieder an den Schreibtisch, nehme die Tastatur in die Hand, drehe sie um und schüttle sie. Heraus fallen Krümel, Salzkristalle – und eine ganze Kolumne. Na so was!
Jürgen hatte Geburtstag. Das ist mein Schwager, der Mann von Saras großer Schwester, und es ist unmöglich, für Jürgen ein Geschenk zu finden. Er ist Diplom-Ingenieur, Weinkenner und Esoteriker. Ich war bei der Hausgeburt seiner Tochter dabei und habe alles gefilmt damals, auch seinen schamanischen Dankbarkeitstanz um einen Stachelbeerstrauch am Tag danach. Egal. Er ist jedenfalls schwer zu beschenken, weil er bei der Anschaffung von Produkten auf Details achtet, die mir gewöhnlich entgehen: Alles muss fair gehandelt, biologisch abbaubar und von Hand gearbeitet sein, möglichst ohne Fleisch, ohne Eier und Plastik.
Als ich ihm und Lorella nach der Geburt von Irmine-Appolonia einmal ein – wie ich fand – sehr ulkiges Spongebob-Mobile für das Kinderbett überreichte, kommentierte er dies angeekelt mit den Worten: «Das ist ja wie Psychopharmaka. Nein, das kommt uns nicht ins Haus.» Außerdem habe sein Kind bereits ein Mobile über dem Bett hängen, das habe er sogar selbst gebastelt, und es würde seine väterliche Energie und Liebe quasi im Schlaf auf das Baby übertragen. Er schritt voran und zeigte mir sein Werk, und ich fand, dass es zumindest gut roch. Er hatte es nämlich aus sieben gebrauchten Teebeuteln gefertigt, und die schaukelten nun sanft über dem Kopf des Säuglings. Dieser Ausdruck seiner Vaterliebe, aus dem zusätzlich der Recycling-Gedanke sowie ein nicht unbeträchtliches Ausmaß an Geiz sprachen, bildete den Auftakt zu einer ganzen Reihe von skurrilen Selfmade-Spielzeugen, die bei ihm und Lorella den Plastikdreck aus den Spielwarengeschäften ersetzten.
Auch wenn sich Jürgen und Lorella gegenseitig beschenken, greifen sie entweder auf Praktisches oder Scheußliches zurück; meistens kommen sie zu Lösungen, die beide Eigenschaften vereinen. In ihrem Haus sieht es aus wie auf einer schwäbischen Esoterikmesse, die Böden sind gesäumt von Gebetsteppichen, an den Wänden hängen indische Sinnsprüche, und wenn man ein bisschen Zeit mitbringt, erzählt Jürgen einem gerne vom hermetischen Weg, den er gerade beschreite, um die Kundalini-Kraft in sich zu entfesseln. Was schenkt man einem wie ihm bloß? Und vor allem: warum überhaupt? Zumindest die Antwort darauf ist einfach: Obwohl Jürgen der Ansicht ist, dass irdische Güter grotesk überbewertet werden, reagiert er auf kindliche Weise beleidigt, wenn man ihm nichts zum Geburtstag schenkt. Schließlich sei dies eine Gunstbezeugung, auf die auch er angewiesen sei, denn er sei auch ein Mensch und sehne sich nach Anerkennung. Aha. Na gut.
Allerdings bin ich auf dem Gebiet der Esoterik völlig unbewandert. Ich kann eine Klangschale nicht von einer Obstschale unterscheiden, und das meiste finde ich sehr komisch, zum Beispiel dieses Drahtgestell, mit dem man sich die Kopfhaut massieren soll. Man sieht damit aus, als habe man ein paar Drähte am Kopf zur Hirntätigkeitsmessung dringend nötig, aber es fühlt sich gut an. Sogar ich besitze so ein Ding. Und Jürgen auch. Also musste etwas anderes her.
Sara schleppte mich in ein Geschäft, das von einem Vader-Abraham-artigen Herrn bewohnt wurde. Wir trugen ihm unseren Wunsch nach dem Dernier Cri der Esoterik-Szene vor, und er verschwand in ein Hinterzimmer, wo er eine Weile laut scheppernd zugange war, bis er schließlich mit einem Karton zurückkehrte, welchem er ein Stück gedrechseltes Kirschholz entnahm. Ganz glatt war es und es sah aus wie eine weibliche Brust. «Das ist ein Handschmeichler», sagte Vader Abraham. Er nenne das Ding «Evas Busen», und man könne nicht anders, man müsse es streicheln. Das sei ein männliches Urbedürfnis, und ich solle es mal ausprobieren. Ich probierte. Es fühlte sich gut an, aber ich vermisste eine Reaktion seitens des Busens.
Wir haben es dann gekauft – war teuer – und Jürgen letzte Woche überreicht. Er war begeistert und streichelte es den ganzen Abend unter den missbilligenden Blicken seiner Gattin. Und die Begeisterung hält an. Ich hörte heute, dass er es mit zur Arbeit nimmt, wo er es streichelt, sobald er unter Stress gerät. Die Vorstellung, dass Jürgen seine Holztitte sogar in Konferenzen schmuggelt, um sie unter dem Tisch zu befummeln, macht mir allerdings schon ein bisschen Angst.
Die ersten warmen Sonnenstrahlen fielen in den Garten. Ich stand mit einem Espresso am Fenster und sah hinaus. Ich kann den Winter nicht leiden und genieße es, wenn grüne Blättchen aus Zweigen brechen und dem Kältequatsch ein Ende machen. Triumph der guten Laune. Nick saß am Esstisch und montierte Kanonen an einen Legomann, den er mir zuvor als «Supor, der Terrortyp» vorgestellt hatte. Sein Legolem besaß neben beeindruckender Feuerkraft rollende Füße sowie einen Hut voller Handgranaten. Ein Meisterstück moderner Wehrtechnik, geschaffen an kalten Nachmittagen. Doch nun war es endlich warm. Ich sagte Nick, dass er mal wieder schön nach draußen könne, vielleicht sogar barfuß. Ein fabelhafter Tag war das, und er wurde immer fabelhafter, weil immer heißer. Wir saßen dann den ganzen Tag draußen, und ich schwärmte vom Sommer und dass dieser just an diesem Tage begonnen habe und bitte schön erst im November enden möge. So hätte ich das gerne.
Nachdem ich die Grillsaison eingeläutet und die Sonne sich verabschiedet hatte, war ich ein bisschen traurig. Da stand Nick plötzlich freudestrahlend vor mir. Er erläuterte mir, dass er soeben vom Dachboden komme. «Aha», sagte ich. «Und was hast du da gemacht?» Er habe dort nach dem Zelt gesucht. Wir besitzen ein Zwei-Mann-Zelt. Ich weiß nicht, warum. Und wo es ist, weiß ich auch nicht. Aber Nick wusste es. Er hatte es bereits in den Garten geschleppt und fast zur Hälfte aufgebaut. Der Anblick erinnerte mich an meinen vor vielen Jahren gescheiterten Versuch, dieses Zelt auf einen bretonischen Felsen zu nageln. Dabei hatte ich sämtliche Heringe ruiniert und anschließend mit meiner Frau im Hotel geschlafen. Das ist sowieso viel besser.
Ich fragte Nick, wofür er dieses Mahnmal des unbekannten Campers aufgebaut habe, und er antwortete mit leuchtenden Augen, dass wir drei – er und ich und Supor, die Terrortype – heute Nacht im Zelt schlafen würden. Es fielen mir gleich drei gute Argumente ein, warum das nicht ging. Erstens besitzen wir keine Luftmatratzen. Zweitens habe ich grundsätzlich keine Lust zu zelten, und drittens macht man so was im SOMMER, aber doch nicht im April. Nick hielt dagegen, dass schließlich ich es gewesen sei, der den ganzen Tag behauptet habe, dass der Sommer endlich da sei, und jetzt, auf einmal, sei kein Sommer mehr? Er fühle sich von mir verarscht, sagte er. Wörtlich. Und dann holte der die große Psychokeule raus. Die trifft immer. Er wolle einmal etwas mit seinem Vater unternehmen, ein Vater-Sohn-Projekt. Nur er und ich. Einmal! Bitte! Da bekam ich eine Zukunftsvision: Nick sitzt als erwachsener Mann mit zwölf Geiseln in einer Bank und telefoniert mit einem Psychologen. Dieser fragt meinen Sohn, warum er zum Verbrecher geworden sei, und mein Sohn antwortet kalt: «Weil mein Vater nie mit mir zelten wollte. Und nun räche ich mich dafür an der Gesellschaft.»
Wir packten Proviant ein und Taschenlampen. Ich legte Kissen aus dem Wohnzimmer in das armselige Zelt, dann schlüpften wir in unsere Schlafsäcke. Ich erzählte Nick eine Geschichte, wir leuchteten mit den Taschenlampen herum und machten Faxen, bis Nick einschlief. Ich hingegen bekam stundenlang kein Auge zu. Brettharter eiskalter Aprilboden. Geräusche. Aufs Zelt pinkelnde Marder. Ich erwachte gegen Viertel nach sechs und hatte Rückenschmerzen wie Jesus am Karfreitag. Neben mir lag Supor, die Terrortype. Nicks Schlafsack hingegen war leer, kein Sohn drin. Ich pellte mich aus dem klammen Zelt und ging ins Haus. Herr Sohn lag gemütlich neben Sara in meinem Bett. Nachdem er ausgeschlafen hatte, teilte er mit, es sei ja doch recht frisch gewesen. Man solle froh sein, wenn man ein schönes Bett habe und nicht auf dem Boden schlafen müsse. Er bewundere mich aber sehr dafür, dass ich durchgehalten habe. Na immerhin. Hoffentlich erinnert er sich an diese Heldentat, wenn er eine Karriere als Verbrecher ins Auge fasst.
Ich habe nichts gegen Pferde. In meiner an Ignoranz grenzenden Vorstellung sind Pferde im Grunde genommen Kühe ohne Euter und Hörnchen. Ich fürchte mich ein wenig vor ihrer Größe und ihren französischlehrerhaften Zähnen, habe aber ansonsten keinerlei Beziehung zu diesen friedlichen Tieren. Wir, also die Pferde dieser Welt und ich, leben gewissermaßen nebeneinanderher. Und bisher spielten Pferde auch keine große Rolle in meiner Ehe. Bis Karin kam.
Sie ist eine alte Bekannte meiner Frau und zog zufällig vor einem halben Jahr in die Nachbarschaft. Sara und Karin frischten ihre Jugendfreundschaft wieder auf, und eines Abends erzählte Sara, dass sie früher gemeinsam geritten seien, sogar in den Ferien auf einen von gleichgesinnten Mädchen berstenden Pferdehof fuhren und dort wochenlang striegelten, sich bei ihren Schutzbefohlenen ausweinten und über flache Hindernisse sprangen.
Diese Seite an meiner Frau war mir bis dahin verborgen geblieben. Nie war in sechzehn gemeinsamen Jahren die Rede von dieser verschüttgegangenen Leidenschaft gewesen. Aber wir haben uns auch nie über meine adoleszente Playboy-Sammlung unterhalten, wenn ich es mir recht überlege. Jedenfalls holte uns Saras Kindheit massiv ein, denn Karin hatte im Gegensatz zu Sara nie mit dem Reiten aufgehört. Sie nahm Sara mit in den Stall, wo ihr Hannoveranerwallacharaberhengst steht, schnauft und pointenlos vor sich hin äpfelt. Ich durfte mitkommen.
Sara verwandelte sich in ein zwölfjähriges Mädchen, gab «Burgunderkönig» ein Stück Zucker und rupfte Heu aus dessen Mähne, während ich ständig damit rechnete, von Burgunderkönig zertrampelt oder angekackt zu werden. Wieder zu Hause, war Sara eine andere geworden. «Ich will ein Pferd», sagte sie in einem Ton, zu dem nur Frauen in der Lage sind. «Und ich will einen Aston Martin DB9», antwortete ich. In ihm sind zu einem vergleichbar günstigen Preis gleich vierhundertsechsundsiebzig Pferde enthalten, und so ein Aston Martin riecht allenfalls nach Pferdeleder, aber nicht nach Pferd.
Sara fuhr nun täglich in den Stall, um Burgunderkönig zu besuchen. Nick und Carla gingen mit, und binnen einer knappen Woche ereilte sie allesamt eine ausgewachsene Pferdemeise.
Selbst Nick, der bisher einen Froschlurch nicht von einer Blaumeise unterscheiden konnte, wollte nun unbedingt reiten. Jetzt strebt er eine Karriere als Jockey an, seit ihm jemand erzählt hat, dass man dafür klein sein müsse. Ich erklärte ihm, dass man dafür vor allen Dingen auch klein bleiben müsse, und er antwortete, dass das für ihn kein Problem sei, solange ich kochen würde.
Carla würde gerne springreiten, und zwar weil da die Haare so schön in die Luft fliegen. Das kommt nicht in Frage. Pferde wollen von Natur aus überhaupt nicht springen. Sie springen überhaupt nur, weil sie doof sind. Diese These bringt meine Tochter zum Schäumen. Es gehöre weit mehr dazu, über einen Zaun zu springen, als davor stehen zu bleiben. Es sei ein Ausdruck von Freiheitswillen, behauptet sie steif. Ich finde, es ist eher ein Ausdruck von Panik und Getriebenheit, aber ich gebe gerne zu, dass ich von Pferden nicht viel verstehe.
Auch Sara bekundete Interesse an einer Reitsportart, die viel mit Intelligenz und Disziplin zu tun hat, jedenfalls auf Seiten des Reiters: Dressur. Dressur ist, wenn der Sportreporter bei den Olympischen Spielen ebenso kenntnisreich wie eingeschüchtert Sätze wispert wie: «Bommerlunders Hinterhand liegt wirklich unglaublich tief unter dem Schwerpunkt.»
Eines Abends, die Kinder waren schon im Bett und gaben auf diese Weise zu den schönsten Hoffnungen meinerseits Anlass, kuschelte sich Sara an mich und sagte: «Ich will ein Pferd von dir.» Sie fügte hinzu, dass es für sie wichtig sei. Für die Kinder. Und damit letztlich auch für mich. Ich sah in ihre Augen, und diese hatten Pferdeaugenform angenommen und jenen eigentümlichen Glanz, der jeden noch so stoffeligen Pferdeignoranten jegliches rationale Argument vergessen lässt.
Dann wurde ich wochenlang unter massiven psychischen Druck gesetzt. Ich fühlte mich wie der amerikanische Notenbankpräsident und kaufte meiner Frau schließlich ein Pferd. Mir selbst gegenüber rechtfertigte ich diese Anschaffung damit, dass man auf diese Weise mindestens für ein Jahr Sauerbraten im Haus hätte.
Wenn ich allerdings auch nur geahnt hätte, was ich mir mit dem Kauf dieses gigantischen Tieres antun würde, hätte ich mir eine Allergiebescheinigung vom Arzt geben, ich hätte mir eine Pferdegrippe spritzen lassen, ich hätte, hätte, hätte. Habe ich aber alles nicht. Ich habe Black Pearl im Gegenteil widerspruchslos Zugang zu meiner Frau verschafft und auf diese Weise unsere Ehe in eine tiefe Krise manövriert.
Natürlich fand ich schon mal gleich als Erstes den Namen bescheuert. Black Pearl. Immerhin teilten unsere Kinder diese Meinung. Carla plädierte dafür, den Wallach lieber Blacky zu nennen, was Nick ablehnte, weil Blacky ihm zu weiblich klang. Er schlug Schnuffi vor, was Carla für mindestens ebenso weiblich und dem Stockmaß des Tieres nicht angemessen hielt. «Meerschweinchen heißen Schnuffi, aber nicht Pferde, die ein ganzes Auto ziehen können», sagte sie, und damit hatte sie recht. Ich schlug vor, dass Tier Hans Eichel zu taufen, weil es so ähnlich guckte, aber das erboste Sara, die sich wünschte, dass ich ihrem neuen Freund mit ein wenig mehr Ernst begegnen möge. Wir einigten uns erst einmal auf den Namen Perle, was in Anbetracht der Tatsache, dass es sich um einen Herrn handelt, zwar etwas schwul klingt, aber das weiß Perle ja nicht.
Perle ist eigentlich ein ganz ruhiges Pferd. Er hätte auch weiterhin in Frieden leben können, wenn Sara nicht angefangen hätte, Reitstunden bei einer ehemaligen ukrainischen Olympionikin zu nehmen, die bald einen geradezu ostblockmäßigen Ehrgeiz in meiner Frau entfesselte. Sie machte eine erste Reiterprüfung, um an Turnieren teilnehmen zu dürfen, und seitdem ist bei uns den ganzen Tag von Perle die Rede. Wie Perle heute brav gegangen sei. Dass Perle, obwohl sechsjährig, noch nie Koliken gehabt habe und wie schön sein Fell aussähe. Und der neue Sattel käme nächste Woche, und das Heu sei ganz frisch und die Gamaschen orange. Ich habe auch keine Koliken, mein Fell ist ebenfalls tadellos, und ich brauche keine Gamaschen, um glücklich zu sein, geschweige denn orange Gamaschen. Aber für mich interessiert sich zu Hause kein Schwein mehr.
Sie finden, das klingt nach Eifersucht? Das ist Eifersucht. Ich werde weder gestriegelt noch gefüttert, nicht trocken geritten und auch nicht in die Führmaschine gestellt. Ich bekomme keinen Zucker und keine Extravitamine, ich werde einfach mir selbst überlassen. Beinahe hätte das zu ernsthaften Auseinandersetzungen geführt, aber dann kam Sara mit einem gelben Aktenordner und einem ernsten Gesichtsausdruck auf mich zu.
«Kannst du mich abhören? Für mein erstes Turnier.»
Ich sah auf die Übung, und plötzlich hatte der ganze Reitsport für mich einen Sinn. Auf einmal liebte ich Dressur, einen Sport, den ich bis zu diesem Moment für den Ausdruck einer erstklassigen Upper-Class-Schrulle gehalten hatte. Warum? Weil die Sprache mich bezauberte. Eine Piaffe zum Beispiel ist ein bestimmter Schritt, bei dem Pferde in etwa so aussehen wie Otto Waalkes, wenn er auf die Bühne kommt. Sehr ulkig, die Pferde, die so etwas können. Ist aber offenbar schwierig.
Bei ihrem ersten Turnier mussten Sara und Perle allerhand komplizierte Schrittfolgen absolvieren, zum Beispiel gemeinsam im versammelten Trab einreiten, halten und grüßen. Dann halbe Volte rechts und halbe Volte links, Mitteltrab, versammelter Trab und auf die Mittellinie abwenden. Nach rechts traversieren, auf der Wechsellinie abwenden, Kurzkehrt rechts, Mittelschritt. Wenig später Obacht, es folgt eine ergiebige Fehlerquelle beim Halten, eine Pferdelänge rückwärts richten und daraus im versammelten Tempo rechts angaloppieren.
Sara und Perle meisterten die ganze Aufgabe inklusive des fliegenden Galoppwechsels nahezu fehlerfrei.
Ich war ganz gegen meine erklärte Absicht begeistert. Mit der noch laufenden Videokamera in der Hand wechselte ich durch die ganze Bahn, traversierte im versammelten Galopp zum Getränkezelt, hielt an, grüßte und bestellte zwei Gläser Sekt. Damit piaffierte ich in Richtung Mittellinie, wo Perle gerade eine rote Schleife an den Kopf gesteckt bekam. Sara saß immer noch vor Freude und Anstrengung dampfend auf dem Rücken des Pferdes. Sie sah sehr glücklich aus. Wunderbares Mysterium Reitsport!
Immer häufiger wird bei uns über diese profanen und ermüdenden Erziehungsthemen geredet. Wir sprechen zum Beispiel auffallend oft darüber, wie man sich bei Tisch hinsetzt, was man bei Beerdigungen oder Taufen anzieht (keine Fußballtrikots) und dass man die Kopfhörer beim Essen abnimmt. Das findet unsere Tochter spießig.
Ich bin darüber ein wenig verstimmt, immerhin zwingt sie mich dazu, Rollen zu spielen, die mir überhaupt nicht liegen, nämlich die der blöden autoritären Wurst und des Spielverderbers. Als wir vorgestern mal wieder eine Unterhaltung darüber führten, dass wir nicht wie die Hunnen unser Essen in uns hineinstopfen, sondern langsam und kultiviert sowie mit Messer und Gabel, überraschte mich Carla mit der Durchsage, sie würde gerne einmal bei der englischen Königin speisen.
«Da dürftest du dich aber nicht so aufführen wie hier», merkte ich an.
«Eben doch, das ist es ja», behauptete Carla und setzte mir auseinander, dass es am englischen Hof Sitte sei, dass die Königin die schlechten Tischmanieren ihrer Gäste nicht nur toleriere, sondern sie ihrerseits sogar annehme, um die ausländischen Bankettteilnehmer nicht zu brüskieren. Wenn also ein exotischer Potentat sich den Mund mit dem Tischtuch abwische oder hineinniese, so würde dies von Königin Elisabeth II. nachgeahmt, damit sich der Gast wohl fühle.
Diese Vorstellung fand ich bezaubernd. Sie eröffnet wunderbare Gedankenspiele darüber, wozu sich die englische Königin bei Tisch wohl hinreißen lässt, wenn man es ihr nur vormacht. Auch Nick war begeistert. «Ich würde sofort riesig einen fahrenlassen», rief er, erfreut von der Idee, dass Elisabeth II., von Gottes Gnaden Königin des Vereinigten Königreiches von Großbritannien und Nordirland und ihrer anderen Länder und Gebiete, Oberhaupt des Commonwealth sowie Verteidigerin des Glaubens, ihm zuliebe Darmwinde entließe.
Ich beendete die Diskussion, indem ich behauptete, dass es so eine Benimmregel am britischen Hof ganz bestimmt nicht gäbe, schon weil Tischsitten international seien, und wenn die Geschichte doch stimme, würden wir die Queen ganz bestimmt nie zu uns nach Hause einladen. Wer weiß, was die dann alles am Tisch veranstaltet, um auch mal lustig zu sein, und überhaupt sollen sich die Kinder mit ihrem Benehmen nicht am englischen Hochadel orientieren, sondern gefälligst an mir.
Der Michael Jackson habe sich als reicher Popstar zu Hause bei Tisch bestimmt aufführen dürfen wie ein Erdferkel, behauptete Nick. Das mag sein, zumal an Jacksons Seite jahrelang ein Affe dinierte. Das habe ich übrigens mit Michael Jackson gemein, denn mein Sohn verhält sich während der Mahlzeiten bestimmt nicht anders als einst Jacksons Schimpanse Bubbles, wenn nicht sogar unzivilisierter.
Wir haben zum Zwecke der Normierung unseres Nachwuchses, und weil man das eben so macht und weil ich in Ruhe essen möchte, bereits vor einiger Zeit Tischregeln aufgestellt. Man darf zum Beispiel bei uns die Füße nicht auf dem Tisch ablegen, und zwar weder vor noch während noch nach dem Essen, also eigentlich nie. Sara behauptete den Kindern gegenüber, das sei eine ganz schlimme Unart und sie und ich würden so etwas schließlich auch nicht machen. Das stimmt nicht ganz. Ich liebe es nämlich, die Füße auf den Esstisch zu legen. Manchmal kippele ich dabei auch noch mit dem Stuhl und lese so die Zeitung. Das mache ich allerdings nur, wenn ich alleine bin. Sara weiß bisher nichts davon, und unsere Kinder dürfen diesen Text niemals zu Gesicht bekommen, damit sie nicht Glauben und Vertrauen in unsere Erziehungsmaßstäbe verlieren.
Diese richten sich streng nach den konventionellen Regeln der Höflichkeit und werden regelmäßig mit neuen Do’s und Don’ts angereichert, über die ich in Saras Frauenzeitschriften lese, welche ich auf dem Klo studiere. Ich verfolge die Entwicklung der Etikette mit größter Aufmerksamkeit. Erst neulich las ich zum Beispiel die neuen Benimmempfehlungen für Gäste und Gastgeber. Da antwortete eine adlige Autorin auf die Frage, ob man als Gast Blumen mitbringen solle, dass man diese ein bis zwei Tage vorher zu schicken habe, denn «wer will schon den halben Abend nach passenden Vasen suchen?». Diesen Satz fand ich ganz unglaublich glamourös. Ich stellte mir sofort vor, wie die Käuferinnen dieser Zeitschrift halbe Abende lang in ihrer Zweizimmerwohnung nach einer Vase suchen. Und zwar nicht nach überhaupt einer Vase, sondern nach einer passenden Vase.
Ich bringe sowieso lieber Wein mit. Ist aber – aktueller Stand – ebenfalls verkehrt. Wer nämlich dem Hausherrn eine Flasche Château Brane-Cantenac Jahrgang 2004 in die Hand drückt, beleidigt ihn im Subtext: «Hier bitte schön. Am besten, wir machen die Pulle gleich auf, dann gibt’s wenigstens was Ordentliches zu saufen.» Meistens stimmt das zwar, aber es diskreditiert den Gastgeber natürlich auf das Schlimmste. Dieser hat schließlich schon vor Stunden den Wein geöffnet – und dann den halben Nachmittag nach einem passenden Dekanter gesucht.